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Otto W. Bringer

Der Tod der Rose

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Otto W. Bringer

Der Tod der Rose

Aus den Tagebüchern meiner Frau

Copyright: © 2017 Otto W. Bringer

Satz: Erik Kinting –http://www.buchlektorat.net

Erschienen bei tredition GmbH, Hamburg

978-3-7439-7120-2 (Paperback)

978-3-7439-7121-9 (Hardcover)

978-3-7439-7122-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

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Nach dem Tod meiner Frau nahm ich alles von ihr mit, was ich im Krankenzimmer sah. Legte es beiseite. Monate später fand ich in ausrangierten Ordnern beidseitig voll beschriebene DIN-A4-Seiten. Begann zu lesen. Las alle Seiten ihres Tagebuches, ihre letzten Notizen auf dem Blöckchen, die mich erschütterten. Betroffen von diesem freimütigen Geständnis ließ ich es sieben Jahre liegen. Bevor Roses beste Freundin Eva Just mich ansprach. Sie kannte es wohl. ,,Das musst du als Buch drucken lassen" . Nahm es wie geschrieben, ergänzte das ein und andere und nannte es ,,Der Tod der Rose". Nichts hat mich so berührt wie dieses langsame Sterben. Und ihre Kraft es auszuhalten bis zuletzt.

Otto W. Bringer

Schreibe einfach mal auf, was mir passiert. Vielleicht wird´s so was wie ein Tagebuch eines Tages.

Ich bin Rose. 39 Jahre jung. Meine Mutter ruft mich immer Roselchen, als wäre ich noch im Kindergarten. Rege mich auf jedes Mal. Aber was soll´s? Mamas dürfen sagen, was sie wollen. Wie ich reagiere, ist meine Sache. Bin schließlich eine gestandene Frau. Verheiratet, ein Sohn. Asistentin in der psychiatrischen Klinik Bettburg-Hau am linken Niederrhein. Werde mich demnächst selbstständig machen als Gesprächstherapeutin.

Verheiratet seit 17 Jahren mit einem älteren Mann, den ich schon Wochen nicht mehr gesehen habe. Eine neue Freundin im Spiel. Eine jüngere, was sonst? Mitarbeiterin aus seiner Firma, einem Autohaus. Er zahlt für dieses Verhältnis 1000 Mark monatlich plus Wohnung. Versehentlich gab man mir bei der Bank seine Kontoauszüge. Was seine feudalen Abendessen und Urlaube kosten, will ich gar nicht wissen. Mir blättert er gelegentlich, mal mehr, mal weniger blaue Scheine auf den Tisch Zum Teufel mit dem Kerl. Anfangs war ich wütend. Später gelassener. Heute ist er mir egal.

Noch haben wir eine gemeinsame Wohnung. In Essen, jetzt Moers, im Haus seiner Eltern. Fünf große Räume auf der ersten Etage, praktisch für mich allein. Parkettboden ideal zum Tanzen. Wenn ich einen hätte. Ach nein.

Unser gemeinsamer Sohn Christian ist krank. Seit sieben Jahren in Heimen. Beobachten und therapieren mit speziellen Methoden. Eine Gehirnhautentzündung im Babyalter schädigte die Stelle, die für Liebe und Mitgefühl zuständig ist. Irreparabel. Die neurowisschenschaftliche Diagnose kann ich nicht nachvollziehen. Weiß nur, er ist autistisch. Auf sich selbst bezogen. Ohne Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Mit ihnen zu fühlen. In Bälde kann er die Klinik verlassen, um auf einer Gesamtschule hoffentlich den Abschluss zu machen. Dann ruft der Bund. Mal gespannt, wie er das schafft. Sorge mich, dabei weiß ich nicht genau, ob aus Liebe oder Verantwortung. Tue aber alles, ihm eine Freude zu machen. Wenn schon sein Vater praktisch nicht existiert, soll er wenigstens spüren, ich, seine Mutter bin da.

In den fast acht Jahren besuchte ich ihn monatlich. Mit dem Auto von Essen in die Nähe von Ebermannstadt im Frankenland. Sprach lange mit der Leiterin der Kinderklinik. Hörte immer nur: „Ja es wird schon. Sie müssen Geduld haben“. Nahm ihn mit in mein Hotel. Zog ihm mitgebrachte Sachen an. Eine dunkelblaue Kniehose, ein rosa Hemd mit einem Bändel am Kragen. Und neue Schuhe. Er sollte wie mein Sohn aussehen. Schließlich will ich stolz auf ihn sein. Man sollte erkennen, das sind Mutter und Sohn.

Mein Outfit in meinen damaligen Lieblingsfarben Blau und Rosa. Barbara Buhlmann, eine fantasievolle Modekünstlerin entwarf und nähte für mich schicke Klamotten. Außer ihrer Kollektion für Betuchte und Modehäuser. Das wollte ich mir leisten. Ohne schlechtes Gewissen.

Bei jedem meiner Besuche in den Jahren bummelte ich mit Christian durchs Fachwerkstädtchen. Ließ ihn laufen, wohin er wollte. An die Eistheke, in einen Werkzeugladen. Er sollte spüren, dass ich ihn liebe. Auch wenn er selber sich mehr für Wasserhähne und Kneifzangen interessierte als für Menschen wie mich. Immerhin war er damals bereits 10 Jahre. Abends nahm ich ihn mit zum Essen. Auf das Erdbeereis zum Nachtisch freute er sich schon beim Frühstück. Seinen Vater sah er in diesen Jahren nur ein paar Mal. Jeder dieser Besuche machte mir Sorgen. Es könnte Streit geben. Christian aber hing an seinen Arm, lachend, als wäre alles gut. Verrückte Welt, dachte ich. Ernst, so heißt mein Mann, kaufte seinem Sohn, was er haben wollte. Papa ist der großzügige Spender. Als ob Geld Anwesenheit ersetzen könnte.

Als Christian entlassen wieder zuhause war, musste er zur Kenntnis nehmen, unsere Ehe existierte praktisch nicht. Er wendete sich an mich, wenn ihn etwas plagte. Bauchschmerzen oder eine Klassenarbeit. Sein Vater war abwesend. Ich wurde seine einzige Bezugsperson. Er nannte mich Mimi. Mimi, eine unbewusste Liebkosung? Dachte es und fühlte mich getröstet, wenn Umarmungen ausblieben.

Meist hockte Chris in seinem Zimmer, las Asterix und Obelix, bis sie zerfleddert im ganzen Zimmer herumlagen. Ordentlich ging er mit seinen eigenen Zeichnungen um. Bilder von Rohrverbindungen, undefinierbares technisches Zeug auf Blättern eines Ringbuches. Chris, so kürzte ich seinen Namen, malte nie Männchen, Vögel, ein Pferd wie andere Kinder in dem Alter.

Erst, als ich mir zwei Bassets anschaffte, taute er auf. Spielte mit Esther und Bonny. So hießen die beiden Jäger. Rannte mit den Schwarzweißbraungefleckten Langohren um die Wette. Schmuste mit ihnen. Warum eigentlich nicht mit mir? Möchte weinen. Ließ es sein. Wenn ich ihn umarmte, wand er sich heraus, als wollte ich ihn fesseln. Zwingen wollte ich ihn nicht. Nein. Hätte er gesehen, wie sein Vater mich immer mal wieder umarmt und geküsst hätte, ja dann hätte er gelernt. Vielleicht. Aber der Vater immer seltener zuhause. Und Autist bleibt Autist. Kümmerte mich um Wohnung und Essen. Irgendwas muss sich ändern, sagte ich mir. Irgendwas.

Wir wohnen jetzt schon 11 Jahre in dem großen Haus. Unsere Ehe blieb, was sie war. Keine wie ich sie mir vorgestellt hatte. Verliebt, verwöhnt, der Himmel auf Erden nur 8 Jahre. Danach Kind immer noch krank. Mann auf Freiersfüßen. Nach dem Motto: öfter mal was Neues. Warum macht er das nur? War ihm doch viele Jahre Geliebte, Köchin und Begleiterin, auf die er stolz war. Denke mir jetzt, es waren meine schicken Kleider, mit denen er auf der Kö promenierte. Warum ist jetzt alles anders? Habe ich etwas falsch gemacht?

Vielleicht ärgert ihn, dass ich erfolgreich bin, Geld verdiene. Mich um Christian kümmere und seine Ausbildung. Um alles, was Wohnung und Lebensunterhalt betrifft. Er nicht mehr allein das sorgende Oberhaupt der Familie. So sieht er sich gern, der Katholik. Die traditionelle Rolle war jetzt in ihr Gegenteil verkehrt. Er sollte sich fragen, warum. Und nicht bei jungen Weibern antichambrieren. Für mich ist er Luft.

Gut, dass ich Freunde habe. Wir lernten uns kennen beim täglichen Hundetreff im Schlosspark. Hunde fördern neue Bekanntschaften. Das Café nah. Original wie es vor den Bombenangriffen aussah. Das alte niederrheinische Städtchen im Krieg völlig zerstört. Danach wieder aufgebaut. Im alten Stil die Altstadt mit ihren hübschen, weißen, zweigeschossigen Häusern. Gemauerten Giebeln des Barock. Grüne, blaue und rote Fensterläden. Farbtupfer ins weißeste Weiß der Fassaden gesetzt. Kleine Geschäfte im Erdgeschoss mit Innenhöfen. Und Gittern, von denen Rosen oder Geranien baumeln. Gern besuchte Puppenstube für alle, die Moers kennen und das Café im Park lieben.

Rolf Köppers hat ein Juweliergeschäft. Ringe, Armbänder, Ohrringe, Ketten und Uhren. Eigentlich nicht mein Geschmack. Ein einziger Ring mit Opal und Diamanten gefiel mir. Mein Mann schenkte ihn mir zum Geburtstag. Rolf ist ein echter Kamerad. Seine Ilse schwesterlich mir zugetan. Ihnen kann ich meine Sorgen erzählen. Von Söhnlein Christian. Den jüngsten Eskapaden meines Mannes. Nachhaltigen Erlebnissen mit geisteskranken Menschen. Nach Feierabend bin ich geschafft. Körperlich, weil Anstrengung das Atmen erschwert. Und psychisch. Mein Gefühlshaushalt strapaziert von allem, was ich täglich 10 lange Stunden miterleben muss. Bin ich bei Köppers, fühle ich mich leichter.

Ilse kocht oder wir gehen zum Italiener ins «Il Mulino». Grottenhöhle mit der leckeren Pizza Margerita. Klassisch weiß mit Rot und Grün. Mozarella, Tomaten, Basilikum. Italiens Nationalfarben. Die vielseitige Küche Italiens möchte ich gerne kennenlernen. Mal sehen wo, wann und mit wem. Bei Ilse zuhause schmeckt mir besonders ihr Käsefondue. Mit einem Schuss Kirschwasser. Das regt an zu langen und heiteren Gesprächen. Beruhigt meine Nerven.

In Rosi, meiner Kosmetikerin, finde ich eine Leidensgenossin: „Lassen Sie sich doch die Haare färben. Kupferrot passt zu Ihrer ganzen Art. Sie bewegen sich, sprechen schnell und wissen, was Sie wert sind.“ Überlege einen Moment, Rosi hat Recht. Sehe mich im Spiegel: „Ein wenig heller, goldiger wäre mir lieber.“ Seitdem kennen mich alle mit dem rotgoldenen Schopf. Hochgesteckt wie ein Krönchen.

Meine Eltern besuchen mich. Mutti-Ellenruth und Lothar, mein zweiter Vater. Der erste fiel in Stalingrad 1943. Sie wollen mich sehen, nicht nur telefonieren. Sie wissen von meinem Mann nicht alles. Einmal erwischten sie mich, als ich heulte. „Was hast Du?“ Meine Mama besorgt, wie sie es sonst nicht zeigte. Strich mir über die Schulter. Ihr Roselchen hat Kummer. In der Regel zeige ich nicht, was mich bedrückt. Sagte ihnen nur: „Der Kerl kann mir gestohlen bleiben. Wieder eine neue Freundin, die dritte.“ Jetzt sind sie bei mir: „Gut siehst Du aus, eine neue Frisur?“ Sie lieben mich so, wie ich bin.

Wir gehen im Schlosspark spazieren. Kleine Kaffeepause im Parkcafé. Sehen eine Frau auf einem weißen Pferd reiten. „Die kommt gerade recht“ Mama sieht mich an: „Du bist in Au auch geritten, erinnere mich genau. Paula nanntest Du das Ponny, das Opa Dir schenkte.“ Meine Mama blickt augenzwinkernd zu Lothar. „In Au warst Du richtig versessen darauf, täglich mit Deinem Ponny auszureiten.“ Zögert eine Sekunde. „Was hältst Du davon, wenn wir Dir ein Pferd schenken?“ Das Angebot erwischt mich völlig unerwartet. Was soll ich da sagen?

Ein Pferd für mich. Atme tief durch. Kratze mich am Kopf, plötzlich juckt es. Betrachte meine Fingernägel. Schlecht lackiert heute. Nicht zu fassen, ich werde ein Pferd haben. Ein richtiges, ausgewachsenes Pferd. „Wo steht es denn?“ „Lothar hat gute geschäftliche Beziehungen zu Marbert in Krefeld. Frau Marbert besitzt einen Reiterhof. Da kam Lothar auf die Idee, bei ihr ein Pferd zu kaufen und Dir zu schenken. Es ist übrigens ein rabenschwarzer Wallach.“ „Ein Rappen, ein Rappen für mich ganz allein. Den muss ich sehen. Alle einsteigen, fahren wir los.“

Fast hätte ich die rote Ampel überfahren, so aufgeregt war ich lange nicht. In einer Wiesenmulde draußen vor der Stadt die Ställe. „Hallo, sind Sie Frau Rose Nissing? Ich zeige Ihnen Ihr Pferd.“ Der Mann zieht mich in das Stallgebäude. Laufe mehr als ich gehe an den Boxen entlang. Sehe schlanke Köpfe, die sich über die Boxentür recken. Dicke Hinterteile, denen egal ist, wer draußen vorbeigeht. Wo, wo ist mein Pferd? An der Box 11 bleibt der Mann stehen: „Hier ist Ihr Ariano. Also Ariano heißt er. Flüstere, ich will ihn nicht erschrecken: „Ariano“. Er wendet seinen schlanken Hals, blickt mich an. Schüttelt sich, wiehert. Scharrt mit den Hufen, als wollte er raus. „Temperamentvoller Kerl“, sagt der Mann. Es riecht nach Pferden und ihren Hinterlassenschaften. Streng.

Erinnere mich, genauso roch es beim Großvater in Au. Er starb vor drei Jahren. Oma war schon fünf Jahre tot. Meine Mama bezahlte von ihrem Erbteil diesen Gaul. Pardon, dieses edle Ross. „Danke, danke Mama“. Umarme sie so stürmisch, dass sie umgefallen wäre, hätte Papa-Lothar sie nicht aufgefangen. „Entschuldigung Mama.“ Drehe mich sofort wieder um: „Ariano“ lauter als beim ersten Mal. Wieder wendet er sich mir zu. Seine blassrosafarbenen Lippen bewegen sich. Die Nüstern, weit aufgerissen, vibrieren. Blickt mich an. Mit großen glänzenden Augen. Wobei ich nie weiß, ob Pferd mich ansieht oder durch mich hindurch. Ich bin verliebt, in ein Pferd.

Der Mann heißt Lüttke. Floh aus Ostpreußen ins Rheinland nach dem Krieg. Ehemaliger Leiter eines Trakehnergestüts, ein idealer Reitlehrer. Und Freund aller Reiter. Lerne Eva Just kennen, Ev Leffkes und Ria Hobelsberger. Wir vier wurden echte Freundinnen. Reiterfreundinnen. Das ist mehr als Freundschaft von Leuten, die sich nur auf zwei Füßen fortbewegen. Wir haben eine gemeinsame Leidenschaft, das Pferd. Lassen uns von unseren Vierfüßern voran bringen. Zügeln ihre natürlichen Temperamente. Achten aufeinander. Jeder Reiter braucht Raum. Besonders beim Traben, Galoppieren, Springen. Unsere unterbeschäftigten Füße lassen das Pferd lediglich wissen: so nicht, sondern so.

Lerne es jetzt in meinen wöchentlichen Reitstunden. Draußen auf dem Übungsplatz. Bei schlechtem Wetter in der großen Halle. Einer hilft dem anderen, wenn das Pferd bockt, nicht fressen will. Kehrt seine Box sauber, wenn einer krank ist. Wenn eines fohlt, sind wir vier dabei. Reden, befürchten Komplikationen, hoffen auf eine leichte Geburt. Nicht anders als bei den Menschen. Intensiver möchte ich sagen. Neues Leben kommt auf die Welt. Reckt sich, streckt sich, richtet sich auf die staksigen Beine. Das ist mehr als eine Sensation. Es ist ein Glücksfall. Im allumfassenden Sinne. Ich will alles das. Und letztenendes nicht nur herum hoppeln. Sondern Dressur reiten. Eines Tages.

Schon nach fünf sechs Reitstunden fühle ich mich fit. Will nicht mehr am Ende der Kolonne reiten. Nicht mehr die Letzte sein. Auch wenn ich als Letzte in diese Gruppe kam. Mein Ariano hilft mir. Er galoppiert davon, bevor ich ihn dazu antreibe. Nutze den Spurt aus und setze mich an die Spitze. Dreh mich zu den anderen. Lache: „Jetzt bin ich die Erste!“ Schlage die Zügel, die Schenkel, Ariano prescht davon. Der Abstand zu den anderen wird größer. Schön, dass der Reitplatz mehr als 2000m² misst. Meine Frisur löst sich im Wind, Die Haare fliegen hoch, mir um Stirn, Augen, Ohren. Es braust in meinem Kopf. Sieg, Sieg.

In der Dusche nimmt mich Eva Just: „Hör mal, liebe Rosel, so geht das nicht. Bringst die gewohnte Ordnung durcheinander. Bleib da, wo Du hin gehörst. Bis Du an der Reihe bist.“ Wendet sich ab. Spricht nicht mit mir. Zwei Wochen kein Wort. Also „Reih Dich ein“ sage ich zu mir. „Spendiere einen Prosecco“ und alles ist wieder gut. Es dauerte, Reiterinnen haben ihren Stolz. Ich auch, verdammt nochmal. Eines Tages werde ich die Erste sein. Springreiten oder Dressur. Das überlege ich noch. Wir vier hocken wieder zusammen.

Heute telefoniert mit Architekt Werner. Er ist ein guter Bekannter, auch mit Hund, einem Dackel. „Ich hab eine Kate im Angebot. Du willst doch ein Bauernhaus haben, oder? Hast du jetzt Zeit?“ Kommt angebraust, zeigt mir ein Foto. „Nah bei Kalkar, vis à vis Emmerich, da wo der Rhein eine Kurve macht. Ehemalige Melkerhütte. Kannst sie sofort haben.“

Ein eigenes Haus mein Traum. Ich flippe aus. Eines am Rhein mit Wiesen und Kühen. „Toll Werner“, umarme ihn. Erinnerungen überfallen mich. „Komm setz´ Dich, will Dir was erzählen. Weißt Du, es erinnert mich an Au in Bayern. Kleines Dorf vor dem 1400m hohen Wendelstein. Meine Großeltern hatten sich dort einen Alterssitz gebaut. Vor der schönsten Kulisse mit den liebsten Kühen der Welt. Als 9jährige lebte ich bei ihnen, bis der Krieg zu Ende war. Durfte auf einem Ponny reiten lernen. Großvater wollte nach seiner Pensionierung nicht ohne Arbeit sein. Verwirklichte einen alten Traum, Haflinger zu züchten.

Ganze Nachmittage verbrachte ich in den engen Ställen. Striegelte die Hinterbacken aller Pferde. Für die Rücken stieg ich auf ein Fußbänkchen. Striegelte sorgfältig und länger als nötig, meinte Großvater. Kam mir vor wie eine richtige Reiterin. Den Stallgeruch werde ich nicht vergessen. Nie, nie das Schnauben und Wiehern, wenn ihnen wohl war. Taufte mein Lieblingsponny auf den Namen Paula. Mit Wasser aus dem Bach. Au, ach ja, Au war der schönste Ort meiner Kindheit. Mit Ariano ist mein Kindertraum Wirklichkeit geworden. Noch was ganz anderes. Bin noch in Au:

Ebenso wenig vergesse ich unseren ersten Gottesdienst in der katholischen Kirche. Es duftete wunderbar. Weihrauch, wie ich später erfuhr. Wir waren evangelisch. Weihrauch kannten wir nicht. Der katholische Pfarrer und die meisten Leute wollten uns anfangs nicht in ihre Kirche lassen. Unser Ritus sei Gotteslästerung. Eines Tages besuchte uns der Dorfälteste, Bauer Nemeter: „Hoab mit dem Kirchnvorstand gered, dem Pfoarrer. Natürlich könnt Ihr Euern Gottesdienst in unsrer Kirchn feiern. Ia betets un wia betn, da ist ka Untaschiad. Mia hoam den sölben Himmi. Grüass Gott.“ Weg war er.

Werners Zeigefinger deutet unmissverständlich auf die Kate im Foto. „Wir sollten jetzt unverzüglich losfahren. Der Verkäufer wartet auf uns. Wir fahren mit meinem Wagen.“ Werner hat mir aufmerksam zugehört, ist jetzt bei der Sache. „Muss nur noch rechtsrheinisch einen kurzen Besuch machen.“ Wie lange dauert es, bis wir da sind?“ quengele ich. Unruhig wie ein Kind. Weihnachten fällt mir ein. „Eine knappe Stunde.“ Werner fährt mit seinem flotten BMW über die Autobahn 3. Bis zur Ausfahrt Emmerich. Über die Brücke. Damals die schönste am Rhein. Heißt es.

Über zwei kräftige Pylone gespannt mächtige Stahltrosse. An ihnen dünnere, senkrechte Seile, wie Saiten einer Harfe. An denen die leicht gebogene Fahrbahn hängt. Ein ästhethisches Gebilde, das die flache Landschaft wie ein Kunstwerk übersteigt. Nehme die Brücke vor mir nur flüchtig wahr, die Kate, die Kate im Kopf. Als Werner mich darauf hinweist, sehe ich genauer hin. Staune, wie so dünne Seile eine ganze Brücke halten können.

Im Nu hinüber. Einen halben Kilometer über die Deichstraße. Einem schlängelnden Weg gefolgt. Dann sehe ich die Hütte. Auf einem Hügel, genannt Warf. Wegen Hochwasser, fällt mir ein. Am Ende einer Pappellallee, Emmericher Eyland Nr. 28 meine neue Adresse.

Raus aus dem Wagen. Nerven und Herz flattern. Das Törchen aufgerissen. Den Kiesweg hinauf bis zur Eichenholztür. Etwas zu hastig. Erst mal durchatmen. Auf der Bank sitzt schon der Mann, der die Kate loswerden will. Es dauert nicht lange, husche durchs Haus. Hinauf, wieder herunter. In meinem Kopf nur: alles das ist jetzt meines. Wir verabreden einen Termin beim Notar. 120000 Mark wie schon mit Werner abgesprochen. Für 2000 m2 Wiese und Freiheit pur. Freund Rolf gab mir spontan 100000 Mark zinslos. Als ich es ihm erzählte. Er hatte das Haus meines verstorbenen Schwiegervaters in Moers gekauft und vermietet es mit Gewinn. Es ist ein altes Patrizierhaus aus der Gründerzeit. Die restlichen 40000 Mark hole ich mir bei der Boden-Kreditbank. Inklusive 20000 Mark für Unvorhergesehenes. Zinsen und Raten erträglich. Wie üblich bei Hauskrediten.

Jetzt bin ich Hausbesitzerin. Kann machen, was ich will. Zuerst die Kate aufmöbeln, bewohnbar machen, ohne ihren rustikalen Charakter zu verändern. Die ehemalige Melkerhütte ist jetzt mein Domizil. Denkmalschutz meckert, als ich die Haustür rot lackieren lasse. Läßt es gelten, als sie sehen, nichts sonst hat das äußere Bild verändert. Im Gegenteil. Die Schlagläden an den Fenstern bleiben wie sie waren. Nur aufgefrischt. Weiße und rote Dreiecke wie bei alten Burgen am Niederrhein. Ein ortsüblicher Lattenzaun mit Blumenkästen sagt, hier wohnt jetzt eine Frau. Die Hunde toben herum, wühlen in Erdhügeln, als hätten sie Beute gewittert. Sehe, Bonny hat einen Maulwurf im Maul. Esther jault eifersüchtig. Lasse sie.

Dem Drinnen gilt meine ganze Liebe. Jeden Abend überlege ich, was brauche ich? Was hätte ich gern? Die Wochenenden nutze ich für Einkäufe. Mein Ehrgeiz ist angestachelt. Lege los. Eine moderne Küche muss es sein. Mit ausziehbaren Regalen. Platz ist knapp in der Hütte. Einbauten so viel wie möglich. Maximal in der Raumausnutzung. Für Porzellan, Gläser, Töpfe, Kuchenformen, Pfannen und Geschirr. Ein Küchenspezialist aus Moers richtet es bestens. Billig nicht, aber oho. Das nur Nützliche hinter Türen versteckt. Sichtbar, was meinen guten Geschmack verrät. Leute, die mich aus purer Neugier jetzt schon besuchen, sind begeistert. Als sie gehen, glitzert Neid in ihren Augen. Kochen kann sie auch noch, meint eine.

Noch nicht alles fertig eingerichtet, verbringe ich die Nächte in meiner Kate. Provisorisch auf einer Campingliege. Die Klinik nur einen Katzensprung entfernt. 15 Minuten statt 50 von Moers. Vormittags früh und an freien Nachmittagen kontrolliere ich die Handwerker, lasse dies oder das noch ändern. Bis es so ist, wie ich es will. Die Küche ist als erste fertig. Ich kann kochen. Für mich und den ein oder anderen, der mich jetzt schon besucht. Probiere, teste neue Rezepte. Mein Metzger in Kalkar hat alles, was Mensch und Hund erfreut.

Schnell eine kleine Story. Meine Spezialität ist Filet Wellington. Zwischen die aufgeschnittenen Scheiben eines Rinderfilets gestrichene Gänsestopfleber. Im Backofen dunkelbraun gebrutzelt. Als Rolf und Ilse an einem Samstag bei mir sind, reden wir und schnabulieren von allem und nichts. Ich, in der Küche am Herd, rede mit. Nehme das Blech aus dem Backofen, heiß, heiß ist es. Schnappe mir den zweiten Topflappen, hoppla, das Filet rutscht herunter auf den Boden. Bevor ich mich bücke, reißt es Freund Bonny an sich. Und verschwindet um die Ecke in den angrenzenden Wohnraum. Konnte ihm nicht lange böse sein. Schimpfte pro Forma ,,Du, Du, Du". Wir begnügen uns mit Bauernbrot und Salami. Ich spendierte einen Roten aus Chateauneuf-du-Pape. Eine lustige Geschichte, die ich immer wieder erzähle. Mit jeweils neuen Details zum Höhepunkt des häuslichen Dramulets.

À propos Wohnraum. Offen zu Küche und Essplatz. Durchgehend der Boden aus blaurot hartgebrannten Klinkersteinen. Die Balkendecke abgestützt von einem kräftigen Eichenstamm mit zwei abgewinkelten Ästen. Vom Trödlerhof in Millingen lasse ich einen Kamin liefern und zimmerhoch ummauern, dass er aussieht wie ein echter Tudor. Inklusive gusseiserner Kaminplatte und Gitter für die Holzscheite. Zwei Messingleuchter für den ovalen Esstisch. Den Trödler werde ich öfter besuchen. Dort gibt es schöne alte Schätzchen aus schönen alten Zeiten. Ein Bild vielleicht. Weingläser. Aus Moers die kaffeebraune Polstergruppe vor dem Kamin. Feierabend genießen am brennenden Kamin. Lesen, Elvis hören, nachdenken. In einer Woche, hoffe ich, ist es soweit.

Immer mal wieder schnüffle ich in Millingen. Entdecke eine geklöppelte Tischdecke. Kaufe sie und eine Hängelampe, die mich anlacht. Sie sieht aus wie der Hut eines chinesischen Reisbauern. Flache Schalen großer Muscheln verlegt bis zur Spitze. Wie Schiefertafeln auf einem spitzen Dach.

Sehr schön perlmutt schimmerndes Licht über dem ovalen Eßtisch mit 6 Stühlen aus Bambusrohr. Zentrum der Gastlichkeit. Ein einziges Bild an der Wand. Zart colorierte Lithographie mit Reitern in offener Landschaft. Neunzehntes Jahrhundert.

Die technischen Dinge regelte Rolf für mich. Wasseranschluss, Heizung, Radio- und Fernsehantenne. Eine Putzfrau finde ich schnell in der Nachbarschaft. Bei Antrittsbesuchen in den herrschaftlichen Backsteinpalästen der Bauern und den Häuschen normaler Leute. Hilla Schreiber eine von ihnen. Erscheint am ersten Tag mit dem Fahrrad, um zu arbeiten. Im Hänger drei schnatternde Gänse. Schenkt sie mir zum Einzug. Eine der drei etwas größer, schreit am lautesten. Ich mache sie zur Anführerin. Nenne sie Poppea. Mein Haus geschützt wie Rom damals. Die Vandalen können kommen.

Graugänse wie die von Konrad Lorenz, der das Verhalten von Tieren, bevorzugt Graugänse erforschte. Sah kürzlich einen Dokumentarfilm im TV. Flugs bringt einer einen Trog. Groß genug zum Plantschen und Trinken. Setzt daneben eine Hütte mit Heuboden für den erwarteten Eiersegen. Gänseeier sind viermal so groß wie die von Hühnern. Christian isst sie gern, weil sie so groß sind.

Mir sind kleinere Hühnereier lieber. Schmecken feiner. Söhnlein freut sich schon auf die große Pfanne, wenn er vom Bund ein Wochenende bei mir Kurzurlaub macht. Gebrütet haben die Krakeeler immer. Sehe sie sitzen auf den Eiern, tagelang, wochenlang. Bis jetzt ist nichts herausgekommen bei der vorgetäuschten Mutterschaft.

So feiere ich mich selbst. Als Landfrau auf eigenem Grund mit Haus. Alleinherrscherin. Kaufe mir eine kornblumenblaue, locker gestrickte Jacke. Fühle mich ländlich lässig. Lade meine Freunde ein, den Einzug zu feiern. Sollen hautnah erleben, was mich glücklich macht. Gieße Prosecco in die Gläser. Alle freuen sich mit mir. „Du wohnst jetzt wie im Paradies.“ ,,Ja, Ihr habt Recht. Zweihundert Meter nah der Rhein. Höre die Dampfer tuten, Turbinen röhren, lauter, entfernter. Vielleicht hundert Meter nah ein kleiner Zufluss. Die Kalflak mit Scharen wilder Schwäne. Schwarze und weiße. Sie fliegen schreiend auf und davon, wenn ich mich dem schilfigen Ufer nähere. Auf satten Böden hunderte von Kiebitzen. Picken und picken liegengebliebene Körner der letzten Ernte. Zwischen Erlenbüschen Feldrehe. Jäger füttern sie anstatt zu schießen. „Ein anderes Leben ist das hier. Beneidenswert“ meint Edith. Fühle mich wohl bei solchen Lobgesängen. Wie ein Vogel im Nest.

Winter kommt. Die ersten Nachtfröste. Spuren von Schnee in den Ackerfurchen. Am sternenklaren Himmel nähert sich ein Sturm. Wache auf in der Nacht. Höre ein Rauschen. Rauschen wie von hundert Düsenfliegern. Springe aus dem Bett ans Fenster. Näher kommt der Lärm. Höre Schnattern. Im fahlen Mondlicht sehe ich es kommen. In der Formation eines Dreiecks. Schwarz vor nachtblassem Himmel. Das Nurflügelflugzeug senkt sich herab. Landet im Gleitflug hinter meiner Kate auf dem Acker meines Nachbarn. Wintersaat im Boden. Genug Futter für die Vögel. Es sind Wildgänse. Kommen aus dem kalten Norden. Lassen sich jeden Frühwinter bei mir nieder. Futtern die Äcker leer, die Bäuche voll. Damit sie die tausende von Kilometern ins warme Afrika schaffen. Die Bauern werden großzügig entschädigt. Poppea und ihre Schwestern schlafen derweil den Schlaf der Verwöhnten. Das Geräusch aber, dieses unverkennbare, ohrenbohrende Geschnatter vieler tausend Gänse reißt mich jedes Jahr aus dem Bett ans Fenster. Um dieselbe Zeit.

Rede gerade vom Schlafen. Nächtige oben unter dem Giebeldach. Zwei größere Zimmer, ein kleines. Alle mit schrägen Decken. Kuschelig irgendwie. Eines der größeren ist meines. Mit einem breiten Doppelbett ohne Geländer. Polsterweiche, mit Stoff bezogene Rückwand. Wie ein barocker Giebel geschwungen. Mein Kopf will bei heftigen Träumen keine Beule bekommen. Zu beiden Seiten eine Lampe. Ihr Seidenschirm streut aprikotfarbenes Licht auf Gesichter und alles andere.

In der Mitte der Dachschräge Stangen für jede Menge Bügel. Auf denen Kleider, Mäntel, Hosen und Jacken lüften. Wenn sie nicht getragen werden. Lasse eine Sonnenbank davor stellen. Ich liebe hellbraun getönte Haut. An anderen und mir selber. Den ganzen mehr oder weniger unaufgeräumten Krempel unter der Schräge verdeckt ein bodenlanger Vorhang. Ritsch – und ich kann hinein. Ratsch – und mein Kleiderschrank ist wie vom Erdboden verschluckt. Der Rest ist Raum mit Bett. Aprikofarben.

Das zweite größere Zimmer für Christian ist einfach möbliert. Ein kleiner Schreibtisch, dicke Schaumstoffkissen, die sich leicht versetzen lassen. Wandfächer für Bettzeug und Wäsche. Dielen aus Tanne in allen Zimmern. Geben ein warmes Gefühl, auch wenn die Gasheizung mal ausfällt.

Im kleinsten Raum habe ich ein Bad einrichten lassen. Große Wanne mit Sitzstufe. Außen resedagrün, innen weiß. Großes Waschbecken mit viel Ablagefläche. Raumhoher Spiegel zeigt mich in ganzer Länge. Verchromte Stange hält das überdimensionale Badetuch. Hocker. Sonst nichts. Auf dem dunkelbraunen Korkboden ist gut stehen. In das Privatissimum unter dem Dach führt eine steile Holztreppe. Vom Wohnraum 14 Stufen, mit Handlauf. Meine 30-pfündigen Bassets muss ich hinauftragen. Alleine schaffen sie es nicht. Sitzen vor der untersten Stufe und jaulen. Wollen zu mir ins Bett. Wau!

An diesem Wochenende lade ich meine Eltern ein. Zum ersten Mal in meine Kate. Es ist alles fertig eingerichtet. Meine Stimme am Telefon muss vielversprechend geklungen haben. So, als wäre ich im Paradies. Nicht weil andere es sagen. Ich sehe es, spüre es mit allen Sinnen.

Juli 1979. Steige am Nachmittag aus meinem 924er Porsche, schon schlägt mir der süßdrängende Duft blühender Weißdornhecken entgegen. Krakeelen meine drei Gänse lauter als sonst zur Begrüßung. Wedeln die Bassets um meine Beine, wollen getätschelt werden. Spiegelt sich im Glas der Sprossenfenster helles Sonnenlicht. Aus dem schwarzen Loch im Giebel des nachbarlichen Stallgebäudes ruft ein Käuzchen. In meinem Korb warten drei Hühnchen darauf, von mir gebraten zu werden. Gleich, wenn die Eltern hier sind.

Sie haben mich rasch gefunden. Papa-Lothar ein Pfadfinder alter Schule. Sie wollen bleiben einen langen Abend zum Essen. Nächtigen 20 Autominuten von hier im ersten Klever Hotel «Schwanenburg» Die ehemalige Residenzstadt hat der Krieg fast ganz zerstört. Aufgebaut wieder ein ansehnlicher Ort mit Zeugen seiner großen Vergangenheit. Herzogtum. Seine barocken Gartenanlagen Vorbild für Gartenkunst in Europa. Später Badeort. Unter Napoleon Arrondissements du Clèves. Lohengrin soll hier auf einem Schwan geritten sein. Volksmund. Realität aber die Geschichte von Johanna Sebus.

Jugendliche Heldin, rettete ihre Mutter aus dem Hochwasser des Rheins. Noch andere zu retten, gelang ihr nicht. Ertrank in den Fluten. Napoleon verlieh ihr posthum den Orden der weißen Rose. Für tugendhaftes Verhalten. Dichter Goethe schrieb ihr zu Ehren eine Ballade.

Nicht dass einer jetzt denkt, ich bin eine Heldin. Einer, der mich so sieht, in Gedichten lobt und preist, muss erst noch geboren werden. Ich kann gut bruzzeln und braten. Meine Hühnchen schmecken Ellenruth, meiner Mama und Lothar, meinem Papa richtig gut. Wollen sie bei ihrem nächsten Besuch wieder auf ihrem Teller sehen. Mit Blattsalat, geschmorten Zwiebeln und einem Chablis, Jahrgang 74.

Ariano macht mir Sorgen. Aus drei Gründen. Er macht, was er will, ist zickig, wie Eva sagt. Zweitens die lange Fahrt von Emmericher Eyland nach Krefeld und zurück. Von Moers aus war es ein Klacks. Hier kann ich ihn allein nicht halten. Drittens spüre ich immer öfter, wie sich mein Atem verkrampft bei vollem Galopp. Aber ich hatte vier wunderbare Jahre. Sportliches Vergnügen trotz harter Arbeit. Und entspanntes, lustiges Zusammensein mit den Frauen. Als Eva Just nach Celle zog, besuchte ich sie. Mit Ariano im Hänger. Wir ritten stundenlang durch die Lüneburger Heide. Erlebte Natur pur, unvergesslich. Ein regionales Tournier machte ich mit in Moers. Springreiten. Nicht gewonnen. Egal. Ich war dabei.

Jetzt muss ich mich entscheiden. Finde einen Käufer für mein Pferd. Fahre zum Marberthof. Streichele Ariano über den schlanken Hals, die Kruppe. Ein letztes Mal. Könnte heulen, als er mich ansieht mit seinen großen Augen. Aber es muss sein. Meine Idee einer eigenen Praxis will ich jetzt zügig realisieren. Konsequent für meine berufliche Zukunft arbeiten. Sie wird mich täglich fordern. Keine Zeit mehr für Reiterspiele. Verabschiede mich mit einer Kaffeetafel, einer Flasche Champagner. Lüttke umarmt mich, die Freundinnen: „Bis bald.“ Als glaubten sie es. Einzig mit Eva Just bleibe ich in Kontakt. Telefonieren viel. Besuchen uns gegenseitig. Auch ohne Pferde. Sie will ihres auch abgeben.

Ende März ruft sie an: „Hast Du Lust mit uns an die Algarve zu fahren? Mit den Kindern? Drei Wochen Sonnenschein pur ohne Männer?“ „Wann soll das sein?“ „Vom 12. – 31 Juli.“ Erzählt von drei kleinen Villen, die preisgünstig vermietet werden. Besitzer eine Frau Möller aus Krefeld. Wir hätten eine für uns allein. Rasch überlege ich, nichts geplant. Amalfi kann warten. Vielleicht nächstes Jahr. „Mach ich mit.“

Christian ist 12. Seit einem halben Jahr wieder bei mir. Evas Kinder etwas jünger. Zwei Töchter, ein Sohn. Studiere farbige Prospekte, Evas Fotos, damit ich weiß, was mich erwartet. Sieht aus, als hätte Eva Recht. Tolle Lage. Außerhalb von Lagos. Die Caba de Sao Vicente 15 Minuten nah. Mit einem feinsandigen Strand, flach für kleine Kinder. Temperatur im Sommer nie über 28 °C. Auszuhalten auch von empfindlicher Haut, wie Eva sie hat. Die weißen Gebäude auf einem Hügel inmitten vieler Hügel. Eines für uns, Bergantine, hübscher Name. Kleiner Innenhof. Vom flachen Dach Blick über wellige Macchiaflächen bis ans Meer. Zwischendrin Piniengruppen, da und dort eine Palme.

Der Himmel blau. Eva hatte dort schon einmal Ferien erlebt. Bringt sich bei unserem Telefongespräch so in Rage, dass es mich ansteckt. Ich freue mich jetzt richtig.