Timo Haberbosch

Brief aus Gennetines

Einband: Konstruktionsdetails einer lebenden, im Frühjahr blühenden Weidenkathedrale in Schotten, Vogelsberg, ein wachsendes Beziehungsgeflecht, wenn man die Sache symbolisch nimmt. Mit freundlicher Genehmigung des Baumeisters Thomas Hofmann.

Timo Haberbosch

Brief aus Gennetines

Roman

Vorspiel

Ich wollte schreien, Leser, als ich den Zettelhaufen sah, der diesem Buch als Vorlage diente, und zwar unabhängig von jedem Inhalt. Es war ein entsetzliches Konvolut aus handschriftlichen Blättern, die x-mal korrigiert und mit zahlreichen Verweisen versehen worden waren, ein penetrant nach Arbeit riechendes Bündel. Ich lag ohne Wind auf einem der schönsten Seen, die wir haben, als ich es öffnete, eine Handbewegung hätte mir die Plackerei vom Hals geschafft.

Das Zeug läge bis zur Auflösung auf dem Grund des Bodensees, niemand hätte davon erfahren, und ungezählte Arbeitsstunden wären mir erspart geblieben.

Zugegeben, es geschah nicht zum ersten Mal, dass ich die Chance zur schönsten Form der Gewaltanwendung verpasst hatte. Ich meine den Befreiungsschlag. In dem Zusammenhang fällt mir jener Tag ein, als ich den Urheber und Protagonisten des Projekts kennenlernte.

Es war ein Freitag, herrliches Wetter, ich wollte längst auf dem Schiff sein, als er mich in der Uni ansprach und ignorierte, dass ich unter Druck stand. In der Meinung, einen Bibliotheksangestellten vor sich zu haben, befragte er mich zu einem vergriffenen Privatdruck mit Übertragungen von Shakespeare-Sonetten.

Das Buch stand tatsächlich in meinem Semesterapparat, für das breite Publikum nicht verfügbar.

Im Gespräch, das er provozierte, erfuhr ich, dass er an der FH ein technisches Fach studierte und den Titel brauchte, um seiner Süßen, so wörtlich, am Abend daraus vorzulesen. Klang noch relativ vernünftig. Durch diese Mitteilung hinreichend legitimiert, fragte er, was ich mit den Texten anfangen wolle und warum ich nicht einfach ein paar Sachen daraus kopieren könne. Dass ich trotzdem Auskunft gab, erst widerwillig, dann fasziniert von der Wirkungslosigkeit meiner Argumente, änderte nichts an seiner Meinung, höhere Ansprüche zu haben als ich und der Fachbereich. Eine direkte Notwendigkeit wollte er für uns keinesfalls erkennen.

Als er das Buch trotzdem nicht mitnehmen durfte, erwirkte er für sich und seine Süße die Erlaubnis, mein Proseminar als Gasthörer zu belegen.

Ein Kompromiss sozusagen, und das war der Anfang.

Im Lauf der Jahre, die folgten, haben wir oft über diese erste Begegnung gelacht. Es ergaben sich private Beziehungen und gemeinsame Unternehmungen auch dadurch, dass er beziehungsweise Monteure einer Heizungsfirma, die er erben sollte, gelegentlich in meinem Auftrag tätig wurden.

Da ich den Absprung verpasst hatte und beide, er und die Süße, nachdem sie mich zum Paten ihres Erstgeborenen gemacht hatten, partout nicht aufhören wollten, mich zu motivieren, saß ich irgendwann entnervt vor dem Zettelhaufen und versuchte, mir das Zeug anders, durch redliche Arbeit eben, vom Hals zu schaffen. Es entstand ein Skript, in dem eine Flut von Nachträgen – auch aus ihrer Hand – bereits verarbeitet war. Die musste man ursprünglich in nummerierten Feldern vieler Karteikarten suchen.

Diese Fleißarbeit ging nach geraumer Zeit, wie man wohl sagt, zurück an ihn, der bei großer Hitze damit begonnen hatte, als in New York die Trümmer auf ground zero zwar nicht mehr rauchten, der Krieg im Irak aber noch lange nicht für beendet erklärt war. Bald lag der Text, oh Wunder, mit fast ebenso vielen neuen Einträgen verschiedener Handschriften wieder auf meinem Schreibtisch.

Sie ließen sich durch die Lesbarkeit offenbar inspirieren. So ging es hin und her, bis mir der Kragen platzte.

Schließlich einigten wir uns auf einen letzten Durchgang, bei dem sie wieder alles gaben, sich aber verbindlich zu entscheiden hatten.

Man muss im Übrigen verrückt sein, einen solchen Liebesbrief zu schreiben!

Ich hoffe, dass der Text durch die Redaktion verständlicher, nicht zu sagen süffig wurde, an verdecktem Charme jedoch nicht eingebüßt hat. Die Klarnamen der Beteiligten wurden durch solche von Romanfiguren und Helden ersetzt. (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig usw.) Auch Kapitelsternchen und Anmerkungen sind von mir, während die in der Handschrift enthaltenen Verweise eingepflegt wurden.

Damit Du nicht gleich zu schreien brauchst, Leser!

Apropos Geschrei. Wir haben uns trotz all dieser Servicequalitäten ein paar Freiheiten herausgenommen. Ich möchte nur ein Beispiel nennen.

Das Wörtchen peng also, wie es der Duden zu buchstabieren empfiehlt, da waren wir uns selten einig, ist ein ärgerliches Unding im Sprachgefüge, bei dem die lautmalerischen Qualitäten abhanden kamen. Wie soll das jemals knallen?

Päng muss es heißen, oder? Päng, päng, päng!

Was wir uns sonst noch an Unkorrektheiten erlaubt haben, erkundest Du besser selbst. Vielleicht mit jenem Gespür für Ironie, das man ja auch sonst gelegentlich braucht.

Ich wünsche viel Vergnügen mit einem Reisebericht, der bizarre literarische Landschaften durchstreift.

Ekkehard Überzwäs, CH-Gottlieben 2017