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WILLIAM VOLTZ

 

 

 

ALPHABET

DES

SCHRECKENS

 

Erzählungen

 

 

 

 

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WING Publishing

Inhalt

 

Über den Autor

Vorwort

Der Mann mit dem sechsten Sinn

Komfortwohnung

Die Unterdrückten

Der Spion

Alphabet des Schreckens

Der Doppelgänger

Die Friedensbringer

 

Über den Autor

 

William Voltz wurde am 28.Januar 1938 in Offenbach geboren. Er interessierte sich bereits in früher Jugend für Science Fiction, wurde Mitglied im SFCD und war Mitbegründer des SF-Clubs STELLARIS in Frankfurt.

William Voltz begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und auch ein Buch mit dem Titel STERNENKÄMPFER wurde veröffentlicht. Für seine Stories, die sich großer Beliebtheit erfreuten, bekam er im Jahr 1961 den »Besten Fan-Autor Preis«.

Sein Engagement ebnete ihm 1962 den Weg ins damals noch junge und kleine PERRY RHODAN - Team.

Bis zu seinem viel zu frühen Tod am 24. März 1984 schrieb der Autor nicht nur für diese und andere Serien, sondern veröffentlichte auch Serien unabhängige Romane und Kurzgeschichten.

Bookwire gab uns die Möglichkeit, diese William Voltz Veröffentlichungen als e-books anzubieten.

Vorwort

 

In den späten fünfziger Jahren trafen sich alle zwei Wochen in einer Kneipe im Frankfurter Vorort Bornheim zwanzig bis dreißig SF-Enthusiasten, um über ihr Hobby zu diskutieren, das damals in Deutschland noch ein Mauerblümchendasein führte. Eines Tages machte Hein Bingenheimer (Gründer der SF-Buchgemeinschaft Transgalaxis), mein unvergessener Freund und Förderer, den Vorschlag, innerhalb dieses SF-Clubs doch Kurzgeschichtenwettbewerbe durchzuführen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich klopfenden Herzens meine erste Story vorlas und zu meiner Überraschung den ersten Preis gewann. Das war der eigentliche Start für mein späteres Leben als freier Schriftsteller. Eine der in dieser zweiten Storykollektion veröffentlichten Stories, »Der Spion«, ist ebenfalls ein Preisträger aus jener Zeit, in der ich übrigens das Kunststück fertigbrachte, von den Mitgliedern des Science-Fiction-Club Deutschland als hoffnungsvollster Nachwuchsautor gewählt und gleichzeitig mit eben diesen Stimmen zum Verfasser des schlechtesten SF-Romans des Jahres ernannt zu werden (Der fragliche Roman, »Sternenkämpfer«, erschien übrigens als Band Nr. 2 dieser Taschenbuchreihe).

Die Story »Der Spion« ist übrigens genauso auf die Pointe festgelegt, wie die wesentlich längere Geschichte »Der Mann mit dem sechsten Sinn«. Seltsamerweise inspirierte mich »Der Mann mit dem sechsten Sinn« zu zwei in sich geschlossenen Anschlusserzählungen, die ebenfalls in diesem Band enthalten sind und bei denen es längst nicht mehr einzig und allein um Spannung und Pointe geht: »Die Unterdrückten« und »Die Friedensbringer«. Eher kritische Geschichten, die gewollte Bezüge zu heutigen Verhältnissen haben, sind die Titelstory und »Die Komfortwohnung«.

Meine Lieblingsstory in dieser Auswahl, wenn man als Autor überhaupt solche Bewertungen machen darf, ist »Der Doppelgänger«, weil ich darin besondere Stimmungen zum Ausdruck bringen konnte, was mir bei meiner Arbeit schon jeher den meisten Spaß gemacht hat. Als 1963 mein erster Storyband unter dem Titel »Quarantäne« bei Moewig erschien, schrieb mein Kollege Clark Darlton eine Rezension für ANDROmeda, das Fanzine des SFCD, die so positiv war, dass es ungehörig wäre, auch nur Teile daraus hier zu zitieren. Ich hoffe jedoch, dass allen Lesern, die früher einmal Gefallen an meinen Geschichten fanden, auch die zweite von insgesamt drei Kollektionen ein wenig Vergnügen bereitet, denn genau dazu (und zu meinem eigenen Vergnügen, um korrekt zu sein) wurden diese Erzählungen geschrieben.

 

Heusenstamm, Herbst 1980

William Voltz

Der Mann mit dem sechsten Sinn

 

1.

 

Als er erwachte, konnte er sich nicht an einen Albtraum erinnern – und doch lag er mit heftigem Herzklopfen im Bett. Das dunkle Schlafzimmer kam ihm vor wie eine kalte Höhle, in der er nackt kauerte und mit blinden Augen ins Nichts starrte. Er richtete sich mit einem Ruck auf und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.

Es ist nichts!, dachte er verzweifelt. Gestern gab es nicht die geringsten Anzeichen für einen Angriff.

Er hörte, wie das Bett knarrte, als Tish sich neben ihm bewegte. Gleich darauf verbreitete die Leselampe einen warmen Schein im Zimmer, vor dem die Dunkelheit zurückwich und der die Illusion feuchtkalter Höhlenwände durch Lichtreflexe auf Tapetenmustern ersetzte.

Elliot De Vries blickte zu seiner Frau hinüber und versuchte zu lächeln. Ihr ovales Gesicht wurde von dunklem Haar umrahmt, das ihr aufgelöst bis auf die Schultern hing. Tish besaß die Fähigkeit, aus tiefem Schlaf aufzuwachen und sofort hellwach zu sein. Ihre grauen Augen musterten ihn. In ihrem Gesicht stand die stumme Angst geschrieben, die auch ihn beherrschte.

Wir leben alle mit dieser furchtbaren Angst, dachte er.

»Ich habe geträumt«, sagte Elliot. Er wusste, dass der geschäftsmäßige Klang seiner Stimme sie kaum beruhigen würde. Sie kannte ihn viel zu gut, um nicht die unzähligen kleinen Anzeichen deuten zu können.

Elliot De Vries warf einen Blick auf die Uhr, sah, dass er in drei Stunden aufstehen musste, und ließ sich wieder zurücksinken. Eigentlich seltsam, dass man ihm acht Stunden Schlaf gönnte und nicht von ihm verlangte, dass er auch die Nächte im Kontrollraum zubrachte.

»Auf die Dauer wirst du das nicht ertragen«, sagte Tish. Er hörte keinen Protest aus ihrer Stimme heraus, nicht einmal die Hoffnung, dass sich die Situation irgendwann ändern könnte.

»Es geht mir gut«, sagte er mechanisch. »Was ist schon dabei, wenn ich jeden Tag ein bisschen herumsitze und auf die Anzeichen eines Angriffs warte? Es ist nicht anders, als stünde ich an einer Haltestelle und würde den nächsten Bus abwarten.«

Der Vergleich ließ ihn lächeln, war er doch nur einer seiner zahllosen Versuche des Selbstbetrugs.

»Ich werde General Shane um Urlaub für dich bitten«, sagte Tish entschlossen. »Du bringst es einfach nicht über dich, ihm zu sagen, dass du mit den Nerven am Ende bist. Willst du warten, bis du zusammenbrichst? Shane muss doch wissen, dass du dann nichts mehr für sie wert bist.«

»Aber gewiss doch, Madam«, würde Shane sagen. »Natürlich bedarf Ihr Mann eines längeren Urlaubs. Sie müssen jedoch verstehen, dass wir während der augenblicklichen gespannten Lage in Asien nicht auf ihn verzichten können.«

Als wäre die Lage jemals anders als gespannt!, dachte Elliot ironisch.

»Warum schweigst du, Elliot?«, fragte Tish.

»Ich dachte daran, was General Shane sagen würde, wenn du um Urlaub für mich bitten würdest«, entgegnete er. Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Stirn. »Ein Urlaub würde alles noch viel schlimmer machen. Die ganze Zeit über würde ich daran denken, dass diese Tage vergehen, dass ich danach wieder an meine Arbeit zurückkehren muss.«

Er hörte, wie ihr Atem heftiger wurde. Ihre plötzliche Erregung verwirrte ihn. Er hatte ihre Geduld immer bewundert, aber jetzt musste er erkennen, dass sie die Grenze ihrer Fähigkeit, alles mit scheinbarer Gelassenheit hinzunehmen, erreicht hatte.

Mit schriller Stimme, die ihre ganze Verzweiflung mit einem Schlag erkennen ließ, sagte sie: »Warum fliehen wir nicht einfach von hier, Elliot?«

Es war ein unsinniger Vorschlag. De Vries gestand sich jedoch ein, dass er schon oft an Flucht gedacht hatte. Aber er würde, auch wenn sich eine Möglichkeit dazu ergeben hätte, niemals die Flucht ergreifen.

»Wir gehen nach Europa«, sagte sie hastig. Erschreckt begriff er, dass sie bereits Pläne gemacht hatte, dass dieser absurde Gedanke schon fester Bestandteil ihres Denkens war. »Man würde nicht wagen, dich aus der neutralisierten Zone zu entführen, wenn du dort um Asyl gebeten hast.«

Wie immer dachte sie nur an die technischen Schwierigkeiten. Doch daran hatte sich De Vries bereits gewöhnt. Niemand, nicht einmal seine eigene Frau, schien zu begreifen, dass er seine Fähigkeiten nicht ablegen konnte wie einen Mantel.

»Niemand kann seinen eigenen Gedanken entfliehen«, sagte er und strich ihr sanft über das Gesicht. »Verstehst du nicht? Ich habe mich so daran gewöhnt, die Gegenseite zu beobachten, dass ich nicht mehr davon loskomme. Auch in Europa könnte ich mich davon nicht befreien.«

»So kann es nicht weitergehen«, sagte sie. »Du richtest dich zugrunde.«

Er hörte ihre Worte nicht, denn plötzlich begannen seine Hände so heftig zu jucken, dass er sie auf der Bettdecke reiben musste, um den Reiz zu vermindern. Er vermutete, dass dieses unangenehme Gefühl eine Folge seiner übersteigerten Nervosität war.

»Was ist?«, fragte Tish. »Hörst du überhaupt, was ich sage?«

Er starrte sie an, betroffen darüber, dass ihn ein Hautjucken so aus der Fassung bringen konnte.

Nachdenklich sagte er: »Es war kein Albtraum, der mich erwachen ließ. Es waren meine Hände. Der Juckreiz hat mich aus dem Schlaf gerissen.«

Er streckte seine Hände von sich und betrachtete sie, als handelte es sich um Fremdkörper.

»Sie sind rot vom Kratzen«, stellte Tish fest. »Ich werde Salbe auftragen. Wahrscheinlich hat dich irgendein Insekt gestochen.«

»Es ist schon vorbei«, sagte er aufatmend. Er fand es seltsam, dass ihn diese Sache so beschäftigte.

»Vielleicht«, meinte er unentschlossen, »sollte ich General Shane doch um Urlaub bitten.«

Er sah die Skepsis in ihren Blicken. In den vergangenen Jahren hatte sie gelernt, seine als Beruhigung gedachten Worte von seinen tatsächlichen Entschlüssen zu unterscheiden. Es musste eine bittere Lektion für Tish sein, zu erkennen, dass seine Entschlüsse immer gegen sie gerichtet waren, dass ihr nur die Worte blieben; Worte, die nichtssagend wirkten und immer mehr an Überzeugungskraft verloren.

»Tish«, murmelte er, »manchmal habe ich Angst.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich fühle es.«

»Es ist sicher schlimm für dich, mit mir verheiratet zu sein«, sagte er.

Er hatte das nicht sagen wollen, weil er genau wusste, dass er damit nur ihren Widerspruch herausfordern wollte.

Sie presste ihren Kopf in das Kissen, als müsste sie vor irgendetwas Schutz suchen.

»Ich möchte, dass du meine Gedanken liest«, sagte sie dumpf.

»Tish!«, stieß er hervor. »Wir haben vor unserer Hochzeit ausgemacht, dass ich das niemals tun werde. Du kannst zwar nicht wissen, ob ich dich heimlich kontrolliere, aber ich versichere dir ...«

»Nun los!«, unterbrach sie ihn.

In diesem Augenblick setzte der Juckreiz an seinen Händen wieder ein. Es dauerte nur ein paar Sekunden, aber es verwirrte ihn so, dass er sich, kaum dass es vorüber war, in ihre Gedanken einschaltete. Er tat es fast unbewusst, aber im gleichen Augenblick, als ihre Gefühle wie eine warme Flut in ihn eindrangen, wusste er, dass er schon immer gehofft hatte, eines Tages ihr Bewusstsein zu erschließen.

Was er fühlte, war bedingungslose Liebe. Er wurde rot vor Scham, als er spürte, dass ihre Zuneigung bis zur Selbstaufopferung gehen würde. Hastig zog er sich zurück und verschloss sich gegen ihre Gedanken.

»Ich wusste ... ich wusste nicht«, stammelte er unbeholfen.

Sie tastete nach seinen Händen und drückte sie. Er fühlte Mitleid mit ihr, obwohl sie das sicher nicht wollte. Sie erschien ihm klein und hilflos, ebenso wie er in der gnadenlosen Maschinerie der Militärs verstrickt. Genau wie er musste sie nach Plan leben. Nach dem Plan jener Narren, die nicht von der Idee loskamen, dass die Gegenseite eines Tages angreifen würde.

Und auf der Gegenseite gab es ebensolche Narren, dachte De Vries müde.

Die »drüben« besaßen jedoch keinen Mann mit dem sechsten Sinn. Sie hatten niemand, der sie vor einem Angriff rechtzeitig warnen konnte.

Elliot De Vries dagegen würde wissen, wann die Stunde X gekommen war. Er besaß den sechsten Sinn, er konnte jede feindselige Handlung voraussagen.

Er wünschte, er besäße diese Gabe nicht.

Oder er hätte nie den Fehler begangen, seine Fähigkeit zu offenbaren.

 

Die Ampel schaltete auf Grün, und Elliot De Vries reihte sich mit seinem Wagen in die endlose Fahrzeugkolonne ein. Mit beinahe gehässiger Freude dachte er an General Shane, der jetzt seit ungefähr einer Stunde auf ihn wartete.

Es war Elliots einziger Triumph über die Militärs, dass er sich ab und zu verspäten konnte, ohne eine Entschuldigung zu benötigen. Zwar vermochte Shane nur selten seinen Ärger über solche Disziplinlosigkeiten zu verbergen, aber er hatte Elliot bisher nie ermahnt, sich einer größeren Pünktlichkeit zu befleißigen. An Tagen, an denen sich Elliot verspätete, blieb Shanes Gesicht ernst und verbissen, eine sichtbare Demonstration des Missfallens gegenüber Elliots Verhalten.

Im Grunde genommen war General Shane ebenfalls ein Opfer des kalten Krieges, aber im Gegensatz zu De Vries schien es ihm gelungen zu sein, seine Pflicht wie eine Maschine zu erledigen. Shanes einzige Regung, die Elliot menschlich vorkam, war das nahezu krankhafte Verlangen des Generals nach heißem Kaffee.

Ein Hupen unterbrach Elliot in seinen Gedanken. Er stellte fest, dass er von der Fahrspur abgekommen war. Ein anderer Wagen überholte ihn, und der Fahrer warf einen bösen Blick zu Elliot herüber. Die feindlichen Gefühle des Mannes ließen De Vries völlig unberührt, er hatte sich daran gewöhnt, mit den aggressiven Gedanken seiner Mitmenschen zu leben. Früher hatte er oft geglaubt, er könnte nie mit dieser Gedankenflut fertig werden.

De Vries bog von der Hauptstraße ab. Er warf einen Blick auf die Uhr zwischen Treibstoffanzeiger und Drehzahlmesser. Es war kurz vor neun. Er fühlte sich wie ein Junge, der unbeobachtet in einen Garten eingedrungen war, um ein paar Äpfel zu stehlen. Er lächelte schwach. Eigentlich war sein gelegentliches Zuspätkommen nichts weiter als eine Art Spiel zwischen General Shane und ihm. Ein Spiel, dessen Hauptregel die Unterstellung war, dass Elliot De Vries wie ein freier Mensch leben konnte. Am Ende jedoch gewann stets General Shane.

De Vries gab seinen Wagen im Parkhochhaus ab, wo er einen festen Platz gemietet hatte. Er legte die wenigen hundert Meter bis zur Kontrollstation mit langsamen Schritten zurück.

Die beiden Posten am Eingang beachteten ihn nicht, als er die breite Steintreppe hinaufstieg, die zum Hauptportal führte. Seit Jahren standen fast immer die gleichen Männer Wache, große, schweigsame Männer mit einer statuenhaften Unbeweglichkeit. Sie ließen in Elliot das Gefühl aufkommen, ein Eindringling zu sein, obwohl er Tag für Tag hierherkam.

De Vries schob seine Identitätskarte in den Prüfschlitz vor der Tür und wartete geduldig, bis geöffnet wurde. Wie immer, wenn er eintrat, hatte er das Gefühl, in eine andere Welt zu kommen. Im Vorraum war es angenehm kühl, der Lärm des Straßenverkehrs drang nicht bis hierher. An der Wand gegenüber dem Eingang hing eine große Weltkarte. Darüber war ein silberner Pfeil mit einem großen B in der Mitte befestigt.

Das B stand für Beobachtung und war der Name für diese Abteilung des Verteidigungsministeriums. Eigentlich hätte De Vries Stolz empfinden müssen, dass man eigens für ihn eine besondere Abteilung geschaffen hatte, in einem riesigen Gebäude, in dem ein General wie ein Diktator herrschte. Aber alles, was De Vries spürte, wenn er durch den Eingang kam, war ein Gefühl des Unbehagens. Es war die Gewissheit, von der Welt dort draußen abgeschnitten und einer Bestimmung übergeben zu sein, die sinnlos und lebensfremd war. De Vries wusste, dass seine Welt jenseits dieser dicken Mauern lag, und diese Überzeugung verstärkte noch das Gefühl des Gefangenseins.

De Vries erschauerte, als er auf den Lift zuging und die Tastatur betätigte. Er wusste, dass jede seiner Bewegungen von unsichtbaren Beobachtungsgeräten verfolgt wurde. Shane hatte nie über die Vorsichtsmaßnahmen gesprochen, durch die das Eindringen Unbefugter in dieses Gebäude verhindert werden konnte, aber bei der Gründlichkeit des Generals konnte man sicher sein, dass Abteilung B einer Festung glich.

Zwischen den beiden Welten des Elliot De Vries gab es nur eine schmale Brücke, die er jeden Morgen und jeden Abend benutzte, nie wissend, ob sie beim nächsten Mal noch da sein würde. Von all diesen Problemen wusste Tish fast nichts, weil Elliot sich immer bemüht hatte, solche Dinge von seiner Frau fernzuhalten. Jeden Abend entkam er für acht Stunden der Welt des kalten Krieges, um am nächsten Morgen wieder zurückzukehren.

Der Lift brachte De Vries in den atombombensicheren Kontrollraum tief unter der Erde. Die Fahrt mit dem Lift war für Elliot das Unheimlichste und Bedrückendste an seiner Arbeit. Er konzentrierte sich auf die farbigen Kontrollämpchen, die die einzelnen Etagen anzeigten, und ignorierte das Gefühl, unter Luftmangel zu leiden. Jedesmal, wenn er die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, musste De Vries den Wunsch unterdrücken, den Lift anzuhalten und wieder nach oben fahren zu lassen.

Als De Vries die Tür zum Kontrollraum aufstieß, sah er zuerst General Shane, der in leicht gekrümmter Haltung vor der Anzeigetafel stand und mit scheinbar lautloser Stimme Befehle gab. Dass Elliot die Stimme seines Vorgesetzten nicht hören konnte, lag an der Glaswand, die sich zwischen ihm und Shane befand.

Im Vorraum saß Leutnant Westmore. Vor ihm, auf einem von Papieren und Büroklammern übersäten Tisch, lagen eine Morgenzeitung und ein aufgebrochenes Paket Kekse. Westmore hatte seinen Stuhl nach hinten gekippt, so dass dieser nur auf zwei Beinen stand, und stützte sich mit seinen Füßen auf die schon fast durchgewetzte Querleiste unter dem Schreibtisch. Er blinzelte Elliot mit eulenhafter Überraschung entgegen und wischte fahrig über seine Hose, um einige Kekskrümel zu entfernen.

»Guten Morgen«, sagte Elliot.

»Ah!«, machte Westmore. Dieses Ah beinhaltete sein Erstaunen über Elliots Erscheinen; es schien anzudeuten, dass der Leutnant bereits daran gezweifelt hatte, den wichtigsten Mitarbeiter von Abteilung Beobachtung an diesem Tag noch zu sehen. Außerdem galt es als Gruß und Sympathieerklärung.

»Wie wird das Wetter?«, erkundigte sich De Vries.

Westmore grinste, knabberte gedankenverloren an einem Keks und blätterte geräuschvoll in der Zeitung.

»Ein ausgedehntes Tief ist im Anzug«, sagte er, mit einem Seitenblick in General Shanes Richtung.

Elliot seufzte, zog seine Jacke aus und hängte sie an einen Kleiderhaken. Hier unten war er der einzige Zivilist, und da die Offiziere ihre Uniformjacken nie ablegten, hing Elliots Kordjacke stets einsam am Haken.

De Vries nickte Westmore zu.

»Sie können jetzt öffnen«, sagte er.

Westmore schaltete die Gegensprechanlage ein.

»Sir!«, rief er. »Elliot De Vries ist eingetroffen. Ich schicke ihn jetzt zu Ihnen.«

Elliot sah, wie Shane sich ruckartig umwandte. Alle Bewegungen des Generals wirkten abrupt und entschlossen. Es gab nichts Geschmeidiges an diesem hageren Körper. In Shanes Soldatengesicht wirkte seine Indianernase wie ein Felszacken. Unter roten Augenbrauen lagen seine Augen tief in ihren Höhlen, zwei Eiskugeln von unbestimmbarer Farbe. Das Kinn des Generals trat gegenüber der Nase zurück, durch eine tiefe Narbe unter den Lippen sah es deformiert aus, als bestände es aus zwei verschiedenen Teilen. Die wenigen Haare, die Shane noch besaß, waren sorgsam zurückgekämmt. Das Gesicht des Generals erschien De Vries blutlos und durchsichtig, sooft er auch hineinblickte.

Elliot sah Shane blinzeln, als er in das grelle Licht der Lampe über der Glaswand blickte.

»Er soll reinkommen!«, rief Shane. Seine Stimme klang überraschend weich und milderte den unnachgiebigen Eindruck, den er machte.

Ein Teil der Glaswand verschwand summend im Boden, und Elliot De Vries betrat den Kontrollraum.

Captain Levine, der Schreiber, nickte ihm zu. Levine hatte rotumränderte Augen und eine widerspenstige Haarfrisur. Er beherrschte acht Sprachen und galt als hervorragender Kenner des Fernen Ostens. Er war klein und dick; wenn er sich bewegte, erinnerte er Elliot jedesmal an ein überdimensionales Ei, das durch eine Laune der Natur zu Armen und Beinen gekommen war. Levine war der geduldigste Befehlsempfänger, den De Vries jemals kennengelernt hatte. Die Unerschütterlichkeit, mit der er Shane ertrug, überstieg Elliots Begriffsvermögen.

»Es ist das gleiche Gebiet wie gestern«, sagte Shane anstelle einer Begrüßung. Er stocherte mit einem Leuchtstab auf der Anzeigetafel herum. »Im Lauf der Nacht wurde eine weitere Division in diesem Abschnitt in Marsch gesetzt.«

Elliot De Vries nahm neben Levine Platz und starrte auf die Tafel. Er hatte vergessen, wieviel Divisionen die Chinesen an Indiens Grenze zusammengezogen hatten, aber es waren weitaus mehr, als man zur »Grenzbewachung« benötigte.

»Schalten Sie die Tafel aus!«, sagte De Vries zu Shane.

Levine blickte überrascht auf, und Shane ließ den Leuchtstab so schnell sinken, als sei er von einem Guss eiskalten Wassers getroffen worden. Das Summen der Klimaanlage erschien De Vries plötzlich unerträglich laut. Er wartete darauf, dass Shane protestieren würde, doch der General wandte sich um und schaltete die Beleuchtung der Anzeigetafel aus.

»Was ist geschehen, Elliot?«, fragte er.

Diese Frage bezog sich ausschließlich auf militärische Ereignisse. Shane wäre es niemals eingefallen, De Vries nach privaten Schwierigkeiten zu fragen.

Elliot legte den Kopf in den Nacken und blickte zu Shane auf.

»Wie lange arbeiten wir jetzt zusammen, General?«, fragte er.

Shane rümpfte seine große Nase, als habe sich schlechter Geruch im Kommandoraum ausgebreitet. Er griff nach einem Kaffeebecher und nahm einen tiefen Schluck. Dann erst schaute er De Vries wieder an.

»Elliot, wenn Sie aufhören möchten, sagen Sie es bitte deutlich. Ich glaube, Sie haben eine Pause verdient. Allerdings«, die Spitze des Leuchtstabs huschte zur Tafel zurück und bewegte sich der Linie entlang, die die Grenze zwischen China und Indien darstellte, »muss das erst vorüber sein.«

»Die Chinesen?« Elliot lächelte. »Nein, General. Ich will nicht aufhören.«

Shane zeigte keine Erleichterung. Seine einzige Reaktion bestand darin, dass er die Tafelbeleuchtung wieder einschaltete. Levine kratzte mit einem verchromten Zirkel über eine Landkarte und murmelte unaufhörlich Zahlen vor sich hin. Dies, und das Summen der Klimaanlage, waren die einzigen Geräusche hier unten, dachte Elliot.

»Ich spüre eine Gefahr«, sagte er unvermittelt. »Eine außergewöhnliche Gefahr.«

»Das wundert mich nicht«, meinte Shane und deutete zur Tafel. »Ich denke, sie werden in den nächsten Tagen angreifen.«

»Das werden sie nicht«, widersprach De Vries. »Es wird zu einigen Zusammenstößen kommen, aber daraus wird sich kein Krieg entwickeln.«

Shane sagte verwundert: »Aber es gibt keinerlei andere Ansatzpunkte für eine militärische Aktion der anderen Seite.«

»Ich weiß«, sagte Elliot.

Wie ein Arzt, der auf der Spur der richtigen Diagnose ist, forschte Shane weiter. »Aber Sie spüren irgendetwas, nicht wahr?«

Elliot zögerte mit der Antwort. Spürte er tatsächlich etwas, oder spielten ihm seine Nerven einen Streich? War er so abgespannt, dass er nicht mehr zwischen echten Gefahren und latenten Drohungen unterscheiden konnte?

»In der vergangenen Nacht erwachte ich davon, dass meine Hände juckten«, berichtete De Vries. »Das hat sich inzwischen dreimal wiederholt. Jedesmal war der Juckreiz ein bisschen stärker.«

»Verdammt, Elliot! Wir haben keine Zeit für solche Späße«, sagte Shane leidenschaftslos. »Schließlich espern Sie nicht mit den Händen.«

Elliots Blicke trafen sich mit denen Levines, und der Schreiber starrte ihn an, als sehe er ihn zum ersten Mal. Dann senkte Levine, offenbar verlegen geworden, den Kopf und widmete sich wieder seiner Arbeit.

De Vries verwünschte seinen Entschluss, die Sache zur Sprache zu bringen.

»Können wir jetzt mit der Arbeit beginnen?«, fragte Shane.

»Als Junge geriet ich einmal in höchste Lebensgefahr«, hörte sich De Vries sagen. »Ich spielte in einer Scheune, als ein tollwütiger Hund hereinkam. Ich spürte die primitiven Mordinstinkte des Tieres, mir wurde fast übel von der Aggressivität, die von ihm ausging.« Elliot unterbrach sich, weil er das Gefühl hatte, dass Levine unterdrückt lächelte. Shane dagegen hatte aufmerksam zugehört.

»Fahren Sie fort«, forderte er De Vries auf.

»Der Hund fletschte die Zähne«, sagte De Vries. »Schaum tropfte aus seinem Maul. Er knurrte ununterbrochen. Ich war vor Angst wie gelähmt, als er langsam auf mich zukam. In diesem Augenblick geschah etwas mit meiner Haut.«

Shane wölbte die Augenbrauen.

»Mit Ihrer Haut? Erklären Sie das!«

»Sie wurde lederartig«, sagte Elliot tonlos. »Lederartig und dunkel. Es war, als wollte sie sich verdichten, um einen Biss des Hundes unwirksam zu machen. Der Hund sträubte seine Nackenhaare und verkroch sich winselnd in einer Ecke.«

»Hm«, machte Shane. »Wie alt waren Sie damals, Elliot?«

»Acht«, sagte De Vries.

»Sie haben sich alles in ihrer jugendlichen Phantasie eingebildet«, behauptete der General. »Sie wissen, dass ein derartiger Vorgang unmöglich ist. Die Tür der Scheune war zugefallen, so dass nur wenig Licht hereindrang. Sie waren vor Angst kopfscheu. Die plötzliche Flucht des Hundes ließ Sie an ein Wunder glauben.«