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DR. MARIO HERGER

Der letzte

Führerscheinneuling

… ist bereits geboren.

Wie Google, Tesla, Apple, Uber & Co
unsere automobile Gesellschaft verändern
und Arbeitsplätze vernichten.
Und warum das gut so ist.

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Copyright der deutschen Ausgabe 2017:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Covergestaltung: Johanna Wack

Herstellung: Daniela Freitag

Buchsatz: Bernd Sabat, VBS-Verlagsservice

Lektorat: Monika Gehle

Korrektorat: Karla Seedorf

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-538-0
eISBN 978-3-86470-539-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Für Gabriel, Darian und Sebastian.
And for May Kou.

Inhalt

EINLEITUNG

Von Davids und Goliaths

Von der Pferdekotkrise zum Klimawandel

DER LETZTE PFERDEKUTSCHER ODER DIE 1. AUTOMOBILREVOLUTION

Elektriker, Büchsenmacher, Physiker: Automobilpioniere damals und heute

Die Liebe zum Auto: leidenschaftlich und wankelmütig

Signale, Trends und Foresight Thinking

Der iPhone-Moment der Automobilindustrie

DER LETZTE FÜHRERSCHEINNEULING ODER DIE 2. AUTOMOBILREVOLUTION

Daten und Fakten zur Automobilindustrie

Der Antrieb wird elektrisch

Hier rollt die Zukunft heran: Autonome und selbstfahrende Fahrzeuge

Hallo, du: Connected Cars im Dialog

Buchstäblich ein neuer Zeitgeist? Die Sharing Economy auf dem Vormarsch

Forschung, Innovation, Disruption – mehr Geld, mehr Features

Zeithorizont – zur Automobilindustrie auf uns zu?

Womit Hersteller „rechnen“ müssen

Womit Arbeitnehmer rechnen müssen

Welleneffekte und Vertrauensbonus: Im Gleichschritt, marsch!

Auch Ladungen buchen ein Uber

Big „Apple“ und der Kampf um Big Data

You are right „HERE!“

Digitales Erlebnis

Geschäftsmodelle

Vom Förderband über „Vertikale Integration“ zu KI-Design – Produktion im Wandel

Hochleistungs-Batteriezellen an die (Elektro-)Front

Smartes Verkehrsmanagement für „Smart Cities“

ADAC ade? Vom Mitgliederverein zum Flottenclub

FashionTech – Autos machen Kleider

Vor dem Gesetz sind alle (Autos) gleich?

Warum die Bahn nicht länger mobil macht …

Ein Netz ohne Boden – öffentliche Verkehrsmittel auf dem Prüfstand

Pünktlich zum Termin – der „autonome Schlafwagen“ macht’s möglich

Viel Wind ums Öl, doch Strom verändert die Welt …

Es geht auch ohne: Auswirkungen rund ums Erdöl

Sinkende Strompreise: Die Kehrseiten der Medaille

Ferngesteuert und ausgeraubt: Cybercrime meets Cybersecurity

Chitty Chitty Bang Bang: Der Traum vom fliegenden Auto

„EN MARCHE!“ WERKZEUGE UND METHODOLOGIEN FÜR WERKZEUGE UND AUTOMOBILHERSTELLER

Unternehmensleitbilder

Unternehmenskultur

Das Silicon-Valley-Mindset

Innovationsarten nach Clayton Christensen

Ockhams Rasiermesser: Gibt es ein Sparsamkeitsprinzip der Innovation?

Das Keeley-Innovationstypen-Modell: Das Geheimnis liegt in der Kombination

Ein psychologisch sicheres Umfeld: Hinfallen, aufstehen, weitermachen

„Kann ich eine Frage stellen?“

Was, wieso, warum: Question Storming vs. Brainstorming

„Kill the Company“ oder Wie ich mein eigenes Unternehmen zu Fall bringen kann …

180-Grad-Denken: Was macht man mit einem Elektroauto, das nicht fährt?

Haben Sie Déjà-vus oder eher Vuja-Dés?

Moore’s Law: von deutschen Automobilherstellern gegenteilig interpretiert

„Open sources“: Inhouse-Expertise gegen den Rest der Welt

Innovation Outposts – Die Zukunftsmusik spielt im Valley

Ohne Ausbildung und Forschung geht nichts: Wer macht aktuell was und wo?

„EN MARCHE!“ POLITIK UND GESELLSCHAFT IN BEWEGUNG

Kognitive Verzerrungen überwinden

Bedingungsloses Grundeinkommen und Robotersteuern auf die Agenda

Für die Zukunft qualifizieren

Willen zur Veränderung zeigen

NACHWORT

ANHANG

Fußnoten

Einleitung

„Ich versuche, einfach nur über die Zukunft nachzudenken und dabei nicht traurig zu werden.“

–ELON MUSK

GESTATTEN SIE MIR, dass ich Ihnen Max vorstelle. Gerade erst feierte er seinen ersten Geburtstag. Mit viel Kuchen, Luftballons und jeder Menge Geschenke. Nicht nur ist Max ein süßer Knirps, er ist vermutlich auch der Letzte, der noch einen Führerschein machen wird.

Unwahrscheinlich? Nicht in Ihrem Leben? Ganz unrecht haben Sie nicht, wie ich zugeben muss. Ich weiß nämlich nicht, ob es Max sein wird oder Sofie oder Julian. Es könnte sogar ein Kind sein, das in Ihrer Nachbarschaft lebt, aber eines ist sicher: Der letzte Führerscheinneuling wurde bereits geboren. Und ich habe eine Menge Daten und Fakten gesammelt, mit denen wir uns in den Kapiteln dieses Buches ausführlicher auseinandersetzen. Sie werden staunen, wie weit die Entwicklung von selbstfahrenden, elektrischen Ubers schon fortgeschritten ist.

Max (oder Sofie oder Julian) wird sich nicht vorstellen können, wie wir überhaupt auf die Idee kommen konnten, ein Auto besitzen und fahren zu wollen, das mit unförmigen Pedalen und Lenkrad schwer zu bedienen war, uns während der Fahrt davon abhielt, zu arbeiten oder unsere Aufmerksamkeit einem Videospiel zu widmen, und das obendrein als Jahrestribut tausende Tote und Verletzte einforderte. Wie vorsintflutlich waren wir eigentlich? Nun, genauso vorsintflutlich, wie uns heute die Fahrt in einer Kutsche vorkommt. Der Fahrer saß auf dem Kutschbock im Freien, war dabei Wind und Wetter ausgesetzt und richtete, während er über holprige Straßen rumpelte, seinen Blick ständig auf ein paar Pferdehintern.

Freude am Fahren kommt auch heute selten auf, wenn wir wieder einmal zur Stoßzeit im Stau stehen und Müdigkeit, Termindruck und die Suche nach einem Parkplatz uns zu schaffen machen. In Zukunft wird sich der Verkehr noch mehr auf die Ballungsräume konzentrieren als heute. 60 Prozent der Weltbevölkerung werden im Jahr 2030 in Städten leben.1 In den USA sind das heute bereits 80 Prozent der Einwohner, in Deutschland 74 Prozent und in Österreich 66 Prozent.2 In den Städten wird die Nachfrage nach Transportleistung steigen. Mit dem verfügbaren Raum und heutiger Infrastruktur wird es unmöglich sein, das klassische Transportangebot auf diese Anforderungen auszurichten. Für noch mehr Straßen und Parkplätze, um noch mehr Autos in die Stadt zu bringen, gibt es ja heute schon zu wenig verfügbaren Raum.

Allein im Silicon Valley fahren heute mehr als 200 selbstfahrende Autos auf öffentlichen Straßen herum, die von 40 Herstellern betrieben werden, und in den ganzen USA sind es bereits 1.000 Fahrzeuge. Über 700 Unternehmen entwickeln dort Technologien für autonome Autos. Gleichzeitig entsteht eine Autoindustrie an einem der teuersten Standorte, wo gleich mehrere Hersteller Elektroautos und -busse produzieren – Tesla, Lucid Motors, NIO oder Proterra, um nur einige zu nennen. Gleich ein halbes Dutzend Teststrecken liegen nur wenige Kilometer auseinander. In China werden in einer Stadt allein jährlich 25 Millionen Elektromopeds produziert, und drei Dutzend Hersteller bauen Elektroautos. Sechs selbstfahrende Taxiflotten sind weltweit bereits im Probebetrieb und nehmen Passagiere auf. In Kalifornien wird es sogar voraussichtlich ab Ende 2017 autonomen Autos gestattet sein, ohne einen Fahrer, ja sogar ohne einen Menschen an Bord auf den Straßen zu fahren.

Bereits seit 2016 verbaut Tesla in alle seine Wagen Hardware, die Selbstfahrfähigkeit erlauben. Mit einem Software-Update, das noch 2017 oder Anfang 2018 kommt, werden auf einmal alle bis dahin produzierten Autos, also über 100.000 Fahrzeuge, autonom unterwegs sein können. Gleichzeitig gehen die ersten Taxiunternehmen pleite, weil sie gegen Uber und Lyft nicht mehr bestehen können. Und der Kopfpreis für Ingenieure mit der heute so heiß begehrten Expertise zu Künstlicher Intelligenz, Sensortechnologie oder Selbstfahralgorithmen liegt bei 33 Millionen Dollar.

Die neuen Entwicklungen kommen vor allem aus zwei Regionen: aus dem Silicon Valley und aus Asien. Während das Silicon Valley dabei eine natürliche Entwicklung durchläuft und vom American Way of Life mit eigenem Auto zu einem mit selbstfahrenden elektrischen Ubers migrieren wird, überspringen asiatische Länder teilweise eine ganze Epoche. In China beispielsweise haben es viele Menschen innerhalb von ein oder zwei Generationen von einfachen Bauern und Arbeitern zu einem gewissen Wohlstand gebracht und damit eine neue Mittelklasse geschaffen. Und diese Mittelklasse will Autos. Oder zumindest einen Zugang zu individuellen Fortbewegungsmitteln. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass hier Ähnliches passieren wird wie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Ungarn hatte ein besseres Handysystem als Deutschland. Während die Telekom ihre Investitionen in den Aufbau der DSL-Leitungen rückerwirtschaften wollte, hatte Ungarn solche Altlasten nicht; statt teure Leitungen zu verlegen, wurden gleich Handymasten aufgestellt. Eine ganze technologische Generation wurde übersprungen.

Deutschland, Österreich, die Schweiz oder auch Europa generell hinken in allen Bereichen der neuen Automobilindustrie hinterher. Sie spielen keine federführende Rolle mehr, die Innovation geschieht woanders. Wir haben das Auto erfunden, wir bauen die besten Autos, aber die Zukunft wird anscheinend ohne uns geplant. Unsere Hersteller sind heute schon hintendran, und der Abstand vergrößert sich stetig. Dabei hat das wenig damit zu tun, dass die anderen irgendwelche magischen Formeln verwenden oder einfach nur Überflieger sind. Nicht ausländische Unternehmen machen deutschen Konzernen zu schaffen, sondern deutsche Ingenieure in ausländischen Unternehmen, die den deutschen Ingenieuren daheim das Zepter aus der Hand nehmen.

In meinem Buch Das Silicon-Valley-Mindset zählte ich bereits die vielen Verhaltensweisen auf, mit denen sich Menschen bei neuen Ideen gegenseitig helfen und unterstützen. Dabei fiel mir auf, dass ich zur Veranschaulichung vor allem Beispiele aus dem Automobilsektor verwendete. Etwas zu Elektrofahrzeugen hier, ein bisschen zu Ubers neuartigem Taximodell da, und zwischendrin viele Berichte über selbstfahrende Fahrzeuge und die in diesem Sektor neu entstehenden Berufe.

Diese Fokussierung auf die Automobilbranche bereitete mir Unbehagen, weil es doch auch viele gute Beispiele aus anderen Industrien geben musste. Ich nahm einige meiner Argumente und Beispiele aus dem Buch heraus und ersetzte sich durch welche aus anderen Branchen. Als ein Blogartikel in Vorbereitung zur Buchveröffentlichung dann aber innerhalb weniger Tage zigtausende Zugriffe verzeichnen konnte, war eindeutig, wie groß das offensichtliche Interesse im deutschsprachigen Raum an den Veränderungen in der Automobilbranche war. Der Artikel mit dem Titel Deutsche Innovationsprobleme, erklärt am Beispiel von Porsche und Tesla zog hitzige Diskussionen nach sich und ist nach wie vor der beliebteste Beitrag.

Verfolgt man ähnliche Kommentare in anderen Medien, ist rasch zu erkennen, wie sehr das Automobilthema den öffentlichen Nerv trifft. An der Hitzigkeit der Debatten überrascht vor allem, wie gnadenlos dieser stolze deutsche Wirtschaftssektor kritisiert wird. Ankündigungen deutscher Hersteller zu neuen Elektrofahrzeugen und Aussagen von Automanagern, die selbstfahrende Fahrzeuge als „Hype“ bezeichnen, werden mit Spott und Häme überzogen. Das sollte den Autoherstellern zu denken geben. Man ist dabei, das Vertrauen der eigenen Landsleute unwiederbringlich zu verspielen. Der Dieselabgas-Skandal, der ungeheuerliche Umfang der Preisabsprachen und die „Betrugskoordination“ zwischen den deutschen Herstellern sowie andere Fehltritte der letzten Jahre verschlimmern die Lage nur.

Deshalb war es für mich naheliegend, mich dieses Themas umfassender anzunehmen, den heutigen Stand der Entwicklungen zu beschreiben und die einzelnen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Dabei bin ich selbst beileibe kein Autoliebhaber. Ich empfinde Autofahren als Zeitverschwendung, lieber würde ich die Zeit mit Lesen verbringen. Als Wiener, geboren in einer Stadt mit ausgezeichnetem öffentlichen Nahverkehr, sah ich zunächst keine Notwendigkeit für mich, den Führerschein zu erwerben. Den machte ich erst mit 22, und mein erstes Auto kaufte ich gezwungenermaßen, als ich nach Kalifornien zog. Selbst während meiner Jahre in Deutschland mit seinem gut ausgebauten öffentlichen Nah- und Fernverkehrsnetz fand ich ein Auto eher belastend als hilfreich. Natürlich hätte ich manchmal eines gebraucht, einiges wäre dann einfacher gewesen. Wenn ich aber daran zurückdenke, wie oft unser Pkw in den engen Straßen der Heidelberger Altstadt beschädigt wurde und wie mühsam die Parkplatzsuche war, hätte ich schon damals lieber auf eins verzichtet.

Mir ist bewusst, dass es heute auch viele Autofahrer gibt, die die Zeit hinterm Steuer genießen, dabei Radio hören und sich entspannen, ihre Gedanken schweifen lassen oder sich einem Audiobuch widmen. Das ist mir natürlich auch in einem Bus oder in der Bahn möglich. Aber wie wird es erst in einem Fahrzeug sein, das mir das Fahren abnimmt?

Seit 2001 wohne ich im Silicon Valley, das vor allem als Mekka für Computernerds gilt und in dem so viel von dem entstand, was wir heute als selbstverständlich ansehen, in unserer Arbeit wie auch zu Hause. Computer, Smartphones, Facebook oder Google sind nur einige dieser neuen Technologien, die aus dem Silicon Valley stammen. Und es fiele leicht, diesen relativ kleinen Flecken in Kalifornien mit gerade einmal dreieinhalb Millionen Einwohnern nur damit zu identifizieren.

In den letzten Jahren fiel mir dort die sprunghaft angestiegene Zahl an Aktivitäten im automobilen Sektor auf. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht einem von Googles selbstfahrenden Fahrzeugen in und um Mountain View begegne. Und Google ist bei Weitem nicht das einzige Unternehmen, das solche Autos auf den Straßen im Silicon Valley fahren lässt. Wenn ein Start-up namens Tesla einen Apple-ähnlichen Kult mit dem Model S erzeugt und Käufer im frühen Morgengrauen Schlange stehen, um das neueste Modell, das Model 3, vorzubestellen, das zudem noch an einem der teuersten Standorte – nämlich im Silicon Valley – produziert wird, sollte man hellwach werden. Liest man dann von Apples Ambitionen im Automobilsektor, vom Auftreten chinesischer Hersteller mit milliardenschweren Dollarkassen und der Flut von hunderten Automobil-Start-ups, kann nicht mehr geleugnet werden, dass da etwas am Brodeln ist. Je mehr ich mich damit befasste, desto klarer wurde das Bild. Die Tage des Automobils, wie wir es heute kennen, sind gezählt. Wir sind bereits mitten drin in der 2. Automobilrevolution.

Die Signale sind da. Alle Bestandteile, die ein Robotaxi ermöglichen und uns schon das selbstfahrende elektrische Uber gebracht haben, sind verfügbar. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Kombination aus Sensoren, Algorithmen, Künstlicher Intelligenz und Apps richtig durchschlagen wird. Seit etwas mehr als einem Jahr entbrennen auch in Deutschland plötzlich Diskussionen um das Automobil, die vorher undenkbar waren. Damit ist das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik ebenfalls im Wandel begriffen. Eine technologische Revolution, die Hand in Hand geht mit einer Anpassung von Verhaltensweisen und Regeln, führt zu Disruption, zur Zerschlagung eines Marktes. Achten Sie auf die entsprechenden Signale. Sobald sie sich häufen, hat die Disruption bereits begonnen.

Es ist eine Revolution im Gange, die unser Verhältnis zur Heiligen Automobilkuh fundamental verändern und ähnliche, wenn nicht größere Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und auf unsere Gesellschaft haben wird, wie sie der Übergang vom Pferd zum motorenbetriebenen Vehikel brachte. Die erste Frage ist nicht, ob, sondern wann diese Veränderungen uns erreichen werden. Angesichts der exponentiellen Kurve, der Technologieentwicklungen folgen, und der Fakten, die bereits im Silicon Valley geschaffen wurden, werden sie rascher kommen, als viele meinen. Und als zweite Frage drängt sich dann auf: Wird Deutschland noch eine Rolle bei und nach dieser 2. Automobilrevolution spielen? Warum sehen deutsche Hersteller, die bislang die besten Autos der Welt bauten, plötzlich alt aus? Und wie können sie vermeiden, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken?

Harvard-Professor Clayton Christensen stieß schon vor etlichen Jahren auf dieses Phänomen. In seinen Untersuchungen fand er heraus, dass 50 bis 80 Prozent der Top-Unternehmen einer Branche nach einer disruptiven Innovation in der nächsten Generation nicht mehr unter den Top Ten waren. Die Ergebnisse ähnelten sich, völlig unabhängig von der Branche, die er untersuchte. Gemäß dieser Logik werden in den nächsten Jahren mindestens die Hälfte der Unternehmen, die Marken wie Volkswagen, Audi, Mercedes, BMW, Porsche oder Opel unter ihrem Dach vereinen, nicht mehr unabhängig sein oder gleich gar nicht mehr existieren.

Ich gebe zu, aus deutscher Sicht mag es heute noch mehr als unwahrscheinlich erscheinen, dass es so weit kommen wird. Aber so dachte man auch vor einem Jahrzehnt in der amerikanischen Automobilmetropole Detroit. Große Schlitten und Pick-ups waren das Erfolgsrezept. Genauso wenig konnte man sich so etwas in der Nokia-Zentrale in Espoo bei Helsinki vorstellen. Dort wurde das iPhone mit großer Skepsis betrachtet. Und auch in Rochester im US-Bundesstaat New York war man sich sicher, dass Digitalkameras Filmpapier nie würden ersetzen können. Kodak und Nokia sind heute Namen, die in den Wirtschaftswissenschaften und in der Innovationsforschung als Lehrbeispiele für verpasste Chancen stehen. Wollen wir, dass Volkswagen, Daimler oder BMW bald nur mehr als Inbegriff von Unternehmen gelten, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben? Dass sie nicht weiter als die Glanzlichter dastehen, die das Auto erfunden haben, den Deutschen die große weite Welt gaben und ihnen einen Riesenappetit auf Reisen machten?

Wir können uns darauf einigen, dass in Deutschland die besten Autos gebaut werden, dass die schönsten Sportwagen aus Italien stammen, dass Frankreich die elegantesten Designs beisteuert, Schweden für die Sicherheitsstandards maßgebend ist und Japan ganz auf Zuverlässigkeit setzt. Allerdings ändern sich die Kriterien für ein richtig gutes Auto gerade. Die Sicherheit eines Autos wird bald nicht mehr vordringlich durch eine stabile Fahrgastzelle und den Airbag bestimmt, sondern durch den Algorithmus, der das fahrerlose Fahrzeug lenkt. Ein elegantes und schönes Design zählt weniger, wenn ich in einem Taxi sitze. Zuverlässigkeit wird für den Flottenmanager relevanter sein als für den Passagier. Und was ein gutes Auto ist, entscheidet sich immer mehr am integrierten Unterhaltungssystem, ein Bereich, den Autohersteller in der Vergangenheit anderen überließen. Wir werden das Auto zukünftig nicht mehr nur als einzelnes Objekt, sondern als System in einem Transportdienstleistungsverbund sehen.

So wie das beste Filmpapier an Bedeutung verlor, als niemand mehr die digital aufgenommenen Fotos ausdruckte, und die beste Handytastatur durch Touchscreens und Stimmeingaben ersetzt wurde, wird auch der Automobilsektor einen extremen Wandel erfahren. Diese Auswirkungen beschränken sich nicht nur auf die Industrie selbst. Unser Verständnis von und unser Umgang mit Mobilität werden sich drastisch ändern, und Städte, Regionen und andere Beteiligte müssen sich an neue Gegebenheiten anpassen. Eine ganze Reihe von Wirtschaftssektoren wird überflüssig, andere kommen neu dazu.

Dies alles werden wir in den folgenden Kapiteln näher beleuchten: wie alles anfing, wie das Automobil unseren Alltag und unsere Städte veränderte, welche neuen Anforderungen bewältigt werden müssen, welche Technologien dahinterstecken, welche Gesetze sie berühren, welche Verhaltensweisen sie beeinflussen und welche Auswirkungen sie auf Gesellschaft, Arbeitsplätze und die Wirtschaftsstandorte haben werden. Uns Europäern stehen dieselben Technologien und Prozesse zur Verfügung wie allen anderen auch. Warum wir trotzdem hinterherhinken, liegt an unserem Verhalten, unserem Mindset. Deshalb gehe ich im letzten Teil des Buches gerade auf diesen Aspekt näher ein, damit wir sehen, wie jeder von uns seinen Beitrag leisten kann und muss, sich einen innovativen und unternehmerisch ausgerichteten Mindset für das Wohl unserer Gesellschaft und der Menschheit insgesamt anzueignen.

Von Davids und Goliaths

„Wenn du Fakten hast, stell sie vor, und wir werden sie verwenden. Aber wenn du eine Meinung hast, dann verwenden wir meine.“

– JIM BARKSDALE, CEO Netscape

GOLIATH, DER UNBEZWINGBARE Riese, hatte keinen Grund, anzunehmen, dass von diesem David, einem schmächtigen Schafhirten, eine Bedrohung ausgehen könnte. David war nicht mal Soldat und kam ohne schwere Rüstung daher, wie es sich für einen richtigen Kämpfer ziemte. Allein die Tatsache, dass der Gegner keinen erfahrenen Soldaten in den Kampf schickte, war lächerlich und roch förmlich nach Verzweiflung. Und trotzdem unterlag Goliath, ohne mitzubekommen, wie ihm geschah. Bevor der Kampf so richtig begonnen hatte, war er auch schon wieder vorbei.

Die Geschichte vom Außenseiter, der gegen einen übermächtigen Gegner gewinnt, klingt zwar gut, konnte aber eigentlich von Anfang an nicht gut ausgehen für den Favoriten. Malcolm Gladwell, Autor von David und Goliath: Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen, beschreibt die Ausgangssituation anhand der Originaltexte. Und da wird sofort klar, dass Goliath ein schwer kranker Mann war. Was er sagte und wie er von Zeitgenossen beschrieben wurde, lassen darauf schließen, dass der zweieinhalb Meter große Mann unter Gigantismus litt, mit beträchtlichen Nebenwirkungen. So war Goliath kurzsichtig und konnte seinen Gegner nur aus der Nähe deutlich erkennen. Seine Gelenke machten ihm zu schaffen, und er benötigte Helfer, die ihm seinen Schild zum Kampfplatz brachten. Seine Respekt einflößende Größe und seine Armlänge verschafften ihm im normalen Schwertkampf von Mann zu Mann ausreichend Abstand, um den Gegner zu treffen, selbst aber nicht getroffen zu werden.

David hingegen war in zweifacher Hinsicht ein unterschätzter Underdog. Als einfacher Schafhirte wählte er als Waffe die Steinschleuder, eines richtigen Soldaten unwürdig. David war normalwüchsig, viel kleiner als Goliath, dafür aber wendiger. Seine Waffe erlaubte es ihm, den Gegner aus der Distanz anzugreifen, und das ausgesprochen effektiv. Ein geübter Schütze kann einen Stein mithilfe einer Schleuder auf die Geschwindigkeit einer abgefeuerten Pistolenkugel bringen. Selbst wenn David der „goldene Schuss“ nicht im ersten Versuch gelingen sollte, war er wendig genug und weit genug entfernt, es so oft zu probieren, bis ihm die Steine ausgingen.

Sieht man sich das Ausgangsszenario aus diesem Blickwinkel an, stand Goliath bereits von Anfang an auf verlorenem Posten; er kam mit einem Messer zu einem Schusswaffenduell. Gerade weil – und nicht obwohl – David mit einer unorthodoxen Waffe in den Kampf zog, ergaben sich Vorteile. David hielt sich nicht an die üblichen Regeln eines Duells zwischen Schwertkämpfern, die bedingten, dass sich die Kontrahenten körperlich nahekommen mussten. Und dass der Einsatz einer Steinschleuder als nicht soldatenlike galt, war David schnurzpiepegal. Er war ja keiner, er war Schafhirte.

Der vermeintlich chancenlose Außenseiter, der zu unüblichen Methoden greift, sich nicht an Regeln hält, dem es egal ist, was das Expertenumfeld über ihn denkt, und der damit alle Umfragen Lügen straft, steht im Mittelpunkt vieler solcher David-versus-Goliath-Szenarien. Wir tendieren dazu, dem Underdog die Stange zu halten, müssten aber eigentlich auch Mitleid mit Goliath haben. Zumindest manchmal. Denn oft haben wir es leider mit Riesen zu tun, denen ihr Erfolg zu sehr zu Kopf gestiegen ist. Auch das vorliegende Buch handelt von solchen Goliaths und Davids; wir werden lernen, warum man Davids niemals unterschätzen sollte, warum Giganten verletzlicher sind, als sie nach außen hin scheinen, und warum es bereits jetzt für einige von ihnen zu spät sein könnte. Aber auch das wird eine Rolle spielen: warum sich manche Davids ihre Siege nicht zu Kopf steigen lassen oder sich auf ihren Lorbeeren ausruhen sollten. Davids können rasch selbst zu Goliaths werden und den nächsten Davids als Opfer dienen. Ausschlaggebend für den Gewinn des Underdog war, dass er die Regeln änderte. Wer sich vom Gegner die Waffen diktieren lässt, gewinnt nur in 30 Prozent der Fälle. Wer sein eigenes Spiel spielt, hat dagegen eine 65-Prozent-Chance.3

Wie sehr sich das Verhältnis von Davids und Goliaths im Automobilsektor umgekehrt hat, zeigt das Beispiel der Delegation eines deutschen Premiumherstellers, die auf Besuch im Silicon Valley unterwegs war. Die Autos des Herstellers zählen zu den begehrtesten der Welt und weisen eine Verarbeitungsqualität auf, die ihresgleichen sucht und die die Bilanz des Mutterkonzerns regelmäßig aufpoliert. „Erlkönige“ – also die mit Tarnfolien beklebten Prototypfahrzeuge, die in der Region des Herstellers zu Testzwecken unterwegs sind – werden von Autofans und Fotografen von Automagazinen mit Hingabe gesucht und begutachtet. Und dann drehen sich im Valley die Mitarbeiter desselben Herstellers plötzlich nach jedem Tesla Model S und X um, laufen aufgeregt zur Garage, in der Google seine Flotte an selbstfahrenden Autos parkt, und kleben wie kleine Kinder vor dem Bonbonladen am Garagengitter, um die besten Aufnahmen von hässlichen kleinen Kugelautos zu schießen. Etwas Entscheidendes hat sich verändert, und deutsche Hersteller können es nicht mehr leugnen, auch wenn sie sich äußerlich den Anschein geben, alles unter Kontrolle zu haben und auf der Höhe der Zeit zu sein.

Die Dienstreise eines VW-Mitarbeiters aus Süddeutschland in die Zentrale nach Wolfsburg mit einem ausgeliehenen Tesla ruft das Interesse der Kollegen hervor. Sie drängen sich um das Fahrzeug, wollen es Probe fahren, die Beschleunigung erleben, den Platz im Fahrzeug testen, den großen Touchscreen berühren. So sieht es normalerweise aus, wenn andere Autobauer deutsche Premiummarken unter die Lupe nehmen. Oder wenn deutsche Hersteller sich von einem Ferrari beeindrucken lassen. Doch ein Sportwagen ist für die meisten verzichtbarer Luxus, beim Tesla wird aber sofort klar, dass hier die Zukunft anrollt. Und die ist bereits eingetreten, viel rascher als erwartet.

„Nicht Tesla geschieht den deutschen Herstellern, sondern die Zukunft geschieht ihnen.“

– MARIO HERGER

Wie rasch so etwas gehen kann, zeigt das Beispiel einer Industrie, die einen lang gehegten Traum der Menschheit verwirklichte, nämlich das Fliegen. Orville und Wilbur Wright waren zwei Fahrradmechaniker aus Dayton, Ohio. Schon im Kindesalter hatten sie Vögel beobachtet, wie sie ihre Flügel bewegten, um in der Luft zu bleiben. Die beiden waren dabei so bei der Sache, dass sie die einzelnen Bewegungsabläufe mit ihren Armen nachahmen konnten. Ihre ersten Versuche mit angeschnallten, flügelähnlichen Vorrichtungen führten zu nicht mehr als ein paar aufgeschürften Knien. In der Nachbarschaft galten die beiden als durchgeknallt, denn nur Verrückte hatten wohl nichts Besseres zu tun, als stundenlang im Freien zu stehen und Vögeln nachzujagen.

Aber langsam und stetig bastelten die beiden in ihrer Werkstatt an Flugapparaten und saugten begierig die Veröffentlichungen anderer Luftfahrtpioniere wie Otto Lilienthal oder Octave Chanute in sich auf. Sie bauten sogar einen ersten Windtunnel, um Aerodynamik zu studieren. Nach unzähligen Gleitversuchen gelang den beiden am 17. Dezember 1903 der erste erfolgreiche Motorflug, der 59 Sekunden dauerte und 260 Meter weit führte. Die heimische Bevölkerung sollte erst einige Tage später davon erfahren; man nahm die Nachricht entweder nicht ernst oder hielt sie für bedeutungslos. Ganz anders fiel die Reaktion in Paris aus. Der dortige Aéroclub hatte bereits von den Bemühungen der Brüder Wright durch Korrespondenz mit Chanute erfahren und lud die beiden zu einer Demonstration nach Frankreich ein. Erst danach wurde man auch im eigenen Land auf sie aufmerksam.

Während die Wrights unbeachtet von der Öffentlichkeit ihrem Erfindungsgeist nachgingen, stand ein anderer amerikanischer Flugpionier im Zentrum der Aufmerksamkeit. Samuel Pierpont Langley war ein anerkannter Wissenschaftler, Direktor des Smithsonian Astronomical Observatory und Mitglied der Amerikanischen Akademie der Kunst und Wissenschaften wie der Royal Society.4 Er sehnte sich nach einer Ruhmesleistung ähnlichen Kalibers wie der seines Freundes und Kollegen Alexander Graham Bell, der das Telefon erfunden hatte. Den bemannten Flug sah Langley als die nächste Schwelle, die es zu überwinden galt, und als seine Chance, Lorbeeren zu ernten. Dank seiner Beziehungen und seines Ansehens hatte er vom Kriegsministerium 50.000 Dollar und von der Forschungs- und Bildungseinrichtung des Smithsonian Instituts weitere 20.000 Dollar erhalten, um ein Flugzeug zu bauen. Die New York Times verfolgte seine Bestrebungen auf Schritt und Tritt und hielt ihre Leser regelmäßig über seine Fortschritte auf dem Laufenden. Doch die Versuche brachten nicht den gewünschten Erfolg, und die Wrights liefen ihm still und heimlich den Rang ab. Als er davon hörte, beendete Langley umgehend seine aeronautische Arbeit. Während es ihm um den persönlichen Ruhm gegangen war, trachteten die Brüder Wright danach, Menschen das Fliegen zu ermöglichen.5

Warum aber sprechen wir in einem Buch über Automobile über zwei Flugpioniere, die als Fahrradmechaniker begannen? Weil sich hier ein Muster erkennen lässt, das typisch ist für viele disruptive Innovationen.

Erstens: Meist sind es nicht die Experten auf einem Gebiet, die Disruption in eine Industrie bringen, sondern fast immer Außenseiter, die zunächst für naiv, realitätsfremd und auch für völlig durchgeknallt gehalten werden. Gerade sie sind es aber, die einen unvoreingenommenen Blick auf die Dinge und unkonventionelle Ansätze mitbringen. Und weil sie nicht an die Geschichte dieser Disziplin gebunden sind und im dortigen Hierarchiesystem niemandem etwas schulden, können sie scheinbar respektlos vorgehen. Sie müssen sich nicht um geltende Regeln kümmern oder Angst haben, jemandem auf die Füße zu treten, dem sie verpflichtet sind. Sie betrachten das zu lösende Problem von einer allgemeineren Ebene aus. Man nennt dieses Vorgehen „first principle“ oder „Denken in Grundbegriffen“. Der Grundbegriff kann von keinem anderen Begriff abgeleitet werden und geht zurück auf die ursächliche Problematik. Nicht die Frage „Wie mache ich Kutschen besser?“, sondern „Was ist der eigentliche Grund für Kutschen?“ kommt näher an den Grundbegriff und die zu lösende Problematik heran. Dabei merkt man rasch, dass die Quantensprünge bei der Lösung des Problems nicht in der schrittweisen Verbesserung der existierenden Technologie entstehen, sondern im Finden völlig neuer Ansätze. Diese Art von Denken erfordert aber mehr mentale Energie. Ein Innovationssprung überrascht fast immer die Industrieexperten, die nicht müde werden, auf die Schwierigkeiten oder die Unmöglichkeit eines Vorhabens hinzuweisen, dabei aber nur innerhalb ihrer Grenzen und Rahmenbedingungen denken.

Zweitens: Disruptoren geht es seltener um Ruhm, sondern eher um die Sache an sich. Darum, wie man das Universum verformen oder die Welt besser machen und Menschen helfen kann. Davon spricht auch Tesla-Chef Elon Musk in einem Interview mit dem Handelsblatt, als er die Gründe für die Beendigung der Zusammenarbeit mit Daimler und Toyota nennt.6

„Wir sahen als Problem mit den Projekten, die wir mit Toyota und Daimler durchführten, dass sie letztendlich zu klein gedacht waren. Sie berechneten nur, welchen Betrag sie reinstecken mussten, um die Behörden zufriedenzustellen, und hielten den Aufwand so gering wie möglich. Solche Projekte wollen wir nicht machen. Wir wollen Projekte machen, die die Welt verändern werden.“

Musk will die Welt verbessern, will den Menschen helfen, besser dazustehen als vorher. Im deutschen Sprachraum gelten Weltverbesserer als naive Erbauer von Luftschlössern, die vielleicht sogar in die Klapsmühle gehören. Als Weltverbesserer bezeichnet zu werden gilt hierzulande nicht gerade als Kompliment. Aber wie nennt man dann im Umkehrschluss diejenigen, die nicht danach streben? Weltverschlechterer? Logisch wäre das.

Management auf eine Weise zu verstehen, die in scharfem Widerspruch zu der von herkömmlichem Unternehmertum steht, kommt nicht von ungefähr. Al Gore zitiert in seinem Buch The Future eine Studie, bei der Geschäftsführer und Finanzchefs befragt wurden, ob sie eine gute Investitionsgelegenheit beim Schopf packen würden, auch wenn es bedeutete, dass sie die nächsten Quartalszahlen nicht erreichen würden. Es wird Sie vermutlich wenig überraschen, dass 80 Prozent der Befragten die Frage verneinten.7

Der Verhaltensökonom Richard Thaler wiederum weist auf den innerbetrieblichen Konflikt zwischen der Makro- und Mikrobetrachtung von riskanten Projekten hin. Bei einer Besprechung mit 23 Managern und dem Firmenchef fragte er erstere, ob sie ein Projekt starten würden, bei dem die Erfolgswahrscheinlichkeit bei 50 Prozent liege. Sollte es erfolgreich sein, winke ein Gewinn von zwei Millionen Dollar pro Projekt, im Falle des Scheiterns drohe ein Verlust von einer Million. Insgesamt handle es sich um 23 voneinander unabhängige Projekte. Ergebnis: Von den 23 Managern wären nur drei das Risiko eingegangen, die anderen 20 lehnten ab.

Als man den Firmenleiter fragte, wie viele der Projekte er durchführen lassen würde, antwortete er sofort: „Alle!“ Aus seiner Sicht machte dies auch Sinn. Von den 23 Projekten würde vermutlich die Hälfte ein Misserfolg werden und einen Gesamtverlust von elfeinhalb Millionen Dollar bedeuten. Die erfolgreichen elfeinhalb anderen Projekte aber würden zusammen 23 Millionen Dollar einspielen. Damit ergäbe sich unterm Strich ein positiver Betrag von elfeinhalb Millionen Dollar. Die Manager gaben auf Nachfrage folgende Gründe dafür an, ein solches Projekt nicht angehen zu wollen: Im Erfolgsfall wären maximal ein Schulterklopfen und ein kleiner Bonus drin, im Fall des Scheiterns büßten sie nicht nur intern an Reputation ein, sondern müssten als drastischste Konsequenz mit ihrer Entlassung rechnen. Das Risiko stehe für sie in keiner Relation zum Gewinn.8

Selbst wenn dem Firmenchef bewusst ist, dass er aus Makrosicht alle 23 Projekte durchführen lassen sollte, sind das Belohnungssystem und der Fokus auf die Mikrosicht (also auf Einzelprojekt-Basis) ausgerichtet. Eigentlich sollte ein gescheitertes Projekt, das mit viel Elan angepackt wurde, zumindest genauso belohnt werden wie ein erfolgreiches, denn dabei wurde schließlich etwas riskiert. Aus Makrosicht des Unternehmens ergibt das viel mehr Sinn! Und führt uns zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass es eher die mittelmäßig erfolgreichen Projekte sind, die „bestraft“ werden sollten, die, bei denen ganz auf Sicherheit gespielt wurde und die von den supererfolgreichen Projekten sowieso in den Hintergrund gedrängt werden. Wir sind umgeben von Mittelmäßigkeit, weil viele sich nicht trauen oder auch nicht genügend Anreize erhalten, etwas Außergewöhnliches in Angriff zu nehmen. Die heute implementierte Mikrosicht bestraft die Risikofreudigen und sieht Scheitern als Versagen und nicht als Lernerfahrung an.

Angesichts der Nachrichten rund um den Dieselabgas-Skandal, von illegalen Preisabsprachen und staatlichen Förderungen kann man meinen, dass eine falsche Betrachtungsweise und die üblichen Belohnungsmodelle dazu verleiten, sich „durchzuschummeln“. Man strebt eher kurzfristige Gewinne und Geldflüsse an, die nicht unmittelbar mit der Unternehmensmission in Einklang stehen müssen. Wie sich herausstellt, sind die hochprofitablen deutschen Automobilbauer zudem Experten darin geworden, öffentliche Fördertöpfe anzuzapfen. Porsche erhielt für ein Elektrofahrzeugkonzept über sechs Millionen Euro vom Staat, Daimler über 60 Millionen aus Konjunkturpaketen und BMW von 2010 bis 2012 Fördergelder in Höhe von 44 Millionen Euro.9/10 Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.11 Mit diesen Summen wurde aber – sieht man sich die bisherigen Ergebnisse an – gerade mal minimale Innovation betrieben; in erster Linie fand man Gründe, warum ein neues Konzept nicht funktionieren könne. Die Hauptmotivation scheint weniger in dem Willen zu bestehen, eine bessere Welt zu schaffen, als im Streben nach Macht und Ruhm oder zumindest im Füllen der eigenen Taschen. Das funktioniert so lange, bis auf einmal Quereinsteiger kommen, die vormachen, wie es geht, wenn man nur die nötige Willpower und Ausdauer mitbringt.

Drittens: Unmittelbar nach dem Durchbruch in einer Technologie treten innerhalb kurzer Zeit viele neue Mitspieler auf. Gerade ein Jahr war vergangen, nachdem Wilbur und Orville Wright 1908 ihre ersten öffentlichen Flugvorführungen in den USA und Frankreich unter großer Anteilnahme der Zuschauer absolviert hatten, da meldeten sich bereits beim ersten großen Flugwettbewerb in Reims 22 Piloten mit ihren eigenen Flugmaschinen an.12 Seit Googles selbstfahrende Fahrzeuge in den Schlagzeilen auftauchten und elektrische Teslas ihre Besitzer in den Bann ziehen, sind Dutzende neuer Mitspieler eingestiegen. Anfang 2017 wurden über 700 Unternehmen gezählt, die an Technologien für selbstfahrende Autos arbeiten. Welche das sind, werden wir uns später noch genauer ansehen, eines kann aber vorweggenommen werden: Die deutschen Autohersteller zählen leider nicht zu den führenden Unternehmen, auch wenn sie uns das weismachen wollen.

Autos sind ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft geworden. Die Art, wie wir uns fortbewegen, sagt nicht nur etwas über unseren individuellen Status aus, sondern auch etwas über den unserer Gesellschaft. Wir verbringen mehr Zeit im Verkehr als im Urlaub, beim Essen mit unserer Familie oder beim Sex. Verkehr – nicht der geschlechtliche wohlgemerkt – ist zu einer Art Lebensstil geworden. Ein solcher Lebensstil zwingt uns Neuerungen auf. Ganze Industrien, vom Drive-Thru-Starbucks über To-go-Essen bis hin zum Hörbuch, haben sich erst entwickelt oder angepasst, als die mobile Gesellschaft solche Dienste benötigte.

Bevor wir aber zu tief einsteigen, gehen wir nochmals zurück in die romantisch verklärte gute alte Zeit. Zur selben Zeit, als die Wrights ihre Pionierarbeit für Flugapparate leisteten, gab es eine andere, jahrtausendealte Art der Fortbewegung, die von Außenseitern revolutioniert wurde. Es dreht sich dabei alles ums Pferd.

Von der Pferdekotkrise

zum Klimawandel

WIENTOURISTEN KENNEN SIE bestimmt: die Fiaker. Die Pferdekutschen, die man in der Innenstadt mieten kann, um eine Rundfahrt durch die Geschichte der Stadt langsam und bequem mit nur zwei Pferdestärken zu erleben. Dabei hat der eine oder die andere aufmerksame Reisende ganz bestimmt eine rutschenförmige, aus Leder gearbeitete Tasche unter dem Pferdeschweif bemerkt. Diese als „Pferdewindel“ bekannte Vorrichtung soll vermeiden, dass Pferdekot auf den Straßen liegen bleibt.

Was wir heute amüsiert zur Kenntnis nehmen, bereitete den Stadtverwaltungen vor über 100 Jahren schweres Kopfzerbrechen. Mit dem Städtewachstum nahm auch die Anzahl der Fuhrwerke zu, und immer mehr Pferde bevölkerten die Straßen moderner Metropolen. Um 1900 gab es in London 11.000 Kutschen, die als Taxi dienten, dazu mehrere tausend Pferdetramways, Pferdebusse und zahllose Transportwagen für Waren und Güter aller Art. Gut und gern 100.000 Pferde brachten tagtäglich die Bevölkerung von London und New York City auf Trab. Und hinterließen ihre Spuren. Die festen Verdauungsprodukte eines Pferdes kamen auf sieben bis 15 Kilogramm täglich, dazu fiel mehr als ein Liter Urin an. Stellen Sie sich einmal vor, wie eine damalige Großstadt gerochen haben muss, was für eine Seuchengefahr bestand und welchen Ausweichslaloms Spaziergänger ausgesetzt waren, um nicht zu viel Unrat in ihre Wohnungen zu schleppen. In der Sommerhitze wurde der ausgetrocknete Pferdedung durch die Luft gewirbelt, bei Regen verwandelte er sich in eine klebrige Masse. Gleichzeitig war er eine bevorzugte Brutstätte für Hausfliegen, die ebenfalls die Städte heimsuchten. In welcher Form auch immer, Pferdekot war unangenehm – nun wissen Sie auch, woher der Kotflügel seinen Namen hat.

Was für die einen übelriechende Pferdescheiße darstellte, war für die anderen wertvoller Rohstoff und Dünger. Ganze Berufsgruppen lebten vom Aufsammeln, von der Wiederverwertung und dem Verkauf von Pferdemist. Und denken Sie auch an all die in der Pferdeindustrie beschäftigten Fachkräfte wie Hufschmiede, Zaumzeugmacher, Kutschenbauer, Pferdezüchter, die Betreiber von Koppeln, Futtermittelhersteller, Veterinärmediziner und Pferdetrainer, die das Pferdebusiness am Laufen hielten. Die Verwendung der Pferde als reine Arbeits- und Transportkräfte führte zu einer durchschnittlichen Pferdelebensdauer von gerade mal zwei bis drei Jahren. Tiere, die auf den Straßen kollabierten und verstarben, wurden oft nicht gleich entfernt, sondern ein paar Tage liegengelassen, bis die Kadaver so weit ausgetrocknet waren, dass man sie leichter wegschaffen konnten. Den Gestank und die hygienischen Zustände gerade in den heißen Sommermonaten mag man sich heute gar nicht mehr ausmalen.

Kein Wunder, dass die Londoner Times 1894 voraussagte, dass in 50 Jahren bei gleichbleibendem Wachstum jede Straße der Stadt unter drei Metern Pferdescheiße ersticken würde. Die „Große Pferdekotkrise von 1894“ führte 1898 zur ersten internationalen Städteplanungskonferenz in New York, bei der nach Lösungen für die drohende Gefahr gesucht wurde.13

Dabei hatte die Pferdequote noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht. Für die USA wurde erst 1915 zum „Peak Horse“, sprich zum Jahr mit der größten Anzahl an Vierhufern (knapp über 21 Millionen Pferde).14 Auf drei Amerikaner kam ein Pferd. Exakt 100 Jahre später verkauften Automobilhersteller mehr Fahrzeuge denn je. In den USA zählt man 260 Millionen Fahrzeuge, in Deutschland 43 Millionen und weltweit zwei Milliarden – der höchste Stand an Automobilen, den die Welt je gesehen hat. Wir haben „Peak Car“ erreicht oder stehen unmittelbar davor. Gleichzeitig kommen auf die Automobilindustrie die größten Umwälzungen ihrer Geschichte zu. Droht den Automobilbauern auf dem Höhepunkt ihrer Wirtschaftsmacht ein vergleichbares Schicksal wie der Pferdeindustrie?

Managementberater James C. Collins, Autor von How the Mighty Fall, untersuchte bekannte Fälle von Unternehmen, die auf dem Höhepunkt ihres unternehmerischen Erfolgs innerhalb relativ kurzer Zeiträume in der Bedeutungslosigkeit versanken oder in den Bankrott schlitterten.15 Anhand von Global Playern wie der Bank of America, Motorola, Merck, Hewlett-Packard oder Circuit City identifizierte er fünf Stufen, die ein Unternehmen durchlaufen kann, wobei manchmal aber auch welche ausgelassen werden. Alle konnten auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken, die ihnen die trügerische Sicherheit von Unverwundbarkeit vermittelte. Darauf folgende Überheblichkeit, verbunden mit dem ungezügelten Streben nach mehr und dem Verleugnen von Gefahr und Risiko, ließ diese Unternehmen Fehler über Fehler anhäufen und zu lange auf alte Erfolgsmodelle setzen, bis es zu spät war (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Fünf Stufen des Niedergangs

Die Automobilbranche befindet sich momentan auf Stufe 3. Mehr Autos denn je werden verkauft, immer leistungsfähigere, sparsamere, größere Modelle kommen auf den Markt, und stark anziehende Hoffnungsmärkte in Asien überdecken die Stagnation in den traditionellen Absatzmärkten Europa und Nordamerika. Letzteres hat allerdings nichts damit zu tun, dass niemand mehr Transportmöglichkeiten benötigt, ganz im Gegenteil. Aber die Einstellung zum Besitz, zum Zugang und zur Verfügbarkeit eines Transportmittels sowie die Bedeutung der Antriebsart und des Fahrerlebnisses ändern sich vor unseren Augen.

Um diese Dynamik zu verstehen, müssen wir uns ansehen, von wem die Firmen geleitet werden und wann sie entstanden sind. Was uns sofort auffällt: Die Chefs der Unternehmen, die den deutschen Herstellern heute zu schaffen machen, sind zugleich auch Gründer. Deutsche Unternehmen hingegen werden vor allem von Managern geführt, was zu weiten Teilen den Unterschied erklärt. Manager sind keine Unternehmer.

Den USA ist es in ihrer Geschichte immer gelungen, Unternehmertum zu ermutigen und zu ermöglichen. Zu den bekanntesten amerikanischen Unternehmern zählen:

Graham Bell (Bell Lab)

Thomas Edison (General Electrics)

Henry Ford (Ford)

Andrew Carnegie (Carnegie Steel Company)

Walt Disney (Disney)

Thomas Watson (IBM)

Bill Hewlett (Hewlett Packard)

David Packard (Hewlett Packard)

Gordon Moore (Intel)

Bill Gates (Microsoft)

Michael Dell (Dell)

Jeffrey Bezos (Amazon)

Steve Jobs (Apple)

Larry Page (Google)

Sergey Brin (Google)

Mark Zuckerberg (Facebook)

Elon Musk (Paypal, Tesla, SpaceX)

Allein anhand dieser Aufzählung sehen wir, dass es eine Reihe von Unternehmern gibt, die uns teilweise bereits seit Jahrzehnten ein Begriff sind. Wer fällt uns hingegen bei den deutschen Unternehmern ein? Hier ebenfalls eine (sicherlich unvollständige) Liste der wichtigsten Namen:

Carl Benz (Daimler-Benz)

Karl Rapp (BMW)

Ferdinand Porsche (Porsche/Volkswagen)

Rudolf Diesel

August Horch (Audi)

Claude Dornier (Dornier)

Werner von Siemens (Siemens)

Karl Albrecht (Aldi)

Adi Dassler (Adidas)

Konrad Zuse (Zuse KG)

Heinz Nixdorf (Nixdorf)

Hasso Plattner (SAP)

Welche Aspekte fallen uns auf, wenn wir die Listen vergleichen? Erstens: Vergleichsweise wenige deutsche Unternehmen sind in den letzten Jahrzehnten entstanden, die bekanntesten Unternehmer waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aktiv. Und zweitens: Bei den Amerikanern dominier(t)en vor allem Technologiefirmen.