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Wolfgang Kellner

Verfolgung und Verstrickung

Hitlers Helfer in Leer

Studie zur Rolle der Kommunen und ihrer Führungskräfte
an ausgewählten Beispielen

Für Mechthild

Wolfgang Kellner, Verfolgung und Verstrickung, Hitlers Helfer in Leer

© 2017 Wolfgang Kellner

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autoren in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umbruch und Titelgestaltung: Axel Camici

Titelfoto: Bürgervorsteherversammlung in Leer, am 27. April 1933, Quelle Stadtarchiv Leer Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN: paperback 978-3-7439-6806-6

ISBN: e-book       978-3-7439-6807-3

Wolfgang Kellner

Verfolgung und Verstrickung
Hitlers Helfer in Leer

Studie zur Rolle der Kommunen und ihrer Führungskräfte
an ausgewählten Beispielen

„Hatten die Menschen gelernt aus Opfern und Leiden, aus Niederbruch und Verhängnis, aus dem Triumph des Gegners und der Verzweiflung des Volkes, hatten sie Sinn und Mahnung und Verpflichtung jener Zeiten begriffen“

Ernst Toller 1933 1

Inhalt:

Vorwort von Professor Dr. Bernhard Parisius

Vorbemerkung

Der lange Weg vom Kaiser zum Führer – Wie sich der NS-Staat in Leer etablierte

Allianz der Verfolger – Bürgermeister und Landrat

Strukturen der Verfolgung und informelle Netzwerke

Überwachung und Denunziation

Die Kommunen und die „Säuberung des Volkskörpers“

Der Fall Ukena – Allein gegen die Mächtigen

Bildteil

Sonderaktionen gegen „Volksschädlinge“

Die Opfer aus Stadt und Landkreis Leer

Exkurs: Ostfriesland und die Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald

Nachbemerkung

Anhang – Liste und Biografien der „ASR-Häftlinge“

Verwendete Literatur

Vorwort

Es ist nicht alltäglich, dass ein Bürgermeister ein Buch über die Geschichte seiner Stadt schreibt. Wenn es doch einmal geschieht, dann handelt es sich meist um Erinnerungen an die eigene Amtszeit oder um Schilderungen besonderer Glanzzeiten der Stadt.

Wolfgang Kellner dagegen hatte schon, als ich ihn vor sechs Jahren im Staatsarchiv Aurich kennenlernte, das Ziel, eine wissenschaftliche Darstellung über Opfer und Täter der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen in Leer zu schreiben. Es hat mich von Anfang an beeindruckt, dass er die Mühen des wissenschaftlichen Arbeitens auf sich genommen und ein Thema gewählt hat, mit dem man sich nicht nur Freunde macht.

Es ist kein gewöhnliches wissenschaftliches Buch geworden, in dem die Ereignisse aus großer Distanz geschildert werden, sondern eine engagierte Darstellung voller Empathie für die Opfer, in der der Autor mit seiner eigenen Meinung zu den Geschehnissen nicht hinter dem Berg hält.

Anlass für seine Recherchen war, dass er im Rahmen der Wiedereinsetzung der Kaiserfenster im Rathaussaal, einen Brief eines Leeraner Bürgers an den Reichsinnenminister fand, der sich über den Bürgermeister Drescher beschwerte, der die Fenster hatte herausreißen lassen, weil künftig nationalsozialistische Symbole den Raum prägen sollten. So stieß Wolfgang Kellner auf eine Gruppe von Menschen in Leer, die nur deshalb verfolgt wurden, weil sie dem Bürgermeister oder anderen Mitbürgerinnen und Mitbürgern missfielen. Solche Opfer der im NS-Jargon „Aktion Arbeitsscheu Reich“ genannten Aktion sind bislang kaum in das Blickfeld der historischen Forschung gelangt. Diese Aktion bot den örtlichen NSDAP- Machthabern viele Möglichkeiten, ihnen missliebige Mitbürger zu verfolgen und sich dafür einzusetzen, dass sie in Konzentrationslager gebracht wurden. Während es Wolfgang Kellner in seinem Aufsatz im Emder Jahrbuch von 2015 vor allem um das Schicksal der Opfer ging, leuchtet er in diesem Buch darüber hinaus den Handlungsspielraum der Verwaltungsspitzen, namentlich des Bürgermeisters Erich Drescher und des Landrats Dr. Hermann Conring, stärker aus und ergänzt vor allem die Biographie Conrings durch neue Quellenfunde. Er kommt zu der Einschätzung, dass im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu 1938“ - wie auch schon zuvor – in der Stadt und im Landkreis Leer im Vergleich mit anderen ostfriesischen Kommunen besonders viele Menschen verfolgt wurden.

Daran waren u.a. auch Bürgermeister der Landgemeinden des Kreises, NSDAP – Ortsgruppenleiter und Ortspolizisten beteiligt. Auch „einfache“ Bürgerinnen und Bürger denunzierten ihre Mitbürger. Ihre Verfolgung – so die erschreckende Bilanz von Wolfgang Kellner – erfolgte oft im Einklang mit der Mehrheitsgesellschaft.

Um seine Ergebnisse gewichten zu können, hat er seinen Blick nicht auf Ostfriesland beschränkt, sondern die bisherige Literatur zur Geschichte der Verfolgung von Minderheiten und die über die breite Zustimmung zur NS-Diktatur im Reich herangezogen, Kontakte mit anderen Forscherinnen und Forschern geknüpft und seine Ergebnisse mit ihnen ausgetauscht. Damit hat er die neu einsetzende Welle wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Ostriesland gestärkt. Ich wünsche ihm und mir, dass sein Buch viele Leserinnen und Leser findet.

Professor Dr. Bernhard Parisius, Oktober 2017

 

Abkürzungen:

BArch Bundesarchiv
BDC Berlin Document Center
ITS International Tracing Service, Bad Arolsen
NARA National Archives and Records Administration Washington DC
NIOD Nederlands Institut voor Oorlogsdocumentatie (Sitz: Amsterdam)
NLA AU Niedersächsisches Landesarchiv - Standort Aurich -
NLA OL Niedersächsisches Landesarchiv - Standort Oldenburg
TNA The National Archives Kew

 

 

 

Anmerkung:

Originalzitate wurden nicht an die gültigen Rechtschreibregeln angepaßt.

Vorbemerkung2

Warum diese Studie? Haben Strukturen und Entscheidungen im NS-Staat etwas mit uns heute zu tun?

Auf den ersten Blick betrachten wir eine ferne Zeit, die so nicht wiederkommen wird. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein anderes Bild: Begriffe wie „Volksgemeinschaft“ oder „Überfremdung“ werden wieder benutzt wie in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Millionen Opfer dieser Politik der Ab- und Ausgrenzung, von Nationalismus und Rassismus werden oft ausgeblendet. Diese Studie soll helfen, gegenwärtige Entwicklungen besser einordnen zu können.

Das Erstaunliche und zugleich Erschreckende ist, dass der Nationalsozialismus die vorgefundenen Strukturen mit ihren Funktionsträgern nutzen konnte. Besonders effektiv im Sinne der Nationalsozialisten arbeiteten die Stadt und der Landkreis Leer unter Bürgermeister Drescher und Landrat Dr. Conring.

Die Gefahren heute lauern nicht in der Abschaffung vorhandener Strukturen, sondern in der schleichenden Transformation der Inhalte der Arbeit der Funktionsträger in Richtung Hass und der Ausgrenzung Andersdenkender und Fremdstämmiger.

Anlass dieser Studie war eine Recherche über die Geschichte der „Kaiserfenster“ des Festsaales des Leeraner Rathauses. Dabei fand sich im Stadtarchiv Leer die Kopie eines von dem Leeraner Bürger Heinrich Ukena am 4. Oktober 1934 verfassten Briefes. Er war adressiert an den „Herrn Reichsminister des Innern“. Ukena kritisierte darin, dass Bürgermeister Erich Drescher die „Kaiserfenster“ 3 des Festsaales im Rathaus hatte entfernen lassen.4

Der in der Rückschau für die NS-Zeit ungewöhnliche und mutige Schritt Ukenas, den Bürgermeister und NSDAP-Gauinspekteur bei übergeordneten Stellen zu kritisieren, bewog mich, mit Nachforschungen über diesen Leeraner Bürger zu beginnen. Ich sprach mit dem Verleger und Buchhändler Theodor Schuster. Wenige Tage später schrieb er mir:“...der von Ihnen gesuchte Ukena müsste Heinrich geheißen haben und nach meiner Erinnerung in der Innenstadt, Ecke Ostersteg/Heisfelder Str. gewohnt haben...Soweit ich mich erinnere, hat man ihn seinerzeit ins KZ gesteckt.“

In dem von Theodor Schuster mitgeschickten Auszug aus dem von ihm erstmals 1954 verlegten Buch Liebe kleine Stadt teilt der Autor Carl Theodor Saul5 u.a. folgendes über „Heini U.“ mit:“..der immer den Kopf voller Ideen hatte und sich für einen genialen, aber von seinen Mitbürgern verkannten Erfinder hielt...“

Über sein wahres Schicksal wird in dem Buch über die „Idylle“ in Leer nicht berichtet.

Ich wollte mehr über diesen Mann erfahren und begann in Archiven zu forschen und Zeitzeugen zu befragen. Ich fand dabei weitere bisher nicht publizierte Spuren des NS-Regimes in der Region Leer.

Ukena war nicht als Einzelner in ein Konzentrationslager gebracht worden, sondern gehörte zu einer vielköpfigen Gruppe von Männern aus Leer und Umgebung, die ab Sommer 1938 in elenden Holzbaracken des Konzentrationslagers (KZ) Buchenwald und im KZ Sachsenhausen inhaftiert waren. Ich stellte fest, dass vier dieser Männer dort starben, darunter Heinrich Ukena. Diese Männer waren im Sinne der NS-Ideologie als „Schädlinge im Volkskörper“ und als „asozial/arbeitsscheu“ oder als „Querulanten“ gebrandmarkt worden. Ihr Schicksal wurde weitgehend vergessen.

Die Mehrheit der Deutschen erlebte das Jahr 1938 ganz anders: Als erfolgreiches Jahr des „Führers“ mit dem Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich und dem Einmarsch in das Sudetenland. Die Künstler Heinz Rühmann6, Rudi Schuricke und Zarah Leander unterhielten die „Volksgenossen“. Bei den Filmfestspielen in Venedig wurde der Film „Fest der Völker“ von Leni Riefenstahl über die Sommerolympiade 1936 in Berlin ausgezeichnet.7

Das Jahr 1938 in Leer: Es wurde eine Kaserne gebaut. Eine weitere Eskalation in der Verfolgung der jüdischen Mitbürger seit 1933 ereignete sich im November: Leeraner Bürger in SA-Uniformen und der Bürgermeister Erich Drescher brannten die Synagoge nieder. Die jüdischen Familien wurden in den Viehhof getrieben, die Männer zeitweise im KZ Sachsenhausen inhaftiert.

Es ist nach meiner Auffassung notwendig, Aspekte der NS-Zeit in einem Mikrokosmos wie einem Landkreis oder einer Stadt darzustellen, um sie als nützliche Erkenntnisse für die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Eine solche Darstellung wäre jedoch unvollständig, wenn sie die Geschichte der Opfer des Regimes ohne die gesellschaftlichen Strukturen und handelnden Personen, die den Terror ermöglichten, schilderte. „Die Strukturen nationalsozialistischer Herrschaft und die ihnen zugrundeliegenden Einstellungen sind die wichtigsten Gründe...bis zum absoluten Ende zu kämpfen“, so der Historiker Ian Kershaw zu den Ursachen der unangefochtenen NS-Herrschaft.8

Das NS-Regime in der Zeit zwischen der Phase der Machtübernahme in den Jahren 1933/1934 mit der Verfolgung und Vernichtung der politischen Gegner einerseits und den barbarischen Kriegsjahren ab 1939 und dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden andererseits, war in dieser Zwischenzeit kein friedfertiger „normaler“ Staat. Aufrüstung und „Säuberung des Volkskörpers“ waren die bestimmenden Ziele des Regimes offenbar im Einklang mit der Mehrheitsgesellschaft. Hitler sagte 1937: Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben, dieser niemals risikolos sein.9 „An Kriegsvorbereitung hat es Hitler in den Jahren 1933 - 1939 ja denn auch nicht fehlen lassen, aber was er schuf, war eine Kriegsmaschine, kein Staat“ (Sebastian Haffner).10

Die Vorbereitung des Krieges konnte auch in Leer jeder Einwohner seit 1933 an den Luftschutzübungen erkennen.11 Das erwartete Kriegsszenario beschrieb das Leeraner Anzeigeblatt schon kurz nach dem Machtübergang, am 27.4.1933: „Inzwischen waren die feindlichen Flugzeuge über Leer erschienen und hatten Gas-, Brand- und Sprengbomben abgeworfen...“

Der Terror war kein „Aktionismus“ allein der fanatischsten Nationalsozialisten; er war offenbar tief in den Einstellungen der Gesellschaft vorhanden.

Wie war es in Leer möglich, in welchem Umfeld, mit welchen handelnden Personen vor Ort und in welchen Strukturen, dass ein Bürgermeister in den Tod getrieben wurde, politische Gegner und andere Bürger in Konzentrationslager gebracht wurden und dort starben, Frauen und Männer zwangssterilisiert wurden und dass Denunziantentum und die Bespitzelung zum Alltag gehörten?

Das Unrecht geschah nicht einfach, es wurde getan von vielen Handlangern des Regimes. Diese Studie schildert, wie die Amtsträger nicht nur in diesem Fall „funktionierten“. Durch Zitate aus den Akten wird sichtbar, dass die menschenverachtende Sprache des Nationalsozialismus ohne Zögern von den Amtsträgern verwandt wurde und deren Handeln bestimmte.12 „Der Nationalsozialismus hat die problematischsten (um nicht zu sagen die schlechtesten) Eigenschaften der Menschen hervorgelockt und prämiert. Widersacher dagegen mit Gewalt zum Schweigen gebracht.“13

Es zeigt sich, dass Normalität und Terror in einer erstaunlichen Parallelität existierten.

Zur Frage der Schuld und der Verstrickung der Menschen im NS-Staat schrieb der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers, der mit seiner jüdischen Frau der Deportation entkam, im Jahre 1946.“ Es ist ein Unterschied zwischen den Aktiven und den Passiven. Die politisch Handelnden und Ausführenden, die Leitenden und die Propagandisten sind schuldig...Jedoch jeder von uns hat schuld, sofern er untätig blieb. Die Schuld der Passivität ist anders. Die Ohnmacht entschuldigt: der wirkungsvolle Tod wird moralisch nicht verlangt... Im Sich fügen der Ohnmacht blieb immer ein Spielraum zwar nicht gefahrloser, aber mit Vorsicht doch wirksamer Aktivität. Ihn ängstlich versäumt zu haben, wird der einzelne als seine Schuld anerkennen...Die moralische Schuld im äußeren Mitgehen, das Mitläufertum, ist in irgendeinem Maße sehr vielen von uns gemeinsam.“14

Die Frage, ob dies jemals wieder, wenn auch unter anderen Bedingungen, geschehen kann, muss immer wieder neu gestellt werden.

Es ist wichtig, Vergessenes aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen um den Blick für das Heute zu schärfen. Verantwortung für Gegenwart und Zukunft können wir erst übernehmen, wenn wir auch das Vergangene kennen.

Der lange Weg vom Kaiser zum Führer – Wie sich der NS-Staat in Leer etablierte

In etwa der Mitte einer nur vierzigjährigen Zeitspanne zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg mit der Reichsgründung 1871 und dem Beginn des neuen Krieges 1914 wurde das Reichstagsgebäude 1894 von Kaiser Wilhelm II. in Berlin eingeweiht. Der Architekt des Bauwerks, Paul Wallot, war auch Mitglied der Jury zur Auswahl des Leeraner Rathausentwurfes. Auch dieses Gebäude wurde 1894 fertiggestellt.

Das neue Rathaus war in der Erwartung einer rasanten Stadtentwicklung unter der Führung von Bürgermeister Dieckmann von Professor Henrici15 groß und repräsentativ geplant worden.

Prunkstück des Rathauses war und ist der Große Festsaal. An der westlichen Stirnwand wurden drei Fenster mit Glasmalereien eingebaut, die Kaiser Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. darstellten, die „Kaiserfenster“. Wilhelm I. starb 1888, die Amtszeit des Nachfolgers, des liberalen Friedrich III. dauerte nur 99 Tage, es folgte ihm Wilhelm II. als 29-jähriger auf den Thron. Er verkörperte in einem ungewöhnlichen Maße die politische Kultur seiner Zeit. Er war so, wie die meisten seiner Zeit ihn haben wollten.16

Heinrich Ukena hatte den Abriss des Stadthauses und den Neubau des Rathauses als 11-jähriger Junge miterlebt. Er wohnte gegenüber der Baustelle, so erinnert sich seine Cousine Helga Dittmann.17

Das Jahr 1894 war darüber hinaus das Geburtsjahr von Hermann Conring und Erich Drescher. Vierzig Jahre später waren sie die herrschenden Vertreter des NS-Staates in Leer. Ihr Wege kreuzten sich auch wegen der „Kaiserfenster“ mit dem von Heinrich Ukena.

Das Jahr 1894 befand sich mitten in der „Wilhelminischen Zeit“. Deutschland war mit seinen 67 Millionen Einwohnern die wohlhabendste, mächtigste und am meisten entwickelte Volkswirtschaft des Kontinents. Der Lebensstandard hatte sich spätestens seit der Jahrhundertwende sprunghaft verbessert. Rückblickend aus der Weimarer Zeit erschien vielen Deutschland als Insel des Friedens, des Wohlstands und der sozialen Harmonie.18 Sebastian Haffner erklärt diese Zeit für die glücklichste, die das Deutsche Reich in seiner kurzen Zeit gehabt hat.19 Auch die Stadt Leer war in dieser Zeit geprägt von Wachstum und Prosperität. Der Neubau des Rathauses war Ausdruck dieser Blütezeit. Als Zeichen einer wirtschaftlichen Hochkonjunktur wertet Enno Eimers, dass bei dem Bau der Leeraner Seeschleuse (1900-1902) die Firmen Arbeiter aus Italien anwarben und die Unternehmer gezwungen waren, Arbeiteranliegen stärker zu berücksichtigen.20

Auf der anderen Seite führten die rasche Industrialisierung und die sozialen Ängste, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen hervorgerufen wurden, zu Spannungen, die sich in einem immer geräuschvolleren Nationalismus zusammen mit Rassismus und Antisemitismus entluden. Der politische Mahlstrom, aus dem schließlich der Nationalsozialismus hervorgehen sollte, war schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in heftigster Bewegung.21 Trotz aller vordergründigen Friedlichkeit, schon vor dem Ersten Weltkrieg trug Europa Keime des kommenden Gewaltausbruchs in sich. Feindschaften und Hass - ob nationalistisch, religiös, ethnisch oder klassenpolitisch motiviert - entstellten so gut wie jede Gesellschaft, so der englische Historiker Ian Kershaw.22

Diese sollte Jahrzehnte später auch zu den tragenden Elementen für die Gründung einer Partei nach dem Krieg werden, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.

1895, ein Jahr nach Einweihung des Reichstagsgebäudes und des Rathauses, veröffentlichte Gustave Le Bon das Buch „La Psychologie des foul“ (1911 auf Deutsch als “Psychologie der Massen“ erschienen), welches kommenden Generationen von Politikern als das Rezeptbuch für Propaganda galt. Es heißt dort: Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat...Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an den Grenzen des Irrsinns befinden...Die Stärke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine große suggestive Macht...Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu, der ihn besitzt.“23 Aus heutiger Sicht eine prophetische Schilderung der kommenden Führungsgestalten. Auch Hitler übernahm in Mein Kampf Le Bon´s Thesen: „Die Aufnahmemöglichkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit groß“. Und „Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten...“.24

In einem Leitartikel der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ vom 28. Dezember 189425 stellt der Verfasser fest: “Eine Generation ist in das öffentliche Leben getreten, welche auf Schule und Universität mit den Ideen des Antisemitismus bekannt gemacht worden ist. Das ist ein verhängnisvoller Faktor, mit dem wir noch lange zu rechnen haben werden.“ Die Deutsch-Konservative Partei nahm bereits 1892 den Antisemitismus in ihr offizielles Programm auf.26

Schon in der Ausgabe vom 18. Dezember 1891 hatte die Zeitung berichtet, dass in Leer die erste Antisemiten-Versammlung in Ostfriesland stattfand. Es bildete sich jedoch gleichzeitig ein „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, dem, so die Zeitung, „sofort die angesehensten Bürger der Stadt ohne Unterschied der Konfession und politischen Stellung beigetreten sind... An der Spitze des hiesigen antisemitischen Reformvereins stehen zwei Lehrer, ein lutherischer Volksschullehrer und ein königlicher Navigationslehrer“. Auch in weiteren drei Ausgaben der Zeitung aus dem Jahre 1894 wurde über antisemitische Propaganda in Leer berichtet. In einem Artikel vom 20. Juli 1894 wird festgestellt:“...jedoch bis jetzt war der einsichtsvolle Teil hiesiger Stadt für den Sozialismus der Dummen nicht zu gewinnen“.

Bekannt wurde der ursprünglich nur durch die Badegäste praktizierte Bäder-Antisemitismus auf der Insel Borkum. Schon 1897 erklärte eine von Hauptlehrer Huismann verfasste Inselbroschüre die Insel für „judenfrei“. Die antisemitischen Badegäste stellten Schilder auf mit der Aufschrift „Für Juden und Hunde verboten“. Das „Borkum-Lied“ mit Schmähungen gegenüber Juden wurde weithin berühmt-berüchtigt.27

In Ostfriesland gab es schon weit vor 1933 antisemitische Ausfälle und den „alltäglichen Rassismus“. Saul schildert, wie in Leer ein ehemaliger Offizier in den ersten Tagen des Ersten Weltkrieges den Wagen eines jüdischen Viehhändlers „beschlagnahmt“28. „Schon lange vor der „Machtübernahme“ durch die Nazis herrschte auch in Leer ein spürbarer Antisemitismus, zunächst mehr unpersönlich und anonym“, so Karl Polak, 1916 in Leer als Sohn eines jüdischen Viehkaufmannes geboren, in seinen Erinnerungen.29 Der damalige Judenhass, der sich auch auf judenfeindliche Schriften Martin Luthers berief, machte viele Menschen anfällig für den späteren völkischen Antisemitismus mit seinen mörderischen Konsequenzen.30

„Als das Deutsche Reich am 1. August 1914 mit der Kriegserklärung gegen das zaristische Russland den seit langen befürchteten europäischen Krieg, der sich bald zum Weltkrieg ausweitete, unabwendbar machte, ahnten nur wenige, dass an dessen Ausgang der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches stehen würde“, konstatiert der Historiker Hans Mommsen.31

Der verlorene Krieg zerstörte auch in Leer die Zukunftserwartungen der Bürger und die Entwicklungschancen der Stadt.

Im politischen Gefühlshaushalt der Deutschen hinterließ nach Auffassung des Historikers Götz Aly32 der Erste Weltkrieg drei schwere Traumata: Die Hungersnot, die Entwertung des Geldes und das Aufflammen des Bürgerkriegs. Exemplarisch steht dafür wieder Wilhelm II. „Niederlage, Revolution und Abdankung brachten in Wilhelm eine fanatische Radikalisierung seines Hasses auf seine ... Feinde hervor, der von dem revolutionären Antisemitismus und dem völkischen Nationalismus Adolf Hitlers kaum noch zu unterscheiden ist“, so der deutsch - englische Historiker John C. G. Röhl.33

Der Erbauer des Rathauses, Bürgermeister Dieckmann, starb noch vor Kriegsbeginn im Jahre 1913. Sein Nachfolger, Emil Helms (ab 1917 im Amt), erlebte die Katastrophe des Ersten Weltkrieges und das Ende des Kaiserreiches 1918 mit dem militärischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. In Leer herrschte in der Nachkriegszeit soziale Not, die Wilhelmine Siefkes in ihrem sozialkritischen Roman „Keerlke“ und ihren „Erinnerungen“ mit den Worten „Das waren Mißstände, die zum Himmel schrien“ drastisch schildert.34 Dies führte auch in Leer zu scharfen politischen Gegensätzen und Auseinandersetzungen.

Stefan Zweig schrieb, nichts habe das deutsche Bürgertum, die Besitzer des Geldvermögens, so für Hitler reif gemacht, wie die Inflation 1919 - 1923 35, die wegen der Abschwächung der Reparationslasten von der Reichsregierung (Kabinett Wirth) gewollt war.36

Diese Erfahrungen dürften die Altersgruppe, der Ukena, Drescher und Conring angehörten, geprägt haben, allerdings mit unterschiedlichen Folgen für ihre Lebensläufe. Ukena und Drescher waren Soldaten im Ersten Weltkrieg, Conring war wegen einer körperlichen Behinderung freigestellt worden.

Nach diesem Weltkrieg hatten im tief verunsicherten Bürgertum antikommunistische Ideologeme mit antisemitischer Spitze Hochkonjunktur.37 Parolen gegen „Fremdstämmige“ und Juden waren in den Parteigrundsätzen der nichtkatholischen bürgerlichen Parteien enthalten.38 Diese Parteien errangen bei der Reichstagswahl 1928 23 % der Stimmen (rd. 7 Millionen Wähler).39 In den Altkreisen Leer und Weener erreichten sie (DVP und DNVP) mehr als im Reichsdurchschnitt, nämlich 27,4 % und 34,1 % Wähleranteil.40 In den Jahren von 1923 - 1932 wurden im Reich 189 jüdische Friedhöfe und Synagogen geschändet.41

Die prekäre wirtschaftliche und soziale Lage war der Nährboden für die NSDAP, für „populistische Stimmungspolitik“. Dazu gehörte immer mehr der Rassismus in Form des Antisemitismus und Ausgrenzung von „Asozialen“. Eine prominente bremische Bürgerin bekannte in den letzten Kriegstagen des 2. Weltkriegs in den Trümmern Bremens: „Wir hatten schon sieben- oder achthundert Jahre genauso empfunden....wir haben den Nazismus praktisch schon immer gehabt...Wir haben seit Jahrhunderten an die Grundsätze der Partei geglaubt.“42

Die schon vor 1933 von bürgerlichen bis hin zu ultrarechten Gruppen geforderte „Volksgemeinschaft“ steht für solche Kontinuitäten ebenso wie das Streben nach „Rassereinheit“ und die Ablehnung von Bolschewismus und Judentum.43

In dieser bewegten Nachkriegszeit wurde in Leer 1920 vom Magistrat der parteilose Dr. Erich vom Bruch als Bürgermeister gewählt. (Abb.1) Er war zuvor in der Stadt Ohligs bei Solingen Beigeordneter. Er initiierte in Leer große kreditfinanzierte Projekte. Diese sorgten für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die meisten betrafen die Entwicklung der Halbinsel Nesse als Wirtschaftsstandort, wie 1926 der Bau des kommunalen Viehhofs, die Hafenkajung an der Industriestraße und die Ansiedlung der amerikanischen Firma Libby`s. Die Kredite wurden in großen Anteilen von amerikanischen Banken an die Länder und Kommunen gegeben. Hinzu kamen, wie auch in Leer, Direktinvestitionen.44 In der Rückschau nennt man diese kreditfinanzierte „Nach-Inflations - Zeit“ auch die „goldenen“ Zwanziger Jahre (Roaring Twenties in den USA), ähnlich der Rückschau auf die belle époque vor dem Ersten Weltkrieg.

Die sich ab 1928 abzeichnende Weltwirtschaftskrise hatte gewaltige Börsencrashs in den USA zur Folge. Der dadurch fehlende Zustrom und auch Rückzug amerikanischen Kapitals, verursachte in der noch labilen Nachkriegswirtschaft Deutschlands einem drastischen Rückgang der Produktion: 1932 gegenüber 1929 um 40 Prozent, in anderen Ländern um 25 Prozent, in Großbritannien 11 Prozent.45 In dieser Zeit agierte eine Reichsregierung, die von antizyklischer Wirtschaftspolitik nichts hielt und im Haushaltsausgleich das Allheilmittel zur Überwindung der Krise sah. Auch in Leer kam es zu einer wirtschaftlichen Katastrophe mit sehr hoher Arbeitslosigkeit. 1928 gab es im Arbeitsamtsbezirk Leer (Kreise Leer, Weener, Aschendorf und Hümmling) 692 Arbeitssuchende, 1932 waren es 8.200.46

Seit 1929 gelang der NSDAP der Durchbruch als Massenbewegung auf Kosten der bürgerlichen Mittelparteien, weil ihre Propaganda erfolgreich den protestantischen Mittelstand erreichte. Noch 1928 hatte sie bei den Reichstagswahlen vom Mai nur 2,6 Prozent der Stimmen holen können. Bei der Novemberwahl 1931 bekam die NSDAP in den Altkreisen Leer und Weener etwa ein Fünftel aller Stimmen, vor allem zu Lasten von DVP und DNVP.47 Der bürgerliche Mittelstand zeigte aufgrund von sozialen Ressentiments ein Protestwahlverhalten, das einzigartig war, so die Analyse des Historikers Hans Mommsen.48

Die Stadt Leer war eine protestantisch geprägte Stadt mit starkem bürgerlichen Mittelstand.

Nach den Ergebnissen der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 betrug die Einwohnerzahl 13.299 in 3.579 Haushalten. Die stärkste Bevölkerungsgruppe bildeten die 21 - bis 50-jährigen.