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WILLIAM VOLTZ

 

 

 

DIE

TOTE STADT

 

Roman

 

 

 

 

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WING Publishing

 

Cover

Über den Autor

Vorwort

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Impressum

 

Über den Autor

 

William Voltz wurde am 28.Januar 1938 in Offenbach geboren. Er interessierte sich bereits in früher Jugend für Science Fiction, wurde Mitglied im SFCD und war Mitbegründer des SF-Clubs STELLARIS in Frankfurt.

William Voltz begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und auch ein Buch mit dem Titel STERNENKÄMPFER wurde veröffentlicht. Für seine Stories, die sich großer Beliebtheit erfreuten, bekam er im Jahr 1961 den »Besten Fan-Autor Preis«.

Sein Engagement ebnete ihm 1962 den Weg ins damals noch junge und kleine PERRY RHODAN - Team.

Bis zu seinem viel zu frühen Tod am 24. März 1984 schrieb der Autor nicht nur für diese und andere Serien, sondern veröffentlichte auch Serien unabhängige Romane und Kurzgeschichten.

Bookwire gab uns die Möglichkeit, diese William Voltz Veröffentlichungen als e-books anzubieten.

Vorwort

 

Bevor ich als freier Schriftsteller tätig wurde, habe ich eine Reihe seltsamer Berufe und Beschäftigungen ausgeübt, die bei elitären Intellektuellen sicher keine allzu große Bewunderung erwecken, deren hervorragendste Vertreter mir aber nach über zwanzig Jahren noch immer als gestandene Mannsbilder in bester Erinnerung sind.

Als Sanitäter konnte ich nicht nur abgestanzte Daumen und Finger von Schlagschermaschinisten aus Arbeitshandschuhen schütteln, sondern auf dem Behandlungstisch an meinen Manuskripten arbeiten. Mir zur Seite stand ein kleiner alter Mann, ein wahrer Schamane, wenn es darum ging, Schwerverletzte zu verarzten. Seine Freizeit verbrachte er in einem Garten, mit dessen Gewächsen ihn Beziehungen verbanden, die ich bis heute nicht einmal erahnen kann. Dieser wortkarge Mensch hat mir viel von seiner einfachen, aber effektiven Lebensphilosophie übermitteln können. An anderen Tagen hockte ich hoch über arbeitenden Kolonnen blaugekleideter Arbeiter in der Kabine eines Krans, den ich nach Zurufen und Handzeichen der »unter« mir Arbeitenden zu manövrieren hatte. Seit dieser Zeit traue ich mir zu, sogar die kompliziertesten indianischen Rauchzeichen entziffern zu können. In den Pausen arbeitete ich verbissen an meinen Manuskripten, manchmal so darin vertieft, dass ich Rufe aus den »Niederungen« überhörte. Wenn ich dann, endlich aufgeschreckt, zu den Schaltungen griff, passierte es, dass ich mich versteuerte, den Kran gegen eine Wand fuhr oder seine Last willkürlich auf dem Boden ablud. Einmal blies mir der Wind zwölf Seiten aus der »Toten Stadt« über meine Kabine hinaus, und ich hatte keine andere Wahl als zuzuschauen, wie sie langsam in die Tiefe segelten und am Boden landeten, wo sie von Maschinen niedergewalzt oder von Stiefeln getreten wurden. Im Parallelkran arbeitete ein zuckerkranker Mann, der in den Pausen klassische Literatur las und dem bei Erwähnung des Begriffs »Science Fiction« nur Cyrano de Bergerac, Thomas Morus und bestenfalls noch Orwell und Huxley einfielen. Ich habe nie gewagt, ihm eine meiner handschriftlich angefertigten Seiten zu lesen zu geben. Das vage Ziel vor Augen, irgendwann ein Ingenieursstudium erfolgreich abzuschließen, landete ich schließlich am Reißbrett eines Werkstattzeichners. Der Werkmeister war ein würdiger Herr, der daran glaubte, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen kann. Trotz seines relativ hohen Alters betrieb er eine spezielle Art von Body-Building und ernährte sich mit besonderer Nahrung. Um ihn bei Laune zu halten, beteiligte ich mich an diesen Kursen (ohne jeden Erfolg übrigens), denn ich brauchte seine stillschweigende Zustimmung, wenn ich neben einer Zeichnung ein leeres Blatt auf das Reißbrett heftete und an meinem Manuskript arbeitete.

Diese wenigen Beispiele können vielleicht ein Stimmungsbild zeichnen, wie Teile einiger meiner Romane vor mehr als zwanzig Jahren entstanden sind. Natürlich gilt das auch für »Die Tote Stadt«. Ordentliche Menschen kann ich beruhigen: Die Bearbeitung des Romans fand streng nach den Regeln der Schriftstellerei in einem richtigen Büro, an einem richtigen Schreibtisch mit einer richtigen Schreibmaschine statt. Nur der Lektor, G. M. Schelwokat, ist geblieben, was für seine Geduld im Umgang mit mir spricht. Und vielleicht fehlt dem Neugeschriebenen auch ein bisschen von dem, was die Urfassung unabhängig von ihrer umstrittenen Qualität sicher besaß: jenen Hauch von Blut, Schweiß und Tränen, den alle Jungautoren durch ihre Romane wehen fühlen.

 

Heusenstamm

November 1982

William Voltz

1.

 

Der Hof der kleinen Kartonagenfabrik war mit Schnee bedeckt. Überall dort, wo er geschmolzen war, konnte man den grauen, von Staub bedeckten Boden sehen. Der Staub kam von der Nährhefefabrik auf der anderen Seite der Straße.

Der Staub war vom Schnee fast verdrängt worden, nicht aber der Gestank.

Er schien über der ganzen Stadt zu lagern.

Während seiner knapp bemessenen Mittagszeit ging Tyler Muto im Hof der Kartonagenfabrik spazieren. Die anderen Angestellten saßen in der Kantine und hörten Musik. Im vergangenen Sommer hatte Muto im Hof einen Vogel gefunden, vermutlich eine Amsel. Eine normale Amsel, keine Mutation. Ihr einer Flügel war gebrochen. In schiefer Haltung war sie durch den Hof gehüpft und hatte nach Hefekrümeln gesucht.

Diese Amsel war der einzige Vogel, den Muto jemals gesehen hatte, und er kam stets mit der Hoffnung in den Hof, dass sich sein Erlebnis wiederholen könnte.

An diesem Mittag trieben graue Wolken über die Stadt. Muto vermutete, dass es vor Einbruch der Nacht zu schneien beginnen würde. Noch vor Jahren war der Schnee zu Haufen aufgeschaufelt und weggefahren worden, denn er war angeblich radioaktiv. Mittlerweile kümmerte sich niemand mehr darum.

Muto blieb stehen und blickte an der rückwärtigen Fassade der Kartonagenfabrik hinauf. An einem der kleinen Fenster sah er ein blasses Gesicht. Es gehörte einer Frau. Sie stand oft in den Mittagspausen dort oben und schaute hinaus. Ihr Blick war aber weder in den Hof, noch auf einen anderen bestimmten Punkt in der Stadt gerichtet. Sie sah ins Leere. In den Arbeitsräumen war Muto dieser Frau nie begegnet, obwohl er oft nach ihr Ausschau gehalten hatte.

Manchmal hoffte Muto, sie würde herunterkommen und mit ihm reden. Er bekam selten Kontakt zu Frauen. Er war ein mittelgroßer, hagerer Mann mit schwarzen, glatt zurückgekämmten Haaren über einem harten Gesicht. Irgendetwas hielt die Frauen von ihm fern. Es hing bestimmt nicht mit seinem Äußeren zusammen, denn mit seinen dunklen, tiefliegenden Augen sah er eher anziehend aus.

Vielleicht war er ein zu großer Grübler.

Die Sirene, die die Mittagspause beendete und die Angestellten wieder an ihre Arbeit zurückrief, ertönte.

Muto verließ den Hof und stieg über eine schmale Holztreppe in die erste Etage hinauf. Er nahm sehr selten den Lift, denn dort war die Luft noch stickiger als hier im Treppenhaus.

Auf dem Gang zur Verpackungsanlage stieß er auf einen der drei Sekretäre, die für Verwalter Kruchen arbeiteten.

»Kruchen will dich sehen«, sagte der Mann im Vorbeigehen.

Die Frage, was Kruchen von ihm wollte, erstarb Muto auf den Lippen, denn der andere war bereits weitergeeilt. Die Sekretäre waren immer in Eile. Ihre Positionen waren begehrt, denn sie brachten viele Vorteile.

Muto stand ein wenig ratlos im Gang. Vom Verwalter vorgeladen zu werden, bedeutete in der Regel nichts Gutes; entweder eine Versetzung innerhalb der Fabrik oder eine Herabstufung in der Lohnklasse. Im schlimmsten Fall konnte man entlassen werden. Damit rechnete Muto jedoch nicht, denn er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Außerdem galt Kruchen als gerechter Mann.

Muto gab sich einen Ruck. Er stieg in die zweite Etage hinauf, in der die Büroräume lagen, und betrat das Vorzimmer des Verwalters. Zu seiner Überraschung stieß er dort auf die blasse Frau, die er oft am Fenster hatte stehen sehen. Sie saß hinter einem Schreibtisch. Ihr Alter war schwer zu bestimmen. Sie war knochig und hatte die Haare im Nacken zu einem schweren Knoten zusammengebunden.

»Hallo!«, rief Muto unwillkürlich, denn er hatte das erleichterte Gefühl, einem Vertrauten gegenüberzustehen.

Sie hob den Kopf und sah ihn nervös und irritiert an.

Muto war ernüchtert.

»Ich bin Tyler Muto«, sagte er hastig. »Der Verwalter will mich sehen.«

Sie meldete ihn sofort an.

»Sie können hineingehen«, sagte sie teilnahmslos. »Mr. Kruchen erwartet sie.«

Die Frau am Fenster und hier im Vorzimmer schienen aus völlig verschiedenen Welten zu kommen.

Muto empfand Bedauern. Er betrat das Büro des Verwalters. Es war mit Musterkartons, Büchern und Papier überladen. Dazwischen stand ein Schreibtisch. Kruchen stand vor einem Regal und wühlte in alten Akten.

»Ich suche gerade ihre Papiere heraus«, sagte er zu Muto. »Wir werden heute noch Schnee bekommen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Muto.

Kruchen fischte eine Mappe heraus, warf einen kurzen Blick darauf und ging damit zu seinem Schreibtisch. Er ließ sich auf dem einzigen Stuhl in diesem Büro nieder und blickte Muto an. In seinem grauen Anzug und mit seinem massigen Gesicht sah er unbeteiligt aus, wie ein zufälliger Besucher.

Er blätterte in der Mappe.

»Sie sind schon ziemlich lange bei uns«, stellte er fest.

»Vier Jahre, zwei Monate und sieben Tage«, erwiderte Muto.

Kruchen spitzte die Lippen zu einem Pfiff. Er schwieg jedoch.

»Gibt es Anlass zu Beschwerden?«, fragte Muto.

Kruchen lächelte.

»Aber nein, nein«, sagte er aufgeräumt. »Es ist alles in Ordnung. Trotzdem muss ich mit Ihnen reden.«

Muto sah ihn erwartungsvoll an. Der Verwalter beleckte seine Lippen. Er senkte den Kopf und starrte auf die Mappe.

»Es tut mir wirklich leid, aber wir müssen uns von Ihnen trennen, Mr. Muto«, sagte er leise.

»Was?«, rief Muto fassungslos. »Heißt das, ich bin entlassen?«

»Leider ja!«

»Aber ... aber Sie sagten doch gerade selbst, dass alles in Ordnung sei!«

Kruchen rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Man sah, wie unangenehm ihm das alles war.

»Wir bekommen ab und zu Anweisungen von offiziellen Stellen«, sagte er resignierend.

»Sie meinen – von dem MACK?«

»Ich bin nicht befugt, darüber zu reden«, erwiderte Kruchen.

Er nahm eine trotzige, fast ablehnende Haltung ein. Damit wollte er Muto zeigen, dass über die getroffene Entscheidung nicht diskutiert werden konnte.

»Was wird nun mit mir geschehen?«, erkundigte sich Muto.

Das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde ihm nur langsam bewusst. Seine knapp bemessenen Rationen würden weiter gekürzt werden. Vielleicht verlor er sogar seine Wohnung.

»Vermutlich werden Sie über den weiteren Ablauf unterrichtet«, meinte Kruchen achselzuckend. »Ich kann Ihnen keinen Rat geben. Vielleicht stellt sich alles als ein Irrtum heraus, dann können Sie jederzeit hierher zurückkommen.«

Er händigte Muto ein paar Papiere aus.

»Sie können gehen«, sagte er. »Es tut mir leid. Viel Glück, Muto.«

Muto hatte das Gefühl, noch irgendetwas sagen zu müssen, aber zweifellos war Kruchen nicht die richtige Adresse für harte Worte. Wie benommen verließ Muto das Büro des Verwalters. Die Frau mit dem blassen Gesicht sah nicht einmal auf, als er hinausging.

Muto begab sich an seinen Arbeitsplatz, um ihn aufzuräumen und seine wenigen privaten Habseligkeiten zusammenzusuchen. Die Männer und Frauen, die mit ihm arbeiteten, sahen ihn scheu an und hielten sich von ihm fern.

Alles spielte sich ab wie in einem Traum.

Als Muto auf der Straße stand, begann es leicht zu schneien. Die Fabrik lag am Stadtrand, in einem trostlosen, heruntergekommenen Viertel. In der Nähe schaufelte ein Bagger Trümmer und Müll zur Seite. Ein paar Passanten mit gesenkten Köpfen kamen vorbei. Die Menschen gingen um diese Zeit bis auf wenige Ausnahmen einer Beschäftigung nach.

Was werde ich jetzt tun?, fragte sich Muto.

Natürlich musste er sich an eine Behörde wenden und herausfinden, was seine Entlassung zu bedeuten hatte. Die Willkür der getroffenen Maßnahme machte ihn zornig. Sie führte ihm aber auch seine Ohnmacht vor Augen.

Ziellos wanderte Muto eine Zeitlang durch die Straßen.

Seine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als ein dünner kleiner Mann vor ihm aus einem Torbogen gestürzt kam und sich gehetzt nach beiden Seiten umsah. Als er Muto erblickte, kam er auf ihn zu. Er war völlig außer Atem. Sein Gesicht hatte einen gelblichen Schimmer. Seine Augen waren von Müdigkeit und Überanstrengung gerötet. Alles an seiner Haltung drückte äußerste Verzweiflung aus.

»Helfen Sie mir!«, keuchte er. »Ich bin am Ende meiner Kräfte.«

Muto war aus seinen pessimistischen Überlegungen gerissen worden. Er blickte den Kleinen verständnislos an.

»Verstecken Sie mich!«, flehte der Mann. Er umklammerte Mutos Arm. »Sie werden jeden Augenblick hier auftauchen.«

»Wer sind Sie?«, fragte Muto. »Was wollen Sie von mir?«

Der Mann stöhnte auf, versetzte Muto einen Stoß und rannte weiter. Gleich darauf trat ein Mann aus dem Torbogen. Er war groß und muskulös. In einer Hand hielt er eine Schusswaffe. Er warf Muto einen bösen Blick zu.

»Sie haben ihm doch nicht etwa geholfen?«, fragte er drohend. »Sie wissen, dass Sie ihm nicht helfen dürfen!«

Der Kleine war ein Ausgesetzter!

Muto wunderte sich, dass er nicht sofort darauf gekommen war.

Der große Mann mit der Waffe trug das Zeichen der MACK-Gilde auf der Jacke. Er wandte sich um und rief einen Namen in den Torbogen. Gleich darauf erschien ein zweiter, ebenfalls bewaffneter Jäger.

»Hat er ihm geholfen?«, fragte er mit einem wütenden Blick auf Muto.

»Nein«, sagte der Muskulöse.

Sie ließen Muto stehen und rannten dem kleinen Mann hinterher. Unwillkürlich folgte ihnen Muto. Es war zum ersten Mal, dass er ein solches Schauspiel miterleben konnte. In der Regel wurden die Ausgesetzten in entlegenen Winkeln oder außerhalb der Stadt gestellt. Manchmal hatte Muto schon daran gezweifelt, dass diese Dinge um ihn herum wirklich geschahen.

Von den wenigen Passanten, die sich außer Muto noch in diesem Gebiet aufhielten, kümmerte sich keiner um die Vorgänge.

Muto sah, dass der Kleine im Schnee ausrutschte. Er schrie. Einer der beiden Männer, die ihn verfolgten, hob die Waffe. Der Schuss peitschte durch die stille Straße. Muto hielt vor Entsetzen den Atem an. Natürlich kannte er die Gesetze, aber er erlebte zum ersten Mal ihre rücksichtslose Anwendung.

Der Flüchtling war getroffen worden und zusammengebrochen. Er lag reglos im Schnee. Die beiden Jäger erreichten ihn. Einer beugte sich über ihn, der andere sprach in ein kleines Funkgerät.

Muto näherte sich langsam, noch immer völlig außer Fassung.

In der Luft entstand ein Geräusch. Ein Helikopter senkte sich langsam auf die Straße. Schnee wirbelte hoch. Die beiden Jäger packten den Erschossenen und legten ihn auf eine Trage, die unter dem Hubschrauber befestigt war. Der Pilot winkte. Er trug einen blauen Helm mit dem Zeichen der MACK-Gilde. Die Jäger traten zurück und winkten ebenfalls. Der Pilot startete. Gleich darauf war der Helikopter nur noch ein kleiner Punkt am grauen Himmel, sein Lärm erzeugte ein schwaches Echo zwischen den Häusern.

Muto hatte die Jäger erreicht.

»Er hatte überhaupt keine Chance«, sagte er dumpf.

»Verschwinde, du Narr!«, stieß der Muskulöse ärgerlich hervor. »Wir jagen ihn seit zwei Tagen. Er hatte Chancen genug, genau wie jeder andere.«

Muto sah ein, dass er Ärger bekommen konnte, wenn er die Jäger nicht in Ruhe ließ. Er murmelte eine Entschuldigung und ging davon. Sie lachten hinter ihm her, und einer von ihnen rief: »Dich holen wir auch noch, Freundchen.«

 

Ein paar Straßen weiter sah Muto vor sich das gelbe Licht eines Treffpunkts. Die Traumhallen waren um diese Zeit noch geschlossen, aber Muto hatte keine Lust, sich in die Isoliertheit seiner Wohnung zurückzuziehen. Er glaubte nicht, dass sich viele Menschen im Treffpunkt aufhielten, aber dort war es warm. Wenn er Glück hatte, wurde auch Dünnbier ausgeschenkt, obwohl er ab sofort mit seinem Geld noch strenger haushalten musste als früher.

Der Treffpunkt befand sich im Innern eines Wellblechschuppens, in dem drei Reihen Tische und Bänke standen. Dem Eingang gegenüber stand eine flache Theke mit Gläsern und Schriftmalerei darauf. Zwei Mädchen, die bunte Schürzen trugen und mürrische Gesichter machten, bedienten. Muto sah, dass sieben Gäste anwesend waren. Sie saßen auf der vorderen Bank. Vier von ihnen waren in ein Spiel vertieft, die drei anderen rauchten und redeten leise miteinander. Zwei der Raucher waren Frauen.

»He!«, rief eine von ihnen. »Spendierst du einen?«

Muto dachte, dass es besser für ihn wäre, wenn er nun wieder ging, aber er nahm an der Seite des rauchenden Mannes gegenüber den beiden Frauen Platz.

Die vier Spieler nahmen keine Notiz von ihm.

Muto bestellte vier Bier; in seiner jetzigen Situation ein regelrechter Luxus.

Eine der beiden Frauen inhalierte tief den Zigarettenrauch und stieß ihn Muto ins Gesicht.

»Du siehst aus, als wäre dir draußen ein Gespenst begegnet!«, stellte sie fest.

Sie war brünett und drall und hatte ein freundliches, nicht gerade intelligentes Gesicht. Die zweite Frau musterte Muto finster, wie einen Eindringling. Ihr blondes Haar war so oft gebleicht worden, dass es unnatürlich aussah. Sie hatte wasserblaue Augen mit einem elenden Ausdruck darin. Der Mann trug eine gepolsterte Jacke und hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als sei ihm kalt. Er rauchte hastig. Seine Augen bewegten sich unruhig. Er schien Muto abzuschätzen.

»Die Jäger haben einen erwischt«, sagte Muto. »Einen Ausgesetzten. Ich habe gesehen, wie sie ihn erschossen. Nur ein paar Straßen weiter.«

»Es ist eine umständliche Methode«, meinte der Mann mit der gepolsterten Jacke. »Aber sie funktioniert.« Er grinste dümmlich. »Sie macht, dass wir Bier zu trinken bekommen.«

»Ich weiß nicht«, sagte Muto gedehnt.

»In fünf Jahren soll eine Expedition ins Tote Land gestartet werden«, sagte der Mann. »Davon habe ich gehört. Dann wird alles besser. Es wird möglich sein, die Bevölkerungszahl zu erhöhen.«

Muto hatte noch nie von einer derartigen Expedition gehört. Wer sollte sie führen – Friedenslord Emmerich?

Eine der Bedienungen kam und stellte vier Krüge auf den Tisch. Muto zahlte vier Weltdollar. Die Frau mit der Schürze betrachtete die Scheine kritisch, dann schob sie sie in ihre Tasche und wischte die Hände an der Schürze ab.

Der Mann neben Muto hob seinen Krug.

»Auf den, den sie erwischt haben«, sagte er. »Vielleicht ist es sein Bier, das wir trinken.«

Muto blickte auf den Holztisch, dessen Farbe verblasst war und auf dem Tausende von Krügen ein Muster heller Ringe hinterlassen hatten.

»Darauf trinke ich nicht«, sagte er.

»Der spinnt«, sagte die Blonde. »Das habe ich schon gesehen, als er hereinkam. Trink nicht mit diesem Spinner, Fred!«

Die Brünette kicherte und prostete Muto verstohlen zu, als teilten sie ein Geheimnis.

»Du denkst wohl, dass du für ein Bier alles haben kannst?«, schrie der Mann. »Damit kannst du uns kaufen, denkst du.«

Die Kartenspieler hoben die Köpfe. Einer von ihnen fluchte wegen der entstandenen Unruhe.

Muto nahm sein Bier und stand auf.

Er war entschlossen, sich an einen anderen Tisch zu setzen.

»Er ist ein Spitzel«, sagte die Blonde.

»Wen sollte ich bespitzeln?«, fragte Muto ärgerlich. »Und in wessen Auftrag?«

Er entfernte sich langsam und nahm an einem anderen Tisch Platz. So schnell er konnte, trank er sein Bier und verließ den Treffpunkt.

Er fragte sich, warum es ihm so schwerfiel, vernünftigen Kontakt mit anderen Menschen zu bekommen. Die meisten reagierten aggressiv, wenn er in ihre Nähe kam.

Sie hatten irgendetwas gegen ihn, soviel stand fest.

Aber das war ja idiotisch!, dachte er.

Er war ein Bürger wie alle anderen.

Nicht wie alle anderen!, korrigierte er sich.

Er hatte keine Arbeit mehr. Was das für ihn bedeutete, würde er erst in den nächsten Tagen erfahren.

Die Abenddämmerung setzte ein, und Muto entschloss sich, nach Hause zu gehen. Es begann heftiger zu schneien.

 

Obwohl Muto die Tür schnell hinter sich zudrückte, wirbelte der starke Wind Schneeflocken in den Hausgang. Muto blieb einen Augenblick gegen die Tür gelehnt stehen und atmete tief. Der Schnee auf seinem Haar begann sofort zu tauen. Tyler Muto schaltete die Treppenhausbeleuchtung ein und klopfte mit beiden Händen gegen seinen Mantel. Dann stampfte er mit den Füßen auf den Boden, um den Schnee aus den Profilen seiner Schuhe zu lösen.

Die Luft im Treppenhaus roch feucht und nach abgestandenem Essen. Muto ging zum Lift, trat ein und wählte das siebente Stockwerk. Um diese Zeit waren die übrigen Bewohner des Hauses bereits von der Arbeit heimgekehrt. Die meisten saßen jetzt beim Essen. Mutos Gesicht verfinsterte sich, als er an die karge Dosenration dachte, die er heute Abend zu sich nehmen würde.

Er lehnte sich gegen die Rückwand des Lifts und wunderte sich, dass ihm die langsame Aufwärtsbewegung zu schaffen machte. Wahrscheinlich lag das daran, dass er den ganzen Tag wenig gegessen hatte.

Als die Anzeigetafel des Lifts das sechste Stockwerk anzeigte, stieß Muto sich von der Wand ab. Einen Stock höher blieb der Lift stehen. Die Tür glitt auf. Muto hinterließ eine nasse Spur, als er den Fahrstuhl verließ. Er gelangte in einen Korridor, von dem aus vier verschiedene Wohnungen zu betreten waren. Muto bewohnte die kleinste davon.

Als er aufschloss, blickte er automatisch zur Robotpost. Im allgemeinen erhielt er nie Briefe, es sei denn, eine Versicherung schrieb ihm, oder man schickte ihm Reklame.

An diesem Abend jedoch sah er hinter dem Schlitz einen grünen Umschlag schimmern. Er zog die Schlüssel wieder aus der Tür, um den Briefkasten zu öffnen. Ein gefaltetes Blatt lag darin. Muto stopfte es ungelesen in die Manteltasche, stellte die Markierung des Briefkastens auf leer und ging in seine Wohnung.

Achtlos warf er seinen Mantel auf die Schlafcouch. Die Regulierung der Heizung stimmte wieder einmal nicht. Das Zimmer war kalt. Muto murmelte eine Verwünschung. Er machte Licht in der Kochnische und holte sein Essen aus dem Schrank. Während er die Dose öffnete, fiel ihm die Post wieder ein.

Der intensive Geruch der Nährhefe schien ihn bis ins Zimmer zu verfolgen. Er wühlte im Mantel herum, bis er das grüne Blatt fand. Mit einem Seufzer ließ er sich auf die Couch sinken. Seine Hand tastete nach dem Schalter der Leselampe.

Muto sah, dass er ein öffentliches Schreiben erhalten hatte. Es handelte sich um eines der vorgedruckten Formulare, in die man nur seinen Namen, seine Anschrift und das Datum eingesetzt hatte. Muto legte sich zurück und las.

An Tyler Muto. Darunter stand seine genaue Anschrift und das Datum.

Bei der letzten Auswahl wurden Sie vom MACK gezogen. Ab Donnerstag sind Sie ausgesetzt. Sie haben das Recht, den Versicherungsschutz und freie Schutzinstitute für Ihre Verteidigung zu bemühen. Alle Einzelheiten erfahren Sie in dem Formblatt 456 11 B.

Die Unterschrift war unleserlich, aber das Siegel des MACK ließ keinen Zweifel daran, dass die Zuschrift echt war.

Donnerstag.

Das war übermorgen. Seltsam, er hatte nie damit gerechnet, dass er eines Tages vom MACK gezogen werden könnte. Jetzt, da es geschehen war, fiel es ihm schwer, sich mit der Tatsache vertraut zu machen. Eine Weile blieb er wie betäubt liegen und hielt das Blatt vor die Augen. Die Buchstaben verschwammen, bis die einzelnen Wörter zu schwarzen Strichen wurden.

Muto legte das Schreiben neben sich auf das Kopfkissen.

»Verdammter MACK!«, sagte er leise.

Er ging zurück in die Kochnische, um die Dose ganz zu öffnen. Als er damit fertig war, sprach der Summer an.

Jemand stand draußen vor der Tür!

Muto schob die Dose mit der Nährhefe über den Tisch und lauschte. Seit er vor vier Jahren hier eingezogen war, hatte er noch nie Besuch erhalten. Ausgerechnet an diesem Abend musste jemand kommen. Der Summer ertönte noch einmal.

Muto ging zur Tür und öffnete. Ein kleiner Mann, der eine Kapuze trug, stand vor ihm. Sein Gesicht war vom kalten Wind gerötet, aber seine Augen blickten Muto gefühllos an. Vom Umhang des Mannes tropfte der tauende Schnee.

»Guten Abend!«, sagte der Mann höflich. »Mein Name ist Edward Prescott. Ich bin Angestellter der Regler-Schutzgesellschaft.«

Unfreundlich erkundigte sich Muto: »Was wollen Sie?«

»Ihnen helfen«, erklärte der Kleine. »Sie sind ab Donnerstag ausgesetzt, und da dachte ...«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Muto dazwischen. »Ich habe es selbst erst erfahren, als ich nach Hause kam.«

Im Gesicht des späten Besuchers erschien ein kaltes Lächeln. »Die MACK-Zentrale stellt uns freundlicherweise eine Durchschrift aller Namen zu«, sagte er zu Muto. »Wir haben also Gelegenheit, jedem unsere Dienste anzubieten.«