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Verlag: tredition GmbH, Hamburg

978-3-7323-5127-5 (Paperback)

978-3-7323-5128-2 (Hardcover)

978-3-7323-5129-9 (e-Book)

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1

ANKOMMEN

Und dann kommen sie zum Fluss. Zum Rhein. Ein bärtiger Mann mit zwei Kindern. Auf einem Fahrrad. Und auf dem Fahrrad zwei Kindersitze. Vorne der Schalensitz mit dem kleinen Mädchen, hinten der hohe Sitz mit dem eingepackten Säugling. Dazu der gewaltige Wanderrucksack, der den Rücken des Mannes krümmt. Und alles auf einem Fahrrad - die Kinder, der Rucksack.

Der Mann strampelt von all den Gewichten, er prustet, beißt die Zähne zusammen. Während das kleine Mädchen auf dem Schalensitz beharrlich Ausschau hält. Nach dem Fluss.

Papa sucht die Mama. Nur ein Ausflug hat er gesagt, aber er hat gelogen. Ausflug? Dafür sind wir sind zu schnell und zu lange gefahren, sind schon den ganzen Tag gefahren. Heute morgen sind wir losgefahren. Immer an Straßen entlang und durch Dörfer und so. Jetzt sind wir in der Stadt, sind gleich am Fluss. Aber deshalb sind wir ja noch immer nicht da. Deshalb muss Papa die Mama noch immer suchen…

Sie kommen zum Fluss.

Der Fluss ist grau, die Strömung wie ein abfließendes Becken Spülwasser. Der Fluss fließt ruhelos durch den trüben Novembernachmittag.

Hinter dem Brückenpfeiler taucht die Anlegestelle der Fähre auf. Das Licht, der Fluss, die Fähre - alles wirkt verwaschen, und alles riecht feucht. Nach Regen.

Da ist die Anlegestelle - schmutzige Steine, von der die weiße und rote Farbe abblättert.

Die alte Fähre ist grau.

Wie der Fluss. Wie das Kraftwerk. Am anderen Flussufer. Grau ist die Farbe der Jahreszeit, grau die Farbe der Stadt - und der Begrüßung. Für einen einzelnen Mann auf einem Fahrrad. Für einen einzelnen Mann, der sich auf seinem Fahrrad abstrampelt mit zwei Kindern. Für die drei auf dem Fahrrad, die an diesem trüben Novembersonntag zur Anlegestelle, zur Fähre kommen.

Der Mann tritt in die Pedale. Der Fahrtwind hat ihm die Kapuze von seinem Helm gezogen. Er schwitzt, ist abgekämpft. Er keucht leise und schnauft gegen die Wollmütze des Mädchens. Der lange und pralle Rucksack auf seinem Rücken ist riesig, sieht aus wie ein Stück Baumstamm.

Das Rad rollt aus, die Speichen tickern.

Das kleine Mädchen fummelt an seiner Wollmütze, reckt den Hintern und sieht gespannt nach der Fähre, während der Mann vor der Rampe abbremst.

Papa sucht Mama. Da müssen wir rüber. Mama ist fortgefahren mit ihrem Auto, ihr Auto, weil Papa, der kann nicht Autofahren. Mama ist morgens fortgefahren und nicht mehr zurückgekommen. Wo ist Mama, hab ich ihn gefragt? Jetzt ist sie noch einen Tag länger fort, als vor einer Woche, so hat Papa gesagt. Das hat er gesagt. Mama ist irgendwo da drüben, da in der Stadt. Da müssen wir rüber, müssen in die Stadt. Den ganzen Tag schon Sitzen, schon seit heut morgen, da war’s noch nicht hell und jetzt wird’s schon wieder dunkel.

Unter Ächzen steigt der Mann vom Sattel, schwankt unter dem schweren Rucksack.

Der Mann und die Kinder sind die ersten Passagiere.

Die Fähre hat Platz für sechs Autos, liegt vertäut, liegt fest, liegt ohne die geringste Schwankung im schnellen und ruhelosen Fluss.

„Papa!”

Das kleine Mädchen quengelt, wird von ihrem Vater aus dem Sitz gehoben, bevor der Mann das Rad samt schlafendem Säugling vorsichtig über die runtergelassene Rampe auf die Fähre schiebt.

Der Mann ist erschöpft. Er stellt das Fahrrad kurz ab. In seinem verschwitzten Gesicht liegt der Ausdruck einer lange geübten Duldsamkeit.

„Nicht an den Rand, Lotte!” zieht er mühsam den Rücksack ab, verkneift das abgekämpfte Gesicht, während er seinen Rücken dehnt, seine Schultern massiert.

Das Mädchen zieht die festgeschwitzten Kinderjeans von seinem Hintern, macht einen ausgelassenen Satz auf der Stahlplatte der Fähre, sieht kurz zum offenen Unterstand der Fähre, springt zur Reling und sieht über den Fluss. Zur Stadt.

Papa sucht Mama. Warum? Das weis ich auch nicht. Ich habe Papa gefragt, aber er hat nur gesagt, wir müssen, und ob Mama mir nicht fehlt? Nein, Mama fehlt mir nicht! Warum denn? Mama soll fortbleiben, hab ich ihm gesagt. Wenn sowieso der Kinderbus mit Tante Bettina kommt und uns mitnimmt, für was brauchen wir Mama mit einem Auto? Armer Papa. Papa hat geweint, nicht gleich, aber später, hat ins Telefon gesprochen und dann geweint, hat mich angeguckt, so festgehalten und geweint. Nein, ich hab meine Mama nicht lieb, ich kann Mama mit ihrem Parfüm nicht lei den. Mama ist eine blöde Kuh. Und was die kochtschmeckt wie Kotze. Es gibt Mamas, die sind toll! Wie die Mama von Larissa, meiner Freundin. Aber nicht meine Mama. Die ist gar keine richtige Mama. Warum soll ich die also vermissen und gern haben, wenn sie so einfach fortgeht? So eine Mama braucht doch keiner! Soll fortbleiben. Warum so eine denn suchen gehen? Wenn meine Mütze weg ist oder mein Album, dann such ich. Aber so. Und dann - die Stadt, da wird der arme Papa viel suchen müssen. Da fehlt ihm das Auto mit dem Mama fort ist. Und dann hat Mama auch noch Beine, liegt ja nicht rum wie so ’ne Mütze. Und so viele Tage sind schon her, dass sie fort ist, sieben und heute. Nein, das dauert doch ewig und ich kann keine Maus gucken, muss mit, weil ich mit muss, sagt Papa.

Im offenen Unterstand der Fähre steht ein Mann, trägt eine verwitterte schwarze Basecap. Vorgebeugt, mit dem Rücken zu den Passagieren, blättert er auf einer Ablage in einem Heft, raucht.

Dann dreht der Fährmann sich er um, kommt vor.

Unrasiert. In einer engen Regenjacke. Mit zusammengekniffenen Augen, die Kippe im Mund. Beim Anblick seiner ungewöhnlichen Passagiere zieht der Fährmann die Stirn hoch.

Für gewöhnlich überqueren im Winter kaum Passagiere den Fluss per Fähre. Dafür gibt es die Brücke. Vor allem nicht mit Rad. Denn die Radsaison endet spätestens Ende September. Mit den Ausflüglern.

„Nicht über den Rand lehnen, Lotte! Muss ich’s noch mal sagen?”

Der Rucksack landet sanft auf der langen Metallbank.

„Mach ich ja gar nicht, Papa.”

„Doch! Füße unten lassen!“

Der Fährmann steht da, betrachtet den Vater.

„Hallo”, ruft der Vater, schiebt das Rad in einen Ständer an der Reling, klappt den Ständer runter.

„Was kostet denn…”, hantiert der Vater am Reißverschluss seiner Jacke, fingert mit seinen Handschuhen umständlich nach seinem Geldbeutel. Der Fährmann kommt näher. Er lächelt, betrachtet seinen Passagier jetzt mit nachsichtigen Ausdruck.

„Zweifufzig - für Sie. Und zweifufzig fürs Rad“, meint der Fährmann, hat beim Reden die Kippe im Mund.

„Und die Kinder?“

„Kosten hier nix.”

Der Fährmann steht da, hält die Hände in den Jackentaschen, wartet schweigsam aufs Geld.

„Füüüünnnnf … Moment, ich hab’s glaub ich klein.”

Der Vater wühlt in seinem Geldbeutel.

Sein Zeigefinger stößt durch die Münzen.

Der Fährmann wartet, sieht vom Vater auf den Fluss. Irgendwo unter den Stahlplatten tropft es.

„So. Darf ich… entschuldigen Sie, aber dann werde ich das auch mal los…”, schwatzte der Vater verlegen. Teilnahmslos öffnet der Fährmann seine Hand, auf die ihm sein Passagier…

„…viervierzehnvierzwanzig, vierzig.... “.

Nach Art der Umstandskrämer zählt ihm der Vater einen Haufen Münzen auf die Hand.

Aber der Fährmann sieht gar nicht auf die Münzen, beachtet nicht, ob der Mann ihm jetzt Münzen oder Unterlegscheiben übergibt. Er betrachtet nur das Gesicht des anderen, der die Münzen sorgfältig abzählt.

„Wie lange... ich meine, wann fahren… fahren sage ich... ich meine, wann setzten Sie denn über?”

Der Fährmann schließt die Faust, zieht an seiner Kippe, schiebt den Ärmel zurück.

„Um vier. Zehn Minuten”, schnippt er beim Fortlaufen die Kippe über Bord, schiebt die Basecap ins Gesicht und verdrückt sich wieder in seinen Unterstand.

Der Säugling schläft. Ein armlanges, wulstiges Paket mit einer kleinen Nasenspitze, dass der Vater aus dem Kindersitz nimmt und sich damit auf die Metallbank an der Reling setzt.

„Lotte! Lass jetzt mal den Mann in Ruhe und komm her. Komm her, Lotte. Kommst du jetzt bitte…”

„Neugierig, hm?” lächelt der Fährmann über die Schulter, zwinkert dem Mädchen zu. „Noch nie die Fähre genommen, wie?”

Das kleine Mädchen schüttelt den Kopf.

Der Fährmann lacht. Ein kurzes, wissendes Lachen.

„Lotte! Zu mir. Sofort!”

Das Mädchen sieht noch einen Moment zum Fährmann. Mit großen Augen. Dann läuft sie eilig zu ihrem Vater. Aber sie steift ihren Vater nur, stößt sich wieder ab von seinem Knie, läuft direkt zur Reling gegenüber der Metallbank. Dort stellt sie sich auf die Zehenspitzen, legt

ihr Kinn aufs kalte, glatte Geländer und schaut schräg über den Fluss. Während ihr Vater seufzt.

Das Mädchen sieht zur Stadt. Mit ihren Schornsteinen und Fabriken. Und ihren Chemiebetrieben.

Das ist Rheinhafen: Fabrikstadt, Arbeiterstadt. Und das Mädchen sieht den breiten, grauen Abschnitt der flachen Hafengebäue, sieht die Brücke, über die jetzt der Feierabendverkehr rollt, sieht schnelle Autolampen, einzelne Hochhäuser und noch mehr betongraue Bauten. Und alles ist leicht eingetrübt vom November, von diesem Novembertag, der schon jetzt, kaum ist es Nachmittag, zu Ende geht.

Das Mädchen macht keine Bewegung, steht still an der Reling der Fähre, ihr Kinn auf dem Geländer. Selbst ihr Kopf bleibt reglos. Aber ihr Blick springt hin und her, Aus der Ferne und vom andern Ufer. Über die Stadt. Dort sind Schornsteine. Ein ganzer Haufen. Kurze, lange, dünne und dicke Schornsteine.

Nördlich liegt die Uferpromenade, auf der noch einzelne Leute entlang gehen. Und alle wie Ameisen. Winzig klein. Südlich stehen die bauchigen, haushohen Gastanks, Nr. 66, 67, 68. Aus allen Schornsteinen steigt Rauch, Fadenrauch, gleichmäßige, gerade Fäden, die sich in den Himmel kringeln.

Der November mit seinem gleichmäßigen Hellgrau verdeckt den dünnen Rauchschleicher, der fest über der Stadt hängt.

Das Mädchen sieht noch immer zur Stadt, steht dabei auf Zehenspitzen und hält ihr Kinn auf dem glatten Geländer der Reling. Aus der Wollmütze hängt ihr eine einzelne Haarsträhne, flattert im Wind.

„Eins, zwei… sieben… eins, zwei…“ , zählt sie leise die Schornsteine, verzählt sich wieder. Sie schnauft, reibt ihr Kinn übers Geländer, geht über zu den Häuser.

Viele Häuser, da kann man sich gut verstecken. Und dann noch mehr Zimmer, viel mehr Zimmer. Und vielleicht lebt Mama jetzt auch im Auto oder ist weiter fortgefahren mit dem Auto, wohnt jetzt ganz woanders. In einer ganz anderen Stadt und bei einer anderen Freundin, als Papa glaubt… weis man das? Wer weis denn da was? Da weis doch keiner irgendwas… Ach, Mama soll von mir aus da drüben bleiben.

Mit trotzigem Ausdruck nimmt das Mädchen ihr Kinn vom Geländer, zieht die Handschuhe aus, kramt verstohlen in ihrer Jackentasche, holt einen roten Wachsmalstift vor.

Unauffällig gleitet ihre Hand zur Bordwand.

„Ich sehe dich, Lotte! Sofort den Stift weg!”

„Ich mach doch gar nix, Papa!“

„Doch, du machst was! Gib mir den Stift her!“

„Och, Papa…“

Missmutig schleicht das Mädchen zu ihrem Vater, der ihr den roten Wachsmalstift abnimmt. Einen Moment hält der Vater den Stift ratlos in der Hand. Unterm verärgerten Blick des Mädchens steckt er ihn dann umständlich in seine eigene Jackentasche.

„Also bitte, sei vernünftig. Du kannst doch nicht das Boot hier anmalen. Wenn uns der Mann von hier runterschmeißt - sollen wir da rüberschwimmen?“ Komm her, Lotte“, meint er sachte.

Das Mädchen setzt sich neben ihren Vater, lehnt sich erst an seine Schulter, seufzt und lässt schließlich ihren Kopf auf seinen Schoß sinken.

Der Ausflug ist so anstrengend.

Der Vater gibt ihr Zuspruch.

„Ich weis ja, dass du müde bist, bin ich auch. Wir haben’s ja bald. Drüben suchen wir uns ein billiges Zimmer und ruhen uns aus. Und morgen geh ich zu Mamas Freundin. Was ist? Ist das kein Abenteuer, hm?”

Im einen Arm den Säugling, fasst der Vater seine Tochter mit seinem freien Arm, drückt sie an sich und beugt sich vor. Mit geschlossenen Augen fährt seine Nase an ihrem müden Gesicht hinauf, und er atmete zwei Züge lang tief ein.

Mit ohrenbetäubenden Rattern springt der Motor der Fähre an. Die Stahlplatten, die Reling, die ganze Fähre, selbst das abgestellte Fahrrad vibrieren.

Die Rampe fährt hoch, rastet ein mit einem Scheppern. Dann ertönt das spitze Hornsignal, durchdringt den Motorenlärm.

„Setz dich, Lotte.“

Man spürt die Erschütterungen im ganzen Körper, in den zitternden Beinen, in den Knien. Unter den Passagieren kracht etwas. Der Stahl knackt und knarrt, gehorcht der lauten Kraft der versteckten Maschine.

Einen Moment liegt Benzingeruch in der Luft.

Dann geht es los. Über den Fluss.

Schwerfällig legt die Fähre ab. Mit ihrer mageren Ladung. Mit nichts weiter, bis auf ein Fahrrad, einen Familienvater und seine beiden kleinen Kinder.

November ist ein schweigsamer und schwerer Monat, und keine gute Saison für Ausflüge oder Reisen. Schon gar nicht für Radfahrer oder Wanderer.

Die Fähre setzt über, und das Mädchen merkt auf. Ihre Neugier ist zurück, vertreibt ihre Müdigkeit. Unter Ermahnungen läuft sie wieder zur gegenüberliegenden Bordwand, hält Ausschau.

Mit gekrümmtem Rücken und unbeweglich wie eine Wachsfigur, steht der junge Fährmann in seinem Unterstand, während die Fähre, wie an der Schnur gezogen, gemächlich über den Fluss rumpelt. Zum andern Ufer. Mit einem starken Ruck legt man an. Der Motor der Fähre furzt aus, das ohrenbetäubende Rattern stirbt schlagartig. Aber der Ruck hat den Säugling im Arm des Vaters längst aufgeweckt.

Und schon plärrt der Säugling los.

„Nein, nicht jetzt, Amalia! Das muss doch jetzt nicht sein, duuu”, stöhnt der Vater, hievt den Rücksack wieder auf seinen Rücken, ruft seine Tochter.

Man macht sich bereit. Der Kindersitz wird wieder auf den Gepäckträger geschnallt. Das Rad ausgerichtet.

Die Rampe kommt runter, scheppert.

Man ist angekommen. Am andern Ufer. In der Stadt.

Bis hierher war alles einfach. Der Weg vorgezeichnet. Jetzt wird es kompliziert, braucht es einen Plan.

Da stehen Vater und Tochter, und ihre Beine zittern noch vom Vibrieren der Fähre.

„Jetzt gehen wir mal ein bisschen spazieren, Lotte. Dir tut doch auch der Hintern weh vom Sitzen, oder?” versucht der Vater seine Tochter aufzumuntern.

Er schiebt das Rad über die Rampe, zieht dabei das Plärren des Säuglings hinter sich her.

„Ahoi! Und viel Glück für euch!”

Der Vater dreht überrascht den Kopf, sieht zum Fährmann, der am verwitterten Unterstand lehnt. Die Kippe im Mund hebt er zum Abschied den Arm, grinst.

„Danke”, nickt der Vater leicht verwirrt zurück.

In Gedanken irrt er schon durch die Stadt und sucht -eine Unterkunft, seine Frau, aber vor allem einen Platz im Warmen, wo er dem Säugling in Ruhe die Pampers wechseln kann.

„Tschüss, Herr Kapitän!” macht das Mädchen noch einen Schritt Richtung Fährmann, winkt.

„Fährmann“, zwinkert der Fährmann zurück.

Man bricht auf. In die Stadt.

Ein Vater mit seinen beiden Kindern und einem Fahrrad. Mit einem plärrenden Säugling und einer Fünfjährigen. An einem trüben Sonnabend, Anfang November, an dem es jetzt, nachmittags, schon dunkel wird.

„Hey!“

Nochmals sieht der Vater zum Fährmann.

„Wir fahren jede Stunde, immer zwischen sechs und sechs. Außer Sonntag. Da fahren wir alle zwei Stunden. Übrigens: nächsten Sonntag geht die letzte, dann wird der Betrieb über den Winter eingestellt.“

„Danke. Komm, Lotte. Wir gehen.“

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Straßen, Gehwege, Schritte…

Sie gehen.

Schritt um Schritt. Und weiter. Durch die Stadt.

Mit den Schritten. Den kleinen Schritten neben den großen Schritten. Den vielen Schritten, die sich weiter dahinschleppen. Ins Ungewisse.

Dazu die beiden schmutzigen Fahrradreifen, schmutzig von Straßenstaub und feinem Sand klebt.

Und weiter. Voraus, vorüber. In die Dunkelheit.

Es sammeln sich die Schritte, sammeln Straßen, Gehwege, Schienen… Es dreht sich der schmutzige Radreifen, mit Straßenstaub und feinem Sand, hüpft unverdrossen weich über Bordsteine, rollt wachsam vorbei an Hundescheiße.

Da geht der Mann, beladen mit seinen Sorgen. Ein verlassener Ehemann. Geht schweigsam, allein mit seinen beiden störrischen Kindern durch die dunkle Stadt.

Wohin?

Er weis es nicht, aber geht weiter. Mit seinem Anhang.

Er schiebt das Rad und trägt sein Kreuz, er trägt den schweren Rucksack auf seinem Kreuz.

Da geht der Mann, geduldig und duldsam, sucht eine Unterkunft. Während seine beiden Töchter unermüdlich quengeln und ihrem Vater den letzten Nerv rauben. Die Ältere motzt, will nicht mehr weitergehen. Die Jüngere plärrt, fordert unerbittlich ihr Recht.

Wohin?

Er weis es nicht, aber sucht weiter. Nach einem Platz, der ihm etwas die Last und die Gewichte nimmt. Nur für eine kurze Weile.

Denn der Mann ist erschöpft, ein müder und bekümmerter Vater, der sein schweres Rad mit den Kindersitzen nur noch mühsam über Bordsteine hebt, weiterschiebt, um hohe Hausecken drückt.

Und das Kreuz wird immer schwerer. Mit jedem Schritt. Der Rucksack immer größer und gewaltiger. Zum unerbittlichen Feind, den er auf seinem gekrümmten Rücken freiwillig mitschleppt. Während er selbst unter der Last mehr und mehr einschrumpft. Mit jedem Schritt, jeder Minute. Den vielen Schritten und vielen Minuten.

Noch eine Straße, noch eine Kreuzung. Noch immer kein Ziel, keine Unterkunft.

„Papa, wie weit denn noch?“

„Nicht mehr weit. Bald.“

Das Mädchen verzieht erst das Gesicht, schlurft ein Stück, aber schließt wieder auf, geht weiter nebenher.

Der Säugling hat aufgehört zu Plärren, im Moment eine Pause eingelegt.

Die Schritte sammeln Straßen, die Minuten fordern Kraft, legen die nächste Straße vor die Schritte.

Der müde Mann geht langsam, hält das quengelnde Mädchen eisern an seiner Seite.

Neben ihnen, auf der Fahrbahn, rollt der Abendverkehr durch die Dunkelheit. Auto an Auto an Auto.

Man fährt. Bequem. Mit Annehmlichkeit. Im Sitzen.

Während der müde Mann zu Fuß geht. Der müde Mann, beladen mit Rucksack und Kindern. Der müde Mann, der seit heute morgens unterwegs ist und jetzt die dunklen Straßen durchquert, Minuten und Schritte abläuft. Aber der müde Mann geht weiter. Denn der müde Mann ist kein Gegner für den müden Vater, der immer weiterläuft, unverdrossen das Rad schiebt, seine Kinder von einer Straße in die nächste trägt.

Und wohin jetzt?

Aushalten, durchhalten! Weiter. Dorthin!

„Papa... Papa, ich will sitzen, ich will ’n Kaba!”

„Wir haben’s bald.”

Der Vater hält Ausschau.

Wo kann man hier absteigen? Wo übernachten?

„Papa, ich kann bald nich’ mehr.”

„Du kannst noch. Wenn ich kann, kannst du auch. Komm, ich geh auch langsamer. Komm, Lotte, wir ha-ben’s bald. Sing mir doch noch mal das Lied von diesem Käfer. Wie geht das doch gleich?”

„Will jetzt nicht singen! Will sitzen und will ‘n Kaba!“ mault das Mädchen. „Ach, alles nur wegen Mama!”

„Mama ist deine Mama! So, stehen bleiben, die Ampel. Wie hießt es an der Ampel?”

„Aber Papa… Grün gehen, rot stehen.”

„Gut. Sooo. Weiter geht’s.”

„Papa, wie weit gehen wir denn noch?”

„Bis wir da sind.“

„Und wo?“

Ja, wo? Wohin?

Weiter!

Wieder plärrt der Säugling los, doch jetzt schon leiser.

Minuten schieben Straßen, schieben erleuchtete Hauseingänge, eine Tankstelle, schieben geparkte Busse und Autos, schicken Kälte und Fabrikgestank.

Der Vater schnauft. Nichts da zum Hinsetzten, nichts zum Ausruhen in Sicht. Keine Treppe, keine Sitzbank. Und der kiloschwere Rucksack, ganz ein Abbild großer Sorgen, drückt. Mit seinem Gewicht aus Kinderklamotten, Windeln und Kleinkram. Der Rucksack krümmt seinen Rücken immer tiefer.

Mit jeder Bewegung, jeder Stunde.

Dazu die Kinder. In einer fremden Stadt.

Der Vater ist runter mit den Nerven, wird ungeduldig. Sein Blick hastet nur noch die Gebäude entlang, sein angespanntes Gesicht sagte alles.

„Papa, warum müssen wir Mama denn suchen? Für was brauchen wir die?”

„Lotte, bitte nerv jetzt nicht. Ich muss… hier.” Das Rad stoppt, steht still. Auf dem Gehweg. Mitsamt Vater und Kindern. Vor dem beleuchteten Schild an der Hausfront:

UNSCHULD

Speiselokal, Zimmervermietung

Die Fester sind hell und Schild verspricht.

Und alles ist wie gemacht und kommt wie gerufen. Das Schild, das Licht und das Versprechen. Wird wie eine Rettung gegen Erschöpfung und Hunger aus der Tiefe der dunklen Straße direkt vor ihre Füße gespuckt.

Vielleicht gibt es dort sogar Kaba.

Der Mann sieht zu seiner Tochter und lächelt:

„Und? Reingehen?”

„Ja! Reingehen.”

Das Mädchen wartet nicht erst. Sie springt sofort los, hat schon den Türgriff in der Hand, die Tasse Kaba in Reichweite. Sie reist die Tür auf, reißt die Zwischentür auf und stürmt in die Gaststätte. Direkt ins Licht und in die Wärme. Dann steht sie. Unsicher und wie angewurzelt. Getroffen vom Blick der beiden unbekannten, wässrigen Augen.

Einen Moment glotzt das Mädchen misstrauisch in diese beide Augen, die sie mustern.

In der Gaststätte ist nichts los.

An einem Tisch, in der Ecke, hockt ein verhutzeltes Männlein und schürft zittrig einen Teller Suppe.

Nur an der Theke, an der zwei alte Typen abhängen, wird gequatscht. Das ist alles.

Noch immer steht das Mädchen reglos, sieht unsicher in die beiden wässrigen Augen. Sekundenlang.

Bis die Augen zu einem Gesicht und zu einer Frau werden - zum verwelktem Gesicht der fetten Wirtin, einem Gesicht wie ein abgefingerter Pfirsich. Und plötzlich lächelt dieses Gesicht, strahlt über den unverhofften Anblick des Kindes.

Im Vorraum klappert etwas. Das Rad wird abgestellt. Dann kommt der Vater in die Gaststätte. Mit Rucksack und Säugling. Und das Wimmern begleitet ihn, lenkt die Aufmerksamkeit der fetten Wirtin von der Kleinen zum Bündel, das er trägt.

Das Mädchen kommt wieder zu sich, sieht von der Wirtin zur Theke und quer durch den Speisesaal.

Die Einrichtung der Gaststätte ist schäbig und billig. Abgenutztes Holzimitat, Pressspan, alles furniert oder aufgeklebt. Die Holzverkleidung der Decke und Wände. Selbst an den abgestoßenen Tisch- und Stuhlkanten blättert das Holzfurnier. Und auf den Tischen liegen ausgewaschene, rotkarierte Deckchen.

„…werd ich da gar nichts machen, werd mich tot stellen, sollen die Arschlöcher doch...”

Hinter der Theke ein versoffenes und bitteres Männergesicht, rot wie Pökelfleisch - der knochige Wirt plaudert, hat seine knochigen Ellbogen auf die Theke gestützt, schielt kurz nach den neuen Gästen.

Die beiden Hinterköpfe an der Theke bleiben starr, hören, was der versoffene Wirt erzählt, nicken.

An dem Mädchen zieht jetzt emsig ein breiter Schatten vorüber. Die fette Wirtin hat das Bündel gesehen, sein hilfsbedürftiges Wimmern gehört und muss eingreifen.

In ihrem blechgrünen Wollpullover, den das Mädchen neugierig betrachtet. Denn dieser Pullover schimmert im Licht wie Lametta.

„Kann ich Ihnen helfen?”

„Danke, es geht. Nur das Rad…”, erwidert der Vater leise, schnauft durch.

„Lassen Se das Rad man ruhig da vorne stehen. Das klaut hier schon keiner“, lacht die fette Wirtin laut. Ihr Gelächter klingt wie ein Wiehern.

Das Mädchen reißt sich die Wollmütze vom Kopf, verliert endlich ihre restliche Scheu. Und schon hockt sie an einem der Ecktische, die Hände nach Art der Erwachsenen brav auf der Tischdecke, ganz wie ein höflicher Gast, der geduldig wartet.

Ihr Vater und die Wirtin hantieren nun gemeinsam an dem wimmernden Bündel, das die Gaststätte belebt.

Die Wirtin hält den Säugling. Mit ihren lila lackierten Fingernägeln. Sie hat ihn sofort an ihre Brust gedrückt, riecht die Scheiße und grinst.

Während der abgekämpfte Vater seinen Rucksack abschnallt, stellt die Wirtin fest:

„Dem muss man die Windeln wechseln.“

„Danke“, nimmt der Vater ihr das Bündel wieder ab, steht plötzlich am Tisch neben seiner Tochter. Ganz verlegen steht er da, muss Umstände machen.

„Verzeihen Sie, haben sie hier vielleicht - ich müsste der Kleinen…” wird der Vater kleinmütig.

„Na, Kleines?” grinst und zwinkert der Wirt, der unsichtbar am Tisch aufgetaucht ist. Ein kleines, hageres Männchen, dem ein Paar ausgewaschene Jeans um seinen Flacharsch schottern.

„Was denn, was denn! Geh weg da, Holzkopf. Das erledige ich selber”, pfeift die Wirtin ihren Alten an.

Ihr scharfer Blick erledigte ihn.

„Schongut-schongut”, zieht der versoffene Wirt, unterm Rüffel seiner Alten, sofort den Schwanz ein und schickt seine spöttische Spitze hinterher:

„Natürlich mein Blümchen, mein Gänseblümchen.”

Aber sein Spott bleibt wirkungslos. Die Wirtin ist bereits ganz erfüllt von herzlicher Fürsorge, hat nur noch Augen für die beiden Kinder.

„Oh, duuuu… Ja, wer wird denn jammern? Nicht doch, nicht doch, bu-bu-bu-bub-bu”, wackeln ihre Fettfalten.

„Bu-bu-bub-bu”, äfft der versoffene Wirt leise und verdrossen, während er vernichtet abzieht.

Jedes mal! Warum lässt er sich auch immer wieder?

Und bleibt nicht hinter der Theke, wo er hingehört?

Endlich ziehen die neuen Gäste ihre Jacken aus.

„Verzeihen Sie, ich glaube, ich muss...”

„Na, lassen Se mich das mal machen“, meint die Wirtin, übernimmt das Bündel. „Die Pampers?“

Unter Erklärungen und Entschuldigungen wühlt der Vater ungeschickt einige Kleidungsstücke auf einen der Stühle. Bis er die Pampers hat.

„Jetzt setzen Se sich erst mal, ich übernehm’ das. Hab selber zwei gehabt, bin längst Oma, kann’s also noch. Also!“ sieht sie vom Vater auf den Säugling. „Ja, ja. Den Stinker haben wir zwei im Handumdrehen. Her mit den Pampers. So, wir kommen gleich wieder. Und Sie setzen sich jetzt mal hin. Sie fallen ja gleich um.”

Behutsam trägt die Wirtin das Bündel aus dem Speisesaal. Während der Vater ihr unsicher nachsieht, sich endlich setzt, unruhig nach der Schwenktür sieht, hinter der sie verschwindet.

Sein Kind ist in fremder Obhut. Aber was kann er schon tun? Nichts kann er tun. Nur sitzenbleiben, abwarten und mit besorgtem Gesicht die Schwenktür zur Küche beobachten. Gegen die herrische Fürsorge dieser fetten, alten Frau ist selbst ein Vater machtlos.

Das Mädchen stöhnt, legt ihren Kopf auf den Tisch.

„Lotte…“, streichelt der Vater seiner Tochter den Kopf.

„Papa, du machst mich ganz strubbelig”, hebt das Mädchen den Kopf, streicht ihren Pony zurecht, rutsch auf dem Stuhl zurück, verschränkt die Arme und wirft ihrem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Und mein Kaba?”

„Gleich. Sobald deine Schwester wieder bei uns ist.”

Das Mädchen pustet die Backen, hantiert unterm Tisch.

Der Vater hält Ausschau, sieht erleichtert die Bewegung der Schwenktür, sieht die Wirtin, das Bündel.

„Lotte!”

Der Vater hat aufgepasst. Seine Hand schiebt sich über den Tisch, kassiert den nächsten Wachmalstift.

„Hallo, darf ich…”, steht plötzlich wieder das Säufergesicht des Wirts am Tisch. Mit Stift und Block.

Aber die Bestellung misslingt.

Im nächsten Moment ist die Wirtin zurück, zischelt, verdrängt mit ihrer Masse ihren Alten vom Tisch.

„So, da sind wir wieder. Alles bestens“, grinst die Wirtin, übergibt das Bündel und nimmt ihren Alten aufs Korn: „Was willst denn du hier schon wieder?”

Mutig nimmt das kleine Männlein einen neuen Anlauf.

„Na, ich wollt aufnehmen”, weist er seiner Alten, wie Beweisstücke, Stift und Block vor. Aber die Beweisstücke finden keine Aufnahme. Stattdessen kriegt er eine drüber:

„Wasss?! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst verschwindenm hm?” Scher dich gefälligst hinter die Theke, Mann, wo du hingehörst.”

„Wollt doch nur die Bestellung machen…“, grummelt der der Alte leise. Die kleinen, knochigen Schultern eingezogen, gibt er endgültig auf und zieht ab. Mit seinem nutzlosem Stift und Block. Dabei verfolgt vom grimmigen Blick seiner Alten, die ihren Lockenkopf wieder zum Tisch dreht, sofort umschaltet und ihre Gäste angrinst:

„So, was kriegen wir denn?”

„Kaba! Warmer Kaba!”

„Lotte…“, stöhnt der Vater, steckt beiläufig den gelben Wachsmalstift in seine Jackentasche. Zum roten.

Die Wirtin nickt entschieden, zwinkert:

„Gemacht. Für dich warmer Kaba, Engelchen! Und Sie nehmen?”

„Vielleicht ‘ne Apfelsaftschorle”, meinte der Vater, wirkt kleinmütig: „Was kostet denn eine große?”

„Die Große? Vier Euro.”

„Oh, dann eine Kleine, bitte”, erwidert er verlegen.

Das Geld in seinem Geldbeutel ist auf Kante, muss die nächsten paar Tage ausreichen. Für die Kinder und ihn. Zur Bank kann er nicht. Der Monat hat erst angefangen. Notfalls muss er eben ganz verzichten.

Denn das Bisschen reicht gerade fürs Essen und die Übernachtung. Mehr ist nicht drin. Vor allem, da in der Stadt alles teurer ist.

Die Wirtin betrachtet kurz den Vater.

Immer und überall das Gleiche. Kein Geld, aber Scheiße am Hals. Das sieht und riecht man. Hängt da wie ein Schluck Wasser in der Kurve, kriegt bald die Augen nicht mehr auf… Und muss noch den Arsch zusammenkneifen, sonst wird’s düster… Ganz klar, der Mann ist mit seinen beiden Kleinen auf der Durchreise. Vielleicht zur Mutter? Und die Mutter? Keine Ahnung.

Aber sie wird schon bald dahinter kommen…

Eins ist sicher, wird ein Mann zum Vater, muss er seine Gewohnheiten häufig grundlegend ändern.

Aber steht ein Vater, der noch dazu nicht viel verdient, plötzlich alleine mit zwei Kindern, muss er sich selbst völlig umkrempeln.

Von unten und oben drücken Sorgen. Von hinten die Arbeit und von vorne Ängste. Und alles, was man dagegen tun kann, ist bescheiden und sparsam, geduldig und unnachgiebig bleiben, die Arschbacken zusammenkneifen, in die Knie gehen, dabei den Kopf hochnehmen und das Beste hoffen.

Nur so kommt man mit Anstand über die Runden, und bringt seine Kinder durch. Egal, ob Männlein oder Weiblein. Immer das alte Lied. Einer ist wohl immer der Dumme und muss die Suppe auslöffeln.

Na, man wird ja sehen…

„Apfelschorle!“ bestätigt die Wirtin.

„Und Honigbrot! Ich will Honigbrot.”

„Lotte… Nein, danke. Sagen Sie…”

„Einmal Honigbrot, aufs Haus”, lächelt die Wirtin und sieht zum Vater.

„Was wollten Se fragen?”

„Sie vermieten Zimmer, nicht?”

Die Wirtin nickt.

„Jawohl, fast alles frei im Moment“, stemmt sie jetzt die Faust in ihre fette Hüfte, sieht vergnügt auf ihren Gast. „Und jetzt fragen Se sicher, was ein Zimmer die Nacht kostet, stimmt’s?”

„Wenn’s nicht zu teuer ist, würde ich…“ meint der Vater leise, „… würden wir die Nacht gern hierbleiben.” Die Wirtin seufzt, verkneift den Mundwinkel und schüttelt ihren Kopf.

Der Mann ist wirklich ein Weichei, stellt sich an…

„Mensch, Sie machen’s einem ganz schön schwer - und auch sich selber. Stimmt’s? Sie sind doch so einer.”

„Vielleicht”, meint der Vater.

In seinem Bart hängt ein unsicheres Lächeln.

„Okay, sagen wir fünfzehn Euro. Sie bleiben. Gut?” bietet die Wirtin ihrem Gast den Handschlag.

„Danke, ich nehme an.”

„Ach ja, Kaba - Apfelsaft - Honigbrot“, sieht die Wirtin zum Mädchen. „Richtig, Engelchen?”

„Honigbrot!”

„Jawohl. Und mit ganz viel Honig. Und nach dem Essen zeig ich euch das Zimmer.”

Die Wirtin verlässt den Tisch.

Da sitzt also der erschöpfte Vater, hat das schlafende Bündel neben sich gelegt, schickt seiner Tochter, der die Augen zufallen ein müdes Lächeln und wartet

Aber die Bestellung kommt im Handumdrehen.

„Hier Engelchen, dein Kaba, und - das Honigbrot. Und einmal Apfelschorle. So”, stellt sie ein großes Glas ab.

„Entschuldigen Sie, ich...” ruft der Vater leise.

„Ach, passt schon, kostet heut das gleiche wie eine Kleine. Hier, ein Brot mit Leberwurst. Sie essen doch Leberwurst, oder? Also, dann. Sie können’s vertragen.”

Die geschmierten Brotscheibe auf dem Teller ist so dick und groß wie eine Stiefelsohle. Daneben liegen zwei Gewürzgurken.

„Danke.”

Nachdenklich fasst der Vater nach dem großen, kalten Glas, betrachtet gedankenverloren das Getränk, in dem die Kohlensäure aufsteigt… aufsteigt, aufsteigt…

Plötzlich steigen ihm Tränen in die Augen.

Der Vater seufzt, hebt das kalte Glas, vertuscht seinen Kummer, reibt sich eilig die Augen.

Aber sein Blick trifft auf die wässrigen Augen der Wirtin. Nur ganz kurz sieht er zur Wirtin. Aber das reicht.

Die Wirtin riecht Lunte.

Der Moment ist da. Und schneller als gedacht.

Jetzt gilt es.

Einen Tick leiser als bisher, fängt sie an:

„Jetzt sagen Se mal, wo wollen Se eigentlich hin mit ihren Beiden?“

Der Vater zögert, streicht verlegen seinen Bart. Er seufzt wieder. Aber der beharrliche Blick der Wirtin öffnet ihm den Mund:

„Ja, entschuldigen Sie, das ist nicht so leicht zu erklären. Ich weis nicht, ob ich Sie damit aufhalten soll. Ich meine, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber das ist alles nicht so einfach.”

Er redet leise, verzagt, sitzt in kleinmütiger Haltung. Während seine Tochter neben ihm über die Tasse pustet, den Kaba schlürft, dazu fleißig das Honigbrot mampft.

„Danach sieht’s auch nicht aus“, lächelt die Wirtin. „Ein Vater allein unterwegs, mit so zwei. Wo kommen Se denn eigentlich her? Sie sind nicht aus der Stadt hier. Das hört man. Ich würd’ sagen, Sie sind von irgendwo hinterm Odenwald, stimmt’s?”

„Die Richtung stimmt. Aus Hergenstadt. Im Neckar-Odenwald-Kreis. Gehört zu Adelsheim”, nickt der Vater.

„Tatsächlich? Hab ‘ne Cousine, die dort wohnt. Also, in Osterburken. Klingt so ähnlich. Deshalb bin ich drauf gekommen. - Und das sind Sie alles mit dem Rad gefahren?” zieht die Wirtin jetzt den leeren Stuhl am Kopfende zurück, setzt sich langsam hin. Völlig überrascht mustert sie dabei ihren Gast.

Jetzt wird es wirklich interessant! Der Sache muss man unbedingt auf den Grund gehen.

„Ich habe leider kein Auto. Nur meine Frau. Kein Auto, kein Handy und auch leider nur wenig Geld”, erklärt der Vater mit einem Lächeln. Halb verlegen, halb verzagt.

„Also Ihre Frau hat das Auto? Na, jetzt mal raus mit der Sprache. Ich fress’ Sie schon nicht.

- Kommen Se, ich weis, ich bin ‘ne alte Schnüfflerin. Aber hier gibt’s so wenig, über das man reden kann. Ich sag’s Ihnen. Und außerdem bin ich für Sie ‘ne Fremde. Da geht’s oft leichter mit dem Reden. Ich seh’ doch genau, dass es bei Ihnen brennt. Also…”

„Ich weis nicht. Eigentlich möchte ich keinen damit belasten. Und dann wollten wir ja auch bei Ihnen Übernachten.”

„Belasten? Was Sie denken! Jetzt kommen Se mal weg von Ihrer Denke. Reden Se mit der alten Schnüfflerin. Die kann sehr gut zuhören. Also, los! Wie ist das mit Ihrer Frau?”

„Meine Frau ist verschwunden. Das ist jetzt über eine Woche her“, seufzt der Vater. „Verzeihen Sie, es fällt mir schwer darüber zu reden.”

Die Wirtin brummt ihr Verständnis.

„Sie ist also fort mit dem Wagen? Hat Sie einfach mit den Kindern sitzen lassen. Ganz plötzlich, wie?”

„Ich will noch Kaba!” meldet das Mädchen, hat seine Tasse ausgeschlürft und sieht zur Wirtin.

„Lotte… wie sagt man?” stellt der Vater die Augen.

„Ja, bitte noch Kaba!“

Die Wirtin grinst.

„Jawohl, Kaba.“

Wie auf Kommando springt sie auf. Und wie schnell, für ihre zwei Zentnern Gewicht.

„Fortsetzung folgt. Nur ‘n Moment”, schnappt sie die Tasse. Mit ihren Lila lackierten Fingernägeln.

Der Nachschub Kaba kommt keine Minute später.

Die Wirtin schnauft: „Hier, Engelchen”, und lässt sich auf den Stuhl fallen. „Reden Sie weiter.”

„Es ist eigentlich vorher nichts Ungewöhnliches passiert. Gar nichts. Wenn wir uns vorher gestritten hätten - aber so“ erklärt der Vater. „Ich bin mir mittlerweile allerdings sicher, dass es mit dieser alten Freundin zusammenhängt, die vor zwei Wochen zu uns in den Laden gekommen ist. Damit muss es zusammenhängen. Bestimmt. Sie haben sich nämlich eine ganze Weile bei uns unterhalten.”

„Wie lange ist das noch mal her, dass sie jetzt fort ist?”

„Genau acht Tage. Sie hat gesagt, sie wollte einkaufen fahren. Wir haben noch zusammen den Einkaufszettel gemacht. So wie immer. Da war wirklich nichts besonderes vorher. Sie ist fortgefahren und ich habe gewartet. Aber abends war sie immer noch nicht da. Also habe ich versucht sie auf ihrem Handy anzurufen. Aber sie hat es wohl ausgeschaltet oder meine Nummer blockiert. Und mittlerweile bekomme ich gar keinen Empfang mehr.”

„Oh“, zuckt die Wirtin zurück, „das klingt aber gar nicht gut. Nein, das klingt sogar ziemlich übel“, betrachtet sie den Vater mit einem bedauernden Ausdruck.

„Und jetzt sind Sie ihr also mit den Kindern nach…“, fasst die Wirtin zusammen. „Aber wissen Sie denn überhaupt, wo genau sie hin ist?”

„Tja, ich habe leider nur den Namen dieser alten Freundin. Aber da meine Frau von hier, aus Rheinhafen kommt, und da diese alte Freundin hier lebt, da habe ich mir gedacht, dass ich sie hier irgendwo am ehesten finde“, erklärt der Vater, sieht unsicher zur Wirtin.

„Irgendwo? Hm, da haben Sie sich ja echt was vorgenommen. Das wird nicht ganz leicht - nur mit so einem Namen… Aber erzählen Sie mir noch mehr“, fordert die Wirtin, sieht zum Mädchen, das ihren Kopf wieder auf den Tisch gelegt hat. „Oh - bist müde, Engelchen, hm?”

„Wir waren den ganzen Tag unterwegs, seit heute morgen, um acht”, erklärt der Vater, bemerkt sein Glas und macht sich endlich ans Brot. Gierig trinkt er das Glas leer, beißt ins Brot. Er schlingt und schluckt, während er berichtet:

„Wir sind durch die ganzen Ortschaften gefahren. Ziemlich anstrengend mit den beiden. Ich versuche diese Freundin schon seit Tagen anzurufen, habe die Nummer von der Auskunft, aber da geht auch niemand ran. - Da fällt mir ein, haben Sie vielleicht ein Telefonbuch da? Da könnte vielleicht eine Adresse drin stehen.” Der Vater wird plötzlich unruhig, beugt sich vor.

Gutmütig bremst die Wirtin ihn aus:

„Jetzt machen Se doch mal langsam, Mann. Immer langsam und eins nach dem andern. Kommen Se erst mal richtig an. In Ruhe was essen, was trinken und runterkommen. Is immer besser, als sich abhetzen. Macht man nur Fehler. Glauben Se mir, die alte Schnüfflerin meint’s nur gut mit Ihnen. Ich hab so viel Mist gesehen, der bloß passiert ist, weil Gefühle im Spiel waren.”

Der Vater lehnt sich wieder zurück, er seufzt bekümmert, schiebt sich den letzten Bissen in den Mund.

„Sie haben sicher Recht. Aber glauben Sie mir, ich verstehe das trotzdem alles gar nicht. Es war ja vorher nichts zwischen uns vorgefallen, nichts anders, als bis zu diesem letzten Mittwoch, als sie verwunden ist. Da war alles in Ordnung - wie man wohl so sagt”, kehrt das verlegene Lächeln in sein Gesicht zurück. „Deshalb vermute ich ja, dass es mit dieser alten Freundin zusammenhängt. - Aber ich rede wie ein Wasserfall. Entschuldigen Sie, bitte. Ich wollte sie nicht mit meinem Privatkram belästigen.”

„Ich sag Ihnen doch, besser mit irgendeinem darüber geredet, als ‘n Knoten im Herz. Sowas macht bloß Verdruss, und zum Schluss hasst man und wird verbittert. Also raus damit, immer raus damit.”

Der Vater kaut, sein Unterkiefer stockt:

„Wissen Sie, ich bin da ziemlich schlicht - also mit dem Reden und überhaupt mit Worten… Und besonders

viel…”, zuckt er sachte mit den Achseln, “…Spaß war da nie zwischen uns. Also mit Witze machen oder so…

Ich bin nun mal keine besondere Nummer oder Unterhaltungskanone… Ich bin nur ein einfacher Gärtner. Da redet man nicht soviel… Wozu auch? Die Pflanzen hören sowieso nicht zu… Aber es stimmt schon. Ich bin sogar ziemlich langweilig mit meinem Gartenkram, das weis ich… Yvonne, also meine Frau, sagt immer: ‚Du Matthias, du bist wie dein Bohnenkraut. Das wächst und ist trotzdem stumm‘. Tja, ich weis, so bin ich… Deshalb denk ich da auch nicht mal unbedingt an mich, sondern vor allem hier - an die beiden. Und das tut mir viel mehr weh und auch leid. Für die beiden. Ich weis, ich kann nicht verhindern, dass die Kinder aufwachsen und ihre Mutter hassen. Aber ich muss es wenigstens versuchen. Wenn Sie mich vielleicht verstehen.”

„Ja, ich verstehe Sie. Und zwar ganz genau“, erwidert die Wirtin.

Der Vater schließt seinen Vortrag, sieht bekümmert zur Wirtin und kratzt sich am Kopf.

„Gut.”

Die Wirtin nickt, klopft auf die rotkarierte Tischdecke, steht langsam auf. Ihr Gesicht ist ernst, ihre Stirn steht in Falten.

Was für ein gutmütiger, braver Trottel! Nicht zu fassen.

„Ich bring’ Ihnen noch was zu trinken und ein Brot. Essen Sie in Ruhe, schnaufen Sie durch. Tief durchatmen und dabei die Augen zu. Am besten so, wie man’s den Schwangeren erklärt. Okay?” witzelt sie und grinst, bevor sie dem Vater wieder ihre Hand anbietet.

„Übrigens, ich bin die Maruscha. Maruscha und die Unschuld dazu. So wie’s draußen steht. Aber nennen Sie mich ruhig Mamusch, so wie alle andern.”

„Danke, Frau Unschuld”, drückt der Vater die fette, weiche Hand. „Ich heiße Matthias Rübsam. Meine Töchter, Lotte und Amalia.”

„Ach ja“, fällt der Wirtin ein, „wenn Sie heut’ Nacht vielleicht eine Geige hören, das ist nur Herr Nepumuk, mein einziger Mieter aus Zimmer 2. Mein Dauermieter. Und manchmal übt er Tag und Nacht. Aber lassen Sie sich davon nicht stören. Ich geb’ Ihnen Zimmer 7, da hört man davon so gut wie gar nicht“, lächelt die Wirtin verlässt mit der leeren Tasse und den Tellern den Tisch.

„Lotte…“

Rübsam zieht seine Tochter am Ärmel.

Lotte hebt widerwillig den Kopf. Auf der Oberlippe den Kabaschnurrbart. Grantig sieht sie zu ihrem Vater.

Ihre Honigfinger kleben. Wohin damit?

„Und Mamusch? Schlimm?” fragt inzwischen der Wirt, der hinter der Theke steht, leise seine Frau.

Neugierig folgt das versoffene, kleine Männchen seiner Alten durch die Schwenktür. In die Küche. Wie ein Hündchen, geködert vom Würstchen.

So nachdenklich hat er seine Alte schon lange nicht mehr gesehen. Mit dem Kerl und seinen beiden Kindern muss was Besonderes im Busch sein.

„Mamusch? Na, und? Schlimm?“

„Noch viel schlimmer: Guter Mann, böse Frau. So sieht’s aus. Jedenfalls im Moment”, murmelt die Wirtin, stellt das Schmutzgeschirr auf die volle Spüle, schnauft durch und schüttelt kurz den Kopf.

Immer und überall das Gleiche. Ob so oder so. Nichts, gar nichts ist sicher. Und an allen Ecken und Enden brennt es. Der eine zündelt, der andere muss löschen. Und weiter! Immer weiter! Bis ins Loch. So ist das.

Abrupt dreht die Wirtin sich um, wird plötzlich giftig:

„Aber was geht das dich überhaupt an!? Was…“, reckt sie vehement ihre Schweinenase, „…was hast du wieder ge... a-ha, Fernet! Dacht ich’s mir doch. Hinterm Tresen stehen, mit den Spezies dummes Zeug quatschen und dabei heimlich einen zwitschern. Das ist deins. Der Dreck hier kann ja stehenbleiben. Hauptsache, du kannst dich volllaufen lassen“, rüffelt sie ihren Alten und schiebt ihn zur Spüle.

„Volllaufen lassen? Wenn ich ab und zu mal…“

„Ach, was! Los, Mann, räum endlich die Spülmaschine ein. Und wehe, es geht was kaputt, dann is aber der Teufel los!”

2

DER SEIFENKÖNIG

MÖLLER:

‚Die’ Fabrik für Seife und Waschmittel in Rheinhafen.

Möller:

Das war ein massiver, viereckiger Bau am Ende einer langen Wohnstraße. Mit hohem Einfahrtstor, gemauertem Verwaltungsgebäude. Das Einfahrtstor noch aus altem Gusseisen. Noch aus der Gründerzeit und fast unverändert. Bis auf die elektronische Vorrichtung.

Daneben, als letztes Haus in der Straße, stand die Villa. Mit ihrer mannshohen Mauer, den beiden Kastanien und der Ziertanne. Die Kastanien waren besondres gewaltig. Fast vierzig Meter hoch.

Dreißig Jahre platzten aus den beiden Bäumen die Kastanien auf, fielen auf den Gehweg. Dreißig Jahre liefen die Fabrikanlagen auf Hochtouren, produzierten nonstop. Dreißig Jahre rollten die Tank-LKWs Tag und Nacht durch die lange Wohnstraße. Und dreißig Jahre protestierten die Anwohner, unmutige Bürger, gegen die ständigen Erschütterungen an der Bausubstanz ihrer Häuser. Gegen Lärm, Gestank und Schmutz.

Zwecklos. Die Fabrik produzierte, produzierte, produzierte … Und doch …

Die Geologie hat immer das letzte Wort, kennt den Stoff, aus dem die Zeit gemacht ist.

Alles hinterlässt seine Spuren. Und alles geht zum Teufel. Egal, wie lange es dauert.

Die Fabrik kam in die Jahre. An den Werksanlagen setzte Rost an, am Verwaltungsgebäude wucherte das Efeu. Der Putz bröckelte. Der Asphalt der Straße wurde von den unzähligen LKWs rissig und zerbröselte wie ein steinharter Keks unterm Schuh.

Die Tank-LKWs lieferten zwar noch immer Rohstoffe, transportierten Flüssigseife und Waschpulver von der Fabrik und brachten Kalium, Natrium, Lauge. Aber das alte Einfahrtstor war wie ein sicheres Zeichen für den schleichenden Niedergang der Fabrik, ein Indikator für die Teilnahmslosigkeit von Firmenchef Möller.

Das Tor zu quietschen.

Ein LKW, ein Quietschen.

Und das Quietschen erfolgte nur noch stündlich.

Kalium und Natrium, Lauge und Glycerin verloren an Boden. Die Produktion ging stark zurück.

Schulz, der alte Fabrikpförtner, schnarchte fast nur noch. Ein kleiner Graubart, der in seinem eingestaubten Glashäuschen, am Tor, mit den Jahren mehr und mehr einschrumpfte, langsam unter seiner Dienstmütze verschwand und dabei den halben Tag träumte. Von seiner längst überfälligen Rente und von LKWs, die sein Glashäuschen zermalmten. Dass er plötzlich hochschreckte.

Und das Tor quietschte mittlerweile immer schriller. Aber selbst mit der elektronischen Vorrichtung wurde das Quietschen nicht besser. Da ließ die Verwaltung, obwohl kein Geld da war, (wie immer!) am Tor eine Anlage für tausende von Euro anbringen, aber vergaß völlig, dass das Tor quietschte. Bis Schulz vom Quietschen endlich die Schnauze voll hatte, für Zwei Euro fünfzig ein Kanisterchen Öl kaufte und dem jahrelangen Quietschen ein Ende machte.

Mit der Fabrik war das anders. Um die Produktion in den Werkanlagen wieder anzukurbeln - dazu genügte leider kein Kanisterchen Öl.

Möller, noch vor zwanzig Jahren ein blühendes, mittelständisches Unternehmen, das an den Auslandsmärkten schnupperte, siechte dahin. Wie ein kranker Hund.

Es lief nicht mehr rund. Nicht annähernd.

Die Belegschaft schrumpfte seit einigen Jahren so stetig wie Schulz unter seiner Dienstmütze, schrumpfte durch Sparmaßnahmen. Aber durch Sparmaßnahmen, die einfach nicht griffen und das Unvermeidliche nur noch hinauszögerten.

Da war z. B. Werkanlage C, die Anlage fürs Bleichverfahren. Nach und nach wurde C runtergefahren, schließlich komplett geschlossen. Schon seit zwei Jahren gab es C jetzt nicht mehr, stand C als zahnloses Stahlungetüm auf dem hinteren Teil vom Fabrikgelände, bekam einen Gürtel aus Moos und Unkraut und wucherte langsam ein.

Aus sechzehnhundert Mitarbeiter wurden zwölfhundert, wurden tausend, wurden jetzt noch knapp achthundert.

Direktor Thomas Möller, Inhaber des Familienunternehmens in der zweiten Generation, ehemals sprühender Unternehmer, ehemals Erfinder fürs 2:1 Herstellungsverfahren für Gallseife, ehemals… ehemals… alles ehemals. Schon seit Jahren nur noch ein ‚Ehemals‘.

Er, der ewige Witwer, wie ihn alle nannten, verpennte irgendwie die Modernisierung, den Anschluss.

Und dieses ‚Irgendwie‘ lag ganz konkret in seiner Abwesenheit von Vorstandssitzungen, in seiner fehlenden Gegenwart im Werk, lag in seinem völligen Rückzug.

Nach dem Tod seiner Frau. In die Villa.

Damals, vor ihrem Tod, kannte der alte Möller jeden Mitarbeiter mit Namen, kannte jeden. Von der Putzkraft, über den Facharbeiter, bis zum Spezialisten.

Er organisierte und kümmerte sich. Um alles.

Der alte Möller besuchte die Abteilungen, scherzte und lobte, erkundige sich nach den Röteln bei Schneiders Tochter, kontrollierte eigenhändig die Anlagen.

Jeden gottverdammten Tag.

Wie oft wehte sein langer Mantel durch die Gänge der Abteilungen. Wie oft halle sein Schritt über die Fliesen des Fabrikbodens. Wie oft holte er neue Aufträge rein, riss neue Abnehmer auf.

Und Möller reiste, trug den Namen seiner Firma durch ganz Deutschland. Und über die Grenzen. Nach Holland, Belgien, Frankreich, durch halb Europa.

Als Fabrikant in der zweiten Generation übertrafen seine Ideen, sein Einsatz und Ehrgeiz noch seinen Vater, den Firmengründer.

Zweite Generation heißt Expansion. Der Traum hat bereits Fundamente, wird größer und komplexer, sucht praktische Verbindung zu anderen Unternehmen und den Anschluss ans große Ganze.

Das ist die Grundlage der modernen Gesellschaft, der Anstoß zum Traum von einer perfekten Zivilisation. Seit der Dampfmaschine. Bis heute. Und für immer.

Der alte Gustav Möller hatte das Kernstück der Fabrik direkt nach dem Krieg bauen lassen. Dazu das hohe Einfahrttor. Mit hundert Arbeitern und einer einzigen Anlage begann dort Anfang der 1950er Jahre die Produktion von Seifen.