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Astrid Petermeier

Kunst gegen Kohle

Krimineller Schelmenroman aus dem Ruhrgebiet

© 2017 Astrid Petermeier

Lektorat: Claudia Dorka

Umschlaggestaltung: Martin Bartel

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7439-4512-8
Hardcover 978-3-7439-4513-5
e-Book 978-3-7439-4514-2

Das Werk ist einschließlich seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DANKESCHÖN!

Ein ganz herzliches Dankeschön an den Dresdener Künstler Matthias Jackisch, der mir die erste Idee für dieses Buch flüsterte.

Dankeschön an Claudia und Michael Dorka für vollen Einsatz in Sachen Ermutigung, Kritik, Geduld und vor allem: für das Lektorat und die Musik.

Dankeschön an Robbert Ewers‘ Familie, an Jette Dorka, Cornelius Kern und Frank Radmacher für die Abbildungsrechte an ihren Kunstwerken und Persiflagen.

Dankeschön an Martin Bartel für die Umschlaggestaltung mit meiner Lieblingsmauer und für die Erfindung der Sportart „Geschwindigkeits-Hochladen gegen sich leerenden Akku“.

Dankeschön an meine Nordstadt, die nie eine Antwort schuldig bleibt, aber jeden Tag neue Fragen stellt.

Die Charaktere und die konkreten Handlungsorte sind frei erfunden.

Weitere Informationen über die Autorin und die Künstler sowie Abbildungen aller im Buch erwähnten Kunstwerke siehe

www.astrid-petermeier.de

0.

Alle auf den Boden oder die Omma is' tot!

Margottnochmal, was für eine abgeschmackte Eröffnung für einen Banküberfall! Darf man von Künstlern nicht etwas mehr Originalität erwarten? Erst bringen sie einem gestandenen Guten Geist wie mir göttliche Flucherei bei und dann kommt Rashid mit „alle auf den Boden oder die Omma is' tot.“ Wenigstens zu lupenreinem Hochdeutsch hätten die anderen ihm raten können. Das beherrscht er schließlich.

Sei's drum – es funktioniert. In Coesfeld reicht diese blöde Floskel, für die jeder Drehbuchautor sich in die Ecke stellen und schämen sollte, um die beiden Kunden der Bank die Auslegeware küssen zu lassen (da ich den Bewohnern Coesfelds nicht zu nahe treten möchte, sei erwähnt, dass ich den meisten anderen Deutschen auch nicht mehr Widerstandsgeist zutraue). Jedenfalls nicht, wenn einer von drei schwarzbärtigen Bluesbrothers einer Dame eine Knarre an die Schläfe hält. Einer alten Dame, wie es sie nur auf dem Lande noch gibt: mit Kapotthut, Pumps und Perlenkette, kariertem Faltenrock und einem Gehstock, der sogar über einen silbernen Löwenknauf verfügt.

Die Bankangestellte hinter dem offenen Schalter begibt sich ebenfalls auf Tauchstation, weshalb ihr einiges entgeht. Nur im Kopf des Kassierers rattert es wie verrückt, denn jetzt holt meine Künstlergruppe mächtig auf. Drei Bluesbrothers, sagt sich der Kassierer, sind eindeutig einer zu viel.

Sah die Ankunft dieser drei Gestalten vorhin nicht noch aus wie eine Kunstlieferung? Diese Typen trugen Bilder in die Bank und er war schon bereit, der Chefetage auf Knien dafür zu danken, dass man endlich auch die Coesfelder Filiale der MERZ-Bank mal mit richtiger Malerei bedachte. Die Freude war von kurzer Dauer. Mit seinem albernen „alle auf den Boden oder die Omma is' tot“ hat Rashid das Augenmerk des Kassierers auf die Waffe gelenkt.

Geht's noch etwas kleiner?

Der Kassierer ist keineswegs kurzsichtig und seine sichere Panzerglasscheibe formidabel geputzt. Eine Derringer hat nun mal dieses Miniformat, sonst hätten die Saloon-Mädels aus dem Wilden Westen sie ja schlecht hinter ihre Strumpfbänder gekriegt.

Der böse Bluesbrother hält also die alte Dame mit der Derringer fest im Griff. Der größte Bluesbrother tut immer noch so, als sei das hier ein Kunsttransport. Sprich: Männeken steht dumm rum und hält ein extrem hochformatiges Bild in die Luft, das als einziges sachgemäß in Luftpolsterfolie verpackt ist. Drei weitere Gemälde haben sie vor das Fenster gelehnt, dessen Lamellenvorhang mit einem Ruck vorher geschlossen wurde. Es ist also nicht zu erwarten, dass da draußen jemandem auffällt, was hier los ist.

Der Kassierer sieht, wie der alten Damen der Schweiß nur so aus dem Kapotthut rinnt. Er packt bündelweise Scheine vor sich. Aha, Bluesbrother Nummer Drei, also Lisa als Kleinste von allen, schießt wie ein geölter Blitz auf ihn zu. Sie schiebt ihm einen Zettel und einen Jutebeutel durch den schmalen Schlitz der Panzerglasscheibe.

Der Kassierer will nur eines: dass die alte Dame keine Herzattacke kriegt. Wenn er schon einen Banküberfall erleben muss, dann bitte ohne Tote. Er stopft die Scheine in den Jutebeutel und erstarrt – was sage ich: er kriegt fast selber den Herzkasper – als er wieder die Stimme des bösen Bluesbrothers hört.

Doch kümmern wir uns zunächst um die Kunden am Boden. Der Dicke liegt schon, bevor das despektierliche „Omma“ gefallen ist. Mit beiden Armen schützt er seinen Kopf, als könne ihn das retten. Nicht so die Lady im Pelzmantel. Sie muss ausgerechnet jetzt das landläufige Denken über den Mut von Männern und Frauen auf den Kopf stellen. Zwar lässt sie sich brav nieder. Doch was sie von dort unten sehen kann, das will sie auch sehen.

Ist es nicht unglaublich?

„Bei Eis und Schnee!“ zischelt sie dem dicken Lehrer zu.

Ob er das gehört hat? Schwer zu sagen, in seinem Kopf läuft ein Katastrophenfilm. Sie aber weiß es genau: der Nagellack in prolligem Pink auf den nackten Füßen der Bluesbrothers, das ist Tiziano Vecelli von Jelena Rubirot und obendrein schlecht aufgetragen. Nackte Füße mit hingeschmiertem Pink! Sie titscht dem Lehrer sogar in die Rippen, um mit ihrem Wissen zu prahlen. Er ist doch der Gymnasiallehrer und mustert sie meistens abschätzig. Vorsichtig riskiert er einen Blick auf die Bankräuberfüße und zieht sofort den Kopf wieder ein, als die Stimme des bösen Bluesbrothers ertönt. Verflixt, mit einem Drink wüsste die Pelzlady genau, woher sie diese Stimme kennt. Ist es die von Pit Brett? Sie klingt gepresst, als käme sie aus einem billigen Diktaphon.

„Zu viel! Zähl' gefälligst richtig ab!“

Der Kassierer blickt entgeistert hoch. Doch das „wie bitte?“ bleibt ihm im Halse stecken. Er sieht den Bluesbrother mit der Geisel an. Iraker wie Rashid sind selten Männer von außergewöhnlicher Körpergröße. Wenn ein solcher eine alte Dame vor sich hat und ihr eine Knarre an die Schläfe hält, ist von seinem Gesicht nicht mehr viel zu sehen. Was der Kassierer aber umso klarer wahrnimmt, ist die Todesangst der Geisel. Ogottogott! Was hat dieser Typ gesagt? Der erschießt die Oma! Hilfe! Was meint der mit zu viel? Wie viel will er denn? Stand das auf dem Beutel? Gnade, wo ist der?

Der Kassierer darf keine Fehler machen. Er will keine Toten, keine Verletzten und es ist ihm egal, was für einen Nagellack die Bankräuber auf ihren verfrorenen Zehen tragen. Nun kriegt er auch noch mit, wie sich seine Kollegin hinter dem Schaltertisch heranrobbt. Mit ausgestrecktem Finger! Na klar, die will an den Alarmknopf. Ist die irre? Weiß die überhaupt, welcher der beiden Knöpfe unter dem Tisch der richtige ist? Wenn sie den falschen erwischt und die alte Kriegssirene auslöst, erschießt der Typ die unschuldige, ängstliche, liebe alte Frau!

Tja, genau so kann ein bestens geplanter Bankraub gewaltig aus dem Ruder laufen.

Das war vor über einem Jahr und heute sitze ich mit dem Hausteipel am Feuerchen vor seinem Kabachel, um die Geschichte rund um diesen Bankraub zu erzählen. Wer wir sind, willst du wissen?

Den Hausteipel wirst du noch früh genug kennenlernen. Ob das ein Vergnügen ist, sei dahingestellt. Zack, schon ist er beleidigt.

„War doch nur ein Scherz, Hausteipel. Wenn du mich jetzt auf dem Trockenen sitzen lässt, kann ich schlecht weitererzählen.“ Nun zu mir.

Heimat: Ruhrgebiet. Name: Uwe. Beruf: Rechtsverdreher.

Ich benutze dieses Wort nicht, weil es nach locker vom Hocker klingt, sondern weil das Recht dauernd so verdreht wird, als sei es ein Wäschestück im Schleudergang.

Warum ich das alles weiß und so tue, als könne ich dem Kassierer der Bank in den Kopf gucken? Ich tue nicht nur so, ich kann es! Da lacht sogar der Hausteipel schon wieder frech. Weil ich im Verlaufe unserer Geschichte zum Guten Geist berufen wurde und so ein Guter Geist weiß eben mehr als andere.

Doch jetzt fangen wir endlich mal am Anfang an. Also an dem Frühjahrstag im Jahre 2013, an dem unsere Künstler hofften, dass die MERZ-Bank von jedem ein Bild kaufen und sie ihre größten Sorgen los würden.

1.

Merz-Kunst

Das Foyer der Bank, in dem in diesem Jahr die Ateliergemeinschaft N wie Nordstraße ausstellen durfte, füllte sich schon ungewöhnlich früh mit Besuchern. Ich komme gern überpünktlich, weil man dann die beste Gelegenheit hat, die Bilder ganz in Ruhe zu betrachten. Wenn es mal ein Bild gibt, das mich fasziniert, fühle ich mich gern wie allein damit.

Es gab an diesem Tag ein solches. Es war weiß. War es weiß? Es ist ja allseits bekannt, dass Weiß keine Farbe ist, sondern das Nichts, aus dem alles entsteht, weil nur das Nichts alles enthält. Sage mal einem Eskimo, dass seine Landschaft Weiß ist. Der lacht dich aus. Da hat der Eskimo nämlich zwanzig bis dreißig Wörter für. Mir fiel auf, dass ich die Augen zusammenkniff, sozusagen blinzelte. Zugegeben, ich hatte ein Weilchen gebraucht, das Motiv zu erkennen. Stelle dir einfach Eisberge im Nebel vor und du hast das Problem erfasst.

In meinem Kontor hing immer noch ein Geschenk meiner zweiten Gattin, ein Bild, das an Beliebigkeit schwer zu toppen ist. Sie muss es mir aus purer Gehässigkeit überlassen haben.

Ich stellte mir vor, welch' beruhigende, kühlende Wirkung der Nebel auf die oft hitzig geführten Debatten mit meinen Straftätern haben könnte. Vielleicht würden sie sich darin verlieren und mir ganz unabsichtlich ihre wahren Motive preisgeben. Vielleicht würde es mich an die Gefahren, an die Scharfkantigkeit von Eisbergen erinnern, die der Nebel so sanft verbarg. Kam er nicht dem Idealismus gleich, mit dem manche Täter ihre Unerbittlichkeit zu tarnen versuchten? Ich war mir sicher, dieses Bild würde Einfluss auf unsere Gespräche haben! Vom Nebel der Leinwand eingehüllt, haben verbale Nebelbomben wenig Chancen!

Gebont! Ich wollte diese Eisberge im Nebel kaufen!

Mitten in meine Träume polterte eine Pranke, die unsanft auf meiner Schulter landete. Gleichzeitig donnerte etwas hörsturzverdächtig neben meinem Ohr.

„Aber hallo! Der Uwe!“

Ausgerechnet Doppelkorn, genauer gesagt: Staatsanwalt Korn, der seinen Spitznamen aus feuchtem und gern eisgekühltem Grunde trug. Wir haben mal zusammen studiert und er hat mir die Frau ausgespannt. Was man Ende der Sechziger weder übel nehmen noch so nennen durfte.

„Na, spielst du immer noch den Anwalt der Armen und Entrechteten?“

Sollte ich zurückfragen, ob er immer noch glücklich mit Dorle verheiratet war? Besser nicht, denn ich wusste, sie waren noch verheiratet.

„Im Moment mühe ich mich, den Nebel zu durchdringen.“

Das brachte Doppelkorn nicht mal auf die Idee, das Bild eines Blickes zu würdigen.

„Wundert mich nicht bei deiner Klientel. Du brauchst mal einen Beratervertrag.“

So Recht er auch hatte, mir stand der Sinn nach mehr. Nebelbildern. Ich wollte ein paar Schritte weiter vor das nächste treten. Da fiel mir ein schwarzer Klecks unten rechts am Eisberg auf. Ich bückte mich und las 1981. Seltsam, warum stellten sie hier ein so altes Bild aus?

„Falls du dir bei deinen Honoraren Bilder leisten kannst: meine Begleiterin kennt den Künstler bestimmt. Sie ist die Art-Consulterin.“

Ich hätte zu gern gewusst, wer vor über dreißig Jahren dieses faszinierende Bild gemalt hatte und warum es hier hing. Denn ein Blick auf die weiteren bestätigte mir, dass der Künstler sich längst anderen Nebelmotiven zugewandt hatte. Rohrleitungen, Eisenbahnbrücken, Schrottplätze lugten vorwitzig aus dem weißen Dunst. Was war das für eine Person, die das Ruhrgebiet mit Hilfe von Nebel zu etwas Undurchdringlichem machte?

„Eine Art-Consulterin?“

Nicht, dass ich solche gewollt-und-nicht-gekonnt-Berufsbezeichnungen liebte. Mit den Art-Consultern ist es wie mit den Vernissagen: sie klingen besser als Kunstberater oder Ausstellungseröffnung und ziehen lauter Leute an, die den schönen Schein und nicht die Wirklichkeit der Bilder brauchen. Doch in diesem Falle sollte mir das egal sein. Wenn Doppelkorns Bekannte mir verraten konnte, von wem dieses Bild war und was es kosten sollte, wollte ich sie unbedingt kennenlernen. Leider konnte ich meine uralte verletzte Eitelkeit nicht im Zaum halten und musste noch einen Satz dranhängen.

„Bist du nicht mit Gattin unterwegs?“

Staatsanwälte sind nur dann Freunde des Entnebelns, wenn sie ihrem Beruf nachgehen. In ihrer Freizeit hingegen schätzen sie die Feuchtgebiete durchaus. Sein Angebot, mir die gewiss zwanzig Jahre jüngere Begleiterin vorzustellen, war mit dieser Frage storniert. Er murmelte etwas vom Feng-Shui-Kursus der Ehefrau und stolzierte grußlos davon. Da hatte ich meine erste Chance vertan.

War ich etwa auf Doppelkorn angewiesen? Vor Gericht konnte das vorkommen. Aber wir waren nicht vor Gericht, sondern bei einer Kunstausstellung. Irgendwo musste es eine Liste mit den Künstlernamen und Preisen geben. Wenn er denn nicht fünfstellig war, wollte ich eine arme Künstlerseele erfreuen, um zukünftig glückselig durch mein Kontor zu blinzeln.

So voll wie heute war es bei Vernissagen in der MERZ-Bank noch nie gewesen. Du lieber Himmel, was für ein Gedrängel, was für ein ungewöhnliches Publikum. Viele hielten die Einladung wie eine Eintrittskarte in der Hand.

„Meinste, die hätten hier außer Schampus auch'n Pilsken am Start?“ fragte mich ein Mann undefinierbaren Alters.

„Schlechte Karten.“

„Aber da steht doch extra: mit Buffet.“

Ich riet ihm, erstmal für den Kunstgenuss zu sorgen und sich um das Pils zu kümmern, wenn der Sektausschank weniger umringt war. Für diesen Tipp überließ er mir seine Einladungskarte nur zu gern. Sie verriet mir fünf Künstlernamen und ich schloss aus der Abbildung, dass die Ornamente auf Elektronikplatine dem arabischen Namen Rashid zuzuordnen waren. Jauchsches Ausschlussverfahren, nun blieben nur noch Vier. Wenn die Schöpferin des Nebels weiblich war, würde ich sie schon ausfindig machen und wenn sie männlich war, wollte ich mich auch nicht lumpen lassen.

Mein neuer Freund hielt es mit dem Kunstgenuss ähnlich wie ich: er war früh gekommen und hatte die Bilder schon ausgiebig betrachtet.

„Durst ist schlimmer als Heimweh.“ grinste er mit Blick auf die Ruhrpottbilder. Ich folgte ihm zum Sektausschank, weil ich im dortigen Gedrängel diejenige entdeckt hatte, die im Verlaufe des Abends noch für Freude sorgen sollte.

„Da hat sich der Pöbel aber richtig in Schale geschmissen.“ Doppelkorns Gattin Dorle. Hatte sich was mit Feng-Shui, sie war schließlich Mitglied des Kunstvereins. Mein Begleiter fand ihre Wortwahl bemerkenswert genug, sie provozierend anzustarren. Pöbel? Nur, weil Menschen wie er für ihre Abendgarderobe nicht so oft und so tief ins Portemonnaie griffen wie Dorle und Konsorten?

„Das ist mal eine interessante Künstlergruppe, wenn die so viele Freunde haben.“

„Findest du?“

Ihre Stimme klang, als habe sie die Art-Consulterin an der Seite ihres Ehegesponsts erspäht.

„Weißt du zufällig, wo die Ausstellungslisten liegen?“

„Nö. Vielleicht bauen die Schwalben daraus, die sie bei der Rede fliegen lassen.“

Es konnte gar nicht anders sein: sie musste ihren Göttergatten und die Art-Consulterin bemerkt haben. Denn Andrea Schießmichtot war auf der Einladung als Rednerin angekündigt. Dorle hatte ihrem Ärger zu deutlich Luft gemacht. Ein Hüne von Mann begrüßte sie dröhnend.

„Manno, Sekt-und-tiefe-Ausschnitte sind heute mal in Unterzahl.“

„Geht das auch etwas leiser, Männeken?“

Die hübsche junge Frau, die den brüllend-lauten Typen zurechtwies, trug ein leuchtend gelbes Kleid der Marke schreiend-kreativ-und-selbstgeschneidert. Auf das Dekolletee schien sie besonderen Wert gelegt zu haben. Da passte Dorles, das auch nicht von schlechten Eltern war, drei Mal hinein. Hatte sie ihn Männeken genannt?

Dann hatte ich soeben zwei weitere der ausstellenden Künstler gefunden. Wie man einen solchen Anarcho-Bären mit Vollbart, Schmerbauch und auf dem Kopf festgewachsener Baskenmütze Männeken nennen konnte, wusste wohl auch nur seine Mutter.

Bei Dorle hatte er sein Ziel jedenfalls erreicht. Tödlich beleidigt kippte sie ein Glas Sekt und ging auf Beschützersuche, was ihr kaum mehr Freude bereiten würde.

Männeken strahlte meinen Begleiter an. Er schien nicht allein gekommen zu sein.

„Guck doch mal, Lisa, da sind dem Hausteipel seine Skatbrüder! Mensch, die Jungs muss ich erstmal mit ner Runde Pilsken begrüßen.“

Es gelang ihm mit Lautstärke, dem Herrscher des Sektausschanks „Pilsken für unsere Ehrengäste“ aus den Rippen zu leiern – und weg war er.

„Du bist Lisa?“ wandte ich mich rasch an die sehr junge Künstlerin. Die Frage, ob die Nebelbilder von ihr waren, wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Zu deutlich prangte ein klar gestochenes Tattoo genau dort, wo Dorles Ausschnitt längst aufgehört hatte.

„Persönlich und leibhaftig.“ feixte sie fröhlich. „Die lachende Lisa mit den tieftraurigen Bildern.“

Ich wusste sofort, welche sie meinte. Zuletzt hatte ich in den Siebzigern so deprimierende Gemälde voller Kritik an den schlimmsten Umweltsünden unserer Zeit gesehen.

Plötzlich umgaben uns Typen wie Doppelkorn scharenweise. Herren in dunklen Maßanzügen, die ihre Chance witterten, als Männeken entschwunden war. Eines war gesichert: das Elend der Welt interessierte die nicht. Dafür aber das Tattoo, ein chinesisches Schriftzeichen. Ich wünschte ihnen, dass es sowas wie „Flossen weg oder ich schneid ihn dir ab“ bedeutete.

„Wie viele Pilsken braucht dein Genosse, bis er Eisberge im Nebel sieht?“ erkundigte ich mich.

„Männeken?“ sie hatte wirklich ein schönes Lachen. „Von dem sind die Schriftstücke. Gib's zu, soviel Akkuratesse traut man ihm gar net zu.“

Sie hesselte leicht, hatte aber trotzdem Recht. Sauberst stachen auf Männekens Bildern Buchstaben von einem monochromen Untergrund ab, wofür er gern Komplementärfarben benutzte. Und ich musste noch mehr zugeben: er brachte keine platten Parolen zu Bild, seine Wortwahl war durchaus hintergründig und -sinnig.

Nur hatte ich damit immer noch nicht heraus, wer das Bild gemalt hatte, das mir nicht mehr aus Kopf und Seele ging. Lisa war nunmehr von der Herrenwelt so umlagert, dass man meinen konnte, die Ausstellung finde nicht an den Wänden sondern in ihrem Ausschnitt statt. Laut Einladungskarte gab es noch eine Helen und eine Magdalena in der Ateliergemeinschaft Nordstraße. Ha, da hatte ich doch Recht gehabt: es musste sich um eine Schöpferin des Nebels handeln. Ganz so jung konnte sie nicht sein, wenn sie schon 1981 derartige Höhenflüge hingelegt hatte.

Ein Glöckchen klingelte. Lisa setzte sich mitsamt Herrentross in Bewegung und das übliche Vernissagenpublikum versammelte sich um das Rednerpult. Dies war meine Gelegenheit, Helen und Magdalena zu sichten, denn mit den einführenden Worten stellte man die Künstler vor. Es war nicht schwer, mir den Standort mit der besten Aussicht zu erobern. Die in Überzahl vertretenen unorthodoxen Gäste dieser Veranstaltung erfreuten sich an Lachsröllchen, Kanapees und Petit Fours – sprich: sie eröffneten auf das Klingeln des Glöckchens kurzerhand das Buffet.

Dorle gesellte sich wieder zu mir, denn ihr Gatte hing an den Lippen seiner Art-Consulterin, die für ihren öffentlichen Auftritt die Domina-Tracht angelegt hatte: schwarzer Hosenanzug, streng geraffte Frisur, ein an Leichenflecken gemahnender Lippenstift.

Ach, hätte ihre Rede doch nur aus einführenden Worten bestanden!

Nach fünfzehn Minuten fragte ich mich, ob an der Börse die MERZ-Bank-Aktien stiegen, weil diese in dem nicht enden wollenden Wortschwall über den Klee gepriesen wurde. Wenn dieser Bank etwas am Herzen lag, war es die Förderung einer Region, die nicht nur eine neue Struktur, sondern neue Werte brauchte. Wer, wenn nicht die Kunst, vermittelte neue Werte? Schön gesagt, geschätzte Art-Consulterin. Fragt sich nur, ob eine Bank weiß, was Werte sind.

Ich stellte mein Gehör auf die Erwähnung des Wortes Nebel ein und schweifte ab zur Betrachtung der Ateliergemeinschaft. Männeken hatte sich ein großes Bier mitgebracht und widmete sich dem mit einer Intensität, die proportional zur Länge der Rede wuchs. Die beiden Frauen zwischen ihm und Lisa mussten Helen und Magdalena sein. Eine war blond und höchstens Vierzig, fiel also aus als Malerin, die 1981 den Nebel gefunden hatte. Ergo war die Frau, deren Bild ich heute kaufen wollte, eine unauffällige Mittfünfzigerin in geblümtem Rock und bravem Blüschen. Stünde sie nicht so exponiert da, hätte ich sie niemals für eine Künstlerin gehalten. Das gefiel mir, ich werde gern überrascht.

Derweil ich mich mit meinen Beobachtungen aus der Ödnis der Rede befreite, zwängte sich ein junger Mann mit überdimensionalem Blumengebinde durch die Zuhörer. Er war ein Lulatsch, dessen Beine länger als die Anzahl von Jahren auf seinem Alterskonto waren.

Die Blumen mussten für die Künstlerinnen sein, die somit in weniger als einer Minute vorgestellt würden. Dann würde ich endlich Gewissheit darüber haben, wer so viel Begeisterung für nebliges Weiß in Weiß an Weiß aufbrachte (die Inuits mögen mir und der deutschen Sprache diese Schwäche verzeihen).

„Kerl-ey, Arndt, mach' hinne, dein Auftritt!“

Kichernd deuteten die Umstehenden an, dass Männeken sich beim Flüstern dezibellend vergriffen hatte. Die Rache der Rednerin und ihres Blumenträgers Arndt war nicht von schlechten Eltern. Es handelte sich nicht um drei, sondern nur einen Blumenstrauß. Welcher an Andrea, also Doppelkorns Gespielin ging. Die zum guten Schluss gefunden hatte, weil sie die Vorstellung der Künstler sang- und klanglos ausfallen ließ.

Frustriert kämpfte ich mich zur Tür durch, eine rauchen.

„Nur eins. Sie, Herr Doktor, treffen die Vorauswahl.“ hörte ich Andrea zu Arndt zischeln, was den jungen Mann strahlen machte. Und schon konnte er zusehen, wo er den Blumenstrauß unter brachte.

Dass von fünf Künstlern mindestens drei rauchen, hätte ich mir denken sollen. Wer von ihnen leistete sich aber die Zigarillos mit der leichten Vanillenote? Wohlfeile Düfte ziehen mich immer an. So landete ich gleich neben der Unauffälligen, um mir meine schnöde Zigarette anzuzünden.

„Hast du vielleicht eine Fizi für mich?“

Ich sah Rashid fragend an. Er zeigte auf meine Schachtel und ich reimte mir später zusammen, dass Fi-Zi für Filterzigarette stehen musste. Arabisch ist gar nicht so schwer und klingt dem Ruhrdeutschen recht ähnlich.

„Die Konsul-Tante hat doch den Schuss nicht gehört.“ empörte sich Männeken. „Kein einziges Mal war sie zur Vorbereitung bei uns im Atelierhaus. Aber den beschissensten Platz für meine Bilder, den hat die glatt gefunden.“

„So eine wie die traut sich nicht in die Nordstadt. Das ist für die doch Bunkenviertel.“

„Bunken?“

Rashid sah ratlos drein und erhielt eine korrekte Übersetzung: Arbeitslose, Ausländer, Verbrecher, Verlierer und Rotlichtgesocks. Ich hätte den Dortmunder Norden das internationalste Viertel der Stadt genannt und mich ohne weiteres öfter dort getummelt, hätte ich gewusst, dass es dort eine Künstlerin gab, die Vanilleduft verströmte und wunderweiße Bilder schuf.

„Ach so?“ Männeken war keineswegs leicht zu beruhigen. „Was willst du mir damit sagen, Magdalena? Dass man Künstler aus dem Bunkenviertel nicht mal vorstellen muss? “

„Nee, Männeken, das liegt daran, dass dein grüngeringeltes Horn auf dem Kopf gerade wieder wächst. Damit hättest du Frau Konsul glatt die Show gestohlen.“

Magdalenas Witze machten mir Spaß, Männeken weniger.

„Ist das deren Show oder unsere Ausstellung? Woher sollen Käufer jetzt wissen, an wen sie sich wenden müssen?“

In meinen Augen hatte die fehlende Vorstellung der Künstler einen anderen Grund. Ich wollte ihn in wohlgesetzte Worte fassen, solche, die mich als humorvollen Kenner der Szene auswiesen und Magdalena beeindrucken sollten. Doch als ich diese endlich gefunden hatte, drückte sie ihr Zigarillo aus und begab sich wieder hinein.

„Wem sollte diese Spezialistin für das Bankenwesen euch wohl persönlich vorstellen? Die halbe Nordstadt ist doch anwesend und hat mehr Spass inne Backen als die üblichen Verdächtigen.“

Männeken sah mich verblüfft an.

„Du bist mir ja ein komischer Heiliger. Aber Recht hast du.

Alle Nebenans sind da und die kenn' ich schon, die sind genau so pleite wie wir.“

Sie hieß Magdalena! Ich musste nur noch wieder hineingehen, ihr meine Bewunderung für das Bild kundtun und nach dem Preis fragen. Mittlerweile war ich an dem Punkt, dass dieser mein Budget ruhig sprengen durfte. Lag es nicht in der Absicht einer MERZ-Bank-Ausstellung, Kredite für Kunstankäufe zu vergeben?

Magdalena stand ganz allein da. Sie lauschte dem Gespräch eines älteren Ehepaars über eines ihrer Bilder.

Er: „Wieso kaufen die von unseren Kontogebühren Bilder, auf denen man nichts erkennt?“

Sie: „Nebel. Ötte, könnte das nicht die Glaserei Kunisch im Nebel sein?“

Er: „Die Kunischs hatten keine Stahltreppen draußen dran und außerdem haben die schon fünfundneunzig dicht gemacht.“

Sie: „Aber das ist eine Werkhalle. So ein Industriegebäude im Nebel.“

„Je schwieriger es ist, etwas zu erkennen, desto genauer schaut man hin.“ eröffnete Magdalena nun das Gespräch mit den alten Leutchen.

„Na, da kann ich Ihnen nur Recht geben. Ich habe von der Blinzelei schon einen Krampf im Lid.“ lachte der Mann und erkundigte sich, ob es sich um die Glaserei Kunisch handele.

„Woher soll die Frau das denn wissen, Ötte?“ griff seine Gattin ein.

Magdalena sah sie freundlich an.

„Die Frau weiß das, denn sie hat es gemalt.“

„Oh.“

„Es ist nicht die Kunisch-Glaserei, die war nebenan.“ erklärte Magdalena. „Herrn Kunisch kannte ich noch gut. Zu schade, dass er den Laden aufgeben musste.“

„Soso. Sie sind also Maler? Sagen Sie, wie lange braucht man denn für so ein Wischiwaschi-Bild?“

Der Wissensdurst der Ehefrau war nicht zu überhören. Doch ihr Mann musste endlich kundtun, dass er es durchblickt hatte.

„Na logo: die Drahtmatterei von der Nordstraße! Die brauchten Treppen und Stahlgänge draußen, weil man mit den Riesenmatten durch keinen Hausflur kommt.“

Er war von seiner Kenntnis und Erkenntnis hell begeistert. Nur leuchtete ihm immer noch nicht ein, warum das Gebäude im Nebel versank.

"Früher, als in den Werken noch gearbeitet wurde, da hatten wir hier unsere Dunstglocke. Aber heute? Jede olle Zeche ist jetzt ein Museum und die Halden sind zu Parks mit Kunst drin geworden. Warum malen Sie nicht, wie schön das hier jetzt ist?"

Wie gern hätte ich mich eingemischt und es ihm erklärt: dass der Nebel die Ungewissheit bedeutete, in der eine Region versank, die mal die halbe Republik ernährt hatte. Dass es doch Witz hatte, wie mit Magdalenas Bildern die Dunstglocke Einzug in eine Bank hielt, die für ihre Vernebelungstaktik bekannt war.

Da hängte sich Dorle bei mir ein, ihren Gatten im Visier. Welcher sich wenige Schritte entfernt im Kreise von Lisa, Arndt und der Art-Consulterin aufplusterte.

„Die alte Drahtmatterei ist heute unser Atelierhaus. Was wird aus uns, die wir hier leben und gern leben?“ fragte Magdalena, als habe sie meine Gedanken erraten.

Die Frau nickte. Sie wusste, was Magdalena meinte: wo sollten ihre Enkel wohl noch Arbeit finden? Etwa im Nebel einer brotlosen Kunst frönen wie diese Malerin?

Das war der Moment, in dem Dorle die Demütigung nicht mehr ertrug. Sie riss sich von mir los und drängte sich kurzentschlossen vor diese Andrea.

„Sowas nennt sich Art-Consulter und verliert kein Wort über Kunst.“ legte sie los. „Vielleicht kann mir ja doch noch mal einer sagen, von wem diese wahnsinnig poetischen Werke da hinten in der Ecke sind und wieso das Beste versteckt wird.“

Ich ahnte, dass dies Männeken auf den Plan rufen musste, was die Sache nicht verbessern würde. Doppelkorn blickte flehentlich zu mir.

Magdalena und mein Bild würden warten müssen. Die Gefahr, dass es mir einer vor der Nase wegkaufte, bestand wohl nicht. Dafür aber war das rüpelige Männeken gefährlich nahe gekommen. Vielleicht könnte ich mein Anliegen mit der Erlösung Doppelkorns verbinden? Einen Staatsanwalt, der mir zur Dankbarkeit verpflichtet war, konnte ich als Strafverteidiger nur zu gut brauchen.

Ich schnappte Andrea und bat sie, mir doch unbedingt die Nebelkünstlerin vorzustellen. Leider hatte ich nicht mit ihrem Geschäftssinn gerechnet. An einem Kontakt zwischen Künstlerin und potentiellem Käufer war ihr nicht gelegen. Nachher kaufte ich noch aus deren Atelier, was Image und Provision der Art-Consulterin schmälerte. Sie zog mich in die VIP-Lounge, stellte mich dem Bankdirektor vor und überreichte mir nach quälenden fünfzehn Minuten die Ausstellungsliste. Das kommt davon, wenn man nicht geradlinig vorgeht.

„Ihre Kollegin zum Beispiel, die hält Image doch für das, was sie hermacht, was die anderen von ihr halten sollen.“ provozierte Männeken den armen Arndt, als ich endlich zu der Gruppe zurückkehrte.

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Der fühlte sich genötigt, zu einem Zweiteiler zu blicken, um die Wogen zu glätten. Der Einfachheit halber nickte er. Mir schwante, dass die wirklich sehr unauffällige Hängung von Männekens Werken auf sein Konto ging.

„Image kommt von Imaginatio, der Vorstellungskraft.“ dozierte Männeken weiter. „Bezogen auf ein Bildwerk ist das Magie. Eine Magie, die jedem von uns, allen Menschen innewohnt.“

Arndt beschäftigte viel mehr der Inhalt von Lisas Dekolletee. Der hatte ja schließlich ebenfalls mit Schrift und Magie zu tun.

„So gesehen, befinde ich mich mit meinen Schriftzeichen in der Tradition eines Josef Beuys.“ vernahm er wieder Männekens dröhnende Stimme. „In jedem Menschen steckt ein Künstler. Verstehst du?“

Empfand Lisa Mitleid mit Arndt? Oder sah sie die Chance gekommen, dem jungen Mann aus dem Art-Consulting-Team ebenfalls Ankaufsempfehlungen für die Bank zu geben? Sie stieß mit einem grundlosen Kichern ihr Sektglas an das seine.

„Wenn ich meine Bildwerke einzig aus dem Kolorit, aus Buchstaben, die Worte bilden, zusammensetze, muss der Betrachter seine Vorstellungskraft aktivieren und daraus neue Bilder in seinem Kopf entstehen lassen. Es ist ein Zauber, eine Magie, mit der er selbst zum Künstler wird und so das Bild hinter dieser Oberfläche erschafft.“

Hätte Doppelkorn seiner Gattin Dorle jetzt mal locker-flockig dieses Werk gekauft, wäre wohl alles ganz anders gekommen. Doch der alte Kunstbanause sah in dem Preis nur faulen Zauber und nahm die Gelegenheit wahr, seinen Arm haltgebend, doch keineswegs zärtlich um die Schultern der Gattin zu legen.

Arndt riss seine Augen aus Lisas Ausschnitt und betrachtete Männekens Anagramm.

„Mir ist bis jetzt noch nie aufgefallen, dass die Buchstaben für IMAGE und MAGIE dieselben sind.“ sagte er matt.

Ebensowenig war ihm eingefallen, welche Bedeutung Lisas Tattoo haben könnte.

„Sie sind also der Kunsthistoriker im Team?“ lächelte sie ihn an.

„Dr. Arndt Achimsen, Kunstwissenschaftler.“

Im Gegensatz zu seiner Chefin hatte er fünf Jahre seines jungen Lebens der Wissenschaft gewidmet, auf Discos, Parties und lockeres Leben verzichtet, um seinen Doktorhut zu erlangen. Da musste er sein Licht doch nicht unter den Scheffel der Historie stellen!

„Mir obliegt der gesamte inhaltliche Bereich des Art-Consultings: die Planung und Hängung von Ausstellungen, die Begleitung der Künstler und natürlich die Frage, wer von uns vertreten wird.“

Bevor es zum Eklat mit Männeken kommen konnte, schlug Lisa zu.

„Wunderbar! Ich bin Lisa, das ist Männeken. Moment, ich muss Ihnen noch Rashid, Helen und Magdalena vorstellen. Es ist doch wichtig, dass gerade Sie alle Mitglieder der Ateliergemeinschaft persönlich kennen.“

Na endlich! Die hilfreiche Lisa würde meine Mühen belohnen! Arndt fühlte sich geschmeichelt, vor allem aber erfreut, von Männekens Dauerselbstdarstellung erlöst zu werden. Sie sah sich nach den anderen um: wie zu erwarten, war Rashid dort zu finden, wo es etwas zu lesen gab. Sie winkte ihm und Helen, suchte nach Magdalena und fand sie nicht.

Die hatte sich klammheimlich verdrückt. Die Bank würde sowieso von jedem ein Bild ankaufen, was sollte sie nach der schönen Unterhaltung mit dem Ehepaar noch hier?

Alles, was mir blieb, war die Ausstellungsliste, auf der ich mein Bild ermittelte.

„Grönland im Frühling“ hieß es und befand sich im Besitz der Bank. Sprich: es war nicht mehr zu haben. Wie schade, ich hätte der sympathischen Magdalena dafür jeden Preis bezahlt.

2.

Dem Philosoph‘ ist nix zu doof

Kerlokiste, wer das liest, kriegt ja die Pimpernellen!

Erst erzählt er nur die Hälfte vom Bankraub, dann fängt er pingelig von vorne an und will kein Ende finden! Wofür haben wir den eigentlich studieren lassen?

Uwe, so geht das nicht! Ich übernehme jetzt, damit hier mal Butter bei die Fische kommt. Wenn ich mich nicht so gewählt ausdrücken kann wie der Herr Rechtsanwalt – wen juckt’s?

Gestatten: Willy Teipel, genannt Hausteipel und das lasse ich mir zur Ehre gereichen, denn andere Hausmeister werden noch viel schlimmer genannt.

Nicht, dass ich jetzt bei Adam und Eva anfangen will, aber dass ich die Künstler vom Atelierhaus Nordstraße schon von Anfang an, also aus den Achtzigern kenne, das ist mal wichtig. Weil sie damals das Haus besetzt haben, in dem vorher die Drahtmatterei war. Ich bin ja von Haus aus Dreher, erst bei Karl Hoesch, Ende der Siebziger nix wie ab in den ersten Sozialplan und später in die Drahtmatterei. Als die dann auch in die Knie ging, bin ich einfach da geblieben und habe sozusagen auf das Haus aufgepasst. Mitten in der Nacht kamen sie, so unselige Studenten und Künstler und kriegten das Schloss vom Tor nicht geknackt. Na, Willy, sage ich mir, das sind dir ja welche! Die haben vielleicht geguckt, als ich ihnen einfach aufgemacht und sie mit HEJA BVB willkommen geheißen habe.

Um es kurz zu machen: nach langen Verhandlungen passierte das Wunder. Die Künstler kriegten von der Ruhrkohle Nutzungsverträge für Ateliers und ich eine Stelle als Hausmeister. Nicht gerade spitzenmäßig bezahlt, auf jeden Fall aber zu wenig für ein U-Boot. Unglaublich, die hielten mich ernsthaft für einen Spitzel. Magdalena war die erste, der ich das ausgetrieben habe. Männeken brauchte etwas länger.

Wir drei sind aus den Hausbesetzertagen übrig geblieben und nun sind, nach vielen Wechseln in den Ateliers, Rashid und Lisa da. Und Helen, aber die will heute ausziehen.

Seit Monaten können sie alle schon keine Miete mehr bezahlen. Ihr wisst schon: die Krise, die trifft die Künstler zuerst. Mietfreies Wohnen ist nichts für Helens sensibles Nervenkostümchen. Wie die anderen auch hatte sie auf die Ausstellung in der MERZ-Bank gehofft. Aber das war dann ja der Satz mit X. Als die kein Bild von ihr gekauft haben, hat Helen die Flügel gestreckt.

Wenn ich sehe, wie die den Transporter bepacken, könnte ich Hörner kriegen. So schöne alte Möbel hat die Helen, einen Waschtisch mit Marmorplatte und passende Nachtschränkchen von ihrer Oma. Aber was packen die Herrschaften sorgfältigst in Luftpolsterfolie? (im Fachjargon übrigens Lupo, wie der Wolf aus den Comicheften von früher) Natürlich nur die Bilder! Die Möbel stapeln sie, als gäbe es kein Morgen. Mir tut gerade so richtig das Herz weh, da geht es im Hof mal wieder rund.

„Die hat den doch gefickt!“

Typisch Männeken. Dass die Bank nur ein einziges Bild angekauft hat und zwar von Lisa, das kann er nicht verknusen.

„Du Blödmann.“ schreit Lisa zurück. „Nichts hatte ich mit Arndt, gaaar-nichts!“

Lisa ist noch nicht so lange bei uns. Sonst wüsste sie, dass man Männekens Wutausbrüche am besten abkürzt, wenn man unseren Prima-Donner-Gott einfach ins Leere laufen lässt. Antworten ist ganz verkehrt.

„Habe ich von dem Geld für mein Bild etwa nicht die Stromrechnung für alle bezahlt?“ setzt sie auch noch obendrauf.

Na, da ist mir mal klar, dass ich noch genügend Zeit habe, den Transporter wieder aus- und dann vernünftig zu packen. Weil Männeken und Lisa ihre Show fast jeden Tag abziehen, bin ich doch nicht so bekloppt, mich da reinzuhängen. Aber eins kriege ich noch mit: wie Helen die Tränen in die Augen steigen. So will sie sich hier nicht verabschieden.

„Komm‘ her, mein Dierken, hilf mir mal.“

Habe ich etwa gesagt, dass du mich drücken sollst? Lass das, Mädel, sonst heule ich gleich mit.

„Übrigens, Helen, unsere BVB-Jungs, die sind aber doch Künstler.“ ich zärgere die Helen immer gerne. Heute nickt sie nur. Was soll das denn?

„Nimm mal die Schubladen aus den Nachtschränkchen und packe sie in Lupo.“

Macht sie, ganz brav. Ich bin aber nicht brav.

„Wusstest du, dass die Fußballer in Spanien nur Künstlersteuer zahlen müssen?“

„Die spinnen, die Spanier.“

Aha, Helen kommt ins Förmchen.

„Ich weiß, für dich ist ja nur nutzloses Zeugs Kunst.“ provoziere ich sie noch ein bisschen.

„Ey, Hausteipel, so habe ich das nicht gesagt.“

Weiß ich doch. Helen versucht mir seit Jahren beizubringen, wer Künstler ist und wer nicht. Designer und Töpfer und sogar Architekten gehören für sie nicht dazu, weil sie Sachen machen, die man gebrauchen kann.

„Echte Kunst dient niemandem." grinst sie mich jetzt an. "Sie dient nur der Erkenntnis.“

„Sage ich doch: unsere BVB-Jungs sind wahre Künstler. Oder kannst du mir sagen, wozu Fußball nütze sein soll?“

Na endlich, Helen lächelt wieder und wickelt ordentlich ihre Möbel ein. Rashid hat in das Gezänk von Männeken und Lisa eingegriffen.

„Männeken, du durchschaust das Spiel nicht.“

Obwohl er erst seit elf Jahren hier lebt, ist das Deutsch von unserem irakischen Wunderknaben ganz schön perfekt. Zu perfekt, wie Männeken findet. Wer so ein Sprachgenie ist, der soll seinen arabischen Akzent mal mit Ruhrdeutsch verfeinern. Deshalb hat er ihm ein Vokabelheft geschenkt und Rashid macht das Spass – mit kurz gesprochenem A.

„Schreib auf: da blick'se nicht durch.“ Männeken gibt gern den Lehrer. Aber er ist keiner, der sich so ohne weiteres belehren lässt. „Du durchschaust das Spiel nicht – wo sind wir denn hier? Ich blicke bestens durch, da kannst du dir aber ein Ei drauf pellen.“

„Wenn du den Durchblick hast, werde ich Nonne.“ prophezeit Lisa.

Rashid guckt die Lisa einmal streng an, aber Männeken hat schon angebissen.

„Kerl-ey, du hast dir das Tattoo doch nicht umsonst dahin machen lassen! Dieser Speichellecker hing mit seiner Nase schon mittendrin.“

Rashid hat keine große Lust auf eine Debatte um den Reiz von Lisas tiefem Ausschnitt. Ich glaube, der ist auch ein bisschen verklemmt. Aber ein Netter, echt, ein Gewinn für unsere Hütte.

„Habt ihr nicht gesehen, dass die einfachen Leute alle eine Einladungskarte in der Hand hielten? Die Bank hat die flächendeckend verschickt. Warum wohl?“

„Stimmt, ich habe auch eine gekriegt.“ sage ich. „Bin aber nicht hingegangen, weil mir Sekt so auf den Magen donnert und ich die Schickimiehs nicht ab kann.“

„Mann, Hausteipel, eins sage ich dir: das würde ich mir auch gerne leisten mit den Schickimiehs. Einfach nicht hingehen, von denen hat ja schon ewig keiner mehr ein Bild gekauft.“

Rashid ist langsam ganz schön genervt, weil die Diskussion dauernd in Richtungen läuft, in die er nie wollte. Aber der kann noch so genervt sein, ruhig bleibt er dabei immer.

„Es waren nicht nur Hennes-der-Kneipenwirt und alle seine Gäste da. Auch die Cakmaks, Yüksels, die halbe türkische und arabische Gemeinde. Wer in der Nordstadt Beine hat, ist zu unserer Eröffnung gekommen.“

Alle nicken stolz, bloß packen tun sie nicht. Kinders, die Helen hat schon alles festgemacht. Wenn ihr die noch zum Bleiben überredet, würde ich mich zwar tierisch freuen, aber dran glauben kann ich nicht.

Rashid hat heute seinen Gesprächigen, er fährt fort.

„Als die Bank noch von jedem Künstler ihrer Ausstellungen ein Bild ankaufte, waren nur die Schickis aus dem Süden geladen. Die wissen genau, dass sie nicht mit der Einladung wedeln müssen und wann man an die Kanapees darf.“

„Häppchen.“ verbessert Männeken.

„Diesmal aber wollte die Bank beweisen, dass sie zu Krisenzeiten nicht mit Geld um sich wirft. Begreifst du es jetzt, Männeken? Die haben uns...“

„Gefickt!“ Männeken nimmt Rashid gerne hoch. „Schreib auf: gefickt steht für verarscht, vereimert, reingelegt.“

„Fahrt ihr in Urlaub? Direkt vor dem Champions-League-Spiel? Das glaube ich ja wohl nicht.“

Prolle-Rolle von nebenan muss das Arbeitsbier gerochen haben. Gnade! Ausgerechnet in dem Moment kommt Magdalena mit dem Eimer Kartoffelsalat und ruft zur Pause.

„Von wegen Pause!“ gehe ich dazwischen. „Was soll aus dem Transporter werden, wenn ihr jetzt mit dem Bier anfangt?“

Doch es ist zu spät. Prolle-Rolle hat kapiert, dass Helen auszieht und auf den Schrecken muss er erstmal einen nehmen. Also ran an die Bouletten und den Salat.

„Wo ziehst du denn hin?“

„Hörde. Clarenberg.“

„Zu den Russkis? Au backe.“

Rashid zückt sein Vokabelheft.

„Au backe kannst du mit ach-du-Scheiße übersetzen.“

Männeken plöppt einen Kronkorken von der Flasche, Rashid schüttelt den Kopf. Er notiert Schreck soll nachlassen.

„Was willst du denn in Hörde?“ Prolle-Rolle lässt sich nicht lange bitten. „Da ist es auch nicht feiner als bei uns in der Nordstadt. Jedenfalls nicht im Clarenberg. Und an den blöden Phoenix-See, das sage ich dir, da lassen die dich noch nicht mal mit deiner Kamera ran, wenn die Luxushütten fertig sind.“

„Das ist sowieso nicht die Ecke, in der es Natur und Frieden gibt. Was sollte ich da wohl fotografieren?“

Helen macht wunderschöne Landschaftsfotografien. Riesengroß und voller Stille. Jetzt greift Magdalena ein.

„Helen, meinst du nicht, dass du der Gesellschaft dein Talent schuldig bist? Mit dem Job beim Liddel an der Kasse kannst du vielleicht die Miete für dein Wohnklo bezahlen. Aber wer zeigt den Menschen, wie wichtig die Ruhe ist?“

„Auch als Liddel-Maus habe ich noch freie Wochenenden.“ trotzt Helen.

„Kokolores.“ Männeken, wer sonst? „Nach fünf Tagen an einer Plingquietschkasse bist du platt wie eine Briefmarke. Magdalena hat Recht: du verschleuderst dein Talent.“

Helens Bilder stehen noch rum und Rashid träumt sie an, als wäre es das letzte Mal: sie knipst meistens die Weite des Münsterlandes, was ja so weit nicht ist – von Dortmund weg, meine ich. Weg sind nur wir und zwar von der Arbeit. Kurze Pause? Dass ich nicht lache.

„Stille braucht Zeit.“ Rashid spricht leise, aber so wenig, dass man ihm immer zuhört. „Um Stille aufzuspüren, musst du zur Ruhe kommen.“

Helen, bitte, keine Tränen. Ha, da ist unser Männeken vor.

„Der Philosoph braucht Zeit. Wenn die Gesellschaft noch Philosophen will, muss sie ihnen die Freiheit von Zeit geben.“

Prompt prustet Lisa los. Rache ist süß!

„Har, har, Männeken als Philosoph! Du passt ja nicht mal wie Diogenes in eine Tonne.“

„Pass‘ du bloß auf und gib mir ein Pilsken rüber. Ich mache die Bierdiät, danach passe ich überall rein.“

Bevor die zwei wieder loslegen können, meldet sich Helen zu Wort.

„Zeit, mein lieber Herr Philosoph, geben die uns, soviel wir wollen. Bloß kein Geld zum Miete zahlen.“

„Soll ich dir mal sagen, was meine Oma über Geld gesagt hat? Das frisst doch noch nicht mal ein Schwein.“ wenn Magdalena will, trifft sie den Nagel auf den Kopf.

„Wenn Diogenes mit einer Tonne zufrieden war, bin ich das auch.“ behauptet Männeken. „Haben wir diese Hütte damals etwa besetzt, um uns jetzt raussetzen zu lassen, weil wir keine Miete mehr zahlen können? Es ist ja nicht so, dass wir hier mit Whirlpool und Fußbodenheizung im Überfluss leben. Was willst du Helen? Geld oder Ruhe?“

„Meine Miete bezahlen.“ Helen steht auf. Sie hat mitgekriegt, dass ich mit dem Packen fertig bin und will das Ende nicht weiter hinaus zögern.

Bevor das große Umarmen losgeht, will ich mich mal lieber verdrücken. Doch Magdalena hält mich fest. Besser: sie hält sich an mir fest.

„Wenn ich hier raus muss, Hausteipel, dann gibt es keinen Transporter. Dann werde ich alles verbrennen.“

Verdorricht, mir stehen die Tränen hinter den Brillengläsern.