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ISBN 978-3-492-97822-4

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: ostill/shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

Die Notwendigkeit von Feueropalen

Der Tag, an dem ein Blutpfropf in unser Leben trat

Im Niemandsland

Wie Doodle mein Leben rettete

Ein Freund, ein Porsche und drei Blondinen

Die Heimkehr

Die Sache mit den Pflegern oder warum am Ende doch alle Wege nach Polen führen

Dicke Schiffe

Feste feiern, wie sie fallen

Wenn du keine Entscheidung triffst, trifft die Entscheidung dich

Ein Wink des Schicksals

Dann bringe ich sie um

Das Miststück hat kein Mitspracherecht

Vincent

Kurwa mać (auf deutsch: verfluchte Scheiße)

Schwarz auf weiß

Die Pfingstkatastrophe

Die Vision

Rache ist süß

Familienroulette

Danksagung

Vorwort

Natürlich war nichts von alldem geplant. Nicht der Schlaganfall meines Mannes Henrik und noch weniger dieses Buch. Ein so persönliches, intimes Schicksal in die Öffentlichkeit zu kehren, ist keine leichte Entscheidung. Aber ich glaube nicht an Zufälle, sondern daran, dass man sein Schicksal in die Hand nehmen muss – auch wenn man es sich nicht selbst ausgesucht hat.

Eineinhalb Jahre nach Henriks Schlaganfall fing ich an darüber nachzudenken, wo er langfristig wohnen könnte, denn ein klassisches Pflegeheim kam für uns nie infrage. So entstand die Idee zu einer Pflege-WG – für Henrik und andere Betroffene und deren Familien, die ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen. Kurze Zeit später lernte ich in Paris über gemeinsame Freunde Laurent de Cherisey kennen, den Gründer der Simon de Cyrène Stiftung, die in Frankreich Wohngemeinschaften für Erwachsene mit körperlichen und geistigen Behinderungen betreibt – jene Organisation, die Philippe Pozzo di Borgo mit seiner Autobiografie und dem Filmerfolg »Ziemlich beste Freunde« unterstützt. Laurent riet mir, an die Öffentlichkeit zu gehen, um für das Projekt zu werben. Nur wie? Dann traf ich während einer Geschäftsreise in Montreal bei einem Abendessen Miriam. Es war eine große Runde, aber das Schicksal setzte uns nebeneinander. Ich erzählte ihr von meinem Leben. Von Henrik. Von seinem Schlaganfall. Von dem ganzen Irrsinn, der seitdem unser Leben bestimmt. Und als schon alle gegangen waren und die Kellner die Stühle auf die Tische stellten, saßen wir immer noch dort und Miriam weinte und lachte im Wechsel. Drei Stunden lang. Danach sagte sie erschöpft zu mir: »Du musst das aufschreiben.« Und ich sagte: »Ich kann aber nicht schreiben.« Und sie sagte: »Aber ich.«

Nach einem Probekapitel, einem Konzept, hundertfünfzig nächtlichen Skype-Stunden und abendfüllenden Telefonaten ist es nun fertig.

Ich habe weiche Knie, wenn ich nur daran denke, dass nun jeder ins Innerste unserer Familie blicken kann, aber ich hoffe, dass das, was uns widerfahren ist bzw. widerfährt, vielen anderen Menschen mit einem ähnlichen Schicksal Mut und das Gefühl gibt, dass sie nicht alleine sind. Dass das Leben irgendwie doch weitergeht – irgendwie anders, aber irgendwie vielleicht sogar besser, als man denken würde.

Dies ist die Geschichte unserer Familie – ab dem Tag, an dem Henriks Schlaganfall alles veränderte. Sie ist für meine Kinder und für mich, denn mir hat das Aufschreiben geholfen, unser Schicksal bewusst zu verarbeiten, mich gezwungen innezuhalten und zu reflektieren, in meinem Herzen herumzukramen, Tränen nochmals fließen zu lassen und bei aller Absurdität unseres neuen Lebens auch sehr oft von Herzen zu lachen.

Dieses Buch ist, wenn alles klappt, der Startschuss für ein neues Wohnprojekt, den Verein »Haus für Morgen e. V.« (www.haus-fuer-morgen.com): Eine Wohngemeinschaft, in der Henrik von gleichgesinnten, aufgeschlossenen und interessierten Erwachsenen mit Pflegebedarf umgeben ist. Kein steriles Pflegeheim, in das ich ihn nie, nie geben könnte, sondern ein echtes Zuhause.

Vor allem aber ist dieses Buch für Henrik, meinen Mann. Schließlich ist er die Hauptperson des Buches – und unseres Lebens. Henrik war bei jedem Thema und jedem Kapitel involviert. Er hat genauso regelmäßig mit Miriam, der Autorin, gesprochen wie ich. Seine Kommentare (im Buch kursiv gedruckt) sind ungefiltert, unredigiert und durchgehend im Originalton wiedergegeben. Das war allen Beteiligten dieses Buches, einschließlich Henrik, wichtig. Er ist und war schon immer eine starke Persönlichkeit. Er ist und bleibt einfach unglaublich.

Die Notwendigkeit von Feueropalen

Es sind die kleinen Dinge, die mich daran erinnern, dass nichts mehr normal ist in meinem Leben. Die großen Veränderungen nimmt man irgendwann hin und arrangiert sich damit. Die kleinen aber erwischen einen kalt von hinten. Heute war es ein Päckchen der Firma Juwelo. Darin: drei Feueropal-Goldringe, in Brillianten eingefasst. In dem beiliegenden Schreiben wird mir zu meiner Teilnahme an der Juwelo-TV-Live-Auktion gratuliert. Außerdem erfahre ich, dass die Steine aus einer inzwischen geschlossenen Mine in Brasilien stammen und ich den Zuschlag zum sagenhaften Preis von 3139 Euro pro Ring bekommen habe. Der Betrag von 9417 Euro wurde inklusive Mehrwertsteuer bereits von dem angegebenen Kreditkartenkonto abgebucht. Viel Freude damit.

Bis heute wusste ich nicht einmal, dass es Juwelo-Fernsehen gibt, aber es klingt nicht gut. Henrik. Er hat wieder einmal zugeschlagen. Ein Fernseher ist Segen und Fluch zugleich, seit Henrik die Wunderwelt der Shopping-Kanäle entdeckt hat, jedoch mehr Fluch als Segen. Ich rufe die Kunden-Hotline an.

»Juwelo TV, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, mein Name ist Wentzel, ich habe heute drei Feueropale von Ihnen bekommen.«

»Wie schön.«

»Geht so.«

»Sind Sie mit der Qualität unzufrieden?«

»Nein, die Bestellung an sich ist das Problem.«

»Keine Sorge, Frau Wentzel, bei uns gibt es keine Probleme.«

»Oh, dann würde ich gern bei Ihnen einziehen.«

Ein herzhaftes Lachen auf der anderen Seite. Ein bisschen zu herzhaft für aufgesetzte Freundlichkeit, wie man sie von solchen Hotlines kennt. Es klingt beinahe echt.

»Was genau ist denn Ihr Problem? Kann ich Ihnen dabei helfen?«, fragt mich die Frauenstimme mit einem warmen Unterton.

Das hätte sie besser nicht tun sollen, denn genau in diesem Moment öffnen sich bei mir alle Schleusen, einfach so. Es trifft eine unschuldige Frau, die vermutlich hinter irgendeiner grauen Trennwand eines Callcenters sitzt und die Minuten bis Schichtende zählt, aber jetzt gibt es für sie kein Entkommen mehr, denn es bricht aus mir heraus, voller Wucht und unkontrolliert – ich erzähle ihr von meinem Mann.

Henrik ist Mitte fünfzig, ein Macher, ein Alphatier. Wir sind seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet. Kennengelernt haben wir uns in Paris, wo ich aufgewachsen bin. Er arbeitete damals für eine deutsche Bank und tauchte plötzlich bei einem Essen von Freunden auf. Einer von diesen deutschen Streberjungs, habe ich an dem Abend gedacht, doch der Streber war charmant und sehr komisch, er hatte einen sarkastischen und feinen Witz, so subtil und klug, dass es mich erwischt hat. Wir haben drei Kinder, tolle Kinder, und wir haben uns zusammen etwas aufgebaut, uns Träume erfüllt. Aus heutiger Sicht haben wir wohl eine Bilderbuchfamilie abgegeben, aber das fällt einem immer erst hinterher auf. Henrik ist in vielerlei Hinsicht der Typ Mann, den sich Mütter für ihre Töchter wünschen: erfolgreich, intelligent, verantwortungsvoll, witzig. Er segelt, joggt, fährt Rennrad, was man halt so macht, wenn man voll im Saft steht und es wissen will. Immer. Er kann nicht anders. Immer hundert Prozent, mindestens. Ein Mann mit Werten und voller Prinzipien, loyal und absolut verlässlich.

»Verstehen Sie?«, sage ich mit bebender Stimme ins Telefon, »Henrik würde so etwas normalerweise nie tun – Goldringe bei einer Teleshopping-Auktion ersteigern. Er ist Jurist, komplett vernunftgetrieben. Er war fünfzehn Jahre Finanzvorstand bei einer Reederei, ein Hanseat durch und durch.« Ich rede ohne Punkt und Komma, absurdes, zusammenhangloses Zeug, das diese Frau weder interessiert noch im Geringsten etwas angeht, und das rein gar nichts zur Klärung meines Anliegens beiträgt, aber ich finde den Stoppschalter einfach nicht mehr.

»Mein Mann«, höre ich mich weiterreden, »also er ist natürlich immer noch Henrik, aber irgendwie auch nicht, denn sonst hätte er niemals diese Goldringe gekauft, denn er weiß ja, dass ich gar kein Gold trage, aber vielleicht sollte das ein Scherz sein, oder bloß Rache, um mich zu ärgern, wegen der Sache mit der Dürerstraße …«

»Entschuldigen Sie«, unterbricht mich die Stimme am Ende der Leitung, »was hat Ihr Mann denn nun mit der Bestellung zu tun?«

»Er hatte einen Hirnschlag«, sage ich, und da ist er, der Stoppschalter.

Zwei Silben. Ein Hirn, ein Schlag. Es gibt nicht viele Wörter, die so treffend sind wie dieses. Ich bin wieder bei Sinnen. Hilfe, ist das peinlich.

»Es sind große Teile seines Gehirns beschädigt worden«, erkläre ich, »leider auch die, die mit der Einordnung von Realität zu tun haben – und mit der Notwendigkeit von Feueropalen.«

»Ich verstehe.«

»Ich habe einen Betreuerausweis, wenn Sie wollen, kann ich den aufs Fax legen.«

»Nicht nötig, Frau Wentzel. Sie können die Bestellung jederzeit rückgängig machen. Sie haben ein 14-tägiges Widerrufsrecht. Schicken Sie uns einfach das Päckchen zurück, wir überweisen den Betrag dann wieder auf das angegebene Konto, und das war’s.«

»Danke.«

»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen? Ich meine, im Rahmen meiner Möglichkeiten?«

»Nein. Nein, danke.«

Ich lege auf und wische die Tränen vom Hörer, die zwischen die Tasten getropft sind. Sie wird mich für verrückt gehalten haben, die Callcenter-Dame. Wird aufgelegt und sich gedacht haben: Arme Frau. Oder vielleicht auch: Armer Mann. Wollte der Alten sicher nur eine Freude machen. Aber warum eigentlich drei Ringe?

»Wer war denn da am Telefon?«

Henrik hat sich vom Fernseher losgerissen. »Juwelo TV.«

»Kenne ich nicht.«

»Du hast dort aber drei Ringe ersteigert.«

»Barbara, das ist Unterschichtenfernsehen.«

»Hier. Drei Feueropale aus Brasilien.«

Henrik öffnet eine der drei Schmuckschatullen mit seiner rechten Hand. Die linke ruht bewegungslos in der Orthese. Seine linke Körperseite will bis heute nicht so richtig, bald drei Jahre nach dem Schlaganfall. Er lächelt sein schiefes Lächeln.

»Hübsch, nicht?«, sagt er.

»Was um Himmels willen willst du mit drei brasilianischen Feueropalen?«

»Das sollte eine Weihnachtsüberraschung sein.«

»Ach, Henrik.«

»Die Mine, aus der sie stammen, ist inzwischen geschlossen. Ich habe da eine außerordentlich interessante Reportage auf Arte gesehen.«

»Und danach hast du auf Juwelo TV umgeschaltet?«

»Das muss dann wohl so gewesen sein.«

»Und hast mal eben drei Ringe ersteigert.«

»Gut, nicht?«

»Warum eigentlich gleich drei?«

»Na, einen für dich, einen für Klara und einen für Iveta.«

Klara ist unsere Tochter, sie studiert Medizin in Ungarn, irgendwann will sie einmal andere Schlaganfallpatienten retten. Und Iveta ist Henriks polnische Pflegerin. Vermutlich will sie die ganze Welt retten, denn ohne diesen Antrieb hätte sie bestimmt längst gekündigt. Ich weiß: Henrik hat es nur gut gemeint. Dummerweise übersteigen diese gut gemeinten Teleshopping-Ausflüge jedoch bei Weitem mein Gehalt.

Ich packe die Ringe zurück ins Kuvert und gebe Henrik einen Kuss auf die Wange. »Danke, Schatzi.« In mir brodelt es. Vor Wut, vor Rührung und Scham. Aber das bemerkt Henrik nicht, denn in seinem Gehirn sind die Areale zerstört worden, die für Wahrnehmungen, Emotionen und das Einschätzen von Zeit, Raum und Wirklichkeit zuständig sind. Er nimmt Dinge und Geschehnisse anders wahr und ordnet sie anders ein. Ich weiß das alles. Theoretisch. Trotzdem will ich es manchmal nicht wahrhaben.

»Würdest du mir jetzt bitte die Ringe geben«, sagt Henrik.

»Du sollst mir doch nicht so teure Geschenke machen.«

»Ich bestimme immer noch, was ich schenken will und was nicht.«

»Henrik, das sind fast 10 000 Euro, das ist momentan einfach nicht drin.«

»Seit wann interessiert es dich, wie teuer deine Geschenke sein dürfen?«

»Seit wir nur noch von einem Einkommen leben.«

»Meines Wissens nagen wir nicht am Hungertuch. Das haben wir noch nie.«

»Tun wir aber bald, wenn du weiter so viel bestellst.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass mein Einkommen immer beträchtlich höher war als deins?«

»Richtig: WAR.«

»Sobald ich wieder Geld verdiene, wirst du dich noch umsehen. Und auch all die anderen Herrschaften, die mich hier kleinhalten und nicht für voll nehmen. Anscheinend befinde ich mich hier irgendwo zwischen Irrenanstalt und Kita.«

»Ich nehme dich durchaus für voll, Henrik, aber es wäre schön, wenn du solche Ausgaben erst einmal mit mir besprechen würdest.«

»Du bist hier aber nicht der Boss.«

»Aber du auch nicht. Wir müssen solche Ausgaben zusammen besprechen. Das nennt man Teamwork.«

»Ich war immer der Boss. Mein ganzes Leben lang. Und jetzt bin ich eine arme Sau, gestraft mit so einer Ehefrau. Und das nennst du Team.«

Dann wendet er sich ab und sieht zum Fernseher. Der Jingle der Big Bang Theory ertönt, seine Lieblingsserie fängt an. Seit Henrik aus der Reha zurück ist, sieht er exzessiv fern: viele Reportagen, Dokumentationen und Nachrichten – sein wacher Geist will beschäftigt werden. Er hat nach wie vor das Bedürfnis, sich weiterzubilden. Und Entscheidungen zu treffen. Fernsehen schlägt gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe. Am Fernseher ist er der König, die Fernbedienung ist sein Zepter. Manchmal sehen wir den Tatort zusammen, aber das Programm überlasse ich immer ihm. Wir haben schon genügend andere Kriegsschauplätze.

Ich nehme das Päckchen und stecke es in meine Handtasche. Wenn ich es gleich morgen früh zurückschicke, schaffe ich den Kontoausgleich vielleicht noch vor der Kreditkartenabrechnung am Ende des Monats. Eine Abbuchung von 9417 Euro sprengt meinen Dispo, und ich habe noch nicht mal die Pflegeagentur für diesen Monat bezahlt. Wenn das Konto bei der Abbuchung nicht gedeckt ist, ziehen die am Ende den Pfleger ab.

Mir ist heiß und schwindelig. Ich öffne die Terrassentür und stelle mich in die kalte Luft. Ich neige nicht zum Dramatisieren, nicht zur Hysterie und auch nicht zur Gefühlsduselei. Umso unverständlicher ist mir dieser Ausbruch von eben am Telefon. Eigentlich habe ich mich meistens ganz gut im Griff. Mich und das Leben, das sich seit dem 3. April 2013 nur noch um eines dreht: Henrik. Aber vielleicht sollte ich von vorne anfangen. Mit dem Tag, an dem ein Blutpfropf in unser Leben trat.

Der Tag, an dem ein Blutpfropf
in unser Leben trat

Das Geräusch war dumpf und plump, als würde ein Sack Kartoffeln vom Laster fallen. Nur, dass bei uns im Badezimmer weder Kartoffeln lagern noch Laster parken. Ich stehe frisch geduscht mit nassen Haaren in Maxis Zimmer, um ihn aus dem Bett zu jagen, was bei 13-Jährigen bekanntlich nicht so einfach ist. Immerhin ist bereits ein Auge zur Hälfte geöffnet, als er zu lachen anfängt. »Papi hat sich doch jetzt nicht echt in der Dusche hingelegt, oder?«, fragt er. »Sollen wir dir eine von diesen hübschen barrierefreien Senioren-Sitzduschen einbauen, Schatzi?«, rufe ich ins Bad. Keine Antwort. Wir prusten los. »Ich hab’s«, sagt Maxi. »Ich schenke ihm zum Geburtstag so einen rutschfesten Gummiduschteppich.« »Na, dann beeil dich, sind ja nur noch fünf Tage.« Dann gehe ich ins Bad, um nach Henrik zu sehen.

Unsere Morgen sind perfekt eingespielt: Aufstehen, duschen, erst ich, dann Henrik, Kinder wecken, Kaffee kochen, Frühstücken, Termine aller Familienmitglieder koordinieren, allgemeines Schlüsselsuchen, dann verschwindet einer nach dem anderen aus dem Haus. Dass an diesem Morgen bei Punkt drei unser gesamtes Leben stehen bleiben sollte und nie wieder sein würde, wie es vorher war, ahnte an diesem Mittwochmorgen keiner von uns.

Henrik liegt in der Badewanne, regungs- und hilflos, das Gesicht schief, als hätte es jemand aus den Angeln gehoben. Heißes Wasser läuft ihm über den Kopf, hinter dem Dampf- und Wasserschleier ein leerer Blick. Ich drehe das Wasser ab und beuge mich über ihn. Die Lippen bewegen sich, zum Glück, ein unverständliches Lallen. Was dann passiert, geschieht wie ferngesteuert. Irgendwo in meinem Körper übernimmt ein Notfallstromaggregat das Kommando, es arbeitet leise, schnell und effizient. »Britta«, höre ich mich sagen. »Wir müssen Britta holen.« Britta wohnt über uns im ersten Stock. Lukas, Klara und Maxi sind jetzt auch im Bad. »Ich hol sie«, sagt Klara und ist schon weg, barfuß. Maxi steht in der Tür wie versteinert. »Papi …«, dann bleibt ihm die Luft weg. Ich möchte ihn in den Arm nehmen, aber meine Fernsteuerung hat andere Pläne mit mir. Ich versuche, Henrik in die stabile Seitenlage zu bringen, das soll man doch so machen, oder? Achtzig Kilo in der Badewanne zu drehen, ist aber schwieriger, als ich gedacht habe. Klara ist zurück, die Rettung steht im Bademantel neben ihr. Britta ist Ärztin, ihr Mann hatte vor ein paar Jahren einen Schlaganfall, sie weiß, was zu tun ist, gleich wird alles gut werden.

Henriks rechter Mundwinkel hebt sich, er versucht etwas zu sagen. »Schlaganfall, sag ihnen, es ist ein Schlaganfall!«, ruft Britta in den Flur. Jetzt erst bemerke ich, dass Lukas am Telefon ist und sehr klar und konzentriert Fragen beantwortet. »Ja, er atmet … ja, ein Mundwinkel hängt nach unten … nein, die Arme kann er nicht heben … nein, er kann nicht lächeln … ein bisschen sprechen, aber man versteht ihn nicht wirklich …«

Lukas hat mit seinen siebzehn Jahren alle Sinne beisammen und die 112 gerufen. »Verdacht auf Schlaganfall« höre ich ihn sagen, sehr gefasst und sehr erwachsen. Ich bin furchtbar stolz auf ihn, auch wenn für Sentimentalität jetzt kein Platz ist. Britta braucht Hilfe, ich soll mit anpacken. Dieser starke, kluge, stolze, aufrechte, unbesiegbare Mann, der immer, wirklich immer weiß, was zu tun ist, dieser Fels, den nichts umwirft, liegt nackt und komplett hilflos vor uns, in einer kaffeefarbenen Pfütze. Das sei normal, sagt Britta, die Darmfunktionen spielten in solchen Situationen verrückt. Ich muss das alles träumen. Warum weckt mich keiner? Wir schieben und drehen ihn zu zweit. Ich schaffe das alles nur, weil ich weiß, dass das nicht Henrik ist. Das kann er nicht sein. Henrik hätte längst protestiert, Anweisungen gegeben oder einen blöden Witz gemacht. Schatzi, du musst schon ein bisschen beherzter zugreifen! So, jetzt könnt ihr zwei Hübschen aber aufhören, ist gut jetzt. Kann ich bitte mal ein Handtuch haben? Aber nichts. Nur Lallen und ab und zu ein leises Stöhnen. Ich lege ihm ein Handtuch über den Körper, als würde ihm das etwas Würde zurückgeben. Als wäre das jetzt wichtig.

Keiner von uns weint, kreischt oder verliert die Nerven. Und keiner von uns begreift, fürchte ich, was hier gerade passiert. Dass Henrik, so wie wir ihn kennen, sich in diesem Moment, am 3. April um 7.10 Uhr in der Badewanne von uns verabschiedet – für eine sehr, sehr lange Zeit, vielleicht sogar für immer.

Zehn Minuten später, mitten in der Schockstarre, ist der Notarztwagen da. Die beiden Sanitäter halten sich nicht lange mit Untersuchungen auf. Sie nicken sich wissend zu, dann hieven sie Henrik schnell und eingespielt auf eine Trage und decken ihn zu. »Wir bringen ihn jetzt direkt in die Stroke Unit in Altona«, beruhigen sie mich. »Wie ist er versichert?« »Privat«, antworte ich, und Henrik, es ist nicht zu fassen, lallt von der Krankentrage aus: »Nee, Dee … aaah … kah!« Fast hätte ich hysterisch zu lachen begonnen, vor Freude, vor Wut, vor Verzweiflung, das liegt alles plötzlich sehr nah beisammen. Dann tragen ihn die Sanitäter hinaus. Einer der beiden bleibt noch kurz stehen und klopft Maxi und Lukas auf die Schultern. Wir hätten alles richtig gemacht, sagt er, schnell und gut gehandelt, bei einem Schlaganfall zähle jede Minute. Ihr Vater könne froh sein, dass er eine so tolle Familie habe. Diese ruhige, sanfte Stimme legt sich wie eine Kaschmirdecke um unsere klopfenden Herzen. Ich würde ihn gern hierbehalten, diesen Mann in der viel zu großen roten Jacke, für immer, oder zumindest für die nächsten Stunden, das beruhigt so schön, aber da ist er schon mit Henrik im Treppenhaus.

Draußen auf der Straße sind ein paar Kinder von ihren Fahrrädern abgestiegen, um auf dem Schulweg noch ein kleines Spektakel mitzunehmen. Mit unschuldiger, kindlicher Neugier starren sie Henrik auf der Trage an, wie er in den Rettungswagen geschoben wird. Ich weiß, was Henrik jetzt denkt. Ich kenne ihn in- und auswendig, seit mehr als zwanzig Jahren. Wir haben alles zusammen durchgemacht, was das Leben an Stolpersteinen so bietet. Und wir haben alles immer irgendwie hingekriegt. Ziemlich gut sogar, wie ich finde. Ich stehe am Fenster und sehe wie gelähmt zu. Gleich, gleich geht’s los. Gleich wird er von der Trage hüpfen, mit einem »Give me five« den Sanitätern gegen die Handflächen klatschen und den Bengeln triumphierend entgegenrufen: »Gute Show, was?« Und ich werde neuen Kaffee kochen müssen, denn der erste ist längst kalt, und der Toast auch, und ich darf nicht vergessen, ihm Bescheid zu geben, dass er heute die Einkäufe erledigt, weil ich um 17 Uhr noch die Telefonkonferenz mit den Amerikanern habe und Maxi nach dem Hockey doch immer so ausgehungert ist. Und der Kühlschrank ist leider komplett leer nach dem Osterwochenende. Und dann werden wir noch für Victor eine Lösung finden müssen, diesen Austauschfranzosen, der in einer Woche kommt. Vielleicht könnte er ja doch in Klaras Zimmer übernachten … »Barbara. Barbara. BARBARA!«

Britta packt mich an den Schultern. »Wir können nichts mehr tun. Ich gehe jetzt nach oben, um mir etwas anzuziehen, dann sehe ich noch mal nach dir, okay?« »Ja, klar. Danke für alles, ich komme schon klar.« Ich umarme sie, drehe mich um und mache intuitiv genau das, was Henrik in dieser beschissenen Situation machen würde: weitermachen, einfach weitermachen. Es ist 8.10 Uhr, mit etwas Glück schaffen die Jungs es wenigstens zur zweiten Stunde in die Schule. Lukas macht nächstes Jahr Abi und Maxi hat sein Geschichtsreferat, da kann er doch nicht fehlen. Es muss doch alles weitergehen. Klara wischt das Bad, so was nennt man wohl eine Übersprungshandlung. Sie kniet auf dem Boden und wischt und schrubbt wie eine Verrückte, die Wanne, den Boden, alles, was ihr zwischen die Finger kommt. Als könnte sie wegwischen, was passiert ist. Ich möchte schreien, aber es geht nicht. In mir drin ist alles blockiert, auch Gefühlsausbrüche, alles angespannt bis zum Zerbersten. Ich muss in Bewegung bleiben, stehe so unter Strom, dass ich sinnlos in der Wohnung hin und her laufe. Ich rufe im Büro an und erkläre, dass ich die nächsten Tage ausfallen werde.

Als die Jungs aus dem Haus sind, packe ich Henrik ein paar Sachen fürs Krankenhaus zusammen. Jogginghose, einige T-Shirts, Unterhosen, fünf müssten reichen, er wird ja hoffentlich bald rauskommen, ist ja ein Kämpfer. Ob wir seinen Geburtstag im Krankenhaus feiern müssen? Spätestens bis zu den Cyclassics im September muss er wieder auf den Beinen sein, er hat so hart für das Radrennen trainiert. Schlafanzug, Bademantel, ein Buch, Lesebrille, was zum Teufel braucht man noch bei einem Schlaganfall? Sein Handy. Sobald er wieder klar im Kopf ist, will er bestimmt seine Geschäfte aus dem Krankenhaus erledigen, er hat sich doch gerade erst selbstständig gemacht. Ich darf nicht vergessen, ihn gleich zu fragen, ob ich irgendwelche Aufträge für ihn stornieren soll, solange er ausfällt. Schuhe. Wie ich ihn kenne, wird er, sobald er aufstehen kann, zum Kiosk laufen wollen, am Ende kauft sich der Schlawiner erst mal Zigaretten. Ich muss lächeln. Jetzt ist aber Schluss mit dem Rauchen. Nie hatte ich bessere Argumente in der Hand als jetzt. Dann taucht wieder mitten in meinem sinnlosen Gedankenkarussell sein schiefer Mund auf, der niemals eine Zigarette würde halten können. Panik kriecht vom Magen durch die Brust bis in die Halsschlagader. »Verdacht auf Schlaganfall«, höre ich Luki sagen. Immer und immer wieder, mit dieser erwachsenen Stimme, die mir ganz fremd erscheint. Weitermachen, alles hübsch weitermachen. Die Versicherungskarte. Ich soll sie mit ins Krankenhaus bringen. Wo ist das Ding nur, wenn nicht in seiner Brieftasche?

Ich werde sie ihm unter die Nase halten, seine Chipkarte. »DAK«, das waren deine ersten verständlichen Worte. Noch mal schön alle zum Narren gehalten, das sieht dir ähnlich. Jetzt muss ich laut loslachen. Die Vorstellung, wie seine Freunde reagieren, wenn ich ihnen das erzähle, treibt mir fast Tränen in die Augen. Ich wünschte, sie würden laufen, die Tränen. Über die beschissenen Ordner in seinem Arbeitszimmer, so penibel sortiert wie sie nur von einem Finanzer sortiert sein können. Aber die Tränen werden erst später kommen. Ich reiße einen Ordner nach dem anderen aus dem Regal und werfe ihn auf den Boden. Nirgendwo ist er, dieser dämliche Ordner mit der Aufschrift »Krankenkasse«.

»Mami.« Plötzlich steht Klara neben mir im Arbeitszimmer, in der Hand hält sie immer noch ihren Putzlappen. Sie setzt sich neben mich auf den Boden. In einem Meer von Leitz-Ordnern sitzen wir da, ich weiß nicht wie lange, und halten uns fest. Es wäre bestimmt ein hübsches Foto, nur dass keiner von uns jemals eine Erinnerung daran haben möchte. »Sie werden ihn schon behandeln«, sagt Klara. »Mit oder ohne Versicherungskarte, gesetzlich oder privat.« »Sicher«, sage ich. Sicher.

Im Niemandsland

Als ich in der Klinik ankomme, ist Henrik bereits durch die schnellen Mühlen der Stroke Unit gedreht worden: CT, MRT, EKG … ich vermute, er hat keines der Geräte in der Notaufnahme ausgelassen. »Bildgebung« nennen sie das Verfahren, das im wahrsten Sinn des Wortes ein Bild des Schadens und Aufschluss über die Ursache geben soll. Bei Henrik wurde ein sogenannter ischämischer Schlaganfall diagnostiziert, ein Hirninfarkt, ausgelöst durch ein Blutgerinnsel, das ein Gefäß verstopft und somit die Durchblutung des Gehirns gestört hat. Durch die Unterversorgung mit Sauerstoff sind Teile seines Hirngewebes und seiner Nervenzellen zerstört worden – welche und wie viele, will und kann man mir nicht sagen. »Im Moment leider noch keine Entwarnung«, sagt der behandelnde Arzt, aber immerhin wäre bei Henrik eine exzellente DNT möglich gewesen und die Lyse scheine anzuschlagen. Ich verstehe zweimal nur Bahnhof, kann seinem Gesicht aber entnehmen, dass das gute Nachrichten sein müssen.

Ärzte haben für fast alles liebevolle Kosenamen, und die »Lyse«, so erfahre ich, ist ihre wichtigste Verbündete auf der Stroke Unit – die gängige Akuttherapie bei einem Gefäßverschluss. Dabei spritzt man intravenös Medikamente in die Blutbahn, die das Blutgerinnsel, den sogenannten Thrombus, auflösen und das verstopfte Gefäß wieder öffnen sollen. Das Ganze funktioniert im besten Fall ungefähr so wie ein Abflussreiniger. Voraussetzung: Es muss schnell gehen. Von den ersten Symptomen bis zum Legen der Infusion dürfen nicht mehr als viereinhalb Stunden vergehen. Henriks »Door-to-Needle-Time«, kurz DNT, liege bei gerade mal zwanzig Minuten, berichtet der Arzt stolz, von der Kliniktür bis zum Ansetzen der Nadel sei also weniger als eine halbe Stunde vergangen – eine Rekordzeit. Zusammen mit den zwanzig Minuten von der Dusche bis zur Klinik kommt er also auf insgesamt sensationelle vierzig Minuten. Typisch. Henrik wird bei der nächsten Einladung zum Abendessen sicher damit angeben.

Mir zittern die Knie, in meinem Kopf rattert es. Die Lyse hat angeschlagen, das Gerinnsel hat sich gelöst. Ein gutes Zeichen, ein Hoffnungsschimmer. Der Arzt versucht zwar, den Ball flachzuhalten, aber ich bin in Gedanken schon am Krankenbett und höre mich sagen: »Alles ist gut gegangen, Schatzi, wir haben noch mal Glück gehabt.« Die Information, dass Henrik das hier vielleicht nicht überleben wird, verarbeitet mein Gehirn einfach nicht, selbst mit intakten Gefäßen. Henrik schafft alles, also wird er auch das hier schaffen. Punkt.

Bei den kardiologischen Untersuchungen haben sie eine Herzrhythmusstörung entdeckt, ein Vorhofflimmern. Wäre er früher zum Arzt gegangen, hätte man das feststellen können. Dann läge er jetzt nicht hier. Hätte ich es hören müssen? Man hört es doch, wenn das Herz unregelmäßig schlägt. Wenn ich mit meinem Ohr auf seiner Brust liege, und da liege ich manchmal, dann hätte ich es hören müssen. Wann lagen wir so zusammen auf dem Sofa oder im Bett? Es ist zu lange her, ich kann mich nicht erinnern.

»Hätte, hätte, Fahrradkette«, sagt meine Freundin Annemarie, mit der ich im Krankenhausflur telefoniere. Klara sitzt neben mir. Sie ist noch weißer als die Krankenhauswand, wo sind ihre Sommersprossen hin? »Vorwürfe helfen Henrik jetzt auch nicht weiter«, sagt Annemarie. Ich muss auflegen, der Oberarzt kommt. »Wir müssen jetzt ein paar Stunden warten«, sagt er. Man wolle sicherstellen, dass das Gefäß geöffnet bleibt und sich nicht wieder verschließt. »Und wenn nicht?«, fragt Klara. »Wenn es sich wieder verstopft?« »Dann öffnen wir es mechanisch«, lautet seine Antwort, »mit einem Katheter.« Wir sollen uns das vorstellen wie einen sehr dünnen Korkenzieher, den man in den Thrombus hineinschraube und ihn dann zusammen mit dem Katheter halb herausziehe, halb heraussauge. Ich möchte mir weder Staubsauger noch Korkenzieher in Henriks Hirn vorstellen, aber das Prinzip ist mir schon klar: Wenn der Abflussreiniger nichts nützt, muss der Klempner kommen. »Wir nennen das Rekanalisierung.« Ich nicke. Ich will das nicht hören. Ich will hören, dass alles gut gehen wird, dass wir keinen Klempner brauchen werden. Aber diesen Gefallen wird mir der Oberarzt natürlich nicht tun. Jetzt schon gar nicht, denn eine Schwester ruft ihn zurück. Er entschuldigt sich, dann gehen sie im Stechschritt über den Flur. Irgendwas muss passiert sein. »Henrik«, sage ich panisch zu Klara, »ich glaube, sie laufen zu Henrik.« Als der Arzt kurz aus dem Zimmer kommt und zu uns herübersieht, muss er nichts mehr sagen. Sein Blick reicht. Wir brauchen einen Klempner.

Wieder Warten. Eine Schwester kommt mit einem Stapel Papiere auf mich zu. Ob ich inzwischen Auskunft über die Krankenversicherung meines Mannes geben könne. Bei der genannten Kasse sei er nämlich laut Auskunft nicht mehr versichert und bei der DAK kenne man keinen Henrik Wentzel. »Ich kümmere mich drum«, verspreche ich und stütze meinen Kopf wieder in meine Hände. Ich blicke auf den graublauen Linoleumboden. Er beißt sich mit den Sitzbezügen. Wer sucht solche Stoffe aus? Mein Telefon vibriert im Minutentakt. Achtundvierzig neue Nachrichten. Alle Freunde, die es schon wissen, wollen helfen, irgendetwas tun. Alle wollen den aktuellen Stand. Ich tippe schnell und kopiere an alle. Ich hätte Maxi zuhören sollen, als er mir neulich erklärt hat, wie man Gruppen für Textnachrichten anlegt.

»Wird gerade operiert, sie versuchen die Arterie freizustoßen … danach Untersuchung, um zu sehen, was im Gehirn noch heil ist und was beschädigt. Vermutlich ist er auch mit einem Bruchteil seines Gehirns noch tausendmal klüger als alle anderen … und wir werden ihm sagen, dass er nie geraucht hat und seine Lieblingsfarbe rosa ist …«

Dann, endlich die Entwarnung. Alles sei nach Plan gelaufen, sagen die Ärzte, der Blutpfropf konnte entfernt werden. Groß sei er gewesen, vermutlich hätte er sich durch das Vorhofflimmern irgendwo am Herzen gebildet und sei dann ins Hirn gewandert. Was für eine Vorstellung. Ich darf zu ihm. Henrik ist noch in der Narkose. Er ist blass, seine Haut wirkt ganz dünn. Ich setze mich zu ihm und warte. Irgendwann schicken mich die Schwestern mit sanfter Stimme nach Hause. Sie können das gut. Wie oft müssen sie diese Sachen wohl schon gesagt haben? Heute könne ich ohnehin nichts tun, werde ich beruhigt, wir müssten abwarten, wie die Nacht verlaufe – und hoffen, dass es zu keinen Komplikationen komme. »Was für Komplikationen?«, frage ich nervös. »Frau Wentzel, gehen Sie jetzt nach Hause zu Ihren Kindern, morgen wissen wir mehr. Wir rufen Sie morgen früh an. Sollte sich vorher irgendetwas an seinem Zustand verändern, natürlich vorher.«

Die Schreckgespenster, die sich tagsüber versteckt haben, kommen nachts. Was, wenn? Wenn er es doch nicht schafft? Immer wieder das Bild von Henrik in der Wanne. Wie soll das gehen, ein Leben ohne ihn? Ich bekomme keine Luft mehr in die Lungen, selbst wenn ich tief einatme, es geht nicht, und das Herz rast. Ich lege das Handy auf den Bauch. Vielleicht hilft Körperkontakt. Nicht klingeln, bitte, nicht vor morgen früh. Ich liege mit offenen Augen und starre an die Decke, denn wenn ich sie schließe, kommen die Bilder.

Aus Verzweiflung gehe ich im Morgengrauen joggen, dann mache ich Frühstück für die Kinder. Als alle aus dem Haus sind und das Telefon immer noch nicht geklingelt hat, erledige ich ein paar Dinge, um irgendetwas zu tun: rufe Henriks ältesten Freund Christoph an und bitte ihn, das Versicherungsrätsel für mich zu lösen. Unser Freund Pierre übernimmt den TÜV-Termin für Henriks Auto.

Dann endlich klingelt das Telefon, unbekannte Nummer. »Frau Wentzel? Guten Morgen.« Es ist der Oberarzt. Keine guten Nachrichten: »Leider ist eine Komplikation aufgetreten.« Die Komplikation trägt den Namen Hirnödem. Henriks Gehirn schwillt massiv an, das Nervengewebe steht unter Hochdruck. Weil die knöcherne Schädeldecke aber keine Ausdehnung erlaubt, wird es zusammengequetscht, was wiederum die Blut- und Sauerstoffzufuhr stört.

»Was bedeutet das?«, frage ich kaum hörbar.

»Wir müssen die Schädeldecke öffnen. Andernfalls drohen irreparable Schäden, im schlimmsten Fall kann der Druck sogar so ansteigen, dass der Hirnstamm komprimiert wird, dann besteht Lebensgefahr.«

Den Rest höre ich nicht. Die Wörter »Lebensgefahr« und »Schädeldecke öffnen« vibrieren in meinem Kopf.

»Frau Wentzel? Sind Sie noch da?«

»Jaja.«

»Wir werden operieren müssen.«

Natürlich sei das keine einfache OP, erfahre ich, auch nicht ganz risikofrei, aber er sehe momentan keine andere Lösung. »Es sei denn, Ihr Mann hat eine entsprechende Patientenverfügung.«

Nein, er hat keine Patientenverfügung. Wir haben fast jede Versicherung, die man auf der Welt haben kann, aber keine notarielle Patientenverfügung.

»Dann brauchen wir ein paar Unterschriften von Ihnen«, höre ich den Arzt sagen. »Am besten, Sie kommen vorbei, dann erkläre ich Ihnen den Eingriff genauer.«

Auf dem Weg ins Krankenhaus telefoniere ich noch mit dem ehemaligen Chefarzt der Neurologie, den wir zufälligerweise gut kennen. Er rät ebenfalls zur Operation.

»Hemikraniektomie« googelt Annemarie neben mir. Sie ist mit Klara und mir ins Krankenhaus gekommen. Hat alles stehen und liegen lassen und hält abwechselnd meine und Klaras Hand. Wir sitzen im Flur, wir reden nicht viel. Aus Henriks Krankenzimmer hören wir lautes Stöhnen. Er muss aufgrund des Hochdrucks in seinem Kopf unerträgliche Schmerzen haben. Die Schwester, die mich aus dem Zimmer geschickt hat, um die Schmerzen zu mildern, bittet mich jetzt wieder herein. »Es wird ihm gleich etwas besser gehen«, sagt sie beruhigend, und Henrik wimmert. Ich mache damit weiter, womit ich vorher aufgehört habe: Ich lege im Minutentakt kalte Waschlappen auf seine Stirn. Henrik nimmt mich kaum wahr, er ist komplett sediert, und trotzdem scheint er diese wahnsinnigen Schmerzen immer noch zu fühlen. »Wann operieren Sie endlich?«, frage ich die Schwester, und die Antwort lautet: »Sobald der OP frei ist.«

Der behandelnde Chefarzt hat mir sehr behutsam erklärt, dass er Henriks Schädelknochen teilweise abnehmen wird, damit das angeschwollene Gehirn langsam abschwellen kann, ohne dabei gesundes Gewebe zu schädigen. Ich habe versucht, Klara und Annemarie die Prozedur so zu erklären, wie der Arzt es mir erklärt hat, aber vermutlich ist Google momentan in einem klareren Zustand als ich. Tatsächlich wird bei dem Eingriff ein Knochendeckel vom Durchmesser einer Untertasse entnommen. Anschließend wird die harte Hirnhaut eingeschnitten, sodass das Gehirn nach außen treten kann. Darüber kommt dann wieder Kopfhaut, die im Gegensatz zum Knochen dehnbar ist. Bis der Deckel wieder eingesetzt wird, muss Henrik einen Kopfschutz tragen und teilweise fixiert werden, denn jede kleinste Erschütterung ist hochgefährlich.

Natürlich willige ich in den Eingriff ein. Weil ich bei den betreuenden Ärzten ein gutes Gefühl habe, weil unser Bekannter es ebenfalls befürwortet und weil ich vermutlich so gestrickt bin – handeln statt grübeln. Und weil Henrik ohne diese OP verdammt noch mal stirbt. Ich versuche mir vorzustellen, wie Henriks Schädeldecke irgendwo auf Eis gelegt wird. Was ist das wohl für ein Gefrierfach, in dem solche Sachen lagern. Er stöhnt wieder. Es ist schrecklich, ihn so leiden zu sehen. Ich würde ihm gern ein paar Schmerzen abnehmen. Stattdessen stehe ich hier und wechsle Waschlappen. Es vergehen fünf Stunden, bis der OP endlich frei und Henrik an der Reihe ist, aber an das Warten werde ich mich in nächster Zeit gewöhnen müssen, hat der Arzt gesagt.

Wieder schicken die Schwestern Klara und mich nach Hause. Man werde sich melden, sobald die OP vorüber sei. Es ist inzwischen 18 Uhr, Luki und Maxi sind längst bei Annemarie, ihrem Mann Roland und deren Kindern. Mit weichen Knien fahren wir zu ihnen. Ich bin froh, nicht nach Hause zu müssen. Die Wohnung wirkt so leer ohne Henrik. Außerdem haben zeitgleich mit ihm scheinbar all unsere Haushaltsgeräte einen Infarkt erlitten. Die Kaffeemaschine streikt plötzlich, die Spülmaschine auch, und der Toaster hat seinen Geist komplett aufgegeben. Annemarie hat Gulasch gekocht, Soul Food, sagt sie mit glasig-feuchten Augen. Unser Freund Christian, der um die Ecke wohnt, ist ebenfalls gekommen, weil er das Warten bei sich zu Hause nicht mehr aushielt. Wir versuchen alle, uns zusammenzureißen, aber unsere Gespräche drehen sich im Kreis. Das Gulasch leider ebenfalls, ich kriege den Bissen in meinem Mund nicht runter. Kurz nach 21 Uhr ruft der Chirurg an. »Diesmal habe ich gute Nachrichten für Sie.« Die Operation sei gut verlaufen, Henrik stabil. Mir kullern die Tränen übers Handy, die Kinder sehen mich mit großen Augen an, ich nicke ihnen zu. »Papi lebt.« Dann brechen alle Dämme, neun Menschen heulen und umarmen sich wild und unkoordiniert gegenseitig. Zwischendrin muss Klara lachen, weil wir den Überblick verlieren, wer hier eigentlich wen schon umarmt hat. Und dann muss ich gleich noch mehr weinen, weil es so furchtbar schön ist, solche Kinder und solche Freunde zu haben.