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WILLIAM VOLTZ

 

 

 

EIN ROBOTER

IN DER GARAGE

 

Roman

 

 

 

 

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WING Publishing

 

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Über den Autor

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Impressum

 

Über den Autor

 

William Voltz wurde am 28.Januar 1938 in Offenbach geboren. Er interessierte sich bereits in früher Jugend für Science Fiction, wurde Mitglied im SFCD und war Mitbegründer des SF-Clubs STELLARIS in Frankfurt.

William Voltz begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und auch ein Buch mit dem Titel STERNENKÄMPFER wurde veröffentlicht. Für seine Stories, die sich großer Beliebtheit erfreuten, bekam er im Jahr 1961 den »Besten Fan-Autor Preis«.

Sein Engagement ebnete ihm 1962 den Weg ins damals noch junge und kleine PERRY RHODAN - Team.

Bis zu seinem viel zu frühen Tod am 24. März 1984 schrieb der Autor nicht nur für diese und andere Serien, sondern veröffentlichte auch Serien unabhängige Romane und Kurzgeschichten.

Bookwire gab uns die Möglichkeit, diese William Voltz Veröffentlichungen als e-books anzubieten.

1

 

Es hatte die ganze Nacht geregnet. In den Löchern und Mulden am Boden der Grube hatte sich das Wasser gesammelt. Stellenweise waren kleine Seen entstanden. Die Arbeiter, die in wenigen Tagen mit der Schließung der Grube beginnen sollten, hatten Bohlen ausgelegt, so dass die Besucher die wichtigsten Stellen erreichen konnten, ohne sich dabei nasse Füße zu holen.

Als Matthias Wehrheim den Hang hinabstieg, sah er, dass die meisten seiner Klassenkameraden zwischen den Maschinen, die hinter den Baubuden abgestellt waren, herumturnten, anstatt zuzuhören, was Oberstudienrat Edwin Bandermann über die Grube Messel zu berichten hatte. Bandermann hatte einen kleinen Hügel erklommen und redete von dort auf den kleinen Kreis seiner Zuhörer ein, die er im Übrigen kaum wahrzunehmen schien. Der Oberstudienrat trug eine gelbe Regenschutzhaut, deren Kapuze ihm lose im Nacken hing, dazu ausgebeulte braune Cordhosen, die er unordentlich in die Gummistiefel gesteckt hatte. Man hätte ihn für einen der Arbeiter halten können, die ihre Frühstückspause gerade beendet hatten und widerwillig aus den Baubuden herauskamen.

Matthias Wehrheim blieb stehen und blickte zum Hang hinaus.

Am oberen Rand der Grube stand eine einsame, schmächtige Gestalt: Dakhor, sein Adoptivbruder. Sooft Matthias ihn beobachtete, kam ihm zum Bewusstsein, wie wenig er eigentlich über ihn wusste. Vor sechs Jahren war Dakhor von der Familie Wehrheim aufgenommen worden. Er kam aus Asien und war angeblich ein laotischer Prinz.

»Geh schon voraus!«, sagte Matthias zu seiner Begleiterin Elisabeth Janzon. »Ich kümmere mich um Dakhor.«

»Lass ihn doch in Ruhe!«, meinte das Mädchen. Sie war 14 Jahre alt, sah aber aus wie eine Zwölfjährige. Sie war pummelig, hatte blaue Augen, eine Stupsnase und ein von Sommersprossen übersätes Gesicht. Sie hatte Matthias zu ihrem Freund erkoren und hielt sich bei jeder Gelegenheit in seiner Nähe auf. Matthias mochte sie, ließ sich das aber vor seinen Klassenkameraden nicht anmerken, denn er wollte ihretwegen nicht gehänselt werden. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Elisabeth eifersüchtig auf den Prinzen war.

»Er ist mein Bruder«, sagte Matthias einfach und stieg den Hang wieder hinauf.

Dakhor sah ihm entgegen. Seinem ausdruckslosen Gesicht mit den unergründlichen dunklen Augen war nicht abzulesen, was in ihm vorging.

»Warum kommst du nicht mit?«, fragte Matthias ihn. »Morgen wird uns Tyrannosaurus Rex einen Aufsatz über die Grube Messel schreiben lassen, und du hast nichts von dem gehört, was er uns erzählt hat.«

Die Schüler der Klasse 9 b nannten Bandermann wegen seiner Vorliebe für Fossilien und prähistorische Tiere »Tyrannosaurus Rex«. Der Oberstudienrat wusste das, aber er schritt nicht dagegen ein. Es schmeichelte ihm.

»Du siehst doch, was da unten los ist, Matt«, erwiderte Dakhor. »Alles ist voller Schlamm und Dreck. Ich würde mir die Füße schmutzig machen.«

Bei jedem anderen hätte eine solche Bemerkung lächerlich gewirkt, nicht aber bei dem Prinzen. Die ruhige Würde, mit der Dakhor sprach, verlieh seinen Worten Bedeutung.

»Ich gehe jetzt zu den anderen«, sagte Matthias. »Meinetwegen kannst du zu Hause dann meine Notizen abschreiben.«

»Das brauche ich nicht«, erwiderte Dakhor gelassen. »Ich weiß schon alles über diese Grube. Ich hätte eigentlich nicht mitzukommen brauchen.«

Matthias zuckte mit den Schultern und ließ seinen Adoptivbruder stehen. Er sah, dass Bandermann noch immer auf dem Hügel stand. Die Zahl seiner Zuhörer hatte sich inzwischen verdoppelt. Das lag nicht am Interesse seiner Schüler, sondern an dem Umstand, dass die Arbeiter sich nun der Maschinen bemächtigt hatten und sie dorthin fuhren, wo mit den Planierarbeiten begonnen wurde. Matthias wusste, dass die Grube Messel bereits zu Beginn der siebziger Jahre in eine Mülldeponie hätte umgewandelt werden sollen. Über ein Jahrzehnt hatten die Wissenschaftler erfolgreich gegen diese Pläne protestiert, doch nun, im August des Jahres 1987, war das Schicksal der Grube beschlossen und nicht mehr abzuwenden. Geologen und Fossiliensammler hatten sich damit abgefunden, denn Material, das sie interessierte, schien in diesem Gebiet weitgehend erschöpft zu sein.

»Matt!«, rief jemand und unterbrach damit jäh die Überlegungen des Jungen. »Matt, sieh doch, dort drüben, zwischen den Hütten, wer das ist!«

Es war Peter Spengler, der Matthias das zugerufen hatte. Peter ließ keine Gelegenheit vorübergehen, sich bei Matthias wichtig zu machen. Er war ein hoch aufgeschossener Junge mit kantigem Gesicht, der wegen seiner Geschwätzigkeit nur schwer Anschluss fand.

Matthias blickte zu den Hütten hinüber.

Da sah er Dorbaz.

Dorbaz schien zu lächeln. Genau konnte man das auf diese Entfernung nicht ausmachen. Wie immer sah er verwahrlost aus.

Wie kommt er nur hierher?, schoss es Matthias durch den Kopf.

Dorbaz behauptete, fünfzehn Jahre alt zu sein, ein Jahr älter als Matthias Wehrheim und die meisten Schüler der Klasse 9 b. Er sah jedoch aus wie ein Achtzehnjähriger. Als Kleinkind war er von Zigeunern, die durch Neu-Isenburg gezogen waren, zurückgelassen worden. Seither lebte er bei einer kränkelnden älteren Frau, die sich seiner angenommen hatte. Die Wohnung dieser Frau lag in jenem Stadtviertel, wo auch Matthias Wehrheim und viele andere Klassenkameraden der 9 b aufwuchsen.

Irgendetwas an Dorbaz zog Matthias an, obwohl er sich andererseits auch wieder von ihm abgestoßen fühlte. Die Eltern hatten ihm geraten, nicht mit diesem Jungen zu verkehren, aber in seiner Freizeit war er oft mit Dorbaz zusammen. Manchmal war der Zigeunerjunge wochenlang verschwunden, ohne dass jemand wusste, wo er sich aufhielt; dann tauchte er unvermittelt wieder auf.

Dorbaz winkte Matthias zu, dann zog er sich hinter die Hütten zurück. Wahrscheinlich wollte er nicht von Bandermann gesehen werden. Die Lehrkräfte der Otto-Hahn-Schule wussten von der Existenz des Zigeunerjungen, denn der Hausmeister der Schule hatte ihn vor zwei Jahren einmal schlafend unter dem großen Tisch der Bibliothek gefunden.

Matthias beeilte sich jetzt, zu den anderen zu gelangen, denn er wollte nicht den ganzen Vortrag des Klassenlehrers versäumen.

Matthias Wehrheim war ein großer, schlaksig wirkender Junge mit braunen Augen und hellblonden Haaren. Er gehörte nicht zu den Intelligentesten seiner Klasse, aber man hatte ihn wegen seiner ruhigen und freundlichen Art zum Klassensprecher gewählt.

Bevor Matthias seine Kameraden, die sich um den Oberstudienrat geschart hatten, erreichte, stolperte er über einen Stein und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv versuchte er den Sturz dadurch abzumildern, dass er die Arme ausstreckte und mit den Händen nach einem Halt griff. Er bekam einige Grasbüschel zu fassen und klammerte sich daran fest. Sie gaben nach und lösten sich aus dem Erdreich, aber Matthias war bereits wieder auf den Beinen.

In diesem Augenblick machte er seine Entdeckung.

Dort, wo seine Hände sich in das Gras gekrallt hatten, war ein Loch entstanden. Zwischen den feuchten Erdbrocken sah Matthias einen glänzenden Gegenstand. Es schien ein Stück Metall zu sein, wahrscheinlich ein Werkzeug, das ein Forscher vor längerer Zeit hier vergessen hatte. Allerdings war es erstaunlich, dass der Gegenstand glänzte, denn in dieser Umgebung hätte man eher erwarten sollen, dass das Metall rostet und sich deshalb, statt zu glänzen, kaum mehr vom Erdboden unterscheidet.

Matthias bückte sich, um das Ding aufzuheben.

Er stellte fest, dass es sich nur um einen Teil von etwas wesentlich Größerem handelte, das noch tiefer in der Erde steckte und daher nicht zu sehen war.

Matthias wurde plötzlich von dem Gefühl beschlichen, etwas Verbotenes zu tun. Er sah sich nach den anderen um, aber niemand schien ihn zu beobachten. Der Lärm der Maschinen übertönte Bandermanns Stimme, aber daran, wie der Oberstudienrat mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, konnte Matthias erkennen, dass Tyrannosaurus Rex jetzt erst langsam in Form kam.

»Was hast du?«, fragte Dakhor.

Er war Matthias völlig lautlos gefolgt und stand nun ein paar Schritte oberhalb am Hang.

Die Fähigkeit des laotischen Prinzen, sich wie eine Katze zu bewegen, hatte Matthias schon oft beeindruckt. Diesmal zuckte er zusammen, als hätte ihn jemand bei einer unerlaubten Tat erwischt. Auch schien Dakhor immer zu ahnen, wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignete.

»Dorbaz ist drüben hinter den Hütten«, sagte Matthias. Es war ein Versuch, den Prinzen von dem abzulenken, was im Boden steckte.

»Ich weiß«, erwiderte Dakhor. »Ich habe ihn gesehen. Aber wolltest du mir nicht etwas anderes sagen?«

»Ich? Wieso?«

»Du hast etwas gefunden?«

»Gefunden?«

»Das da.«

Dakhor bückte sich und blickte in das von Matthias unfreiwillig geschaffene Loch im Boden. Mit seinen dünnen Fingern betastete er das freigelegte Metallstück, so sanft, als berühre er etwas Lebendiges.

»Da ist noch mehr drin«, sagte er, sich wieder aufrichtend.

Die ganze Szene wirkte auf Matthias unwirklich, er hatte plötzlich den Wunsch, diesen Zustand zu beenden. Er wusste nicht, was sein Unbehagen auslöste, aber das machte alles nur noch unheimlicher. Irgendetwas Rätselhaftes war im Gange.

»Ich hau ab«, stieß er hervor. »Mir ist egal, was da drin ist. Kommst du mit?«

»Erst muss ich wissen, was das ist«, erklärte der Prinz. »Was meinst du, sollen wir die Arbeiter verständigen, damit sie es herausholen? Sie haben Werkzeuge.«

»Warum sollten sie es herausholen?«, fragte Matthias nervös.

»Vielleicht ist es etwas Wertvolles«, meinte Dakhor. Das änderte die Sachlage auch für Matthias. Etwas Wertvolles wollte er sich nicht entgehen lassen. Der Gedanke, den Arbeitern die Nase draufzustoßen, war ihm plötzlich absolut unsympathisch.

»Das können wir selbst auch«, sagte er. Wenige Augenblicke später begannen die beiden Jungen wie auf ein geheimes Kommando weitere Grasstücke auszureißen und Erdklumpen wegzuräumen.

Dakhor hielt als erster wieder mit dieser Arbeit inne.

»Hör auf!«, sagte er auch zu Matthias. »Sonst sehen uns die anderen.«

»Und wie soll's weitergehen?«

»Heute ist Freitag«, antwortete Dakhor. »Morgen und übermorgen arbeitet niemand. Dann ist die Grube leer. Kein Mensch wird uns sehen. Dann machen wir's. Klar?«

»Morgen wollte ich fußballspielen ...«

»Was ist dir wichtiger, das hier oder fußballspielen? Du musst es wissen.«

»Du spielst doch sonst auch immer mit ...«

»Nicht morgen!«

Dakhor hatte schon begonnen, die ausgerissenen Grasstücke wieder über dem Metallstück auszubreiten und es damit abzudecken.

»Du gräbst das Loch wieder zu?«, wunderte sich Matthias.

»Damit es kein anderer findet, kapierst du?«, versetzte der schlaue Asiate. »Oder bist du scharf drauf, dass uns jemand zuvorkommt? Dorbaz zum Beispiel. Wo ist er überhaupt?«

Sie sahen ihn nicht.

»Komm!«, sagte Matthias impulsiv. »Lass uns zu Bandermann gehen.«

Dakhor schüttelte den Kopf. »Das reicht mir hier noch nicht. Man sieht noch zu viel. Geh du, ich bleibe. Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich mir die Schuhe nicht schmutzig mache. Wenn ich hier fertig bin, gehe ich wieder nach oben. Dort warte ich auf euch.«

Matthias sah ein, dass es keinen Zweck hatte, Dakhor umstimmen zu wollen. So nickte er und ging schnell davon. Seine Gedanken waren in Aufruhr, obwohl es dafür momentan eigentlich keinen Grund mehr gab. Als er die inzwischen fast vollzählig um den Oberstudienrat versammelte Klasse erreicht hatte, beschäftigte sich seine Phantasie noch immer mit dem seltsamen Gegenstand.

»Matt«, sagte Oberstudienrat Bandermann tadelnd, »warum kommst du jetzt erst? Ich sah dich am Hang. Was hast du dort gemacht?«

Alle wandten sich um zu Matthias. Es kam selten vor, dass er den Unwillen eines seiner Lehrer erregte.

»Ich ... ich habe nach Fossilien gesucht«, stotterte er.

Eines der Mädchen kicherte. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Bandermann zog die Kapuze seiner Regenhaut über den Kopf. Mit seiner Hakennase und den große grauen Augen erinnerte er an einen Waldkauz, der aus seiner Baumhöhle blickte.

»Es gibt hier keine Fossilien mehr«, sagte Bandermann. »Auf jeden Fall liegen sie nicht einfach so herum.«

Er öffnete seine abgewetzte Tragetasche und holte einen in Packpapier eingewickelten Gegenstand heraus. Nachdem er das Papier auseinandergefaltet hatte, kam ein grauer Stein zum Vorschein. In dem Stein befand sich eine Art Muster, das wie aneinandergereihte Fischgräten aussah.

»Dies ist eine Versteinerung aus dem Paläozoikum, dem Altertum der Erdgeschichte«, sagte Tyrannosaurus Rex. »Und zwar ein Trilobit aus dem Mittleren Kambrium. Trilobiten sind ausgestorbene meerbewohnende Gliedertiere des Erdaltertums. Das Kambrium ist der älteste Zeitabschnitt des Erdaltertums. Ich habe diesen Fund als Anschauungsmaterial aus der Schulsammlung mit hierher gebracht.«

Diese Handlungsweise erschien Matthias grotesk, aber sie war typisch für Edwin Bandermann. Er würde wahrscheinlich Mondgestein von der Erde zum Mond mitnehmen, wenn er jemals Gelegenheit haben sollte, eine Klasse auf dem Mond zu unterrichten.

Matthias betrachtete den Trilobiten, aber er hörte kaum auf das, was Bandermann sagte. Seine Gedanken waren bei Dakhor und dem Metallbrocken oben am Hang. Bandermann musste auch Dakhor gesehen haben, aber er wäre nie auf den Gedanken gekommen, den Prinzen zu rufen oder gar zu maßregeln. Keiner der Lehrer richtete je ein strenges Wort an Dakhor. Matthias wunderte sich, dass ihm das früher nie aufgefallen war. Erst in diesem Augenblick kam es ihm zu Bewusstsein. Er hatte es offenbar auch für selbstverständlich gehalten, dass der Prinz eine Art Sonderstellung einnahm.

»Ihr könnt euch jetzt umsehen«, sagte Bandermann nach einer Weile. »Ich möchte, dass ihr euch die einzelnen Erdschichten in der Grube anschaut. Macht euch Notizen über die verschiedenen Beobachtungen.«

Die Mädchen und Jungen lösten sich in Gruppen auf. Als Matthias davongehen wollte, rief der Oberstudienrat ihn.

»Matt«, sagte er freundlich. »Der Zigeunerjunge treibt sich hier wieder herum.«

Matthias errötete.

»Ich weiß«, bekannte er. »Keiner von uns hat ihm gesagt, dass wir diesen Ausflug machen. Er muss uns heimlich gefolgt sein.«

»Ich habe nicht gewusst, dass ihr immer noch Kontakt mit ihm habt«, sagte Bandermann. »Er ist ein Herumtreiber. Matt, ich habe keinen Grund, mich über dich zu beklagen, aber ich sehe es ungern, wenn du mit diesem Kerl zusammen bist. Ich kann mir denken, dass auch deine Eltern damit nicht einverstanden sind.«

Matthias schwieg.

»Ich möchte die Sache nicht hochspielen, Matt«, fuhr Bandermann fort. »Deshalb werde ich deine Eltern nicht benachrichtigen. Ich glaube, dass du vernünftig bist.«

»Ja«, sagte Matthias.

Bandermann packte den Trilobiten in die Tasche. Mitleid für den Lehrer regte sich plötzlich in Matthias, obwohl dies sicher ein völlig übertriebenes Gefühl war. Da schleppte Bandermann einen Stein in einer alten Tasche hier in die Grube. Da stand er im Regen und redete, obwohl er doch spüren musste, dass es ihm selten gelang, die Aufmerksamkeit aller zu wecken. Wie alt ist dieser Bandermann eigentlich?, überlegte Matthias.

Vielleicht spürte der Lehrer unbewusst etwas von Matts Gefühlen.

»Ein warmer Tee wäre jetzt gut«, sagte er.

»Ja«, antwortete Matthias und dachte an das Ding oben am Hang.

Der Studienrat wischte sich über das regennasse Gesicht.

»Komm«, sagte er. »Schau dich um, bevor es noch stärker anfängt zu regnen. Der Bus holt uns schon in einer Stunde wieder ab.«

Matthias wandte sich ab. Er sah, dass Dakhor wieder an seinen ursprünglichen Platz oben am Hang zurückgekehrt war und dort regungslos im Regen stand. Matts Blicke wanderten zu den Hütten hinüber, aber er konnte Dorbaz nicht sehen. Er wusste jedoch, dass der Zigeuner noch in der Nähe war.

Am anderen Ende der Grube dröhnten die Planierraupen. Wie lange würden die Arbeiter brauchen, um hierher zum nähergelegenen Teil der Grube zu gelangen? Heute war Freitag, es war also unwahrscheinlich, dass sie das schnell genug schafften, um den Gegenstand oben am Hang bis zum Wochenende noch niederzuwalzen und zu begraben.

Matthias zweifelte keinen Augenblick mehr daran, dass er zusammen mit Dakhor schon sehr bald wieder herkommen würde. Vielleicht würden sie Elisabeth Janzon noch ins Vertrauen ziehen.

Ob Dorbaz etwas wusste?, fragte sich Matthias.

Der Zigeunerjunge schien manchmal eine unglaubliche Nase für Dinge zu haben, die man vor ihm verbergen wollte. Er liebte es, die anderen damit zu verblüffen.

Einige Mädchen und Jungen waren vor dem Regen unter die Vordächer der Bauhütten geflüchtet. Sie standen dort zusammen und schwatzten. Matthias war fast ärgerlich darüber, dass sie nicht taten, was Bandermann ihnen aufgetragen hatte.

Er zog seinen Notizblock hervor, fest entschlossen, der Klasse mit gutem Beispiel voranzugehen. Doch die Seite, die er aufgeschlagen hatte, blieb leer. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Seine Gedanken wurden mit Beschlag belegt von einem Gegenstand aus glänzendem Metall. Er ahnte, dass er keine Ruhe mehr finden würde, solange er nicht wusste, was sich dort drüben unter der Erde verbarg.

2

 

Wenn ausländische Direktoren der Warenhäuser des GLOBE-Konzerns die Filiale in Neu-Isenburg besuchten, pflegte man sie an der südlichen Einkaufsstraße abzusetzen, obwohl dies einen Umweg von mehreren hundert Metern bedeutete. Auf diese Weise vermieden die Chefs der deutschen Niederlassung der Warenhauskette, dass die wichtigen Besucher das »Antiquariat und Beschaffungsinstitut« unmittelbar nach ihrer Ankunft gleich zu Gesicht bekamen. Denn das »Antiquariat und Beschaffungsinstitut« war ein Dorn im Auge der mächtigen Warenhausbosse von GLOBE. Der gewaltige Gebäudekomplex des GLOBE-Konzerns bestand aus vier Verkaufstürmen, in denen man praktisch alles einkaufen konnte, was auf dem Markt zu bekommen war. Die Türme waren quadratisch angeordnet und untereinander durch mehrere Brücken verbunden. Unter der am tiefsten gelegenen Brücke zwischen den beiden nördlichen Türmen befand sich Pootsos »Antiquariat und Beschaffungsinstitut«, ein im Vergleich zu den vier anderen Gebäuden winziger Schuppen aus roten Ziegelsteinen und mit einem flachen Betondach. An der Vorderseite des kleinen Hauses war ein mit roten Samtvorhängen versehenes Glasschaufenster, auf dem mit schwarzen Papierbuchstaben der Name des Inhabers stand: POOTSO. Neben dem Schaufenster befand sich der Eingang. Es war eine einfache Holztür mit einem Messingschild. In das Schild war der Name von Pootsos Geschäft eingraviert: »Antiquariat und Beschaffungsinstitut«. Seit GLOBE vor sieben Jahren mit dem Bau des riesigen Warenhauses begonnen hatte und sich ständig vergrößern wollte, prozessierte der Konzern vergeblich gegen Pootso, der ihm mit seiner Hütte im Wege war, und auch jetzt noch, drei Jahre nach der Einweihungsfeier, betrieb der alte Mann seinen Laden, praktisch auf dem Gelände von GLOBE, dessen Geschäftsführer nur aus dem Fenster seines Luxusbüros zu blicken brauchte, um tief unter sich den lächerlichen Laden – den Beweis für die Hartnäckigkeit Pootsos – zu erkennen. Die Angestellten von GLOBE, die jeden Tag hier zweimal vorbeikamen, lächelten still in sich hinein, wenn sie zu dem kleinen Gebäude blickten. Heimlich empfanden sie für Pootso tiefe Sympathie, denn er war für sie das Symbol des Widerstands gegen den allmächtigen Konzern.

Pootso öffnete und schloss sein Geschäft unregelmäßig, an manchen Tagen machte er überhaupt nicht auf, sondern ging irgendwelchen Beschäftigungen nach, über die es die wildesten Gerüchte gab. Niemand konnte behaupten, dass Pootso Rekordumsätze machte und aus diesem Grund ein unliebsamer Konkurrent für GLOBE gewesen wäre. Pootsos Einnahmen waren eher bescheiden und reichten gerade aus, um den Lebensunterhalt des alten Mannes und den seines einäugigen Katers Dracula zu garantieren.

Als Matthias Wehrheim und Dakhor an diesem Nachmittag das Gelände des Warenhauses betraten, waren sie nicht sicher, ob Pootso geöffnet hatte. Sie überquerten den freien Platz zwischen den Türmen. Entweder um Pootso zu schikanieren, oder um zu zeigen, dass sein Laden nichts mit GLOBE zu tun hatte, hatten die Bauarbeiter auf Veranlassung des Konzerns Eisenpfähle, die mit Ketten untereinander verbunden waren, rund um Pootsos Geschäft in den Boden einschlagen müssen. Wer zu Pootso wollte, musste über die Ketten hinwegklettern oder unter ihnen durchkriechen.

Dakhor deutete auf eine kleine Wolke hellgrauen Rauches, die aus dem Kamin auf dem Dach des Gebäudes stieg.

»Er ist da, Matt«, sagte er und blickte auf seine Armbanduhr. »Er kocht sich gerade Kaffee.«

Die beiden Jungen, die Pootso ab und zu besuchten, kannten die Gewohnheiten des Alten. Sie kamen gern in den Laden, denn dort herrschte eine besondere Atmosphäre des Fremdartigen und Geheimnisvollen.

Matthias stellte fest, dass die Ladentür unverschlossen war. Wie immer hatte also Dakhor recht behalten, Pootso war anwesend. Im Laden selbst herrschte Halbdunkel. Es dauerte einen Augenblick, bis sich Matts Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Hinter einer kleinen Holztheke, auf der eine uralte Registrierkasse stand, stapelten sich die Schätze des Ladenbesitzers. Sie wurden in baufällig aussehenden Regalen aufbewahrt, lagen auf dem Boden oder hingen an den Wänden. Wenn es ein Ordnungssystem gab, nach dem die Waren gelagert wurden, dann war Pootso sicher der einzige Mensch, der sich in diesem System auskannte. Da gab es alte Gefäße, Möbelstücke, Waffen, Rüstungen, Figuren aus Gips und Holz, Uniformen, Masken, Uhren, Bilder und technische Geräte, deren Funktion zum Teil nur erraten werden konnte. Es duftete nach Pfefferminze und Zedernöl. Der Boden war mit Brettern ausgelegt, die bei jedem Schritt leise knarrten. An verschiedenen Stellen lagen kleine Teppiche, die seltsame Muster aufwiesen und an den Enden ausgefranst waren. Links neben der Tür hing ein ovales Bild, das Pootso als jungen Mann zeigte, wie er in einer reich verzierten Uniform auf einem Pferd saß.

Das Geschäft besaß einen hinteren Raum, der durch einen Vorhang aus schwerem Stoff vom eigentlichen Laden abgetrennt war. Dort hinten pflegte Pootso sich aufzuhalten, wenn keine Kunden anwesend waren. In diesen Raum hatte der Alte bisher nicht einmal die Jungen eingeladen; sie hatten ihn trotz ihrer großen Neugier auch nicht darum gebeten, einmal eingelassen zu werden.

Matt hörte, dass sich jemand räusperte, dann wurden schlurfende Schritte hörbar. Der Vorhang wurde ein wenig beiseite geschoben. Pootso streckte den Kopf durch den dabei entstehenden Spalt und blickte in den Laden, um zu sehen, wer da war. Es kam nicht zu selten vor, dass Pootso den Vorhang einfach wieder zufallen ließ, wenn ihm die Besucher nicht gefielen.

Diesmal jedoch kam er ganz zum Vorschein.

Er grüßte nicht, er sah Matthias und Dakhor nicht einmal an.

»Was wollt ihr?«, brummte er. »Ich trinke Kaffee.«

Niemand wusste, wie viele Jahre Pootso schon lebte; er war einfach alt, ohne dass er schon wie ein Tattergreis gewirkt hätte. Er war auf eine unbeschwerte Art alt, so dass Menschen, die ihn kannten und viel jünger waren als er, mit unverhohlenem Neid diese Art des Altseins registrierten. Pootso war nicht besonders groß. Er wirkte hager und hielt sich leicht gebeugt. Seine Schultern waren breit und knochig. Sein Gesicht war abwechselnd gelb und braun und weiß, es war von Falten durchfurcht, die zum Teil so tief eingegraben wäre, dass sie wie schwarze Linien wirkten. Pootso hatte einen rostroten Oberlippenbart, dessen Enden keck nach oben gezwirbelt waren. Die Augen des alten Mannes waren groß und basaltfarben, sie lagen tief in den Höhlen. Pootsos Gesicht flößte Vertrauen ein; es ließ auch erkennen, dass sich hinter der dazugehörigen Stirn Weisheit und Geheimnisse verbargen.

»Wir können warten, Herr Pootso«, sagte Dakhor höflich.

Zum ersten Mal sah Pootso seine beiden Besucher direkt an, und Matthias hatte das Gefühl, dass unter diesem Blick sein Inneres wie ein aufgeschlagenes Buch vor dem weisen, alten Mann da lag.

»Ich bin sowieso fertig«, antwortete Pootso. Seine Stimme klang tief und rau, es lag eine verhaltene Kraft in ihr.

Matthias, der herumblickte, entdeckte Dracula, den einäugigen Kater, auf einer Matte hinter der Theke. Da lag er, den Kopf zwischen den Pfoten, sein Bauch hob und senkte sich im Rhythmus der Atemzüge. Dracula war grauschwarz gestreift, er war alt und hässlich, aber Pootso hatte einmal behauptet, dass dieses Tier einen guten Charakter hätte, und damit war es automatisch über jede Kritik erhaben. Dracula hätte noch viel hässlicher sein können, Pootsos Aussage hätte ihn in jedem Fall zu einem besonderen Tier gemacht.

Pootso stützte beide Hände auf die Theke.

»Was wollt ihr?«, wiederholte er seine Frage.

Im gleichen Moment erschien es Matthias absurd, dass sie hierher gekommen waren. Gewiss, Pootso war immer freundlich und hilfsbereit gewesen, aber in dieser Sache durften sie ihn nicht angehen.

Doch Dakhor schien keine derartigen Bedenken zu hegen.

»Wir bitten Sie um Ihre Hilfe«, sagte er. »Sie haben einen kleinen Transporter, den wir bräuchten. Sie müssten uns natürlich auch fahren, wegen des Führerscheins.«

Das »Antiquariat und Beschaffungsinstitut« besaß einen rückwärtigen Eingang, durch den die Waren hereingeschafft oder abtransportiert wurden. Den Transporter hatten die Jungen vor einem guten Jahr zum letzten Mal gesehen, und bereits damals hatte er sich in einem derart erbarmungswürdigen Zustand befunden, dass Matthias sich ernsthaft fragte, ob der Wagen überhaupt noch einsatzfähig war.

»Soso«, nickte Pootso. »Fahren soll ich euch ...«

»Wir müssen etwas abholen«, erklärte Dakhor. »Eine Kiste. Ziemlich groß und schwer. Zu schwer zum Tragen. Sie steht in Messel.«

»In Messel?« Pootso kratzte sich am Kinn. »Wo in Messel? Und was ist denn in der Kiste drin? Was enthält sie?«

»In der Messeler Grube«, antwortete Dakhor. Dann zögerte er: »Wir möchten nicht sagen, was in der Kiste ist.«

Matthias schloss unwillkürlich die Augen. Er erinnerte sich an den vergangenen Samstagnachmittag, als er zusammen mit Dakhor und Elisabeth mit dem Bus nach Messel gefahren war. Sie hatten Schaufeln aus einer der Bauhütten geholt und den Metallgegenstand ausgegraben. Matthias würde diesen Augenblick in seinem ganzen Leben nicht vergessen. Auch jetzt war er innerlich wieder aufgewühlt. Er hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen. Sein Herz klopfte bis zum Hals, denn er fürchtete, dass Pootso erraten könnte, was sie in der Kiste versteckt hielten.

Pootso lehnte sich zurück, dann holte er gemächlich eine Stummelpfeife aus der Brusttasche seines Wollhemdes und schob das zerbissene Mundstück zwischen die Zähne.

»Es ist also ein Geheimnis«, sagte er.

»Ja«, antwortete Matthias.

Dracula erwachte, streckte sich und machte einen Buckel. Er ging zu Pootso und strich ihm schnurrend um die Beine. Pootso bückte sich und setzte den Kater auf die Theke, damit er ihn leichter kraulen konnte.

»Ihr tut doch nichts Unrechtes?«, fragte Pootso. »Ich meine, ihr habt euch doch nichts unter den Nagel gerissen, was nicht euch gehört?«

Matthias sah auf den Boden.

»Nein«, erklärte Dakhor. »Wir haben nichts gestohlen, wenn Sie das meinen.«

»Eure Klasse hat in der vergangenen Woche einen Ausflug in die Grube Messel gemacht«, sagte Pootso. »Ich weiß das von Elisabeth, die vor etwa drei Wochen hier war um eine Fahrradkette. Wenn ihr Fossilien in der Kiste habt, müsst ihr sie in der Schule abgeben. Dort wird man dafür sorgen, dass sie ins Senckenberg-Museum nach Frankfurt gebracht werden.«

»Es sind keine Fossilien«, sagte Matthias heftig. »Dass wir die nicht behalten dürften, wissen wir.«

»Matthias ist sehr aufgeregt«, sagte Dakhor entschuldigend.

»Und du, Dakhor?«, fragte Pootso. »Wie ist dir zumute? Du scheust dich ja auch, mich in euer Geheimnis einzuweihen.«

»Ich bitte Sie, uns zu vertrauen«, erwiderte Dakhor zurückhaltend. »Ich verspreche Ihnen, dass wir Ihnen alles sagen, sobald das möglich ist.«

Pootso streichelte den Kater. Dies schien die einzige Beschäftigung zu sein, die Bedeutung hatte. In dem kleinen Laden schien die Zeit stillzustehen.

»Ich mache es«, sagte Pootso schließlich.

»Großartig!«, rief Dakhor.

»Wann wollen wir fahren?«

»Am Freitagnachmittag; dann sind unsere Eltern nicht zu Hause und wir können die Kiste unbemerkt in unsere Garage bringen.«

Pootso runzelte die Stirn. Der Hinweis, dass nicht einmal die Eltern der beiden Jungen eingeweiht werden sollten, schien ihn noch einmal nachdenklich zu stimmen. Aber er erhob dann doch keine weiteren Einwände mehr.

Als die beiden Jungen wieder draußen im Freien standen, sagte Matthias zu Dakhor: »Mir wär's lieber, er hätte abgelehnt.«

 

Mit einer Serie explosionsartiger Fehlzündungen kam Pootsos alter Kastenwagen vor dem eisernen Gittertor in der Beethovenstraße zum Stehen. Das Tor gehörte zu einem einstöckigen Doppelgebäude aus roten Backsteinen, das schon vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut worden war. Im Laufe der Zeit waren einige Renovierungen vorgenommen worden. Man hatte die Frontseite des Hauses bis in Höhe der Parterrefenster verklinkert, breitere Fenster eingesetzt und die alten Dachrinnen aus Blech durch Kunststoffröhren ersetzt. Matthias und Dakhor lebten mit ihren Eltern in der Vierzimmerwohnung der ersten Etage des rechten Gebäudeteils. Das Haus sah alt, aber sauber aus; es machte den Eindruck, als würde es von ordentlichen Menschen bewohnt. An allen Fenstern waren helle Vorhänge angebracht, und Blumenkästen mit blühenden Geranien hingen an den Fensterbänken.

Pootso zog ein schiefes Gesicht.

»Es tut mir leid, dass die Karre so einen Krach macht«, sagte er zu den beiden Jungen. »Ich muss aber froh sein, dass sie überhaupt noch fährt.«

Matthias hatte gesehen, dass Pootsos Transporter keinen gültigen TÜV-Stempel auf dem Kennzeichenschild trug, aber er hatte das mit keinem Wort erwähnt. Pootso dachte und handelte in vielen Dingen anders als die meisten seiner Mitmenschen. Das war jedoch eine Sache, mit der er selbst fertig werden musste.