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Für meine Eltern.

Katja Heimann

Vitamin V wie Wohnung

© 2017 Katja Heimann

Umschlaggestaltung und -illustration:

Katharina Netolitzky

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7439-6960-5
Hardcover 978-3-7439-6961-2
e-Book 978-3-7439-6962-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1

Das Auto bog in die ruhige Wohnstraße ein. Die Fahrbahn war zu beiden Seiten von alten Linden gesäumt, deren große, reich belaubte Kronen Gehweg und Straße an diesem Julitag mit einem Fleckenmuster aus wohltuendem Schatten und Lichtklecksen überzogen. Alles schien wie immer, abgesehen davon, dass Eggert vorhin auffallend fahrig gewesen war, als er Rea und Bruno vom Flughafen abgeholt hatte. Und dann wäre er fast ohne Bruno losgefahren, der noch den Gepäckwagen wegbrachte. Eggert hatte dabei abwesend gewirkt und erst auf Reas überraschten Ruf hin noch einmal angehalten. Rea fand das sonderbar, so kannte sie ihren alten Freund gar nicht.

Jetzt parkte Eggert den Wagen vor ihrem Haus, einer hellen Doppelhaushälfte aus den sechziger Jahren, die sie kurz nach ihrer Hochzeit als Neubau gekauft hatten. Er machte jedoch keine Anstalten, auszusteigen, sondern blieb sitzen und starrte das Lenkrad an. Erst als Bruno die Hand zum Türgriff hob, blickte Eggert auf.

„Warte.“

Bruno ließ den Arm sinken, er und Rea schauten alarmiert zu Eggert hinüber.

„Bevor ihr aussteigt … Ich muss euch was sagen.“

„Was ist denn los? Ist was mit dir? Wollen wir das nicht lieber drinnen besprechen?“

„Nein! Wisst ihr … Nämlich, im Haus …“ Eggert verstummte wieder.

Mit einer Gleichzeitigkeit, die sich Synchronspringer lange hätten antrainieren müssen, fuhren Reas und Brunos Köpfe zu ihrem Haus herum. In diesem Moment wurde die Haustür von innen geöffnet und in der Tür erschien eine ungefähr 30-jährige zierliche Frau mit schwarzen Haaren. Sie trug eine helle, knielange Jeans und ein petrolgrünes TShirt. Sie lächelte freundlich in ihre Richtung.

„Eggert! Wer ist das? Was macht diese Frau in unserem Haus?“

„Das wollte ich euch doch gerade sagen. Also … Das ist Nora Giese … Die – die wohnt jetzt bei euch.“

„Wie bitte?“ Reas und Brunos Reaktionen waren weiterhin perfekt synchron.

„Ich habe mir erlaubt, sie vorübergehend bei euch einzuquartieren. Das –“

„Sag mal, spinnst du?“

„Nein, gar nicht. Lasst mich doch mal –“

„Wir sind in Urlaub und du lässt fremde Leute in unserem Haus wohnen?“ Reas Stimme schnappte fast über.

„Das war ein Notfall! Lasst mich das doch mal erklären!“

„Dafür möchte ich jetzt aber auch eine richtig gute Erklärung hören“, sekundierte Bruno.

Rea presste die Lippen zusammen, damit Eggert berichten konnte, was er sich dabei gedacht hatte. Sie hätte schreien mögen: Da freute sie sich nach dem Urlaub auf ihr Zuhause – und dann hatte ihr bester Freund das Haus einer fremden Frau zum Wohnen überlassen? Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein.

„Also wie gesagt, das ist Frau Giese. Sie hat mit ihrem kleinen Sohn bis vor Kurzem ganz in der Nähe gewohnt, in der Tangstedter Allee, und Anfang letzter Woche gab es in ihrem Mietshaus eine riesige Explosion. Das Haus steht zwar noch, aber es ist schwer beschädigt und nicht mehr bewohnbar. Da hat wohl irgend so ein junger Bursche im Haus versucht, den ultimativen Riesenböller zu basteln. Das ist ihm ja auch ziemlich gut gelungen. Das war vielleicht ein Wahnsinnsknall! Als ob ein Flugzeug in die Häuser gestürzt wäre! Ich bin natürlich sofort hin, das ist ja gleich bei mir um die Ecke. Da standen ganz viele Leute auf der Straße vor dem Haus und da habe ich auch Frau Giese gesehen.“

Rea blickte zur Haustür, in der diese Frau Giese weiterhin wartete. „Und weil das so eine aparte junge Frau ist, hast du sie gleich zu uns mitgenommen.“

„Rea! Nein! Doch nicht einfach so, ich kannte sie ja. Weißt du, sie ist mir schon vor längerer Zeit aufgefallen. Sie hat einen kleinen Jungen, und ich fand schon immer, dass sie so lieb mit ihm umgeht. Irgendwie anders als die meisten Mütter. Bei ihr dachte ich immer, das Kind ist nicht bloß einfach dabei, sondern es ist wirklich wichtig, sie wirkt ihm immer so zugewandt, so liebevoll …“

„Schweif nicht ab!“

„Jedenfalls haben wir irgendwann angefangen, einander zu grüßen, wenn wir uns begegnet sind, und ein paar Worte zu wechseln. Wie man halt ins Gespräch kommt. Das war immer so richtig nett. So eine sympathische Frau! Sie lebt ja noch gar nicht lange in Hamburg, ein Jahr oder so, da kennt sie noch nicht viele Leute hier und freut sich natürlich über Kontakt.“

„Unheimlich sympathisch, aber kennt nach einem Jahr kaum jemanden?“ Bruno klang skeptisch.

„Doch, doch. Weißt du, sie ist selbstständig und arbeitet von zu Hause aus, da sieht sie doch den ganzen Tag niemanden. Und als Alleinerziehende mit einem kleinen Kind kommt sie auch nicht so oft raus.“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum das bedeutet, dass du sie nun zu uns bringen musstest.“ Rea ließ nicht locker.

„Weil sie nicht wusste, wo sie hin sollte! Keine Freunde hier, jedenfalls keine so guten, als dass sie bei denen hätte wohnen können, keine Verwandten in der Nähe und in meiner Wohnung ging’s auch nicht. Ihr wisst ja, dass bei mir jetzt endlich die Renovierungsarbeiten angefangen haben. Für mich ist das schon unbequem genug, aber da kann ich nicht noch andere Leute in die Wohnung holen, das wäre eine Zumutung.“

„Ach, aber für uns ist das jetzt keine Zumutung?“

„Was hätte ich denn tun sollen? Da steht eine Bekannte von mir, ist völlig aufgelöst und verzweifelt, weil ihr Wohnhaus gerade explodiert ist, sie weiß nicht, wohin, und ich sage dann einfach ‚War nett, mit Ihnen zu plaudern, Frau Giese, aber ich muss dann mal wieder nach Hause‘? Das konnte ich doch nicht! Ich musste helfen.“

„Mit unserem Haus!“

„Ihr hattet mir doch sogar angeboten, dass ich bei euch schlafen dürfte, solange ihr in Urlaub seid, wegen der Bauarbeiten bei mir. Ich halt’s ja aus, das geht schon. Und dann habe ich gedacht, ob ich nun da schlafe oder sie … Zuerst hat sie sich ja auch mit Händen und Füßen gesträubt, einfach so bei fremden Leuten einzuziehen, aber am Ende wusste sie keine andere Lösung. Und es musste ja noch am selben Tag was passieren. Im Hotel zu wohnen, das kann sie sich nicht leisten. Und dann noch mit dem Kleinen. Natürlich sucht sie auch schon nach einer neuen Wohnung. Ich glaube, sie würde lieber heute als morgen wieder in ihren eigenen vier Wänden wohnen.“

„Und wie hast du dir das jetzt vorgestellt, wo wir wieder da sind? Sollen wir hier jetzt alle fröhlich zusammenleben? Ich will das nicht! Ich will meine Ruhe haben!“

Eggert blickte zerknirscht zwischen Rea und Bruno hin und her. „Ich … ich habe einfach gehofft, dass ihr euch dazu durchringen werdet, sie und den Jungen noch etwas bei euch wohnen zu lassen, bis sie eine neue Wohnung gefunden haben. Ist ja nur für den Übergang! Die beiden sind wirklich nett. Und vertrauenswürdig, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sonst hätte ich sie gar nicht erst in euer Haus gelassen. Aber wollt ihr sie nicht wenigstens erst mal kennen lernen? Lasst uns doch endlich reingehen.“

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Draußen vor dem Haus hielt ein Auto. Das musste Herr Runde mit den Seegers sein. Vor lauter Aufregung war mir schon den ganzen Morgen unwohl, und bei diesem Anblick krampfte sich mein Magen noch mehr zusammen. Ob Colin und ich wohl bleiben dürften, bis wir eine neue Wohnung gefunden hätten? Den Gedanken, dass ich vielleicht nachher schon unsere Sachen wieder zusammenpacken müsste, schob ich weit von mir, es durfte einfach nicht sein.

Nun waren sie also da. Ich öffnete die Haustür und wartete. Aber niemand stieg aus. Durch die Scheiben konnte ich erkennen, wie die drei Personen im Auto erregt gestikulierten und redeten. Klar, Herr Runde musste ihnen ja erstmal von mir erzählen. Selbst von hier aus wirkten Seegers nicht begeistert. Und ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken: Aus dem Urlaub kommen und erfahren, dass jemand Fremdes in ihrem Haus wohnt – da wäre wohl jeder entsetzt.

Aber sie sollten gleich sehen, dass das Haus bei uns in guten Händen gewesen war. Sicherheitshalber kontrollierte ich zum ungefähr dreihundertsten Mal den Zustand des Flurs mit einem prüfenden Blick. Ich schloss noch rasch die Tür zur Gästetoilette. Nun sah es wirklich picobello aus. Damit wir uns von unserer besten Seite präsentierten, hatte ich heute Morgen besonders gründlich aufgeräumt, Küche und Bad blitzblank geputzt und überall gesaugt. Erstaunlich, wie viel Zeug sich schon überall von mir und Colin angesammelt hatte, und das, obwohl ich mir solche Mühe gegeben hatte, mich in dem fremden Haus nicht über Gebühr auszubreiten. Aber jetzt war wieder Platz an den Garderobenhaken und im Schuhregal und Seegers würden ihr Haus ordentlich und aufgeräumt vorfinden, so wie sich das gehörte. Ich hatte auch eine besondere Begrüßung vorbereitet: Selbstgemachte Limonade und frischer Couscous- Salat warteten im Kühlschrank und an diesem schönen, warmen Tag hatte ich für alle hübsch auf der Terrasse gedeckt.

Ich verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. Die palaverten aber lange da unten. Hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen. Mittlerweile wartete ich ja schon eine Ewigkeit. Dann, endlich, öffneten sich die Fahrzeugtüren, und neben Herrn Runde stieg ein älteres Ehepaar aus. Frau Seeger sah ganz sympathisch aus, mittelgroß und schlank mit einem vollen, silbergrauen Bob-Schnitt über einem leicht gebräunten Gesicht mit weichem Mund und grauen Augen, auch wenn sie mit zusammengezogenen Brauen gerade sehr skeptisch in meine Richtung blickte. Ich lächelte sie an. Herr Seeger hatte einen tüchtigen Schnauzer und Weihnachtsmannbäckchen und wirkte damit ruhig und freundlich. Ich lächelte noch ein bisschen intensiver. Im Gegensatz zu seiner Frau war er ein eher rundlicher Typ.

Die Männer hievten diverse Koffer, Taschen und Tüten aus dem Kofferraum und schließlich kamen alle drei auf dem Steinplattenweg auf das Haus zu. Ich straffte mich. Jetzt war es soweit. Als Erste in der Reihe stieg Frau Seeger die drei Stufen zur Haustür hoch. Sie setzte den Koffer auf dem obersten Treppenabsatz ab und musterte mich kritisch. Ich bemühte mich, auch unter diesem Blick herzlich weiterzulächeln. Sie reichte mir die Hand.

„Rea Seeger. Guten Tag.“

Oh je. Das klang mehr als reserviert.

„Nora Giese. Guten Tag, Frau Seeger. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise. Darf ich Ihnen den Koffer abnehmen?“ Ich griff mir ihren Koffer und stellte ihn auf dem Terrakottaboden im Flur ab. Dabei bemühte ich mich, mir meine Anspannung, die durch Frau Seegers finsteren Blick noch größer geworden war, nicht anmerken zu lassen. Ich fühlte mich so elend wie damals, als ich mich als Flugbegleiterin beworben hatte. Ich war so richtig nervös gewesen und hatte im Vorstellungsgespräch prompt die Namen meiner Gesprächspartner verwechselt. Den Job hatte ich natürlich nicht bekommen. Heute musste es unbedingt besser laufen, es hing so viel davon ab. Was hatte ich mir vorgenommen? Auch mit den Augen lächeln, nicht nur mit dem Mund! Hilfsbereit sein! Nicht zu plump vertraulich, aber auch nicht zu förmlich! Und verdammt noch mal, bloß nicht so nervös, Nora! Der erste Eindruck konnte alles entscheiden! So stand es in allen Ratgebern, aber das war natürlich leichter gesagt als getan. Wäre ja auch zu schön gewesen. Und wenn ich jetzt noch weiter nutzlos wie eine fehlplatzierte Dekoration im Weg herumstand, während die anderen den Flur mit Gepäckstücken füllten, würde ich auch keinen vorteilhaften Eindruck abgeben.

Ich verzog mich in die Küche und holte die Salatschüssel und den Krug mit der Limonade aus dem Kühlschrank. Für den Couscous-Salat hatte ich vorhin einige besonders schöne Zweige Petersilie beiseite gelegt, die versuchte ich jetzt dekorativ auf dem Salat anzuordnen. Gar nicht so einfach, aber endlich sah es so appetitlich aus wie in einem dieser teuren Hochglanzmagazine. Jetzt zur Limonade. Vorsichtig setzte ich zwei Blattpaare Zitronenmelisse auf die Oberfläche und ließ sie schwimmen. Normalerweise würde ich mich mit solchem Deko-Schnickschnack ja nicht aufhalten, aber Seegers durften heute ruhig das volle Programm bekommen – guter Eindruck und so.

Während ich mit den Kräutern hantierte, versuchte ich, innerlich wieder ruhiger zu werden. Herr Runde hatte mir noch heute Morgen versichert, dass Seegers freundliche, aufgeschlossene Menschen seien. Bisher schien mir das ganz und gar nicht so. Naja, bestimmt standen sie noch unter Schock. Es würde uns jetzt allen gut tun, erst einmal gemeinsam in Ruhe eine Kleinigkeit zu essen. Dabei könnten wir uns auch gleich ein bisschen beschnuppern.

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Bald saßen alle auf der erhöhten Holzterrasse, die das Wohnzimmer mit dem Garten verband. Die Holzbohlen verströmten dunkle Wärme, in den Zweigen zwitscherten Vögel, Bienen summten in den Blumen.

Die Stimmung am Tisch war allerdings längst nicht so idyllisch. Rea und Bruno waren immer noch wie vor den Kopf gestoßen von dieser Situation, mit der Eggert sie überfallen hatte. Insbesondere Rea nahm dieser Frau die Anwesenheit an ihrem Tisch und überhaupt in ihrem Haus grundsätzlich übel. Sie blieb auffallend einsilbig und strahlte eine geradezu feindselige Kühle aus.

Eggert tat sein Bestes, um die frostige Stimmung zu überspielen, auch wenn ihm die Rolle als Alleinunterhalter ganz offensichtlich fremd war. Irgendwann bat er schließlich Nora, von der Explosion zu berichten.

Die nickte, langsam, starrte dann aber erst einmal auf das Salatschälchen vor sich und sagte gar nichts. Sie schlang die Arme um sich, als ob sie trotz des warmen Sommertages fröstelte. Dann schluckte sie und begann stockend zu erzählen: der plötzliche laute Knall, die Erschütterung, Putzbröckchen, die von der Zimmerdecke herabfielen. Der Schreck, die Sorge, nicht zu wissen, was da gerade passiert war.

Rea erkannte das Entsetzen in Noras Augen und stellte widerwillig fest, dass Mitgefühl in ihr aufstieg.

Nora fuhr fort: die Erleichterung, dass Colin im Kindergarten und damit in Sicherheit war. Ganz kurz tauchte ein weiches Lächeln in ihrem Gesicht auf. Und dann die Eile als nach dem ersten Schreck das rationale Denken einsetzte: ihre Arbeit speichern, aufspringen, alle Kabel aus dem Laptop reißen, das Gerät fest packen, hinauslaufen. Durch das Treppenhaus und den intensiven Geruch nach Schwarzpulver, der ihr fast den Atem raubte. Den Bürgersteig vor dem Haus erreichen. Dankbarkeit dafür.

Nora entwich ein tiefer Seufzer und Bruno verspürte dieselbe Erleichterung, die sie in diesem Moment empfunden haben musste. Unwillkürlich atmete auch er tief aus. Er hatte gar nicht bemerkt, wie er die Luft angehalten hatte.

Und dann stehen und warten, in Ungewissheit und Sorge.

Vor dem Haus hatte sich rasch eine Menschenmenge aus Hausbewohnern, Nachbarn und Passanten versammelt und so war Nora auf Eggert getroffen. Sie unterbrach ihren Bericht und blickte dankbar in seine Richtung. Es brauchte keine Worte, um zu begreifen, wie froh sie gewesen sein musste, in all dem Schrecken und Durcheinander wenigstens ein bekanntes Gesicht zu entdecken, jemanden, der sich ihrer annahm. Schnell war dann auch die Feuerwehr gekommen und die Feuerwehrleute liefen mit Atemschutzausrüstung in das Gebäude. Kurze Zeit später folgten ihnen die Sanitäter. Als sie endlich wieder herauskamen, lag auf ihrer Trage der 17-jährige Alex, der zwei Stockwerke über Nora wohnte.

Nora verstummte und blickte ernst in die drei Gesichter, die sie gebannt anschauten. Eggert sah bei der Erinnerung mit steinerner Miene vor sich hin. Rea schauderte und fasste Brunos Arm. Nora atmete tief ein und wieder aus. Dann schilderte sie den beklemmenden Anblick, der sich ihnen geboten hatte: Alex’ blutverschmiertes und geschwärztes Gesicht, die schon wieder durchgebluteten Erstverbände an der Hand, die Sauerstoffmaske über dem Gesicht. Sie hatte ihn nur an seinem markanten hellblonden Haarschopf erkannt.

Als Nora fertig war, schwiegen alle und ließen das Gehörte auf sich wirken.

Bruno sprach als Erster: „Und was ist jetzt mit dem Haus?“

„Das Haus wurde für nicht mehr bewohnbar erklärt. Was damit weiter passiert, ist noch nicht klar. Unter Aufsicht durften wir Bewohner noch einmal in unsere Wohnungen, um das Wichtigste mitzunehmen. Jetzt sind die Wohnungen verschlossen und wir warten darauf, dass sich die Hausverwaltung endlich rührt, um die Sachen einlagern zu lassen. Aber die waren schon immer so schlecht erreichbar. Wenn ich daran denke, wie lange das letzten Winter gedauert hat, als die Heizung kaputt war – naja, egal. Also, keine Ahnung, was jetzt passiert. Ich will jedenfalls so schnell wie möglich wieder eine eigene Wohnung haben.“

„Frau Giese steht jetzt also quasi mit Handgepäck auf der Straße. Wie ausgebombt sozusagen“, fasste Eggert zusammen und blickte Rea und Bruno eindringlich an.

„So ein Glück, dass Sie überhaupt noch einmal in die Wohnung durften“, stellte Bruno fest.

„Ja, dafür bin ich auch dankbar.“ Nora seufzte. „Man denkt gar nicht, wie schwierig das ist, in der Wohnung zu stehen und dann ganz schnell zu entscheiden, was am wichtigsten ist, was man einpacken soll. Dokumente, Unterlagen für die Arbeit, Colins Kuschelschnuffel, der ist geradezu lebenswichtig, und natürlich Kleidung für uns beide. Erstmal nur für den Sommer, ich hoffe ja, dass wir im Herbst längst wieder in unserer eigenen Wohnung sind.“

„Und so lange wollen Sie einfach hier bei uns wohnen bleiben?“ Rea drängte das Mitgefühl, das Noras Bericht in ihr ausgelöst hatte, mit aller Macht zurück. Übrig blieb eine fast schon aggressive Ablehnung in ihrer Stimme.

„Naja“, druckste Nora, „das wäre natürlich ein großer Segen. Ich weiß wirklich nicht, wo wir sonst hin könnten. Und es wäre wunderbar, hier in der Gegend bleiben zu können, dann müsste Colin nach allem, was in der letzten Zeit passiert ist, nicht auch noch den Kindergarten wechseln – er ist so schon durcheinander genug. Er ist doch erst vier. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich Herrn Runde für seinen Vorschlag mit Ihrem Haus so dankbar bin. Ich glaube nämlich, Colin fühlt sich hier wohl. Ich übrigens auch.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie fortfuhr. „Ich würde mich sehr freuen, wenn wir hier bleiben dürften, bis ich eine Wohnung für uns gefunden habe. Ich suche doch schon fleißig. Und selbstverständlich zahle ich Ihnen auch Miete. Bitte.“

Rea und Bruno blickten einander an. Hier war ihre Chance, sich ihre Ruhe zurückzuholen: jetzt einfach „Nein“ sagen, die Frau und ihren kleinen Sohn glashart vor die Tür setzen. Wirklich? Noras Bericht war nicht spurlos an ihnen vorübergegangen.

Nach einer Pause, die allen Anwesenden umso unangenehmer wurde, je länger sie sich ausdehnte, ergriff Rea das Wort, bemüht, nicht offen unhöflich zu wirken: „Frau Giese, Sie sind natürlich in einer schwierigen Situation, das tut uns auch leid. Aber wir sind eben erst aus dem Urlaub gekommen, finden hier Fremde in unserem Haus vor und sollen jetzt plötzlich so eine Entscheidung treffen. Mein Mann und ich müssen das erst einmal in Ruhe miteinander besprechen.“

„Selbstverständlich.“ In Noras Gesicht hätte nur jemand, der sie sehr gut kannte, den Hauch von Enttäuschung wahrnehmen können. Sie stand auf. „Ich muss mich dann auch wieder an meine Arbeit machen. Ich habe nämlich morgen noch einen Abgabetermin.“

Sie stellte die benutzten Salatschälchen ineinander und verschwand damit durch die große Glasfront im Haus. Als Nora fort war, blieben die anderen noch sitzen, schweigend. Eggert wollte nichts Falsches sagen und sagte deshalb vorsichtshalber gar nichts. Rea und Bruno wurden nach dem frühen Aufstehen am Morgen vom Essen und der noch ungewohnt heißen und drückenden Luft in Deutschland träge.

Nach einigen Minuten stand Eggert auf. „Ja, ihr Lieben, ich mache mich dann auch auf den Weg. Ihr seid gut wieder zu Hause angekommen und müsst erstmal auspacken. Dabei kann ich euch ja auch nicht helfen. Und was Frau Giese angeht, ich hoffe, ihr verzeiht mir meine Eigenmächtigkeit –“

„Das wird sich zeigen.“ Rea wollte sich die Entscheidung nicht aus der Hand nehmen lassen.

„Und jetzt habt ihr sie ja auch immerhin schon mal kennen gelernt“, fuhr Eggert fort. „Sie ist doch wirklich nett, oder? Naja, überlegt es euch in Ruhe. Ich würde mich natürlich auch freuen, wenn sie bleiben dürfte. Und wenn ich dann irgendetwas tun kann, sagt Bescheid. Ich habe euch das eingebrockt und ich helfe selbstverständlich beim Auslöffeln.“

Er beugte sich erst zu Rea, dann zu Bruno hinunter, um beide zum Abschied zu umarmen.

„Bleibt ruhig sitzen, ich kenn den Weg ja …“ Eggert nahm die große Salatschüssel mit und verschwand im Haus.

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Gut zwei Stunden später hatten Rea und Bruno alle Koffer und Taschen ausgepackt, die während ihres Urlaubs angekommene Post durchgesehen und eine erste Fuhre Wäsche draußen aufgehängt, die zweite Maschine lief auch schon. Damit waren ihre Energiereserven erst einmal erschöpft. Deshalb hatten sie die Liegestühle aus dem Schuppen geholt und im hinteren Teil des Gartens im Schatten des großen Kirschbaums aufgestellt. Nun lagen sie bequem auf den weichen königsblauen Auflagen. Die Wärme des Sonnenscheins war auch im Schatten zu spüren und sie sogen sie genüsslich auf. Es herrschte friedliche Gartenstille, die zumindest Bruno gerne noch etwas genießen wollte, bevor sie die große Frage anschnitten, die die ganze Zeit im Raum stand, unsichtbar, aber doch präsent. Er reckte sich. Leise knarzte der Liegestuhl unter ihm. Nach dem frühen Aufstehen und der ganzen Auspackerei wäre jetzt eigentlich ein guter Moment für ein gepflegtes Nickerchen, überlegte er noch, bevor er in den Halbschlaf hinüberglitt.

„Heute früh waren wir noch in Island“, kam es aus dem Liegestuhl neben ihm.

„Mmmh …“, brummte Bruno schläfrig.

„Das scheint schon so weit weg. Und jetzt liegen wir wieder hier in unserem Garten in der Sonne“, sann Rea weiter.

„Ja. Schön.“ Bruno fühlte sich zu seinem Missfallen wieder wacher werden. Konnte man als alter Mann nicht mal in Ruhe ein Schläfchen machen?

„Aber so richtig genießen kann ich das irgendwie gar nicht“, stellte Rea nach kurzer Pause fest und ein verärgerter Ton kroch in ihre Stimme. „Diese Frau mit ihrem Kind geht mir nicht aus dem Kopf. Ich will die nicht in meinem Haus haben.“

Bruno kannte seine Frau: Situationen, die sie nicht kontrollieren konnte, missfielen ihr grundsätzlich. Und er war jetzt endgültig wach. Schade, ein kleines Nickerchen wäre so schön gewesen. Dieses Gespräch hätte er gerne noch hinausgezögert, aber nun musste es wohl sein. Er stützte sich auf den Ellenbogen und drehte sich zu Rea.

„Ja. Ich denke auch die ganze Zeit daran. Und was machen wir jetzt?“

„Wir sagen ihr, dass sie wieder ausziehen soll!“

„Aber wo soll sie denn hin?“

„Das ist doch nicht unser Problem!“

„Naja, irgendwie schon.“

Eine Amsel zeterte laut im Kirschbaum.

„Weißt du“, fuhr Bruno fort, „mir gefällt das ja auch alles nicht, aber sie und den Kleinen so Knall auf Fall auf die Straße setzen?“

„Aber wir haben mit der ganzen Sache doch nun wirklich nichts zu tun! Das ist unser Haus hier. Sollen sie doch in einen Wohncontainer gehen oder sonst was!“

Sie schwiegen. Die Amsel flog in den Nachbargarten, war von dort aus aber kein bisschen leiser.

„Ich weiß nicht“, sagte Bruno schließlich. „Irgendwie ist das nicht richtig.“

Rea setzte sich auf die Kante ihres Liegestuhls. „Hör mal, wie stellst du dir das vor? Die laufen dann jeden Tag durch unser Haus, sie sitzt den ganzen Tag in Kays Zimmer und arbeitet, die schlafen nachts gleich neben unserem Schlafzimmer, machen sich in Bad und Küche breit, benutzen unsere Sachen … Willst du das? Willst du so im eigenen Haus leben? Auf unbestimmte Zeit?“

„Nein“, gab Bruno zu.

Irgendwo in den Gärten juchzte ein Kind rhythmisch. Vermutlich die Kleine von Harmsens auf ihrer Schaukel.

„Aber mit dem Jungen“, fügte er hinzu. „Das ist doch ein Kind …“

Beide schwiegen und empfanden trotz allen Widerwillens moralisches Unbehagen.

Rea betrachtete das Gras zwischen ihren Füßen. Dann hob sie den Kopf: „Vorschlag zur Güte: Wir lassen sie noch ein oder zwei Nächte hier bleiben, aber dann müssen sie wirklich raus. Dann hat diese Frau Giese einen Tag Zeit, sich um was anderes zu kümmern. Da gibt’s doch bestimmt Möglichkeiten.“

Bruno überlegte. „Ja, in Ordnung. Das scheint mir ein guter Kompromiss.“

„Sehr gut.“ Rea stand auf und rieb sich voller Energie die Hände. „Dann werde ich ihr das gleich mal erzählen.“

Kapitel 2

Mit kraftvollen Schritten ging Rea durch den Garten auf das Haus zu. Frische Energie durchströmte sie. Es fühlte sich gut an, eine Entscheidung getroffen zu haben. Seit ihrer Rückkehr hatte sie sich gefühlt, als wäre sie in einem schlechten Traum gefangen, aber bald würde wieder alles so sein, wie es gehörte: nur sie und Bruno, ganz in Ruhe, allein bei sich zu Hause.

Sie stieg die Holztreppe zur Terrasse hoch und trat durch die offene Glastür ins Wohnzimmer. Als sie drinnen ihre Haussandalen von den Füßen streifte, hörte sie die Haustür ins Schloss fallen.

„Frau Giese?“

Keine Antwort.

Sie ging in den Flur und rief noch einmal nach oben: „Frau Giese?“

Alles blieb still. War ihre neue Mitbewohnerin jetzt eben weggegangen? So etwas Blödes! Jetzt hatte sie sich gerade innerlich darauf vorbereitet, die Sache zu erledigen. Sie spürte ihre Entschlossenheit in sich zusammenfallen wie eine Luftmatratze mit Loch. Aber dann müsste sie eben später mit ihr sprechen.

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Gegen sechs Uhr ging Rea gerade mit einem Korb duftender, frisch zusammengelegter Wäsche durch den Flur, da hörte sie Schritte und eine Kinderstimme vor der Haustür. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür ging auf und ein kleiner Junge lief herein. Hinter ihm betrat Frau Giese das Haus. Der Junge hatte einen üppigen Schopf brauner Locken und blaugrüne Augen leuchteten aus einem gebräunten Gesicht. Er kam wohl öfter nach draußen als seine Mutter. Er trug eine kurze Jeans und ein himmelblaues T-Shirt mit einer Sesamstraßen-Figur. Als er Rea erblickte, stoppte er abrupt. Mit großen Augen schaute er sie an und sagte nichts. Frau Giese schloss die Haustür, dann beugte sie sich zu dem Jungen herunter, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und sagte leise:

„Das ist Frau Seeger, der das Haus gehört. Das habe ich dir doch erklärt. Sag mal guten Abend.“

„Guten Abend.“ Der Junge schaute Rea neugierig an, dann lächelte er vorsichtig und fragte: „Wohnst du hier?“

Rea konnte ihren Blick nicht von dem Knirps mit seinem Lockenschopf abwenden und musste bei dieser Frage unwillkürlich lächeln. Sie stellte den Wäschekorb auf der Treppe ab und wandte sich ihm zu.

„Ja, ich wohne hier. Ich bin Rea Seeger. Und wer bist du?“

„Colin.“

Colin marschierte in den Flur hinein, setzte sich auf das niedrige Schuhregal und zog seine Sandalen aus. „Ich wohne jetzt auch hier. Unser Haus ist nämlich kaputtgegangen. – Mama? Können wir jetzt essen? Ich habe Hunger.“

„Frau Seeger“, wandte sich Frau Giese in entschuldigendem Ton an Rea, „wir haben in den letzten Tagen natürlich hier unten im Esszimmer gegessen. Es wäre bald Zeit für Colins Abendbrot, er muss dann ja auch irgendwann ins Bett. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns gleich kurz zum Abendessen hier unten hinsetzen?“

Ja, dachte Rea, es macht mir etwas aus. Gleichzeitig stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass es ihr unangenehm war, in dieser Weise angesprochen zu werden, fast schon unterwürfig. Sie war doch kein Drachen, sondern ein freundlicher Mensch! Andererseits musste sie zugeben, dass sie gerade vorhatte, die beiden auf die Straße zu setzen. Freundlich war das nicht gerade.

„Nein“, antwortete sie etwas widerwillig, „setzen Sie sich nur mit Colin zum Essen.“

„Danke, das ist wunderbar.“

Frau Giese bugsierte Colin zum Händewaschen in die Gästetoilette und verschwand dann in der Küche, um den Tisch zu decken.

Rea ging nach oben und sortierte dort die Wäsche in den Schrank. Als sie wieder nach unten kam, war Bruno gerade dabei, auf dem Esstisch neben Frau Giese und Colin Teller, Schälchen und Besteck für zwei weitere Personen aufzudecken, dazu die Vorräte, die er am Nachmittag eingekauft hatte.

„Schau mal, Rea, von diesem leckeren Couscous-Salat von heute Mittag ist noch etwas übrig, davon können wir nehmen.“

Frau Giese lächelte sie freundlich an. „Es ist noch so viel über, nehmen Sie sich unbedingt davon. Je frischer, desto besser! Schön, wenn er Ihnen schmeckt.“

Rea presste die Lippen zusammen. Irgendetwas lief hier schief. Vorhin hatte sie diese Leute noch rauswerfen wollen, und jetzt sollte sie sich mit ihnen an einen Tisch setzen? Aber vor dem Jungen wollte sie keine Szene machen. Und zugegeben, der Couscous-Salat war wirklich lecker gewesen, und wo Bruno nun schon einmal gedeckt hatte, warum nicht?

„Danke“, antwortete sie schmallippig.

Der Salat war immer noch köstlich, und nach drei Wochen im Ausland wieder heimisches Brot, heimischen Käse, heimische Wurst und auch die unübertrefflichen Tomaten von ihrem angestammten Gemüsehändler zu essen, war eine Wohltat. Das Miteinander am Tisch ließ sich so gut an, dass große Brocken von Reas Abwehrhaltung in der Sonne von Colins Charme dahinschmolzen, ohne dass sie es auch nur bemerkte.

Als Colin und seine Mutter fertig gegessen hatten, stand Frau Giese auf und räumte ihre Sachen ab. Colin hielt währenddessen Bruno und Rea mit Fragen und Erzählen beschäftigt. Dann war Frau Giese fertig und kam an den Tisch.

„Colin ist heute mal wieder reif für ein Bad. Dürfen wir oben die Badewanne benutzen? Oder die Dusche, falls Ihnen das lieber ist“, fügte sie schnell hinzu.

„Och, Mama, nein, nicht in die Dusche! Das ist doof!“, protestierte Colin umgehend.

„Machen Sie nur“, schmunzelte Bruno. „Die Badewanne. Kein Problem.“

Colin rutschte strahlend vom Stuhl und flitzte an seiner Mutter vorbei, dann hörten sie ihn die Treppe hinauftrampeln.

„Sie hinterlassen das Bad natürlich ordentlich“, konnte Rea sich nicht verkneifen und kam sich noch im selben Moment wie eine fürchterliche Ziege vor.

Frau Giese verzog keine Miene. „Natürlich“, versicherte sie, „darauf achte ich schon.“

Als sie an der Tür zum Flur war, drehte sie sich noch einmal um.

„Sollen wir uns nachher zusammensetzen, wenn Colin im Bett ist? Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen?“

Bruno blickte zu Rea.

Die zögerte mit ihrer Antwort. Auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher, ob die Entscheidung vom Nachmittag richtig war. Dieser knuffige Kerl. Diese kleine Familie auf die Straße setzen? Und wenn sie auf die Schnelle nun wirklich keine andere Bleibe fanden?

„Noch nicht abschließend“, antwortete sie vorsichtig und blickte Bruno an. „Mein Mann und ich müssen das noch einmal besprechen.“

„Ja, natürlich“, sagte Frau Giese und ging endgültig Colin hinterher.

Als sie von oben das Wasser in die Wanne einlaufen hörten, fragte Bruno: „Wir müssen das nochmal besprechen? Was ist los? Wir hatten doch eine Entscheidung getroffen.“

„Ja … das hatten wir. Ich will eigentlich auch immer noch nicht, dass diese Frau und ihr Sohn hier bleiben. Aber jetzt, wo wir den Kleinen kennen gelernt haben … Sie einfach beide raussetzen? Ihr das ins Gesicht sagen? Ach, Bruno, es fällt mir schwer.“

„Mir auch.“

Sie schwiegen.

Plötzlich schlug Rea mit der flachen Hand auf den Tisch. „Verdammt noch mal!“, brach es aus ihr heraus, „Ich will hier überhaupt keine Entscheidung treffen müssen! Ich will das alles nicht!“

Bruno legte seine Hand über die von Rea. „Ach, Schatz, ich doch auch nicht. Aber ob wir wollen oder nicht, wir müssen. Und zwar bald. Das Schicksal geht manchmal wunderliche Wege.“

Rea knurrte. Dann fragte sie: „Was meinst du, wie lange würde das mit der Wohnungssuche bei ihr dauern?“

„Keine Ahnung. Kommt sicher auch darauf an, wie groß die Wohnung sein soll und wie viel sie dafür ausgeben kann. Mit einigen Wochen muss man da auf jeden Fall rechnen. Und dann muss die neue Wohnung ja auch erstmal frei werden.“

„Und wenn wir doch Ja sagen? Schaffen wir das so lange mit denen im Haus?“

„Tja. Nett scheint sie ja zu sein. Und bestimmt auch vertrauenswürdig. Ich denke, auf Eggert können wir uns da verlassen. Und der Kleine ist offenbar die meiste Zeit sowieso außer Haus.“

„Der ist süß …“

„Ja, der ist süß. Aber trotzdem, wir müssen uns das gut überlegen: Wenn wir jetzt Ja sagen, haben wir für die nächsten Wochen oder vielleicht sogar Monate fremde Leute im Haus. Jeden einzelnen Tag!“

Rea stöhnte. „Nein, das möchte ich immer noch nicht. Aber können wir sie wirklich einfach auf die Straße setzen? Wir stellen uns vor sie hin und sagen, ‚Packen Sie Ihre Sachen, morgen sind Sie hier raus und der Rest ist uns egal‘? Wenn ich so überlege, komme ich an diesem Punkt nicht vorbei. Das geht einfach nicht. Ich fürchte, ich kann allmählich nachvollziehen, warum Eggert sie hierher gebracht hat.“

Zähe Pause.

„Wir können ja noch eine Nacht darüber schlafen“, schlug Bruno schließlich vor.

„Wir können auch mithelfen, dass sie bald eine Wohnung findet. Dann zieht sich das vielleicht nicht ganz so lange hin“, überlegte Rea. „Wir hängen Zettel in möglichst vielen Geschäften aus. Erzählen es überall herum, bei Freunden und Bekannten und so. Und Eggert muss sich auch beteiligen, das hat er ja schließlich angeboten.“

„Gute Idee. Machen wir es doch so: Wir lassen sie heute Nacht auf jeden Fall noch hier schlafen und entscheiden uns morgen endgültig. Ja?“

„Ja, abgemacht“, nickte Rea.

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Endlich war Colin im Bett. Unser Gute-Nacht-Ritual hatte ich leider nicht so unbeschwert hingekriegt wie sonst. Das tat mir leid für ihn, aber das hatte ich heute wirklich nicht mehr in mir. Leise schloss ich die Tür zu seinem Zimmer und ging nach nebenan. Jetzt musste ich dringend erstmal runterkommen. Ich ließ mich auf das Bett fallen, zog mein Kopfkissen heran und presste es fest an mich. Dieser Tag war die reinste Psycho-Veranstaltung gewesen, irgendwo zwischen Assessment-Center und Dauer-Casting. Ich war vollkommen fertig mit den Nerven. Den ganzen Tag war ich permanent angespannt gewesen und immer bemüht, besonders freundlich und rücksichtsvoll zu sein, um mich Seegers von meiner besten Seite zu zeigen. Das hatte wahnsinnig geschlaucht. Und ich wusste immer noch nicht, woran ich war – sie hatten jedenfalls nichts gesagt.

Frau Seeger hatte mich den ganzen Tag immer so feindselig angeblickt, konnte ich da überhaupt auf ein Ja hoffen? Herr Seeger wirkte zwar nicht so kühl wie seine Frau, ließ aber ebenso wenig eine Tendenz erkennen. Und ich hatte den Eindruck, dass bei den beiden eher sie das Sagen hatte, was sich für mich als ungünstig erweisen konnte.

Ich hoffte. Ich hoffte so sehr. Die eine Woche in diesem schönen Haus hatte mir geholfen, den Schock nach der Explosion abklingen zu lassen, ich war schon viel ruhiger geworden. Aber heute kamen alle Gefühle wieder hoch, allein schon dadurch, dass ich vorhin alles noch einmal haarklein hatte erzählen müssen. Und jetzt dieses Warten auf Seegers Entscheidung. Unerträglich!

Heute Mittag auf der Terrasse hatte ich mich wieder daran erinnert, wie kopflos und verzweifelt ich letzte Woche auf der Straße gewesen war, als klar wurde, dass wir im alten Haus nicht wohnen bleiben durften. Ich konnte doch nirgendwo hin! Die Situation hatte mir vor Augen geführt, dass ich noch immer neu in Hamburg war. Sicher, ein paar Leute kannte ich natürlich inzwischen: eine Handvoll Kollegen, auch mit den Eltern aus Colins Kindergarten wechselte ich freundliche Worte. Aber kein Kontakt war so eng, als dass ich um Asyl bitten mochte. Meine Eltern waren weit weg, verlebten ihren Ruhestand in Irland, und ein Hotel konnte ich mir nun wirklich nicht leisten, erst recht nicht auf unbestimmte Zeit.

Vielleicht müssten wir wieder nach Düsseldorf zurück? Wenn es hart auf hart käme, würde meine Freundin Sanne uns ganz sicher etwas Platz in ihrer Wohnung frei räumen. Aber wie sollte das gehen? All unsere Sachen hier und wir in Düsseldorf? Und Colin bräuchte dann Knall auf Fall einen Kindergartenplatz – guter Witz. Noch mehr Hin und Her würde er ohnehin nur schwer verkraften. Und außerdem wollte ich ja gar nicht zurück nach Düsseldorf, schließlich war ich gerade erst nach Hamburg gezogen, und zwar weil ich genau hier leben wollte! Trotzig zog ich die Augenbrauen zusammen. Aber nun ja, manchmal konnte man sich die Dinge eben nicht aussuchen. Was blieb mir anderes übrig, als zu warten?

Ich seufzte und kuschelte mich fester ins Kissen. Um wieder ruhiger zu werden und das bedrückende Gedankenkarussell abzustellen, atmete ich tief ein – eins, zwei, drei, vier – und wieder aus – eins, zwei, drei, vier –, immer wieder.

Nach einer Weile fühlte ich mich tatsächlich etwas ruhiger. Diese Nacht durften wir ja offensichtlich noch im Haus bleiben, das war zumindest etwas. Ich richtete mich auf und reckte mich nach meinem MP3-Player auf dem Regal neben dem Bett. Meine Musik war mir ein Zuhause, sie würde mich ablenken, das wirkte immer. Ich steckte mir die Stöpsel in die Ohren.

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Den ganzen nächsten Morgen saß ich weiter wie auf glühenden Kohlen. Ich stand wie immer mit Colin auf, wir frühstückten, ich machte Colin fertig für den Kindergarten und brachte ihn hin. Die ganze Zeit über versuchte ich verstohlen, aus den Mienen und Gesten von Seegers abzulesen, wie ihre Entscheidung ausfallen würde. Da! Hatte Frau Seeger eben Colin angelächelt? Und schaute sie jetzt nicht gerade mit einem Stirnrunzeln in meine Richtung? Und warum blickte Herr Seeger so missbilligend? Ich bekam immer mehr das Gefühl, wahnsinnig zu werden, und war froh, als ich das Haus verlassen konnte.

Als ich vom Kindergarten wiederkam, war von Seegers nichts zu sehen. Also weiter warten. Schon stieg wieder dieser Anflug von Übelkeit in mir auf. Ich ging in mein Zimmer, eigentlich das Zimmer von Seegers Sohn, wie Herr Runde mir erklärt hatte, und machte mich schweren Herzens an die Arbeit. Die musste schließlich auch erledigt werden, selbst wenn mir das in diesem Moment ebenso attraktiv erschien wie die Aussicht, den Rathausmarkt mit der Zahnbürste zu polieren. Aber es lag genug Arbeit da und ich hatte in den letzten Tagen schon viel zu viel Zeit verloren.

Es war nicht leicht und kostete mich einiges an Hartnäckigkeit, aber nach einer Weile war ich gedanklich voll in meinem Text angekommen. Die Arbeit ging ordentlich voran, bis mich Klopfen an der Tür aus meiner Konzentration riss. Ich schreckte hoch.

„Herein.“

Die Tür ging auf und Seegers traten ins Zimmer.

Oha, jetzt war es also soweit. Mir wurde heiß und kalt und fast ein bisschen schwindelig. Ich war aufgeregt wie vor einem Gerichtsurteil: Freispruch oder Schafott? Gespannt blickte ich sie an.

Herr Seeger begann: „Frau Giese, meine Frau und ich haben lange hin und her überlegt. Jetzt haben wir uns entschieden. Wir möchten Sie und Ihren Sohn nicht auf die Straße setzen. Sie können hier bleiben, bis Sie eine neue Wohnung gefunden haben.“

Hatte ich richtig gehört? Freispruch? War mein Wunsch wirklich in Erfüllung gegangen? Ich schluckte schwer und Tränen stiegen mir in die Augen. Gleichzeitig breitete sich ein erlöstes Grinsen auf meinem Gesicht aus und ein warmes, leichtes Gefühl strömte in meinen Körper.

„Vielen, vielen Dank! Sie ahnen ja gar nicht, was für ein Stein mir vom Herzen fällt! Sie sind die reinsten Engel!“

Seegers lächelten, irgendwo zwischen geschmeichelt und peinlich berührt. So viel konnte ich immerhin durch den Tränenschleier erkennen.

„Nein, Engel ganz und gar nicht“, wehrte Frau Seeger ab. „Und wir hoffen natürlich schon, dass sich das nicht allzu lange hinzieht“. Ja, dass Frau Seeger nicht der Typ war, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, hatte ich schon festgestellt.

„Das hoffe ich selber doch auch“, versicherte ich eifrig. „Jetzt freue ich mich erstmal wahnsinnig, dass wir hier bleiben dürfen. Und Sie können mir glauben, ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine eigene Wohnung für mich und Colin.“ Dann fiel mir etwas ein. „Haben Sie sich schon überlegt, welchen Betrag Sie als Miete für angemessen halten?“

„Miete? Wir wollen doch keine Miete von Ihnen, das ist nicht nötig“, wehrte Herr Seeger ab.

„Doch, doch, unbedingt. Wissen Sie, für eine eigene Wohnung müsste ich doch auch Miete zahlen, dann kann ich das genauso gut Ihnen zukommen lassen. Als Ausgleich für die Einschränkungen, die Sie durch uns haben werden.“

„Ich will ganz offen sein“, sagte Frau Seeger mit Nachdruck, „Dass wir nicht glücklich sind, dass auf einmal jemand bei uns im Haus wohnt, haben Sie gemerkt. Aber wir haben jetzt beschlossen, Ihnen in Ihrer Situation zu helfen, und dazu stehen wir. Wir nehmen Sie und Colin in unserem Haus auf. Das ist unsere Entscheidung, dafür wollen wir kein Geld.“

„Bitte, ich will Ihnen wirklich nicht zur Last fallen.“

„Frau Giese“, sagte Herr Seeger eindringlich, „Wir möchten uns nicht an Ihrer Notlage bereichern.“

„Denken Sie ruhig nochmal darüber nach, mein Angebot steht.“

„Und unser Wort auch.“

Das warme, leichte Gefühl von eben hatte sich in meinem ganzen Körper ausgebreitet und ich schwebte vor Glück. Ich hatte kaum noch zu hoffen gewagt, dass Seegers wirklich Ja sagen würden. Das war ein Wunder! Den anschließenden Gang durch das Haus mit Absprachen über das praktische Zusammenleben, Ruhe und Ordnung sowie die Mitbenutzung von Küche und Waschmaschine durchlebte ich wie einen unwirklichen Traum.

Nach Abschluss unseres Rundgangs setzten wir uns ins Wohnzimmer. Frau Seeger stellte einen Wasserkrug und Gläser auf den Tisch. Dann lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und blickte mich interessiert an. Wie freundlich sie plötzlich schauen konnte!

„Erzählen Sie uns doch noch ein bisschen über sich, damit wir uns besser kennen lernen. Was arbeiten Sie denn so, als Selbstständige?“

„Ich bin Übersetzerin. Ich habe mich auf Technik spezialisiert, mein Schwerpunkt ist Mess- und Regeltechnik.“

„Mess- und Regeltechnik, aha … Und da gibt es Bedarf, davon kann man leben?“

„Aber ja! Wenn man gut ist und sich das entsprechende Fachwissen angeeignet hat. Die Unternehmen sind dankbar, wenn sich jemand in der Materie auskennt und nicht nur Wörter, sondern Inhalte übersetzen kann. Ich habe außerdem einen großen Vorteil gegenüber den meisten anderen Übersetzern: Meine Mutter stammt aus Irland, deshalb bin ich zweisprachig aufgewachsen. Da beherrsche ich Englisch auf einem ganz anderen Niveau als alle, die es als Fremdsprache gelernt haben. Für Übersetzungen ins Englische ist das auf dem deutschen Markt ein Riesenvorteil. So habe ich meistens genug Aufträge und komme gut zurecht. Auch wenn ich als alleinerziehende Mutter natürlich keine großen Sprünge machen kann.“

„Und Sie wohnen erst seit einem Jahr in Hamburg?“, wollte Herr Seeger wissen.

„Ja, ich komme aus Düsseldorf. Aber als ich mich letztes Jahr von Colins Vater getrennt habe, habe ich es dort nicht mehr ausgehalten, ich musste einfach weg.“

„Und wieso ausgerechnet nach Hamburg? Sie haben hier ja offenbar keine Freunde oder Verwandte?“

„Hamburg fand ich schon immer toll! Ich war schon öfter hier, zu Kongressen und Fortbildungen. Eine großartige Stadt! Als Freiberuflerin kann ich mir meinen Wohnort ja aussuchen und da habe ich gedacht, wenn nicht jetzt, wann dann?“

„Das muss ein tolles Gefühl sein, einfach so in die Wunsch-Stadt ziehen zu können“, stellte Frau Seeger fest. Sie klang direkt ein wenig träumerisch.

„Ja, das ist auch toll. Ich schätze meine Unabhängigkeit sehr, und es hat mir damals gut getan, einfach weggehen zu können.“ Vor meinem geistigen Auge erschien Jans ungläubiger Gesichtsausdruck, als unser Kumpel Manni damals tatsächlich mit dem Bulli vor der Tür stand und anfing, meine Sachen einzuladen. Diese Erinnerung bereitete mir noch immer Genugtuung. Unbezahlbar! „Naja, einfach war die ganze Sache natürlich nicht. Eine Trennung ist immer schwer, erst recht mit Kind. Aber Colin und ich haben uns mittlerweile ganz gut zu zweit hier eingerichtet.“ Ich seufzte. Zugegeben, Hamburg war von Düsseldorf aus nicht gerade um die Ecke, aber dass Jan nach unserem Wegzug offenbar jedes Interesse an seinem Sohn verloren hatte, schmerzte doch. „Die Explosion war so ein riesiger Rückschlag. Ich hoffe inständig, dass es bald mit einer Wohnung klappt!“

Kapitel 3

Rea erwachte schlagartig. Kinderweinen! Im Nebenzimmer! Den über Jahrzehnte verschütteten, aber niemals ganz verschwundenen mütterlichen Reflexen folgend, setzte sie sich mit steifem Rücken auf, wand ihre Beine aus der Bettdecke und stellte die Füße auf den Boden. Früher wäre sie jetzt schon längst bei der Tür gewesen, aber die geschmeidigen Zeiten waren lange vorbei. Bevor sie anfing, ihren Körper tatsächlich aus dem Bett zu wuchten, hatte ihr Hirn die Reflexe eingeholt und war in der Gegenwart angekommen. Nein, Kay oder Jutta waren das nicht, die waren groß, waren doch längst aus dem Haus. Natürlich, Colin. Sollte sie wohl mal …? Aber da hörte sie auch schon Nora die Tür zu Colins Zimmer öffnen. Rea ließ sich ins Bett zurücksinken. Sie spürte, wie die Anspannung in ihrem Körper nachließ, der aufgeregte Herzschlag wieder langsamer wurde. Bald hörte auch das Weinen nebenan auf.

Doch Rea war wach. Der unmittelbare Schreck war zwar abgeklungen, hatte aber Spuren hinterlassen und in den Schlaf fand sie nicht mehr zurück. Das Schlafzimmer lag im Dunkeln, im schwachen Licht der Radiowecker konnte sie die vertrauten Konturen erahnen. Neben ihr schnaufte Bruno, völlig unberührt von dem nächtlichen Drama. An Einschlafen war nun nicht mehr zu denken, da konnte sie genauso gut aufstehen. Seufzend erhob sie sich ein zweites Mal.

Zehn Minuten später saß sie im Nachthemd und mit hochgelegten Füßen auf der unbeleuchteten Terrasse. Entweder, sie hatte sich in den letzten Tagen an die Luft gewöhnt, oder es war tatsächlich nicht mehr so unangenehm stickig wie bei ihrer Rückkehr aus Island. Sie badete ihre Gliedmaßen in der lauen Nachtluft und gab sich dem rauchigen Blues hin, der aus ihren Funkkopfhörern kam. „Mickymaus“ nannte Bruno sie immer, wenn er sie damit sah. Wenn sie schon nicht mehr schlafen konnte, wollte sie es wenigstens schön haben. Die wehmütig-klagenden Klänge des Chicago Blues hatten sie mit ihrer undefinierbaren Sehnsüchtigkeit schon als junges Mädchen in ihren Bann gezogen und diese erste Liebe hatte ein ganzes Leben lang gehalten. Die Musik ging ihr vom Ohr direkt ins Herz. Später, als ihre Bekanntschaft mit Bruno ernster wurde, hatte sie beglückt festgestellt, dass ihre Initialen „R&B“ ergaben, wie Rhythm & Blues. Das hatte sich als gutes Omen erwiesen.

Tell Me What I've Done, drängte Howlin’ Wolf mit beschwörender Intensität. Sie ließ sich von den lockenden Klängen entführen und genoss den Moment. Der Mond stand am Himmel, aber auch ohne sein Licht wäre es nicht völlig dunkel gewesen – das war es in der Großstadt mit ihren vielen Laternen und Lichtern nie. Sie ließ den Blick über ihren eigenen und die umliegenden Gärten schweifen. Das Ganze wirkte großzügiger, als es tatsächlich war, denn sie und Familie Meyer, die die andere Doppelhaushälfte bewohnte, hatten sich für eine gemeinschaftliche durchgehende Rasenfläche ohne Zaun und Hecke entschieden. Eine Ligusterhecke umschloss den Doppelgarten, dahinter sah sie die Bäume in der Nachbarschaft als dunkle Umrisse aufragen. Eine grüne Oase, und das mitten in der Stadt. Was hatten sie es gut. Wohlig seufzend schloss Rea die Augen und überließ sich wieder der Musik.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis ihre wandernden Gedanken bei ihrer neuen Hausgemeinschaft angekommen waren. Einige Tage waren sie nun wieder von ihrem Urlaub zurück und teilten das Haus mit Nora und Colin – das „Sie“ hatte sich nicht lange gehalten. Das Miteinander klappte soweit ganz gut. Nora war in der Tat freundlich, ordentlich und rücksichtsvoll. Und Colin war ein lieber Junge, von dem sie allerdings nicht allzu viel sahen, weil er tagsüber im Kindergarten war – ohne den Ganztagesplatz hätte Nora die Zeit zum Arbeiten nicht ausgereicht. So gesehen hätten sie es nicht besser treffen können. Und trotzdem: Dass sie nicht mehr allein in ihrem Haus waren, hatte sich bereits bei einigen Gelegenheiten als lästig erwiesen.