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11.


Ich erwachte, als mir Wasser ins Gesicht klatschte. Mit unwilligem Knurren wälzte ich mich auf die Seite. Da traf es mich ins linke Ohr. Tropfenweise, in steter Monotonie.

Ich fuhr hoch. Mein Gesicht war nass und ich fror. Draußen regnete es. Der Wind warf den Regen prasselnd an die Fensterscheibe. Genau über dem Bett war eine undichte Stelle in der Decke. Ich setzte mich auf die Bettkante und schwang die Beine auf den Fußboden. Mürrisch beobachtete ich, wie die Tropfen jetzt auf das Kopfkissen fielen. An ein Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Das Bett war zu schwer, als dass ich es allein an einen anderen Platz hätte rücken können.

Ich erhob mich und ging zum Fenster. Ich konnte durch die dichten Regenschleier eine Laterne an einem Stalltor auf der Westseite des Hofes erkennen. Das Licht wurde vom Wind hin und her geworfen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war.

Ich streckte mich und ging zum Bett zurück. Meine Müdigkeit war verflogen. Schweigend schaute ich zur Decke, wo sich ein feuchter Fleck von erheblichem Durchmesser gebildet hatte. Von da tropfte es.

Als ich mich auf den Stuhl setzen wollte, durchzuckte mich plötzlich eine Idee. Ich rückte den Tisch neben das Bett, holte den Stuhl, stellte ihn auf den Tisch und stieg hinauf. Es war eine ziemlich wacklige Angelegenheit, aber als ich schließlich aufrecht auf dem Stuhl stand, konnte ich die Decke erreichen.

Ich stieß kräftig unter die rissigen Bohlen, an denen sich die Feuchtigkeit gesammelt hatte. Die Bohle gab sofort nach und hob sich ein Stück. Fast hätte ich geschrien vor Freude.

Ich kletterte von Stuhl und Tisch und lief wieder zum Fenster. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Ich konnte den Hof zwischen den Magazingebäuden leidlich gut erkennen. Es war kein Mensch zu sehen.

Ich zögerte nicht länger, kletterte wieder auf den Tisch, von da aus auf den Stuhl und stemmte beide Fäuste unter das lockere Brett der Kammerdecke, die gleichzeitig das Dach des Hauses bildete.

Das Brett war schwer. Ich musste alle Kraft aufwenden, um es anzuheben. Der Schweiß rann mir in dichten Bahnen über das Gesicht. Meine Muskeln schmerzten vor Anstrengung. Ich befürchtete ständig, den Halt auf meinem wackligen Podest zu verlieren. Der Regen prasselte durch die breite Lücke in die Kammer und mir ins Gesicht. Ich drückte noch einmal mit aller Kraft gegen das Brett. Da kippte es seitlich um auf das nächste Brett. Eine gut zwölf Zoll breite Lücke hatte sich im Dach geöffnet. Das musste reichen. Ich war zwar in den letzten Monaten gewachsen. Aber ich war noch immer ein Kind.

Ich langte mit beiden Händen auf das Dach hinaus und zog mich hoch. Sekundenlang baumelte ich in der Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn meine Kräfte jetzt versagten, würde ich mitsamt dem Podest aus Tisch und Stuhl zu Boden stürzen. Der Lärm würde die im selben Haus schlafenden Leute Johnsons wecken.

Ich schloss die Augen, biss die Zähne zusammen, spannte alle Muskeln, zog mich durch die Lücke hinaus, schwang die Beine hoch, fand Halt und lag schließlich nach Atem ringend auf dem nassen Dach des Gebäudes.

Sofort war ich bis auf die Haut durchnässt. Der Regen klatschte mir ins Gesicht, der Wind blies böig über das flache Dach.

Ich hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Das Dach bestand aus schweren Brettern, die lose nebeneinandergelegt und an einigen Stellen mit Steinen beschwert worden waren.

Vorsichtig tappte ich bis zum Dachrand. Ich kümmerte mich nicht um den Regen. Er störte mich nicht. Mich interessierte nur die Frage, wie ich vom Dach des Hauses nach unten gelangen konnte. Der Regen war mir unter Umständen sogar nützlich. Er zwang alle eventuellen Wachtposten in schützende Häuser und vernichtete alle Spuren der Flucht.

Ich lief am Rand des Daches entlang, um die Möglichkeit eines Abstiegs zu sondieren. Es sah nicht gut aus. Das Gebäude war höher, als ich gedacht hatte. Ein Sprung hinunter hätte den sicheren Tod bedeutet.

Schwindel stiegen in mir auf, als ich einen Augenblick lang daran dachte. Ich trat rasch einige Schritte vom Abgrund zurück. Langsam ging ich weiter am Dachrand entlang, bis zur Rückseite des Gebäudes. Und hier entdeckte ich den Anbau, einen Schuppen für Geräte und Gerümpel.

Ich legte mich auf den Bauch und reckte den Kopf vor, um die Höhe besser abschätzen zu können. Vom Dach des Anbaus trennten mich nach meiner Schätzung keine drei Yards. Das war einen Versuch wert.

Ich krallte mich mit beiden Händen an der vorspringenden Dachkante fest und ließ mich langsam hinuntergleiten. Wenig später hing ich in der Luft, baumelte hin und her und spähte nach unten. Das Dach des Anbaus schien jetzt auf einmal viel weiter entfernt zu sein, viel tiefer zu liegen. Ich hatte plötzlich Angst, wenn auch nicht viel.

Da rutschte ich mit beiden Händen an der regennassen Dachkante ab.


*


Ich fiel, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte ich geschrien. Ich prallte mit beiden Füßen zuerst auf das Dach des Anbaus. Es gab einen dumpfen Knall.

Ich überschlug mich, spürte Schmerzen in den Fußgelenken und stürzte bereits über die Kante des Anbau­daches.

Benommen richtete ich mich auf. Ich war von Kopf bis Fuß mit Schlamm und Dreck bedeckt.

Ich schaute mich um. In den Corrals standen die Ponys. Sie hatten sich unter Schutzdächern zusammengedrängt. Ich lief auf die Koppeln zu.

Ich überstieg einen Koppelzaun und watete durch den tiefen Morast zu den Pferden hinüber.

Nach einigem Suchen fand ich Shita. Sie schnaubte erfreut, als ich ihr durch die Mähne strich. Ich führte sie hinaus in den Regen zum Tor des Korrals.

Da sah ich auf einmal Licht an einem der Gebäude aufflackern. Ich ließ Shita stehen, warf mich der Länge nach in den Morast und wartete. Ein Schatten tauchte im Lichtschein auf. Er eilte zu den Lagerschuppen hinüber. Da kroch ich unter dem Corralgatter durch und hastete über den Hof auf das Licht zu. Ich erreichte das Haus und presste mich hart an die Wand. Langsam schob ich mich bis zu der halb geöffneten Tür vor, durch die der Lichtschein drang.

Drinnen war alles still. Der Mann, der das Haus verlassen hatte, war nirgends zu sehen.

Ich warf einen Blick ins Innere. Ich schaute in einen hell erleuchteten Gang mit mehreren Türen. Unweit des Eingangs stand ein breites Regal, in dem zehn Gewehre untergebracht waren, Sharps-Gewehre und Karabiner.

Ich lauschte in den Regen, der monoton rauschte. Dann huschte ich ins Haus. Mit wenigen Schritten war ich beim Gewehrregal und hob einen Karabiner heraus. Ich verließ das Haus wieder und rannte über den Hof zum Korral.

Am Tor stand noch immer Shita und wartete auf mich. Ich löste die Verriegelung und zog das Torgatter auf.

Als ich mit Shita die Koppel verließ, wurde ich entdeckt.

Der Mann, den ich das Haus hatte verlassen sehen, marschierte über den Hof. Er watete durch den tiefen Schlamm und die großen Pfützen.

Er stand plötzlich keine zehn Schritte vor mir und schien überraschter zu sein, mich zu sehen, als ich es über sein plötzliches Erscheinen war.

„Du?“ Er beugte sich vor. „Verdammt, wie kommst du hierher?“

Ich hob das Gewehr. Ich dachte an das schaurige Gemetzel unter den Apachen und hatte keinerlei Bedenken.

„Du bist ja bewaffnet“, hörte ich ihn sagen. Der Wind riss ihm fast die Worte von den Lippen. „Wirf sofort das Gewehr weg, verdammter Bengel. Du bist wohl verrückt geworden. Ich schlag dich tot, wenn du nicht sofort parierst ...“

Ich schoss, weil ich mich nicht länger aufhalten lassen wollte.

Der Rückschlag des Gewehrs war hart. Der Knall war dumpf und verhallte im Regen.

Der Killer stand einen Atemzug lang stocksteif da und starrte mich ungläubig an. Dann kippte er langsam nach vorn.

Ich drehte mich um und schwang mich auf Shitas ungesattelten Rücken. Ich hatte kein Mitleid mit dem Skalpjäger.

Ich ritt an dem Mann vorbei. Hinter mir gingen Lichter an, als ich den Hof verließ. Ich ritt in die Nacht hinaus, ohne mich umzuschauen, tauchte im Regen unter, überquerte den Pecos und jagte davon.


*


Gegen Mittag des nächsten Tages hörte der Regen schlagartig auf. Es wurde warm. Ich rastete zum ersten Mal. Verfolgt wurde ich nicht.

Ich legte mich erschöpft unter ein paar Bäumen nieder und schlief bis zum Abend. Dann ritt ich weiter.

Ich orientierte mich an den Bergen vor mir. Von da war ich mit den Apachen gekommen.

Ich ritt die ganze Nacht. Das Tal der Krähen sah ich nur von Weitem wieder. Ich verspürte kein Bedürfnis, hinzureiten. Ich begann stattdessen, nachdem der nächste Tag angebrochen war, die Gegend systematisch abzusuchen.

In diesen Stunden dachte ich nicht ein einziges Mal daran, meine Freiheit zu nutzen und zu versuchen, den Pease River zu erreichen. Ich wäre mir wie ein Verräter vorgekommen, wenn ich nach dem schrecklichen Massaker, das James Johnson angerichtet hatte, die Apachen im Stich gelassen hätte.

Ich suchte den ganzen Tag und rastete in der folgenden Nacht im Schatten einiger Kreosotbüsche. Am nächsten Tag setzte ich die Suche fort. Ich stieß gegen Mittag auf ein Buschgebiet, das mehrere Hügel wie ein verfilzter Stachelpelz bedeckte. Hier fand ich die Überlebenden des Gemetzels.

Als ich bei einigen Teufelsbirnensträuchern mein Pferd zügelte, entdeckte ich eine Frau in zerrissenen Kleidern. Sie hockte neben einem Busch und pflückte Beeren. Als sie mich sah, stieß sie einen Schrei aus und sprang auf. Dann erkannte sie mich. Es war Susqueya.

Ich glitt von Shitas Rücken und lief auf sie zu. Sie breitete die Arme aus und presste mich an ihre Brust. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass Tränen aus ihren Augen rannen. Einige davon fielen heiß in mein Gesicht. Sie war schmal geworden in den letzten Tagen. Sie redete und strich immer wieder über meinen Kopf.

Schließlich führte sie mich zu einem Versteck in dem Dickicht, in dem sich vier Jungen in meinem Alter, unter ihnen Esquelin, befanden, eine weitere Frau und Pahita, Coyoteros älteste Tochter, die aber nicht Susqueyas Kind war. Sie war verletzt. Ein Geschosssplitter hatte ihr den linken Arm aufgerissen. Sie fieberte etwas.

Sie alle waren vom Schock der Ereignisse gezeichnet. Ich berichtete, was ich erlebt hatte. Sie erzählten, dass sie vor zwei Tagen noch einmal im Tal der Krähen gewesen waren. Da hätten bereits die Kojoten gehaust, und es habe schrecklich ausgesehen. Ich glaubte ihnen aufs Wort.

Wir beratschlagten, was zu tun sei, denn ewig konnten wir nicht in dem Versteck hocken. Ich berichtete ihnen, dass das Land ringsum leer sei. Aus Furcht vor ­Ent­deckung hatten sie sich bis jetzt nicht hervorgetraut. Wir entschieden uns schnell.

Zwei Tage, nachdem ich die Überlebenden des Massakers gefunden hatte, brachen wir gemeinsam nach Süden auf. Wir wollten nach Mexiko ziehen, dorthin, wo ­Coyotero uns hatte führen wollen. Wir würden uns dort einer anderen Stammesgruppe anschließen.

Es würde ein langer Marsch werden. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartete. Der Weg konnte geradewegs in die Hölle führen.

Ich zog mit den Apachen ...

RONCO


In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Ich werde gejagt

2702 Der weiße Apache


Dietmar Kuegler


Der weiße Apache






Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-151-9

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Verbrannte Erde


25. September 1878.

Ich verstecke mich auf dem Dachboden der Braddock-­Ranch, zehn Meilen westlich von Cow Spring. Gerade sind die Soldaten weggeritten, die hinter mir her waren. Sie haben mich bis hierher verfolgt. Wieder einmal. Ich habe Glück gehabt.

Draußen ist es dunkel und still. Der Rancher war vor ein paar Minuten hier und hat mir gesagt, dass ich die nächsten Tage hier oben bleiben soll. Das sei sicherer. Er hat recht. Er ist ein guter Mann.

Ich habe die Petroleumlampe, die an der Decke hängt, heruntergenommen und neben mich auf den Tisch gestellt. So habe ich Licht zum Schreiben.

Ich will meine Geschichte da weiterführen, wo ich vor etwa einem Monat mit dem Schreiben aufgehört habe. Ich habe vielleicht vieles geschildert, was für andere nicht interessant sein mag. Für mich aber ist jede Einzelheit wichtig, jede Kleinigkeit.

Ich habe bis jetzt den Teil meiner Kindheit aufgeschrieben, der zwar abenteuerlich, aber für das Land, in dem ich aufgewachsen bin, und für die Zeit, nicht ungewöhnlich war. Wenn ich nun weiterschreibe, werde ich zwangsläufig zu den Dingen kommen, die mein Leben damals völlig veränderten. Aber ich will der Reihe nach erzählen, um nichts auszulassen. Es war im Jahre 1857 ...



1.


Ich starrte auf den wackligen, zweirädrigen Handkarren, den Padre Hieronymus zog. Er war mit blauschwarzen Schlehen beladen, aus deren Saft in der Mission Medizin gebraut werden sollte. Ich trottete hinterher. Ich hatte den ganzen Nachmittag zusammen mit Padre Hieronymus Schlehen gepflückt, bis der Karren voll gewesen war. Eine stumpfsinnige Arbeit, wie mir schien.

Es ging auf den Abend zu. Ich war müde. Ich hatte mir diesen Tag anders vorgestellt. Es war ein schöner Tag gewesen. Zum ersten Mal in diesem Jahr hatte die Sonne richtig geschienen. Jetzt ging sie im Westen unter. Eine riesige, rote Kugel. Der Himmel hatte die Farbe einer kupfernen Kuppel.

Es war der 3. Mai des Jahres 1857. Es war der Tag, an dem Padre Hieronymus starb.

Er zog den Karren mit den Schlehen. Es strengte ihn an. Er hatte den mageren Oberkörper, um den das braune Mönchsgewand schlotterte, weit vorgebeugt und ging mit schleppenden Schritten. Er atmete abgehackt. Der Karren war sehr schwer. Wir hatten mehr Schlehen gefunden, als erwartet. Padre Ambrosius wollte daraus einen Schnaps brauen, der gut für den Magen sein sollte.

Ich dachte nur an eines: Bald würden wir zu Hause sein.

Bald würde Padre Hieronymus sterben. Ersaufen wie eine junge Katze.

Ich hatte einmal dabei zugesehen, wie Jerry Ricks einen Wurf junger Katzen ersäufte. Die große graue Katze auf der Ricks-Farm brachte die Jungen in einem Winkel der Scheune zur Welt. Jerry nahm ihr die Jungen weg und warf sie in einen mit Wasser gefüllten Eimer. Ich stand dabei. Ich sah nur, wie die erste krepierte, wie dieses unförmige, kleine Knäuel von undefinierbarer Farbe verzweifelt zu schwimmen versuchte, um sich zu retten. Jerry stieß es unter Wasser, bis es sich nicht mehr rührte. Da musste ich heulen, drehte mich um und lief davon. Das war zwei Jahre her. Als Padre Hieronymus starb, war ich auch dabei. Aber ich lief nicht davon.

Wir wanderten auf den Fluss zu. Wir sprachen nicht. Padre Hieronymus hätte gar nicht die Kraft zum Sprechen gehabt. Das Ziehen des Karrens nahm ihn zu sehr in Anspruch. So war das dünne Quietschen der Karrenräder auf den rostigen Zapfen der Achse das einzige Geräusch, das uns stetig begleitete.

Der Abendhimmel spiegelte sich im Fluss. Der Pease River war etwas breiter als gewöhnlich. Die Wellen schwappten über die Uferböschungen. Die Schmelz­wasser aus den Bergen, die im Frühjahr zu Tal geflutet waren, brachten das Flussbett noch immer zum Überlaufen. Rechts und links vom Strom stand das Gras auf den Weiden schon wieder hoch. Die Blüten der zahl­losen Sträucher an den Ufern leuchteten in allen Farben – ­Salbei, Mesquite, Kreosot und viele andere. Die schmale Brücke tauchte vor uns auf. Jetzt war es nicht mehr weit zur Mission. Eine Meile nur.

Ich verspürte plötzlich Hunger. Vielleicht hatte Padre Elfego Apfelkuchen gebacken.

Die Karrenräder rumpelten über die ausgetretenen Bohlen der Brücke, die sich im Laufe der Jahre an den Rändern hochgebogen hatten. Sie knarrten, und die Stütz­balken ächzten unter unseren Schritten. Die Brücke musste erneuert werden. Die Farmer hatten es auf einer Versammlung in der Scheune der Longley-Farm im Frühjahr besprochen. Dann war es vergessen worden. Inzwischen hatte eine weitere Überschwemmung das Land heimgesucht, und die Brücke stand noch immer. Aber niemand kümmerte sich um sie.

Unter den von Wasser und Sonne ausgelaugten Planken gurgelte der Strom. Ich dachte, dass es vielleicht gut wäre, über das Geländer ins Wasser zu spucken und mir dabei etwas zu wünschen. Wenn man von der kleinen Brücke ins Wasser spuckte und sich etwas wünschte, ging es in Erfüllung. Das wussten wir im Pease River Valley alle.

Einmal hatte Jay Kingsley dem alten Bender, der ihn beim Äpfelklauen erwischt hatte, die Pest an den Hals gewünscht. Am nächsten Tag war eine Kuh auf der Bender-­Farm krepiert, und in derselben Woche hatte sich Sam Bender den rechten Fuß gebrochen.

Ich überlegte, was ich mir wünschen sollte. Da blieb Padre Hieronymus stehen.

Ich nahm an, dass er Atem schöpfen wollte. Aber er drehte sich zur Seite, dass ich sein Gesicht sehen konnte. Er presste beide Fäuste an die Brust und beugte sich ein Stück vor. Sein Gesicht verzerrte sich und färbte sich dunkel. Seine Lippen zitterten und hatten auf einmal einen bläulichen Schimmer. Seine Augen glänzten fiebrig.

Da wusste ich Bescheid.

Wir standen mitten auf der Brücke, und Padre ­Hieronymus erlitt einen seiner Hustenanfälle. Er kriegte diese Anfälle zu allen möglichen Tages- und Nacht­zeiten. Immer aber, wenn er sich überanstrengte.

Ich hatte es schon oft erlebt. Es war eine böse Sache. Ich hatte auf einmal ein flaues Gefühl im Magen. Ich fühlte mich verdammt hilflos. Ich stand da, mager, schmalschultrig, die Hände tief in den Taschen meiner geflickten Hose, einen Schritt hinter dem Karren mit den Schlehen, den Padre Hieronymus losgelassen hatte. Er war nach vorn gekippt. Das Deichselende lag auf den Brücken­bohlen. Ein paar Schlehen waren aus dem Wagen gefallen.

Ich sah, wie der Padre litt. Ganz langsam krümmte er sich zusammen. Ohne einen Laut von sich zu geben. Er schwankte plötzlich. Sein magerer Körper wurde wie von einer unsichtbaren Faust geschüttelt. Dann stieg der Husten aus seiner Kehle auf. Quälend, gepresst, rasselnd. Der Padre wand sich in Krämpfen. Er hustete ohne Unterlass. Er konnte nicht einmal Luft holen. Ich dachte, sein Kopf würde platzen. Sein Husten klang unnatürlich laut in der Stille des Abends – und seltsam dumpf und hohl.

Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Schmerz presste ihn zusammen wie einen leeren Kartoffelsack.

Auf einmal sah ich Blut auf seinen Lippen. Es waren erst nur ein paar Flecke, dann rann ein dünner roter Faden zum linken Kinnwinkel hinunter. Mit den Ärmeln seines braunen Gewandes wischte er es ab. Und plötzlich war der Anfall vorbei.

Schweiß rann in dichten Bahnen über das eingefallene Gesicht von Padre Hieronymus. Er war bleich und rang nach Luft. Er zitterte am ganzen Körper. Langsam nur bekamen seine Wangen wieder etwas Farbe.

Ich stand noch immer still dabei. Das Entsetzen steckte mir in den Knochen. Ich sah, wie Padre Hieronymus sich langsam nach vorn beugte und sich schwer auf das Brücken­geländer stützte. Keuchend lehnte er sich an die wetterzerfressenen Balken.

Es knackte.

Eisig durchfuhr mich der Schreck.

„Padre Hieronymus!“, rief ich.

Da brach das Geländer. Einfach so.

Der Padre verlor das Gleichgewicht. Er war zu schwach, um sich halten zu können. Er ruderte mit den Armen durch die Luft.

Ich sprang an dem Karren vorbei, warf mich nach vorn und kriegte noch einen Zipfel des braunen Gewandes zu fassen.

Aber ich war nicht stark genug. Ich konnte ihn nicht halten. Ich schrie auf. Tränen traten in meine Augen, als Padre Hieronymus kopfüber in den reißenden Fluss stürzte.

Er ging unter. Auf der Stelle. Er tauchte wieder auf. Sein Gesicht war schrecklich verzerrt. Er hatte Angst.

Angst ...

Ich hatte auch Angst. Wahnsinnige Angst.

Er wollte rufen. Wasser drang in seinen Mund. Eine Welle schwappte über seinen Kopf und riss die kleine braune Kappe fort, die die Mönche zu tragen pflegten.

Ich wusste, dass er nicht schwimmen konnte. Aber er ruderte wie verrückt mit beiden Armen. Er wurde von der starken Strömung gepackt. Sie hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen einen der Brückenpfeiler. Er prallte mit der rechten Seite dagegen. Es krachte. Ich hörte es ganz deutlich. Ich hielt mir die Ohren zu.

Ich beugte mich vor und sah, dass sein Kopf an der rechten Seite aufgeschlagen war und blutete. Er versuchte, sich an dem schenkelstarken Holzpfeiler festzuklammern. Er schrie nicht. Er unternahm auch gar nicht den Versuch, zu rufen. Er kämpfte verbissen.

Ich warf mich flach auf die Brückenbohlen und streckte meine Arme aus. Ich war wie von Sinnen. Wellen, die gegen die Brückenpfeiler klatschten, spritzten mir ins Gesicht. Ich merkte es nicht.

Ich glaube, Padre Hieronymus versuchte, meine Arme zu greifen. Aber er schaffte es nicht. Stattdessen riss der Strom ihn plötzlich los und schwemmte ihn fort.

Er sackte nach unten weg, tauchte aber wieder auf.

Er wollte nicht sterben. Ich sah, wie er verzweifelt um sein Leben rang. Er verschwand unter der Brücke und tauchte auf der anderen Seite wieder auf, wo er weiter Flussabwärts mitgerissen wurde.

Ich sprang auf, lief über die Brücke und rannte neben dem Padre am Ufer her.

Er versuchte noch immer, mit den Armen irgendwie zu paddeln und dabei ans Ufer zu gelangen. Aber der Fluss war tief an dieser Stelle, die Ufer steil und die Strömung stark.

Seine Bewegungen wurden schwächer. Er tauchte immer öfter unter und immer seltener auf. Er trieb schnell ab.

Ich weinte jetzt und schrie seinen Namen.

Schließlich drehte ich mich um und rannte zurück. Ich lief wie noch nie in meinem Leben und stolperte oft. Ich fiel hin und schlug mir das rechte Knie auf. Aber ich blieb nicht stehen. Ich lief. Atemlos.

Die Mission tauchte vor mir auf. Lange Schatten reckten sich mir entgegen. Kein Mensch war auf dem Hof. Hinter den Fenstern brannten Lichter.

Ich hetzte durch die Dämmerung, stürmte über den Hof und riss die Tür des Hauses auf, in dem Padre Emanuel sein Arbeitszimmer hatte.

Er saß noch an seinem Schreibtisch und hob erstaunt den Kopf, als ich hereinpolterte. Ich brachte kein klares Wort heraus. Doch irgendwie musste er mich verstanden haben. Er stand auf und lief an mir vorbei. Ich folgte ihm. Als ich auf den Hof stürzte, eilten Padre Erastus und Padre Tenebro zum Stall. Sie zogen einen Eselskarren heraus.

Ich lief hinter ihnen her und wollte mitfahren. Sie wollten das nicht. Ich hörte, wie Padre Emanuel hinter mir rief. Und Padre Tenebro winkte heftig ab. Aber ich hielt nicht an. Da stoppten sie kurz, ließen mich aufsteigen und fuhren weiter.

Wir rollten an der Brücke vorbei. Der Karren mit den Schlehen stand einsam in der Dämmerung. Wir fuhren dicht am Fluss entlang. Padre Hieronymus war nirgends zu sehen.

Ich fühlte mich ganz elend und weinte die ganze Zeit still vor mich hin. Wir fuhren, so schnell wir konnten, und suchten das ganze Ufer ab. Wir rollten an der ehemaligen Wilkins-Farm vorbei. Aber erst eine knappe Meile weiter fanden wir Padre Hieronymus.

Es war am Wald, da, wo die Biber einen kleinen Damm gebaut hatten, an dem sich die wilde Strömung des Pease River brach.

Das Wasser schimmerte rotgolden. Es hatte den Glanz des Sonnenuntergangs eingefangen und trug den Schleier der heraufziehenden Nacht bereits in sich.

Hier lag Padre Hieronymus im Wasser. Bewegungslos. Mit dem Gesicht nach unten. Die Wellen bauschten sein braunes Gewand.

Ich sprang vom Wagen und wollte hinlaufen. Padre Erastus stand plötzlich hinter mir, hielt mich fest und schrie mich an. Es war das erste Mal, dass er das tat. Erschrocken blieb ich stehen.

Da gingen die Padres an mir vorbei. Sie wateten in den Fluss und zogen Padre Hieronymus aus dem Wasser.

Er war tot. Sein Gesicht schimmerte bläulich und wirkte aufgedunsen. Er war ertrunken.

Sie unternahmen trotzdem Wiederbelebungsversuche, umsonst natürlich. Warum handelt man in solch einer Situation so? So sinnlos.

Ich wünschte jetzt, ich wäre nicht mitgefahren.

Als sie Padre Hieronymus auf die Ladefläche des Wagens legten und sich um ihn herum auf dem Holz Pfützen bildeten, wandte ich mich ab.

Es kostete mich Überwindung, wieder auf den Wagen zu steigen. Während der Rückfahrt blickte ich starr nach vorn.

Padre Hieronymus war immer still und gut gewesen, bescheiden und erfüllt von einer echten Demut. Er hatte nie ein lautes Wort gesprochen. Er hatte nie geklagt, nie gejammert. Er hatte still gelitten. Er hatte sich an seinem Leben gefreut, trotz seiner schlimmen Krankheit, die ihn von Jahr zu Jahr mehr ausgezehrt hatte.

Dabei war es ihm hundserbärmlich gegangen. Er hatte vor Schmerzen häufig nicht aufrecht gehen können. Ab und zu hatte ich ihn nachts husten gehört. Seine Kammer lag nicht weit von der meinen.

Manchmal war ich aufgewacht, hatte gelauscht und gehört, wie er sich quälte. Aber er war damit stets allein fertig geworden. Er hatte nie jemanden um Hilfe ­gerufen. Er hatte niemandem zur Last fallen wollen.

Jetzt war er tot. Ersoffen wie eine junge Katze.

Es war zum Heulen. Und ich heulte. Padre Erastus legte mir die Rechte auf die schmalen Schultern. Ich merkte es nicht.

Wir erreichten die Mission. Es war schon dunkel. Die Mönche warteten auf uns. Sie hielten Fackeln und Petroleum­laternen in den Händen. Ich schaute nicht zu, wie Padre Hieronymus abgeladen und in der Kapelle ­aufgebahrt wurde. Ich lief in meine Kammer und warf mich aufs Bett.

In der Kapelle wurde die Glocke geläutet.

Ich kann meinen Gefühlszustand schlecht beschreiben. Ich fühlte mich innerlich zerrissen.

Am nächsten Tag hatten wir ein neues Grab in der Mission. Es waren nun schon fünf. Sie lagen alle im Schatten des Turms der Kapelle.

Ich hasste Gräber. Sie waren für mich Zeichen verlorener Hoffnung, Zeichen einer Endgültigkeit, der man hilflos ausgeliefert war.



2.


Ich ging nach der Beerdigung zur Danton-Farm. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Damit fing das Unheil an.

Als ich auf den Hof lief, hörte ich die Stimme von Clay Wilkins, meinem Freund.

Aus einer weit geöffneten Stallluke flogen in regelmäßigen Abständen Mistfladen. Ich sah immer nur kurz die Zinken einer Gabel auftauchen, die dann wieder im Innern verschwand.

Von daher ertönte auch die Stimme. Clay sang Streets of Laredo. Nicht schön, aber laut.

Ich ging zur Stallluke, blieb vor dem angehäuften Mist stehen und rief Clays Namen.

Das Singen verstummte. Statt der Mistgabel erschien ein verschwitztes Gesicht. Eine unbezähmbare Haartolle hing in die pickelige Stirn. Clay Wilkins.

Er grinste breit, als er mich erkannte, und kroch durch die Luke nach draußen.

„Was ist los?“, fragte er. „Du siehst aus wie Maismehl mit Pisse.“

Er stand vor mir. Sein Oberkörper war nackt. Er war nicht ganz so mager wie ich. Er war ein Jahr älter und bekam an Schultern und Armen kräftige Muskeln, auf die er sehr stolz war. Er zog sein viel zu weites Hemd über.

„Padre Hieronymus ist tot“, sagte ich.

„Oh.“ Sein Grinsen verschwand. „Verteufelte Sache.“ Er steckte die Hände in die Taschen seiner verwaschenen, zu kurzen Hose.

„Wenn man es bedenkt – er war ja immer krank.“

„Er ist ertrunken“, sagte ich. „Das verdammte Brücken­geländer ...“

Seltsamerweise verstand er sofort. „Er ist durch das Geländer gebrochen?“

Ich nickte.

„Die verdammte Brücke sollte schon seit Monaten repariert werden“, sagte er.

„Jetzt ist es auch egal“, sagte ich. „Jetzt ist Padre Hieronymus tot, und von einem neuen Geländer wird er auch nicht wieder lebendig.“

Clay war klug genug, zu schweigen. Ich hätte schon wieder losheulen können.

Wir schlenderten hinunter zu der großen, breiten Brücke über den Pease River, die Clays Vater noch gebaut hatte, kurz bevor er ermordet worden war.

Ein Stück weiter westlich sahen wir Bob Danton bei der Arbeit. Er war Clays Schwager und hatte nach dem Tod von Clays Eltern die Farm übernommen.

„Bob zieht Bewässerungsgräben“, sagte Clay.

„Das Land ist fruchtbar“, sagte ich. „Wozu Bewässerungsgräben?“

„Wir werden den besten und größten Mais der Gegend haben“, sagte Clay. „Bob wird ein paar Windräder aufstellen, die das Wasser in die Gräben pumpen.“

Ich schluckte meinen Kummer hinunter. Die Sache interessierte mich. Bisher hatte es kein Farmer für notwendig gehalten, Bewässerungsgräben anzulegen und Windräder aufzustellen.

Bob Danton stand bis zu den Knien im kalten Wasser. Er hatte die Hosenbeine hochgekrempelt. Ich sah, dass seine Knie vor Kälte bläulich schimmerten. Er hielt einen breiten Spaten in den Fäusten und stach damit handbreite Schollen von den Rändern des Grabenansatzes. Der Graben hatte bereits eine Länge von knapp zehn Yards und war etwa zwei Fuß breit. Eine dünne Erdschicht trennte ihn noch vom Pease River. Aber die Wellen des Flusses schwappten immer wieder über den schwachen Damm und hatten den Graben mit einer schmutzig grauen Schlammbrühe gefüllt.

„Padre Hieronymus ist tot“, sagte Clay. Ich schluckte. „Er ist ertrunken“, sagte Clay. „Er ist durch das Geländer der kleinen Brücke gebrochen.“

Ich schluckte abermals, sagte aber nichts. Bob schaute mich an. Er hatte kein besonders intelligentes Gesicht. Er gehörte wohl auch nicht zu den Klügsten dieser Erde. Aber er schien zu ahnen, was ich empfand. Vielleicht sah er es mir auch an.

Er stieg aus dem Graben, steckte den Spaten in den Boden und krempelte die Hosenbeine wieder hinunter. Dann schlüpfte er in die hochschäftigen Stiefel, die neben dem Graben standen. Er stopfte die Hosenbeine hinein.

„Bist du mit dem Ausmisten fertig?“, fragte er.

„Fast.“ Clay senkte den Kopf.

„Du kannst später weitermachen. Ihr könnt mir helfen.“

Bob ging mit keinem Wort auf die Todesnachricht ein. Aber als er an mir vorbeischritt, legte er seine schwielige Rechte auf meine Schulter. Ich verstand, was er damit ausdrücken wollte.

Wir gingen hinter Bob her. Im Gras unterhalb des Hügels, auf dem die Farmgebäude standen, lagen die Stangen und Balken für zwei Turmgerüste, an denen sich bald die Windräder drehen sollten.

Wir trugen die Einzelteile der Gerüste zum Graben hinüber. Bob hatte bereits abgesteckt, wo der erste Turm stehen sollte. Er hatte kleine Pflöcke so in den Boden gesteckt, dass sie ein Quadrat von zweieinhalb zu zweieinhalb Yards bildeten. Dünne Schnüre, die er von Pflock zu Pflock gespannt hatte, verdeutlichten das noch. Er hatte innerhalb dieses Quadrats die Grasschollen abgehoben.

„Habt ihr eigentlich noch Schule?“, fragte Bob.

„Morgen wieder“, sagte ich. Clay nickte lustlos. „Noch dreimal in der Woche, bis zum Ende dieses Monats. Im vorigen Jahr war um diese Zeit schon Schluss. Aber seit der Richter da ist ...“

Der Richter!

Nachdem die Texas Ranger 1854 bei uns im Pease River Valley in dem prächtigen Herrenhaus des ehemaligen Colonels Stephens ein mexikanisches Spionagenest ausgehoben hatten, hatte sich viel verändert.

Ein paar Monate später war ein würdiger, weißhaariger Mann gekommen. Er hatte das Haus von Colonel ­Stephens erworben, der – nachdem er zum Tode verurteilt und zu lebenslanger Haft begnadigt worden war – nun im Staatsgefängnis von Fort Worth schmachtete. Er hieß Abraham Collins und war einst Richter in Houston gewesen. Jetzt lebte er im Ruhestand.

Er hatte eine Frau, die in seinem Alter war. Sie trug stets riesige Hüte mit allerhand Federn und künstlichem Gemüse darauf. Sie war sehr zierlich und hatte das Gesicht einer freundlichen Spitzmaus.

Richter Collins dagegen war ein Mann, der Autorität verbreitete. Er hatte sich sofort am öffentlichen Leben im Pease River Valley beteiligt und eine ungeheure Energie entwickelt. Einmal im Monat hielt er auf seinem Hof Gerichtstag ab, wenn es etwas zu verhandeln gab. Außerdem war er auf den löblichen Gedanken verfallen, sich um die Missionsschule zu bemühen. Er hatte die Padres davon überzeugt, dass nicht nur Lesen und Schreiben zum Leben gehörten. Ein ordentlicher Geschichts­unterricht, so meinte er, bilde erst den richtigen Menschen.

Die Padres hatten sein Angebot angenommen. Seitdem versuchte Richter Collins einmal wöchentlich, uns zu richtigen Menschen zu erziehen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass die Schulzeit nicht bereits im April, sondern erst Ende Mai unterbrochen wurde.

„Der Richter ist ein kluger Mann“, sagte Bob. „Wenn er es so für richtig hält.“

Ein Wagen näherte sich. Ein leichter Farmwagen mit kleiner Ladefläche. Pete Longley saß auf dem Bock, der älteste Sohn der Longley-Sippe.

Der Wagen hielt unweit des Flussufers. Pete Longley blieb auf dem Bock sitzen. Er beugte sich vor, nahm den Hut ab und kratzte sich auf dem Kopf.

„Hallo“, sagte er.

„Du kannst gleich absteigen und helfen“, sagte Bob.

Pete Longley grinste. Er zog ein Ledersäckchen aus der Tasche, holte Tabak heraus und dünnes, weißes Papier und drehte sich eine Zigarette.

„Ich fahre morgen nach Mulberry“, sagte er. „Soll ich dir was mitbringen?“

„Bist du deshalb gekommen?“

„Ja.“

„Nett von dir.“ Bob Danton trat an den Wagen, stützte die rechte Faust auf den Peitschenhalter seitlich vom Bock und ließ sich von Pete Longley eine Zigarette geben.

„Salz könnte ich brauchen“, sagte Bob. „Kaffee und Zucker auch, und etwas Tabak.“

„Ist das alles?“

„Denke schon.“

„Ich werd’s besorgen.“ Pete Longley schaute auf den Bewässerungsgraben. „Meinst du, dass sich das lohnt?“

„Sicher.“

„Der Boden ist gut“, sagte Pete Longley. „Er ist fett und fruchtbar. Du vergeudest Zeit. Die Felder müssen nicht extra bewässert werden.“

„Wir werden sehen.“

Pete Longley nahm die Zügel wieder hoch. Er schaute uns an. Clay und ich standen neben dem zerlegten ­Turmgerüst.

„Ihr beiden solltet in nächster Zeit etwas aufpassen und nicht zu weit von den Häusern weggehen, wenn ihr allein seid“, sagte er.

Wir schwiegen. Pete Longley nahm die Zigarette aus dem Mund. Er stülpte seinen Hut wieder auf. „Es sind wieder Indianer aufgetaucht“, sagte er.

„Indianer?“, sagte Clay. „Indianer gibt’s doch gar nicht mehr.“

„Seit hundert Jahren nicht mehr“, sagte ich.

Pete grinste. „Seit hundert Jahren? Schön wär’s.“ Er wandte sich an Bob. „Weiter südlich sollen sie eine Farm angegriffen haben, habe ich gehört. Es sieht nicht gut aus. Apachen.“ Er nickte. „Im Norden sollen die Comanchen viel Unheil anrichten.“ Er warf uns noch einen Blick zu. „Also gebt auf euch Acht.“

Dann schnalzte er mit der Zunge. Das Gespannpferd trabte an. Der Wagen rollte nach Osten davon und verschwand hinter dem Hügel, auf dem die Farm stand. Bob Danton rauchte seine Zigarette zu Ende. Danach kehrte er zu uns zurück, und wir arbeiteten weiter.

„Indianer“, sagte Clay. „So ein Unsinn.“