Das ewig Menschliche

Mich scheint es immer nur während der toten Monate nach Rom zu verschlagen. Ich komme im August oder September hin, auf der Durchreise zu irgendeinem anderen Ort, und mache für ein paar Tage halt, um Plätze oder Bilder wiederzusehen, die mir durch alte Erinnerungen vertraut sind. Es ist dann sehr heiß, und die Stadtbewohner verbringen ihren Tag damit, unaufhörlich den Corso auf und ab zu schlendern. Das Caffè Nazionale ist voller Menschen, die stundenlang an kleinen Tischen sitzen, vor sich eine leere Kaffeetasse und ein Glas Wasser. In der Sixtinischen Kapelle sieht man blonde, sonnenverbrannte Deutsche mit kurzen Hosen und am Hals geöffneten Hemden, die mit schweren Rucksäcken die staubigen Straßen Italiens heruntergewandert sind; und im Petersdom kleine Gruppen frommer Pilger, müde, aber voll Glaubenseifer, die (zu einem günstigen Pauschalpreis) aus irgendeinem fernen Land hierhergekommen sind. Sie stehen unter der Obhut eines Priesters und sprechen fremde Sprachen. Das Hotel Plaza ist dann kühl und erholsam. Die Säle dort sind dunkel, still und geräumig. Zur Teestunde sind die einzigen Personen in der Halle ein junger, eleganter Offizier und eine Frau mit schönen Augen, die eisgekühlte Limonade trinken und eine angeregte Unterhaltung führen. Sie sprechen vertraulich und leise mit der unermüdlichen Geläufigkeit ihres Menschenschlags. Man geht in sein Zimmer, liest, schreibt Briefe, und wenn man zwei Stunden später wieder hinunterkommt, sitzen sie immer noch da und sprechen. Vor dem Abendessen finden sich in der Bar ein paar Leute ein, aber den ganzen übrigen Tag ist sie leer, und der Barmann hat Zeit, uns von seiner Mutter in der Schweiz und von seinen Erfahrungen in New York zu erzählen. Man unterhält sich über das Leben und die Liebe und über die hohen Alkoholpreise.

Auch dieses Mal hatte ich das Hotel fast ausschließlich für mich allein. Der Portier beteuerte zwar, als er mir mein Zimmer anwies, daß sie ziemlich ausgebucht seien, doch als ich gebadet und mich umgezogen hatte und wieder in die Halle hinunterkam, eröffnete mir der Liftboy, ein alter Bekannter, daß kaum ein Dutzend Personen im Plaza logierten. Ich war müde nach der langen, heißen Reise durch Italien und hatte mir vorgenommen, still im Hotel zu essen und bald schlafen zu gehen. Es war schon spät, als ich den geräumigen Speisesaal betrat. Er war hell erleuchtet; trotzdem waren nicht mehr als drei, vier Tische besetzt. Ich blickte mich zufrieden um. Es ist sehr angenehm, allein in einer großen Stadt zu sein, die einem dennoch nicht völlig fremd ist, und in einem fast leeren Hotel zu wohnen. Es gibt einem ein köstliches Gefühl von Freiheit. Ich war beglückt. Ich hatte mich zehn Minuten in der Bar aufgehalten und einen Martini getrunken. Nun bestellte ich mir eine gute Flasche Rotwein. Meine Glieder waren müde, aber meine Seele reagierte wunderbar auf Speise und Trank. Es wurde mir seltsam leicht ums Herz. Ich aß meine Suppe und meinen Fisch, und angenehme Gedanken zogen mir durch den Sinn. Dialogfetzen fielen mir ein, und meine Phantasie spielte glücklich mit den Personen eines Romans, den ich gerade in Arbeit hatte. Ich rollte einen Satz auf der Zunge herum, und er schmeckte besser als Wein. Ich fing an, über die Schwierigkeit nachzudenken, Menschen so zu beschreiben, daß der Leser imstande ist, sie genauso zu sehen, wie man selbst sie sieht. Für mich hat dies immer zu den schwersten Aufgaben der Schriftstellerei gehört. Was wird dem Leser wirklich vermittelt, wenn man ein Gesicht Zug um Zug beschreibt? Ich möchte sagen: nichts. Die andere Methode wiederum, sich an irgendein hervorstechendes Merkmal zu halten, an ein schiefes Lächeln etwa oder an einen verschlagenen Blick, und es immer wieder herauszustreichen, ist zwar wirkungsvoll, umgeht jedoch das Problem, anstatt es zu lösen. Ich ließ meine Blicke durch den Saal schweifen und überlegte, wie ich die Leute an den Tischen ringsumher beschreiben würde. Mir direkt gegenüber saß ein Mann, und rein zur Übung fragte ich mich, wie ich mit ihm verfahren würde. Er war ein hochgewachsener, schmaler Mensch – man würde ihn wohl am ehesten schlaksig nennen. Er trug einen Smoking und ein gestärktes Hemd. Er hatte ein ziemlich langes Gesicht und helle Augen; sein Haar war blond und gewellt, aber es fing an, spärlich zu werden, und die Geheimratsecken verliehen ihm einen vornehmen Kopf. Seine Züge waren unbedeutend. Mund und Nase sahen aus wie bei jedem x-beliebigen Menschen; er war glattrasiert; seine Haut war von Natur aus blaß, aber im Augenblick von der Sonne gebräunt. Sein Äußeres ließ auf eine intellektuelle, wenn auch leicht gewöhnliche Wesensart schließen. Er sah aus wie ein Rechtsanwalt oder wie ein Universitätsprofessor, der recht ordentlich Golf spielt. Ich vermutete, daß er Geschmack besaß, viel von Büchern wußte und auf einer Lunchparty in Chelsea ein angenehmer Gast wäre. Wie man ihn jedoch beschreiben sollte, um in wenigen Zeilen ein lebendiges, interessantes und treffendes Bild von ihm zu entwerfen, konnte ich mir wahrhaftig nicht vorstellen. Vielleicht sollte man alles übrige beiseite lassen und sich auf jene müde Vornehmheit beschränken, die ihn im Grunde am deutlichsten charakterisierte. Ich blickte ihn nachdenklich an. Mit einemmal beugte er sich vor und machte eine steife, aber höf‌liche kleine Verbeugung. Ich habe die lächerliche Angewohnheit, zu erröten, wenn ich überrascht werde, und fühlte auch diesmal, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Ich war bestürzt. Ich hatte ihn minutenlang angestarrt, als wäre er eine Strohpuppe. Er mußte mich für äußerst ungezogen halten. Ich nickte verlegen und schaute fort. Glücklicherweise reichte mir der Kellner in diesem Augenblick mein Essen. – Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich den Menschen nie vorher gesehen. Ich fragte mich, ob seine Verbeugung auf mein beharrliches Hinstarren zurückzuführen war: er nahm vielleicht an, daß er mir schon irgendwo begegnet sein mußte; oder hatte ich ihn vielleicht einmal kennengelernt und wieder vollkommen vergessen? Ich habe ein schlechtes Gesichtergedächtnis und konnte in seinem Fall zu meiner Entschuldigung anführen, daß er genauso aussah wie viele andere Menschen auch. Auf jedem Golfplatz in der Umgebung von London sieht man an einem schönen Sonntag Dutzende Gestalten seiner Art.

Er beendete seine Mahlzeit eher als ich. Er stand auf, aber auf dem Weg zum Ausgang blieb er an meinem Tisch stehen. Er streckte mir die Hand hin.

»Guten Abend«, sagte er. »Ich habe Sie nicht gleich erkannt. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu schneiden.«

Er hatte eine angenehme Stimme und sprach in dem Tonfall, der in Oxford kultiviert und von vielen, die niemals dort waren, nachgeahmt wird. Es stand fest, daß er mich kannte und gar nicht auf den Gedanken kam, ich könnte ihn nicht erkannt haben. Ich war aufgestanden, und da er um ein gutes Stück größer war als ich, blickte er auf mich herunter. In seiner Haltung lag etwas Kraftloses. Er hielt sich etwas gebeugt, was den Eindruck einer gewissen Unsicherheit, der sich mir aufdrängte, nur noch verstärkte. Sein Benehmen war ein wenig herablassend und zugleich ein wenig schüchtern.

»Haben Sie Lust, später Ihren Kaffee mit mir zu trinken?« fragte er. »Ich bin ganz allein.«

»Mit Vergnügen«, antwortete ich.

Er verließ mich, und ich hatte immer noch keine Ahnung, wer er war und wo ich ihm begegnet sein mochte. Ich hatte etwas Merkwürdiges an ihm bemerkt. Nicht ein einziges Mal – weder während der Sätze, die wir miteinander gewechselt hatten, noch bei unserer Begrüßung, noch als er sich mit einem leichten Nicken von mir verabschiedete – überflog auch nur der Schatten eines Lächelns sein Gesicht. Aus größerer Nähe hatte ich festgestellt, daß er auf seine Weise eigentlich gut aussah; seine Züge waren regelmäßig, er hatte schöne graue Augen, und seine Figur war schlank; aber sein ganzes Wesen schien mir uninteressant. Ich konnte mir vorstellen, daß eine bestimmte Sorte törichter Frauen ihn romantisch fand. Er erinnerte an einen Ritter von Burne-Jones, obgleich er größer war und nichts darauf hindeutete, daß er an der chronischen Kolitis litt, die diese unglückseligen Geschöpfe gequält hat. Er gehörte zu den Männern, die man sich im Kostüm auf einem Maskenball ganz großartig vorstellt, die man aber, sieht man sie dann wirklich einmal kostümiert, lächerlich findet.

Ich beendete mein Essen und begab mich in die Halle. Er saß in einem großen Lehnstuhl und rief, als er mich erblickte, einen Kellner herbei. Ich setzte mich zu ihm. Der Kellner erschien, und er bestellte Kaffee und Drinks. Er sprach sehr gut Italienisch. Wie sollte ich ergründen, wer er war, ohne ihn zu beleidigen? Ich zerbrach mir den Kopf. Die meisten Menschen nehmen es krumm, wenn sie feststellen, daß man sie nicht wiedererkennt. Sie sind so durchdrungen von ihrer Wichtigkeit, daß sie es für selbstverständlich halten, von den anderen ebenso wichtig genommen zu werden. Sein glänzendes Italienisch gab mir einen Anhaltspunkt. Ich erinnerte mich plötzlich, wer er war, und erinnerte mich gleichzeitig, daß ich ihn nicht mochte. Er hieß Humphrey Carruthers. Er war im Auswärtigen Amt tätig und bekleidete eine nicht unwichtige Stellung. Er leitete irgendein Amt. Er war verschiedenen Botschaften zugeteilt gewesen, und ich mutmaßte, daß sein idiomatisches Italienisch auf einen längeren Aufenthalt in Rom zurückzuführen war. Es war dumm von mir gewesen, nicht sofort zu bemerken, daß er zur Diplomatie gehörte. Er vereinigte alle Merkmale seines Berufes in sich. Er hatte jene hochnäsige Höf‌lichkeit, die es so trefflich versteht, die Menschen vor den Kopf zu stoßen, und jene Unnahbarkeit, die aus der Überzeugung kommt, ein Diplomat sei etwas Besseres als die übrigen Sterblichen; dazu gesellte sich allerdings eine gewisse Schüchternheit, denn er wußte nicht genau, ob die Umwelt von seiner Großartigkeit ebenso durchdrungen war wie er selbst. Ich kannte Carruthers seit vielen Jahren, traf aber nur selten mit ihm zusammen, bei Gesellschaften etwa, wo ich ihm flüchtig guten Tag sagte, oder in der Oper, wo er mir kühl zunickte. Er wurde allgemein für sehr begabt gehalten. Es war unverzeihlich von mir, ihn vergessen zu haben, denn er hatte in der letzten Zeit eine nicht unbedeutende schriftstellerische Berühmtheit als Autor von Erzählungen erlangt. Sie waren zuerst da und dort in jener Sorte von Zeitschriften erschienen, wie sie von kunstbegeisterten Enthusiasten immer wieder gegründet werden, um dem verständnisvollen Leser etwas Wertvolles zu bieten. Diese Zeitschriften gehen ein, wenn ihre Besitzer so viel Geld verloren haben, wie sie beabsichtigten. Auf den schönen und vornehm gedruckten Seiten dieser Hefte hatte er so viel Aufmerksamkeit erregt, wie es bei ihrer beschränkten Verbreitung möglich war. Dann wurden seine Erzählungen in Buchform veröffentlicht. Sie riefen eine wahre Sensation hervor. Ich habe selten solch einstimmiges Lob in den Wochenblättern erlebt. Die meisten widmeten dem Buch eine Spalte, und die Literaturbeilage der Times besprach es nicht mit den anderen Romanen zusammen, sondern an eigener Stelle, dicht neben den Memoiren eines großen Staatsmannes. Die Kritiker begrüßten Humphrey Carruthers als einen neuen Stern am Firmament der Literatur. Sie priesen seine vornehme Haltung, seine Raffinesse, seine feine Ironie und seinen Blick. Sie priesen seinen Stil, sein Schönheitsempfinden und seine Atmosphäre. Hier endlich war ein Schriftsteller, der die Kurzgeschichte aus den Tiefen hervorhob, in die sie in den englischsprachigen Ländern gesunken war, hier war ein Werk, auf das jeder Engländer stolz sein konnte; es durf‌te den Vergleich mit den besten Erzeugnissen seiner Art in Finnland, Rußland und der Tschechoslowakei aufnehmen.

Drei Jahre später brachte Humphrey Carruthers sein zweites Buch heraus, und die Kritiker kommentierten diese Pause mit Anerkennung. Hier hatte man es nicht mit einem Lohnschreiber zu tun, der sein Talent für Geld prostituierte! Das Lob, das er einheimste, war vielleicht ein wenig kühler als jenes, mit dem man sein erstes Buch begrüßt hatte – die Kritiker hatten Zeit gehabt, sich zu fassen –, aber es war doch so begeistert, daß es jeden gewöhnlichen Schriftsteller, der seinen Lebensunterhalt mit der Feder verdient, tief beglückt hätte. Und es bestand kein Zweifel, daß Carruthers’ Stellung in der literarischen Welt gesichert und ehrenvoll war. Die größte Beachtung fand eine Geschichte, die den Titel Der Rasierpinsel trug. Die besten Kritiker rühmten die Kunst, mit der der Autor auf drei, vier Seiten die leidende Seele eines Friseurgehilfen bloßgelegt hatte.

Aber seine bekannteste Erzählung, die zugleich seine längste war, hieß Wochenende. Sie gab seinem ersten Buch den Titel. Sie schilderte die Erlebnisse einer Anzahl von Personen, die am Sonnabend nachmittag von Paddington abfahren, um das Wochenende bei Freunden in Taplow zu verbringen, und am Montag morgen wieder nach London zurückkehren. Sie war so zart, daß es schwierig war, genau zu erfassen, was eigentlich darin passierte. Ein junger Mann – Parlamentssekretär und einem Minister zugeteilt – war sehr nahe daran, der Tochter eines Barons einen Heiratsantrag zu machen, tat es aber nicht. Ein paar andere unternahmen eine Bootsfahrt auf dem Fluß. Alle sprachen sehr viel und bedeutungsvoll, aber kein Satz wurde beendet, und was gemeint war, wurde auf subtile Art durch Punkte und Gedankenstriche ausgedrückt. Es gab zahlreiche Beschreibungen von Blumen im Garten und eine feinempfundene Schilderung der Themse im Regen. Das Ganze war gesehen durch die Augen der deutschen Gouvernante, und alle waren sich einig, daß Carruthers ihre Auf‌fassung der Situation mit bezauberndem Humor wiedergegeben habe. Ich hatte beide Bücher von Humphrey Carruthers gelesen. Es gehört zu den Aufgaben des Schriftstellers, die Produktion seiner Zeitgenossen zu verfolgen. Ich bin stets bereit zu lernen und hatte gehofft, etwas für mich Nützliches in diesen Bänden zu finden. Aber ich erlebte eine Enttäuschung. Ich bin der Ansicht, daß eine Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben sollte. Ich habe eine Schwäche für Pointen. Ich halte Atmosphäre für etwas sehr Erstrebenswertes, aber Atmosphäre allein ist wie ein Rahmen ohne Bild und hat nicht viel zu bedeuten. Vielleicht lag es an mir, daß ich die Qualitäten von Humphrey Carruthers nicht gebührend zu würdigen verstand; vielleicht habe ich seine beiden erfolgreichsten Erzählungen nur deshalb ohne Begeisterung geschildert, weil ich meine Eitelkeit verletzt fühlte. Ich durf‌te mit Sicherheit annehmen, daß er nie ein Wort von mir gelesen hatte. Meine Popularität bot ihm die Gewähr, daß für ihn kein Anlaß bestand, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. Einen Augenblick hatte es den Anschein – so groß war das Aufsehen, das er erregte –, als könnte dieser Makel auch ihn treffen – bald aber erwies es sich, daß seine feinsinnigen Arbeiten weit über das Verständnis der breiten Öffentlichkeit hinausgingen. Man kann nie sagen, wie groß die gebildete Schicht eigentlich ist, doch kann man ziemlich genau berechnen, wie viele ihrer Mitglieder bereit sind, Geld auszugeben, um die von ihnen so hoch geschätzten Künste zu unterstützen. Die Stücke, die zu fein sind, um die Besucher kommerzieller Theater anzulocken, können auf ein Publikum von zehntausend Köpfen zählen, und die Bücher, die von ihren Lesern mehr Verständnis erfordern, als von der Masse zu erwarten ist, finden einen Absatz von zwölfhundert Exemplaren. Denn die gebildete Schicht – trotz all ihrem Sinn für das Schöne – besucht das Theater am liebsten auf Freikarten und holt sich die Bücher aus der Leihbibliothek.

Ich bin überzeugt, daß dieser Umstand Carruthers keinen Kummer bereitete. Er war Künstler. Überdies hatte er eine Stellung im Auswärtigen Amt; er galt als hochliterarischer Schriftsteller; das vulgäre Volk interessierte ihn nicht, und gute Geschäfte zu machen hätte möglicherweise seiner Karriere geschadet. Es war mir schleierhaft, was ihn veranlaßt haben konnte, mich zum Kaffee einzuladen. Zwar war er allein, aber ich mußte annehmen, daß es eine bessere Gesellschaft als seine eigenen Gedanken für ihn nicht geben konnte; unmöglich konnte er erwarten, daß er aus meinem Mund irgend etwas hören würde, was ihn interessierte. Es war jedoch nicht zu übersehen, daß er sich redliche Mühe gab, liebenswürdig zu sein. Er erinnerte mich an unser letztes Zusammentreffen, und wir sprachen eine Weile von gemeinsamen Bekannten in London. Er fragte mich, wieso ich zu dieser Jahreszeit in Rom sei, und ich erzählte es ihm. Er schwang sich zu der Mitteilung auf, daß er an diesem Morgen von Brindisi gekommen sei. Unser Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen, und ich beschloß, aufzustehen und zu gehen, sobald die Höf‌lichkeit es erlaubte. Mit einemmal aber hatte ich die seltsame Empfindung, daß er dies merkte und sich verzweifelt bemühte, mir nur ja keine Gelegenheit dazu zu geben. Ich war überrascht und schärf‌te meine Sinne. Ich stellte fest, daß er, sobald ich im Reden innehielt, sofort ein neues Gesprächsthema aufwarf. Er mühte sich ab, mein Interesse zu wecken, um mich zum Bleiben zu bewegen. War es denn möglich, daß er sich einsam fühlte? Infolge seiner diplomatischen Verbindungen mußte er eine Menge Menschen kennen, mit denen er den Abend hätte verbringen können. Ich wunderte mich eigentlich, daß er nicht in der Botschaft dinierte; auch wenn es Sommer war – es mußte doch jemand in Rom sein, den er kannte. Ich bemerkte überdies wieder, daß er niemals lächelte. Er sprach unablässig und mit einer verbissenen Entschlossenheit, als hätte er Angst vor dem kleinsten Augenblick der Stille und als wollte er durch den Klang seiner Stimme irgendeine innere Pein betäuben. Es war kurios: Obwohl ich ihn nicht mochte, obwohl er mir nichts bedeutete und seine Gesellschaft mir beinahe lästig war, fühlte ich wider Willen, daß er mich zu interessieren begann. Ich blickte ihn forschend an. Ich fragte mich, ob ich es mir nur einbildete, daß ich in diesen blassen Augen den eingeschüchterten Blick eines geschlagenen Hundes sah und in seinem gefälligen Gesicht mit den so wohlerzogenen beherrschten Zügen die Grimasse einer gequälten Seele. Eine Reihe unsinniger Vermutungen schoß mir durch den Kopf. Was ich empfand, hatte nichts mit menschlichem Mitgefühl zu tun: Wie ein alter Kriegsgaul, der das Schlachtfeld wittert, richtete ich mich auf. Ich war sehr müde gewesen, aber nun wurde ich lebendig. Meine Wahrnehmung streckte die Fühler aus. Gespannt registrierte ich jede Miene, jede seiner Gesten.

Ich schob den Gedanken, der sich mir aufdrängen wollte, beiseite: daß er nämlich ein Theaterstück geschrieben hätte und meinen Rat benötigte. Hochliterarische Künstler erliegen nicht selten dem Zauber des Rampenlichts und zeigen sich dann nicht abgeneigt, sich ein paar Tips bei dem handfesten Bühnenpraktiker zu holen, dessen Kompetenz sie im übrigen hochmütig ablehnen. Nein, das war es nicht. Ein alleinstehender Mann mit ästhetischen Neigungen kann in Rom leicht in Schwierigkeiten geraten; am Ende hatte sich Carruthers in eine Affäre verstrickt, über die er in der Botschaft lieber Schweigen bewahren wollte. Idealisten pflegen in Angelegenheiten des Fleisches bisweilen unvorsichtig zu sein. Sie suchen die Liebe an Orten, die der Polizei nicht uninteressant erscheinen. Ich schmunzelte innerlich: Selbst die Götter lachen, wenn ein Tugendbold in einer zweideutigen Situation ertappt wird.

Plötzlich sagte Carruthers etwas, was mich erschreckte. »Ich bin so furchtbar unglücklich.«

Er sagte es ohne Vorbereitung. Es war ihm offenbar ernst damit. Aus seiner Stimme klang etwas, was sich wie ein Schluchzen anhörte. Ich kann nicht schildern, wie schrecklich es mich berührte, diese Worte zu hören. Mir war, als würde ich an einer Straßenecke von einem heftigen Windstoß getroffen, der mir den Atem raubte und mich umzublasen drohte. Es war so unerwartet. Schließlich kannte ich diesen Menschen kaum. Wir waren nicht befreundet. Ich hatte ihn nicht gern; er mochte mich nicht. Er war mir nie als ein Mensch aus Fleisch und Blut erschienen. Es war verblüf‌fend, daß ein so beherrschter, weltmännischer, an die Gepflogenheiten der guten Gesellschaft gewöhnter Mann mit einem derartigen Geständnis über einen Fremden herfiel. Ich bin von Natur aus verschlossen. Ich würde mich schämen, einem andern von meinem Kummer zu erzählen, und wenn ich noch so unglücklich wäre. Ich schauderte. Seine Schwäche empörte mich. Einen Augenblick lang empfand ich nur Widerwillen. Wie konnte er es wagen, mich mit seinen Seelennöten zu behelligen? Beinahe hätte ich geschrien:

›Was, zum Teufel, geht das mich an?‹

Ich tat es aber nicht. Er saß zusammengesunken in seinem großen Lehnstuhl. Die feierliche Vornehmheit seiner Züge, die an die Marmorstatue eines viktorianischen Staatsmannes erinnerte, war dahin, und sein Gesicht schien seltsam verfallen. Er sah aus, als könnte er im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen. Ich zögerte, ich stammelte. Ich war rot geworden, als er zu sprechen begonnen hatte, und nun fühlte ich, wie ich erbleichte. Er war ein bejammernswertes Objekt.

»Das tut mir sehr leid«, sagte ich.

»Erlauben Sie, daß ich es Ihnen erzähle?«

»Bitte.«

Es war nicht der Augenblick für viele Worte. Carruthers mochte Anfang Vierzig sein. Er war ein gutgebauter Mann, athletisch beinahe, und hatte ein selbstbewußtes Auf‌treten. Nun sah er um zwanzig Jahre älter und sonderbar zusammengeschrumpft aus. Er erinnerte mich an die gefallenen Soldaten, die ich während des Krieges gesehen hatte und die im Tode so seltsam klein schienen. Ich war verlegen und blickte fort, fühlte aber, wie seine Augen die meinen festzuhalten suchten, und mußte ihm meinen Blick wieder zuwenden.

»Kennen Sie Betty Welldon-Burns?« fragte er mich.

»Vor Jahren bin ich ihr manchmal in London begegnet. In der letzten Zeit habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Sie lebt jetzt auf Rhodos. Ich komme von dort. Ich war bei ihr zu Besuch.«

»Ach?«

Er zögerte.

»Sie werden es sicherlich höchst merkwürdig finden, daß ich so zu Ihnen rede. Aber ich bin am Ende meiner Kräfte. Wenn ich mich jetzt nicht ausspreche, werde ich verrückt.«

Er hatte zwei doppelte Cognacs zum Kaffee kommen lassen und rief nun nach dem Kellner, um sich noch einen zu bestellen. Wir waren allein in der Halle. Zwischen uns auf dem Tisch stand eine kleine Lampe mit einem Schirm. Er sprach in diesem öffentlichen Raum mit leiser Stimme. Der Ort hatte eine merkwürdige Intimität. Was mir nun Carruthers erzählte, kann ich mit seinen Worten nicht wiedergeben, weil sie mir begreif‌licherweise nicht mehr präsent sind; es fällt mir leichter, in meiner eigenen Art davon zu berichten. Manchmal brachte er es nicht über sich, etwas auszusprechen, und ich mußte erraten, was er meinte. Manchmal hatte er nicht verstanden, und es schien mir, daß ich die Wahrheit deutlicher vor mir sah als er. Betty Welldon-Burns besaß sehr viel Humor, und er besaß keinen. Ich entdeckte vieles, was ihm entgangen war.

Ich war ihr oft begegnet, kannte sie aber hauptsächlich vom Hörensagen. Zu ihrer Zeit hatte sie in der kleinen Welt von London großes Aufsehen erregt, und ich hatte viel von ihr reden hören, ehe ich ihre Bekanntschaft machte. Es geschah auf einem Ball in Portland Place, bald nach dem Krieg. Sie stand damals schon auf der Höhe ihrer Berühmtheit. Man konnte keine Illustrierte aufschlagen, ohne ein Porträt von ihr zu finden, und ihre tollen Streiche lieferten ein beliebtes Gesprächsthema. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Ihre Mutter war tot, und ihr Vater, der Herzog von St. Erth, alt und nicht übermäßig reich, verbrachte den größten Teil des Jahres auf seinem Schloß in Cornwall. Sie aber lebte in London bei einer verwitweten Tante. Bei Kriegsausbruch ging sie nach Frankreich. Sie war gerade achtzehn Jahre alt. Sie arbeitete als Pflegerin in einem Frontlazarett und später als Fahrerin. Dann spielte sie Theater als Mitglied einer Truppe, die vor den Soldaten auf‌trat; sie wirkte in England bei Wohltätigkeitsveranstaltungen mit, posierte in lebenden Bildern, veranstaltete Auktionen für diesen oder jenen Zweck und verkauf‌te Fahnen am Piccadilly Circus. Was immer sie in Angriff nahm, es wurde mit großem Tamtam angekündigt, und in jeder neuen Rolle wurde sie ausgiebigst fotografiert. Ich nehme an, daß es ihr nicht schlecht dabei erging. Als dann der Krieg vorüber war, schien es, als wollte sie sich für die ganzen Anstrengungen entschädigen. Damals verlor alle Welt ein wenig den Kopf. Die Jugend, befreit von der Last, die sie fünf Jahre bedrückt hatte, leistete sich eine Eskapade nach der anderen. Betty beteiligte sich an jeder. Bisweilen fand eine der Affären den Weg in die Zeitungen, und ihr Name stand immer an erster Stelle. Zu jener Zeit erlebten die Nachtklubs ihre erste Blüte. Betty war ein allabendlicher Gast. Sie lebte in einem Taumel von Vergnügungen dahin – man kann es nur mit diesem trivialen Satz ausdrücken, denn es war trivial. Das britische Publikum, unberechenbar wie es ist, schloß sie ins Herz – und Lady Betty war ein feststehender Begriff auf sämtlichen britischen Inseln. Die Frauen umjohlten sie, wenn sie zu einer Hochzeit ging, und bei großen Theaterpremieren applaudierte man ihr auf der Galerie, als wäre sie eine beliebte Schauspielerin. Junge Mädchen imitierten ihre Frisur, und Fabrikanten zahlten ihr beträchtliche Summen für die Erlaubnis, ihre Fotografie zur Reklame für Seifen und Gesichtscremes verwenden zu dürfen.

Selbstverständlich aber waren so manche Leute – langweilige und biedere Leute, solche, die sich erinnerten, wie es früher war, und die den früheren Verhältnissen nachtrauerten – keineswegs mit ihr einverstanden. Sie rümpften die Nase über ihre Art, sich immer im grellen Rampenlicht zu zeigen. Sie behaupteten, sie hätte einen krankhaften Drang zur Selbstdarstellung. Sie wäre leichtsinnig und tränke zuviel. Sie fanden, daß sie zuviel rauchte. Ich muß zugeben, daß ich nur wenig über sie gehört hatte, was mich für sie hätte einnehmen können. Ich hielt nicht viel von den Frauen, die im Krieg eine Gelegenheit sahen, sich zu amüsieren und von sich reden zu machen. Zeitschriften, in denen Personen der Gesellschaft abgebildet sind, die in Cannes spazierengehen oder in St. Andrews Golf spielen, öden mich an. Ich habe die ›frischen jungen Menschen‹ immer außerordentlich langweilig gefunden und das ›rauschende Leben‹, das sie führten, öde und gehaltlos. Trotzdem hat der Moralist unrecht, wenn er es kurzerhand verurteilt; denn den jungen Leuten, die es führen, böse zu sein, das ist ebenso unsinnig, wie sich über einen Wurf junger Hunde aufzuregen, die übermütig herumtollen, durcheinanderpurzeln und ihren eigenen Schwänzen nachjagen. Man muß es mit Fassung tragen, wenn sie Verheerungen in den Blumenbeeten anrichten oder ein Stück Porzellan zerschlagen. Einige von ihnen werden ertränkt werden, weil ihre Rassenmerkmale den Anforderungen nicht entsprechen, und die übrigen werden sich zu wohlerzogenen Hunden auswachsen. Ihre Ungebärdigkeit ist bloß auf die Vitalität ihrer Jugend zurückzuführen.

Und Vitalität war es, was Betty in erster Linie auszeichnete. Sie sprühte vor warmem Leben. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den sie auf jener Abendgesellschaft auf mich machte. Sie war wie eine Mänade. Sie tanzte mit einer Hingegebenheit, die beinahe komisch wirkte, so unverhohlen war ihre Freude an der Musik und an der Bewegung ihrer jungen Glieder. Ihr Haar war braun, etwas zerzaust vom Tanz, aber ihre Augen waren dunkelblau, und ihre Haut leuchtete milchweiß und rosa. Sie war eine große Schönheit und hatte doch nichts von der Kälte einer großen Schönheit. Sie lachte unaufhörlich, und wenn sie nicht lachte, dann lächelte sie, und ihre Augen tanzten vor Lebensglück. Sie war wie eine Milchmagd am Hof der Götter. Sie hatte die Kraft und Gesundheit des Volkes; aber die unbefangene Selbstverständlichkeit ihres Wesens und eine gewisse adelige Freiheit der Haltung kennzeichneten die große Dame. Man hatte den Eindruck, daß sie sich bei aller Einfachheit und Natürlichkeit doch immer ihrer Stellung bewußt blieb. Wenn sich die Gelegenheit ergab, so wollte mir scheinen, war sie durchaus imstande, sich auf ihre Würde zu besinnen und sehr vornehm zu sein. Sie war bezaubernd zu allen Leuten, weil sie vermutlich, ohne sich dessen ganz bewußt zu werden, ihre Umwelt als völlig bedeutungslos einschätzte. Ich konnte verstehen, warum sie von den Fabrikmädchen des Londoner Ostens angeschwärmt wurde und warum eine halbe Million Menschen, die sie nie gesehen hatten und nur von Fotografien kannten, die freundlichsten Gefühle für sie hegten. Ich wurde ihr vorgestellt, und sie leistete mir ein paar Minuten Gesellschaft. Es war außerordentlich schmeichelhaft, mit welchem Interesse sie einem begegnete; man war zwar überzeugt, daß man ihre große Freude, diese Bekanntschaft gemacht zu haben, oder ihr Entzücken über alles, was man sagte, keineswegs als bare Münze zu nehmen hatte – und dennoch war es sehr anziehend. Sie hatte die Fähigkeit, die ersten schwierigen Phasen des Sichkennenlernens zu überspringen, und es dauerte keine fünf Minuten, so vermeinte man schon, sie seit Ewigkeiten zu kennen. Sie wurde von jemandem, der mit ihr tanzen wollte, von mir weggeholt und schmiegte sich nun mit der gleichen Glückseligkeit in die Arme ihres Partners, mit der sie sich zuvor in den Stuhl neben mir hatte sinken lassen. Als ich sie vierzehn Tage später bei einem Lunch traf, überraschte es mich, daß sie sich genau erinnerte, worüber wir während dieser lärmenden zehn Minuten gesprochen hatten. Eine junge Person mit allen gesellschaftlichen Gaben.

Von dieser Begegnung erzählte ich nun auch Carruthers.

»Ja, sie war gar nicht dumm«, sagte er. »Nur wenige Leute schätzten sie richtig ein. Sie schrieb sehr gute Gedichte. Aber weil sie so fröhlich und so übermütig war und sich nie darum scherte, was die Leute dachten, wurde sie von vielen für oberflächlich gehalten. Weit gefehlt. Sie war unglaublich intelligent. Es war gar nicht zu fassen, woher sie die Zeit nahm, alle die Bücher zu lesen, die sie kannte. Keiner weiß darüber besser Bescheid als ich. Während der Wochenenden auf dem Land unternahmen wir lange Wanderungen miteinander, und von London aus fuhren wir in den Richmond Park und gingen spazieren und unterhielten uns. Sie liebte Blumen und Bäume und Gräser. Sie interessierte sich für alles. Sie wußte eine Menge und hatte sehr viel Verstand. Es gab nichts, worüber man sich nicht mit ihr unterhalten konnte. Manchmal, wenn wir nachmittags miteinander spazierengegangen waren und uns nachher in einem Nachtklub trafen und sie ein paar Gläser Sekt getrunken hatte – das genügte ihr vollkommen, um in Schwung zu kommen und zum strahlenden Mittelpunkt einer Party zu werden –, dachte ich mir: Wie erstaunt würden die anderen sein, wenn sie wüßten, wie ernsthaft wir wenige Stunden zuvor miteinander gesprochen hatten. Es war ein ungeheurer Kontrast. Man hätte meinen mögen, daß zwei völlig verschiedene Wesen in ihr lebten.«

All dies erzählte Carruthers ohne ein Lächeln. Er sprach mit einer Melancholie, als handelte es sich um einen Menschen, der durch einen vorzeitigen Tod aus dem Leben gerissen worden war. Er seufzte tief auf.

»Ich habe sie leidenschaftlich geliebt. Dutzende Male habe ich sie gebeten, meine Frau zu werden. Ich wußte, daß ich keine Chancen bei ihr hatte – wer war ich denn? Ein junger Beamter im Auswärtigen Amt – aber ich konnte nicht anders. Sie wies mich ab, ohne sich von mir abzuwenden. Es änderte nichts an unserer Freundschaft. Sie müssen verstehen, sie hatte mich gern. Ich gab ihr etwas, was die anderen ihr nicht geben konnten. Ich redete mir ein, daß sie mich im Grunde am liebsten von allen ihren Freunden hatte. Ich war vernarrt in sie.«

»Sie dürften nicht der einzige gewesen sein«, sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen.

»Natürlich nicht. Sie bekam Liebesbriefe von Männern, die sie nie gesehen hatte, von Farmern aus Afrika, von Bergleuten und Polizisten aus Kanada, Heiratsanträge aus aller Welt. Sie hätte heiraten können, wen sie wollte.«

»Selbst Prinzen aus königlichem Haus, hieß es.«

»Ja. Aber sie wollte von alldem nichts hören. Schließlich heiratete sie Jimmy Welldon-Burns. «

»Man war damals sehr überrascht, nicht?«

»Haben Sie ihn kennengelernt?«

»Nein, ich glaube nicht. Es mag sein, daß ich ihn einmal getroffen habe. Jedenfalls ist mir keine Erinnerung an ihn geblieben.«

»Das wundert mich nicht weiter. Er war der unbedeutendste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Sein Vater war ein großer Fabrikant irgendwo im Norden. Er hatte während des Krieges sehr viel Geld verdient und sich den Adel gekauft. Es war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er es zu solchem Glanz bringen würde. Jimmy war mit mir in Eton gewesen, und man hatte sich alle Mühe gegeben, einen Gentleman aus ihm zu machen. Nach dem Krieg traf man ihn in London überall. Er war für jede Gesellschaft zu haben. Kein Mensch interessierte sich für ihn. Er durf‌te die Rechnungen bezahlen, das war alles. Er war hoffnungslos ledern und langweilig. Sehr korrekt, wissen Sie, fürchterlich höf‌lich; es wurde einem nicht wohl mit ihm, weil er gar so ängstlich bemüht war, stets nur das Richtige zu tun. Seine Kleider sahen immer so aus, als hätte er sie zum erstenmal an. Überdies waren sie immer ein wenig zu eng.«

Als Carruthers eines Tages ahnungslos seine Times aufschlug und darin die Nachricht fand, daß Elizabeth, die einzige Tochter des Herzogs von St. Erth, sich mit James, dem ältesten Sohn des Sir John Welldon-Burns verlobt habe, war er sprachlos. Er rief Betty an: ob das stimme?

»Natürlich«, antwortete sie.

Er war so entsetzt, daß er zuerst keine Entgegnung fand. Sie fuhr fort:

»Heute kommt seine Familie zum Lunch, um meinen Vater kennenzulernen. Ich fürchte, es wird ein wenig anstrengend werden. Du könntest mir zur Stärkung einen Cocktail bei Claridge spendieren; hast du Lust?«

»Um wieviel Uhr?«

»Um eins.«

»Schön. Ich komme.«

Er saß schon da und wartete, als sie eintrat. Ihr Gang war beschwingt und elastisch, als wollten ihre Füße von einem Augenblick zum andern zu tanzen anfangen. Sie lächelte. Ihre Augen strahlten, weil sie lebte und weil die Welt ein so angenehmer Aufenthaltsort war. Man erkannte sie, als sie hereinkam, und die Leute stießen sich flüsternd an. Es war, als brächte sie Sonnenschein und Blumenduft in den würdevoll-vornehmen Glanz des Raumes. Carruthers nahm sich nicht einmal Zeit, sie zu begrüßen.

»Betty, das kann nicht dein Ernst sein«, sagte er. »Es kommt einfach nicht in Frage.«

»Warum nicht?«

»Er ist gräßlich.«

»Das kann ich nicht finden. Ich finde ihn recht nett.«

Ein Kellner kam und nahm ihre Bestellung entgegen.

Betty blickte Carruthers mit ihren schönen blauen Augen an, die so heiter und zärtlich zugleich sein konnten.

»Er ist ein so fürchterlicher Parvenü, Betty.«

»Unsinn, Humphrey. Er ist so gut wie jeder andere. Aber du bist ein großer Snob.«

»Er ist so langweilig.«

»Nein, er ist bloß ruhig. Ich möchte keinen Mann, der besonders geistreich ist. Er wird einen ausgezeichneten Hintergrund abgeben. Er sieht gut aus und hat nette Manieren.«

»Mein Gott, Betty.«

»Mach dich nicht lächerlich, Humphrey.«

»Willst du mir etwa einreden, daß du in ihn verliebt bist?«

»Es wäre taktvoll von mir, nicht?«

»Warum willst du ihn heiraten?«

Sie blickte ihm kühl ins Gesicht.

»Er schwimmt in Geld. Ich bin nahezu sechsundzwanzig.«

Was war da noch viel zu sagen? Carruthers brachte sie nach Hause. Sie hatte eine sehr prunkvolle Hochzeit. Dichte Menschenmengen umdrängten die Zufahrt zur Kirche, fast sämtliche Mitglieder der königlichen Familie sandten Geschenke – und die Flitterwochen wurden auf einer Yacht verlebt, die ihnen der Vater des Bräutigams geliehen hatte. Carruthers aber bewarb sich um einen Posten im Ausland und wurde nach Rom geschickt (ich hatte recht mit der Vermutung, daß er auf diese Weise sein wunderbares Italienisch erworben hatte) und später nach Stockholm. Dort wurde er Botschaftsrat, und dort schrieb er die erste seiner Geschichten.

Vielleicht enttäuschte Bettys Heirat die britische Öffentlichkeit, die viel großartigere Dinge von ihr erwartet hatte, vielleicht verlor sie als jungverheiratete Frau etwas von ihrem romantischen Nimbus. Tatsache blieb, daß es mit ihrer bevorzugten Stellung in den Augen des Publikums bald vorbei war. Man hörte nicht mehr viel von ihr. Nicht lange nach ihrer Hochzeit verbreitete sich das Gerücht, sie erwarte ein Kind, und ein wenig später munkelte man von einer Fehlgeburt. Sie verschwand keineswegs aus der Gesellschaft und setzte den Verkehr mit ihren Freunden fort, aber ihre Aktionen hatten nichts Sensationelles mehr. Immer seltener war sie in jenen frivolen Kreisen anzutreffen, in denen die Mitglieder einer abgetakelten Aristokratie sich mit Künstlern und deren Anhang verbrüderten, um sich schmeicheln zu können, gleichzeitig smart und kultiviert zu sein. Es hieß, daß sie allmählich Vernunft angenommen hätte. Man fragte sich, wie sie mit ihrem Mann auskam, und entschied sich sehr rasch, daß sie nicht sehr gut mit ihm auskam. Bald entstand das Gerücht, Jimmy hätte zu trinken begonnen, und ein bis zwei Jahre später hörte man, daß er an Tuberkulose erkrankt sei. Die Welldon-Burns verbrachten einige Winter in Italien. Dann verbreitete sich die Nachricht, daß sie sich getrennt hätten und daß Betty nun auf Rhodos lebte. Seltsam, sich einen solchen Aufenthaltsort auszusuchen.

»Es muß sterbenslangweilig sein«, sagten ihre Freunde.

Einige besuchten sie und erzählten, wenn sie zurückkehrten, von der Schönheit der Insel und dem unbeschwerten Zauber des Lebens, das man dort führte. Aber es war natürlich sehr einsam. Es war kaum zu fassen, daß Betty mit ihren glänzenden Gaben und ihrer Vitalität sich mit einem solchen Dasein bescheiden konnte. Sie hatte ein Haus gekauft. Sie kannte niemanden außer ein paar italienischen Verwaltungsbeamten; es war ja sonst auch niemand da. Aber sie schien vollkommen glücklich zu sein. Es war ein Rätsel. Das Londoner Leben ist voller Ereignisse, und man vergißt so rasch! Man hörte auf, sich mit Betty zu beschäftigen. Ein paar Wochen ehe ich Humphrey Carruthers in Rom begegnete, berichtete die Times vom Tod des Sir James Welldon-Burns. Sein jüngerer Bruder erbte den Titel. Betty hatte keine Kinder.

Carruthers sah sie auch nach ihrer Heirat regelmäßig. Jedesmal, wenn er nach London kam, trafen sie sich zum Lunch. Sie hatte die Fähigkeit, eine Freundschaft nach langer Trennung wiederaufzunehmen, als ob der dazwischenliegende Zeitraum gar nicht existierte; es entstand keine Fremdheit zwischen ihnen, wenn sie sich wiedersahen. Manchmal fragte sie ihn, wann er denn heiraten wolle.

»Du wirst nicht jünger, Humphrey. Wenn du nicht bald heiratest, wirst du noch ganz altjüngferlich.«

»Kannst du die Ehe empfehlen?«

Das war nicht sehr taktvoll, denn wie jeder andere hatte auch er gehört, daß sie sich nicht besonders gut mit ihrem Mann verstand. Aber ihre Frage hatte ihn geärgert.

»Im allgemeinen, ja. Ich finde, daß eine schlechte Ehe immer noch besser ist als gar keine.«

»Du weißt ganz genau, daß ich unter keinen Umständen heiraten würde, und du weißt auch, warum.«

»Aber, Lieber, du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß du immer noch in mich verliebt bist.«

»Doch, das bin ich.«

»Du bist verrückt.«

»Vielleicht.«

Sie lächelte ihn an. Ihre Augen hatten immer noch den halb neckenden, halb zärtlichen Blick, der ihn so schmerzhaft glücklich machte; er hätte genau angeben können, an welcher Stelle ihm das Herz weh tat.

»Du bist sehr lieb, Humphrey. Du weißt, daß ich dich furchtbar gern habe. Aber ich würde dich niemals heiraten, selbst wenn ich frei wäre.«

Als sie sich von ihrem Gatten trennte und sich nach Rhodos zurückzog, sah Carruthers sie nicht mehr. Sie kam nie nach England. Sie führten eine lebhaf‌te Korrespondenz.

»Ihre Briefe waren wunderbar«, erzählte er. »Es war, als ob man sie reden hörte. Sie waren so wie sie. Klug, witzig, sprunghaft und doch so gescheit.«

Einmal sprach er den Wunsch aus, auf ein paar Tage nach Rhodos zu kommen, aber sie riet ihm ab. Er glaubte zu erraten, weshalb. Jeder wußte, daß er wahnsinnig in sie verliebt gewesen war. Jeder wußte, daß er sie immer noch liebte. Er kannte die Umstände nicht genau, unter denen die Welldon-Burns sich getrennt hatten. Vielleicht waren sie in Feindschaft auseinandergegangen. Vielleicht fürchtete Betty, seine Anwesenheit auf der Insel könnte sie kompromittieren.

»Sie schrieb mir einen bezaubernden Brief, als mein erstes Buch erschien. Ich hatte es ihr gewidmet. Sie war überrascht, daß ich etwas so Gutes zustande gebracht hatte. Ich hatte viel Erfolg, und darüber war sie entzückt. Ihre Freude war mir mehr wert als alles andere. Schließlich bin ich kein berufsmäßiger Schriftsteller. An literarischem Erfolg ist mir nicht viel gelegen.«

›Esel‹, dachte ich, ›du Lügner.‹ Glaubte er tatsächlich, daß es mir verborgen geblieben war, wie stolz ihn die günstige Aufnahme seiner Bücher gemacht hatte? Ich machte ihm daraus keinen Vorwurf, nichts war verzeihlicher, aber warum gab er sich solche Mühe, es zu leugnen? Immerhin war nicht daran zu zweifeln, daß er sich hauptsächlich Bettys wegen über die neuerworbene Berühmtheit gefreut hatte. Nun hatte er ihr etwas Positives zu bieten. Nun konnte er ihr nicht nur seine Liebe, sondern auch einen angesehenen Namen zu Füßen legen. Betty war nicht mehr sehr jung. Sie war sechsunddreißig Jahre alt; ihre Heirat, ihr Aufenthalt im Ausland hatten manches geändert; sie war nicht mehr von Bewerbern umdrängt; sie hatte den Nimbus verloren, den die öffentliche Bewunderung ihr verliehen hatte. Die Distanz zwischen ihnen war nicht mehr unüberbrückbar. Er allein war ihr durch all die Jahre treu geblieben. Es war unsinnig, daß sie ihre Schönheit, ihren Geist, ihre gesellschaftliche Grazie für immer auf dieser Insel begraben sollte. Er wußte, daß sie ihn gern hatte. Es war kaum möglich, daß seine unerschütterliche Liebe ohne Eindruck auf sie blieb. Und er war nun imstande, ihr ein Leben zu bieten, das ihr durchaus zusagen mußte. So beschloß er also, sie noch einmal um ihre Hand zu bitten. Er konnte sich gegen Ende Juli freimachen. Er schrieb ihr, daß er die Absicht habe, seine Ferien auf den griechischen Inseln zu verbringen. Falls es ihr recht wäre, würde er gern auf zwei bis drei Tage nach Rhodos kommen, wo, wie man ihm erzählt habe, soeben ein ausgezeichnetes italienisches Hotel eröffnet worden sei. Er wählte aus Behutsamkeit diese beiläufige Art für seinen Vorschlag. Seine Erziehung im Auswärtigen Amt hatte ihn gelehrt, schroffe Deutlichkeiten zu vermeiden. Er versetzte sich niemals freiwillig in eine Situation, aus der er sich nicht, wenn nötig, mit Takt zurückziehen konnte. Betty antwortete ihm telegraphisch, sie finde es großartig, daß er nach Rhodos kommen wolle; er müsse selbstverständlich bei ihr wohnen und mindestens vierzehn Tage bleiben. Sie bitte ihn, telegraphisch das Schiff anzugeben, mit dem er eintreffe.

Er war außer sich vor Aufregung, als das Schiff, das er in Brindisi bestiegen hatte, bald nach Sonnenaufgang in den sauberen, hübschen Hafen von Rhodos einlief. Er hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan, war am frühen Morgen aufgestanden und hatte die Insel majestätisch aus der Dämmerung auf‌tauchen und die Sonne über dem sommerlichen Meer aufgehen sehen. Boote kamen heran, während das Schiff die Anker warf. Die Gangway wurde herabgelassen. Humphrey lehnte sich über das Geländer und sah zu, wie der Arzt, die Hafenbeamten und die Hotelboten heraufgeeilt kamen. Er war der einzige Engländer an Bord. Seine Nationalität war unverkennbar. Ein Mann kam auf Deck und trat geradewegs auf ihn zu.

»Sind Sie Mr. Carruthers?«

»Ja.«

Er war im Begriff, zu lächeln und die Hand auszustrecken, merkte aber in der nächsten Sekunde, daß der Mann, der ihn angeredet hatte – Engländer wie er selbst –, kein Herr war. Instinktiv wurde sein Benehmen, obgleich es ausnehmend höf‌lich blieb, ein wenig steif. Das erzählte Carruthers mir natürlich nicht, aber ich sehe die Szene so deutlich vor mir, daß ich sie ohne Zögern beschreiben kann.

»Die gnädige Frau läßt um Entschuldigung bitten, daß sie Ihnen nicht selbst entgegengekommen ist, aber das Schiff trifft so früh am Morgen ein, und von unserem Haus bis hierher haben wir über eine Stunde zu fahren.«

»Aber natürlich. Geht es der gnädigen Frau gut?«

»Ja, danke. Liegt Ihr Gepäck bereit?«

»Jawohl.«

»Wenn Sie mir zeigen wollen, wo es ist, werd ich es von einem dieser Burschen in ein Boot bringen lassen. Sie werden keine Schwierigkeiten beim Verzollen haben. Das hab ich schon abgemacht. Haben Sie gefrühstückt?«

»Ja, danke.«

Der Mann sprach ein ungebildetes Englisch. Carruthers fragte sich, wer er sein mochte. Man konnte ihn nicht ausgesprochen unhöf‌lich nennen, aber er benahm sich zweifellos ein bißchen unzeremoniell. Carruthers wußte, daß Betty ein ziemlich großes Besitztum hatte; vielleicht war er ihr Verwalter. Er schien sehr tüchtig zu sein. Er gab den Trägern seine Anweisungen in fließendem Griechisch. Als man in ein Boot stieg und die Bootsleute mehr Geld verlangten, als er ihnen gegeben hatte, antwortete er ihnen mit ein paar Worten, die sie zum Lachen brachten, und sie gaben sich mit einem Achselzucken zufrieden. Das Gepäck passierte die Zollstelle, ohne untersucht zu werden, Humphreys Führer schüttelte den Zollbeamten freundschaftlich die Hand, und nun trat man auf einen sonnigen Platz hinaus, auf dem ein großes gelbes Auto wartete.

»Werden Sie mich fahren?« fragte Carruthers.

»Ich bin der Chauffeur der gnädigen Frau.«

»Ach so. Das wußte ich nicht.«

Er war nicht gekleidet wie ein Chauffeur. Er hatte weiße Leinenhosen an und Strandschuhe an den bloßen Füßen, ein weißes Tennishemd ohne Krawatte mit offenem Halskragen und einen Strohhut. Carruthers runzelte die Stirn. Es war nicht richtig von Betty, den Mann in diesem Aufzug chauffieren zu lassen. Allerdings hatte er vor Tagesanbruch aufstehen müssen, und allem Anschein nach würde es eine heiße Fahrt bis zur Villa werden. Vielleicht trug er unter gewöhnlichen Umständen Uniform. Obgleich nicht so groß wie Carruthers, der ohne Schuhe eins dreiundachtzig maß, war er doch nicht klein; aber er war breitschultrig und stämmig gebaut, so daß er eher gedrungen wirkte. Er war nicht dick, aber gut genährt, und man traute ihm einen herzhaften Appetit zu. Noch jung, dreißig vielleicht oder einunddreißig, hatte er bereits etwas Massiges, das sich mit der Zeit ins Fleischige auswachsen würde. Gegenwärtig war er ein handfester Bursche. Er hatte ein breites, tief gebräuntes Gesicht, eine kurze dickliche Nase und einen etwas mürrischen Blick. Er trug einen kleinen hellen Schnurrbart. Sonderbarerweise hatte Carruthers das unbestimmte Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein.

»Sind Sie schon lange bei der gnädigen Frau?«

»Nun ja, sozusagen.«

Carruthers wurde ein wenig steifer. Er war nicht ganz einverstanden mit der Art, in der dieser Chauffeur sprach. Es befremdete ihn, nicht mit ›Sir‹ von ihm angeredet zu werden. Er befürchtete, daß er Betty über den Kopf gewachsen war. Sie nahm es mit derartigen Dingen nicht allzu genau.