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WILLIAM VOLTZ

 

 

 

DER

UNTERGANG

VON ATLANTIS

 

Roman

 

 

 

 

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WING Publishing

 

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Über den Autor

Zum Buch

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Impressum

 

Über den Autor

 

William Voltz wurde am 28.Januar 1938 in Offenbach geboren. Er interessierte sich bereits in früher Jugend für Science Fiction, wurde Mitglied im SFCD und war Mitbegründer des SF-Clubs STELLARIS in Frankfurt.

William Voltz begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und auch ein Buch mit dem Titel STERNENKÄMPFER wurde veröffentlicht. Für seine Stories, die sich großer Beliebtheit erfreuten, bekam er im Jahr 1961 den »Besten Fan-Autor Preis«.

Sein Engagement ebnete ihm 1962 den Weg ins damals noch junge und kleine PERRY RHODAN - Team.

Bis zu seinem viel zu frühen Tod am 24. März 1984 schrieb der Autor nicht nur für diese und andere Serien, sondern veröffentlichte auch Serien unabhängige Romane und Kurzgeschichten.

Bookwire gab uns die Möglichkeit, diese William Voltz Veröffentlichungen als e-books anzubieten.

Zum Buch

 

In dem Versuch, seinem sterbenden Volk eine neue Lebenschance zu bieten, hat Cnossos, ein Balamiter, in die Geschicke einer jungen Welt jenseits seines eigenen Raum-Zeit-Gefüges eingegriffen. Der Schauplatz seines Wirkens ist Atlantis, ein kleiner Kontinent, auf dem Sternfahrer und Planetarier in Eintracht miteinander leben. Und das Ziel seiner Machenschaften ist, mit Hilfe einer Dimensionsbrücke eine Invasionsarmee heranzuführen. Doch der Brückenschlag zwischen den Dimensionen führt zu Chaos und Untergang ...

1.

 

Den ganzen Tag über war Bhutor von einer unerklärlichen Niedergeschlagenheit gequält worden, und das Gefühl verstärkte sich noch, als er sich am späten Abend auf den Nachhauseweg begab. Innere Stimmen schienen ihm Warnungen zuzuflüstern, bis er schließlich zögernd stehenblieb und sich fragte, ob es unter diesen Umständen überhaupt einen Sinn hatte, wenn er seine Wohnung aufsuchte, um sich zur Ruhe zu legen. Den ganzen Tag hatten die Energieforscher und er über Tobos' Theorie diskutiert, ohne dass sie einen Schritt weitergekommen waren. Sie wussten einfach zu wenig über diese Dinge.

Bhutor fragte sich, ob er Santhalia, seine Lieblingselfe, aufsuchen sollte. Sie verstand es fast immer, ihn aufzuheitern.

Merkwürdigerweise fühlte er sich trotz seiner Niedergeschlagenheit stark von seinem Zuhause angezogen. Er runzelte die Stirn und fragte sich, was mit ihm los war.

Er musste seine Nerven besser unter Kontrolle bekommen.

Vielleicht tat ihm frische Luft gut. Er verließ die Bahn und ging zu Fuß weiter. Je näher er der Straße der Blumen kam, desto größer wurde seine Unruhe.

Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür, dass er sich solche Sorgen machte. Schließlich hatte er in den letzten Tagen fast alles erreicht, was er sich wünschte. Wakan war im Weltraum geblieben. Tobos war zurückgetreten und hatte ihm Platz gemacht, so dass er jetzt der mächtigste Mann von Atlantis war, und Mura würde früher oder später seinem hartnäckigen Werben nachgeben.

Aber da war noch etwas, eine unaussprechliche Drohung, die wie ein dunkler Schatten über ihm und der Stadt lag.

Bhutor fasste sich an den Kopf.

War das der Preis, den er für die Verantwortung bezahlen musste? Hatte er sich überschätzt?

Er schüttelte unbewusst den Kopf und ging weiter. Diese vorübergehenden Stimmungen durften ihn nicht beeinflussen.

Er erreichte die Straße und ertappte sich dabei, dass er sich immer wieder umblickte, als bestünde die Gefahr, dass jemand hinter ihm nachschleichen könnte. Doch er sah nur ein paar harmlose Passanten, die zu diesem späten Schrei zu ihren Wohnungen unterwegs waren oder ein Restaurant besuchen wollten.

Das Haus, in dem Bhutor wohnte, wurde von farbigen Lichtern angestrahlt. Auf dem Dach brannten geruchlose Fackeln. Der vertraute Anblick kam Bhutor zum ersten Mal unheimlich vor. In den Flammen der brennenden Fackeln glaubte er seltsam verzerrte Gestalten tanzen zu sehen. Hässliche Fratzen schienen ihn aus der Dunkelheit heraus anzustarren.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Ehrenwache. Scheinbar unbeeindruckt von allen geheimnisvollen Ereignissen standen die beiden jungen Atlanter zu Füßen der mächtigen Steinköpfe auf den Sockeln neben dem Eingang.

Bhutor stellte fest, dass er Herzklopfen hatte. Ärgerlich über sich selbst passierte er den Eingang seines Hauses. Es war, als fiele ein dunkler Mantel auf ihn herab. Irgendetwas Körperloses umschloss ihn und ließ ihn nicht mehr los. Instinktiv rang er nach Atem. So stand er im Vorhof, der Panik nahe und vom Gedanken an eine rasche Flucht beseelt. Fast wäre er auf die Straße zurückgestürzt und hätte sich der Lächerlichkeit preisgegeben, doch eine stärkere Kraft als sein eigener Wille bannte ihn auf den Platz, an dem er sich gerade befand.

Die Atemnot wurde so stark, dass er glaubte ersticken zu müssen.

Dann kam einer seiner Assistenten aus dem Haus, um ihn zu begrüßen. Der Mann schien nichts von dieser drückenden Atmosphäre zu spüren.

Bhutor war erleichtert, ihn zu sehen.

»Alles in Ordnung?«, krächzte er.

»Ja, Erster Rat. Sie haben Besuch!«

»Besuch?«, stieß Bhutor alarmiert hervor. »Um diese Zeit? Wer ist es? Warum haben Sie ihn eingelassen?«

»Ein junges Paar, das sich nicht abweisen ließ und wichtige Informationen für Sie hat.«

»Wegschicken!«, befahl Bhutor. Seine Stimme überschlug sich fast. »Ich will sie nicht sehen.«

»Ich soll Ihnen bestellen, dass es um die Dimensionssache geht«, sagte der Atlanter.

Bhutor schluckte. Er wischte sich über die Stirn und spürte, dass sie mit Schweiß bedeckt war.

Wer in Muon wusste etwas von Tobos' Theorie außer den Wissenschaftlern? Hatte Tobos nicht geschwiegen?

Undenkbar!

»Ich werde mit ihnen reden«, sagte Bhutor gepresst.

Unwillkürlich suchte er nach einem Grund, seinen Assistenten in ein Gespräch zu verwickeln, doch bevor ihm etwas Passendes einfiel, hatte der Mann sich bereits wieder zurückgezogen. Bhutor stand allein im Vorhof. Die erleuchteten Fenster kamen ihm wie bösartig starrende Augen vor. Das Gefühl einer drohenden Gefahr verdichtete sich.

Wie betäubt stolperte Bhutor in sein Haus. Er wusste, dass er nicht mehr umkehren konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Unbekannte Mächte schienen Besitz von ihm zu ergreifen.

Er durchquerte die Korridore und Räume, bis er sein Büro erreicht hatte. In seinem Haus war es noch nie laut zugegangen, aber jetzt herrschte hier eine unerträgliche Stille. Die Wände schienen sogar das Geräusch seiner Schritte in sich aufzusaugen.

Bhutor versuchte, sich gegen irgendetwas Schreckliches zu wappnen, aber er vermochte sich nicht zu konzentrieren.

Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, atmete er unwillkürlich auf. Was immer er zu sehen erwartet hatte, traf nicht zu. Vor ihm saßen zwei junge Atlanter, ein Mann und ein Mädchen, und lächelten ihm entgegen.

Doch die Erleichterung des Ersten Rates war nicht von langer Dauer. Kaum, dass er die Tür hinter sich zugedrückt hatte, kehrten die Ängste mit doppelter Intensität zurück.

Die beiden jungen Atlanter sahen ihn seltsam an, mit einer unerklärlichen Gier in den Augen.

»Sie sind also Bhutor«, stellte der Mann fest. »Ich habe schon Bilder von Ihnen gesehen, aber ich habe mir Sie irgendwie anders vorgestellt.«

Etwas an dieser Stimme war unangenehm, ein besonderer Reiz, der Bhutor einen Schauer über den Rücken trieb. Er sah das Mädchen noch stärker lächeln, aber diese Freundlichkeit wirkte unpassend.

Unwillkürlich machte Bhutor einen Schritt zurück und streckte eine Hand nach dem Türöffner aus. Doch sein Arm fiel zurück. Eine Kraft, die stärker war als sein eigener Wille, zwang ihn zum Stehenbleiben.

»Wer sind Sie?«, brachte er hervor. »Und was wollen Sie?«

Der junge Mann stand auf. Seine Bewegungen wirkten einstudiert.

»Setzen Sie sich, Bhutor! Wir werden ein langes Gespräch miteinander führen.«

Bhutor blinzelte. Es widerstrebte ihm, den Befehl des jungen Mannes auszuführen, aber er besaß nicht die Willenskraft, sich dagegen aufzulehnen.

Der Fremde ließ sich auf dem Platz hinter dem Schreibtisch nieder, wo sonst Bhutor zu sitzen pflegte. Bhutor musste auf dem Besuchersitz Platz nehmen.

»Wir sind keine Atlanter«, eröffnete der Unbekannte das Gespräch. »Wir haben nur dieses Aussehen angenommen, um kein Aufsehen zu erregen und niemanden zu erschrecken. In Wirklichkeit sind wir Balamiter und kommen aus einer anderen Dimension.«

Diese so leichthin gesprochenen Worte versetzten Bhutor einen Schock.

Aus einer anderen Dimension!, wiederholte er in Gedanken.

So phantastisch das auch klang, Bhutor zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit der Behauptung. Da war etwas in den beiden Fremden, was ihn an ihrer Offenheit nicht zweifeln ließ.

Der junge Mann schwieg, als wollte er Bhutor Zeit lassen, sich von seiner Überraschung zu erholen.

»Dann stimmt es also doch!«, brachte der Erste Rat endlich hervor. »Tobos hat recht behalten.«

»Tobos ist Ihr Vorgänger?«, erkundigte sich der Fremde. »Dann hat er also etwas geahnt? Sehr erstaunlich! Aber Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Wir kommen als Freunde und haben uns absichtlich sehr zurückhaltend benommen, damit keine Panik entsteht.«

»Freunde?«, echote Bhutor. »Sie haben Atlanter entführt und alle möglichen Dinge geraubt.«

Das Wesen aus einer anderen Dimension lächelte. Es fiel Bhutor auf, dass nur der Mann sprach, das Mädchen schien eine untergeordnete Rolle zu spielen.

»Mein Name ist Cnossos«, stellte sich der Unbekannte vor, dann deutete er auf das Mädchen. »Das ist Gnotor. Wie haben niemanden entführt, sondern nur Versuche unternommen, die zur Kontaktaufnahme unbedingt notwendig waren. Allen verschwundenen Atlantern geht es gut. Sobald die Dimensionsbrücke fertig ist, werden sie in ihre Heimat zurückkehren können.«

»Dimensionsbrücke? Was ist das?«

»Eine energetische Verbindung zwischen den Parallelwelten. Wir haben alle Unterlagen mitgebracht, um sie bauen zu können. Es wird bald ein Tor zwischen den Dimensionen geben, so dass Balamiter und Atlanter sich gefahrlos besuchen können.«

»Und wie sind Sie hierher gekommen, wenn es diese Dimensionsbrücke noch nicht gibt?« Nachdem Bhutors Angst sich allmählich legte, begann sein Verstand wieder mit gewohnter Schärfe zu arbeiten. Das, was er als Gefahr gesehen hatte, stellte sich jetzt als wissenschaftliches Problem dar.

»Eine gute Frage«, gab Cnossos zu. »Wir wollten die Dimensionsbrücke nicht ohne Zustimmung der Atlanter bauen, denn wir waren nicht sicher, ob Ihnen an einer Verbindung mit unserer Welt gelegen ist. Deshalb kamen wir über den einseitig funktionierenden Objekttransporter hierher.«

Bhutor bekam große Augen.

»Sie können also nicht zurück?«

»Nur über die Dimensionsbrücke!«

Der Erste Rat war beeindruckt. Die Fremden schienen entschlossene Wissenschaftler zu sein, die den Mut zum Risiko hatten. Es war lächerlich, in ihnen eine Gefahr zu sehen. Was wollten zwei Balamiter in Atlantis ausrichten.

Bhutor nahm an, dass es nur die Fremdartigkeit der Balamiter war, die ihn zunächst erschreckt hatte.

»Unsere Galaxis ist nicht so bevölkert wie die Ihre«, fuhr Cnossos fort. »Wir mussten feststellen, dass wir die einzigen intelligenten Bewohner unserer Milchstraße sind. Deshalb taten wir alles, um aus der äonenlangen Isolation herauszukommen. Wir suchten den Kontakt zu anderen Intelligenzen. Sie können sich nicht vorstellen, was es für uns bedeutet, mit Atlantern zu sprechen.«

»Sie kennen unsere Sprache!«

»Wir haben Sie beobachtet«, gestand Cnossos freimütig. »Das mussten wir tun, denn wir wollten nicht, dass es gleich zu Beginn der Kontaktaufnahme zu Komplikationen käme.«

Das alles klang sehr vernünftig, überlegte Bhutor. Es war auch vernünftig, dass die Fremden zu ihm, dem Ersten Rat, gekommen waren. In Bhutors Gehirn formten sich bereits wieder Pläne, wie er diese phantastische Entwicklung für seine Zwecke nutzen konnte. Er war der Atlanter, der den ersten Kontakt hergestellt hatte, er würde die sensationelle Neuigkeit in Muon verkünden.

Eine Erklärung für alle Phänomene der letzten Tage war gefunden.

Bhutor würde mit dieser Erklärung die Atlanter von allen Ängsten und Ungewissheiten befreien. Er sah sich bereits in der Rolle des Retters und des Helden. Doch zuvor musste er mehr von diesen Fremden aus einer anderen Dimension erfahren.

»Erzählen Sie mir alles!«, forderte er Cnossos auf. »Ich will Einzelheiten wissen.«

Er bekam einen umfassenden Bericht, ohne zu ahnen, dass die Balamiter nichts über ihre wahren Absichten verrieten. Er spürte jetzt auch nicht mehr, dass er hypnotisch beeinflusst wurde.

In Gedanken beschäftigte er sich bereits mit dem Bau der Dimensionsbrücke. Er hatte nur unklare Vorstellungen davon, wie sie aussehen könnte, aber er sah sich bereits davor stehen und die ersten Balamiter mit einer großen Geste empfangen.

Dieses Bild löste einen ehrfürchtigen Schauder in ihm aus. Hier war die Chance für ihn, seinen Namen unsterblich zu machen.

Er zwang sich jedoch zu realer Denkweise. Es war klar, dass bei einem so schwerwiegenden Problem nur alle fünfzehn Räte gemeinsam eine Entscheidung herbeiführen konnten. Aber er zweifelte nicht daran, dass sie ihn unterstützen würden.

»Sie haben sicher viele Fragen!«, stellte Cnossos fest. »Wir sind bereit, sie alle zu beantworten.«

Bhutor sah ihn nachdenklich an.

»Ich möchte Sie beide in Ihrer wirklichen balamitischen Gestalt sehen!«

Cnossos wurde sehr ernst.

»Ich würde vorschlagen, dass Sie darauf verzichten. Der Anblick wäre sicher sehr unangenehm für Sie und könnte Sie abschrecken. Unser Aussehen entspricht nicht Ihrem Schönheitsideal.«

»Trotzdem!«, beharrte Bhutor. »Es interessiert mich!«

»Sie könnten Vorurteile bekommen!«

»Bestimmt nicht!«

Cnossos schien noch immer zu zögern. Für Bhutor war es nicht erkennbar, dass der Fremde nur eine genau einstudierte Rolle spielte.

»Da wir nicht wollen, dass schon zu Beginn unserer Zusammenarbeit irgendwelche Dinge zwischen uns stehen, werden wir Ihren Wunsch erfüllen«, sagte Cnossos.

Bhutor wartete gespannt, was nun geschehen würde. Zu seinem Entsetzen sah er die beiden Körper vor seinen Augen zerfließen. Sie verformten sich zu einer unkenntlichen Masse aus Protoplasma.

Mit einem Aufschrei sprang Bhutor von seinem Platz. Vor ihm krochen zwei widerlich aussehende Gestalten über den Boden, die leise winselten und eine schleimige Spur hinterließen. Bhutor wusste nicht, dass die Balamiter willkürlich irgendeine Gestalt angenommen hatten. Weder Cnossos noch Gnotor dachten daran, Bhutor ihr wahres Aussehen zu offenbaren.

»Aufhören!«, keuchte Bhutor. »Sofort aufhören! Es genügt!«

Die beiden Körper begannen sich zu stabilisieren und nahmen wieder ihr ursprüngliches Aussehen an.

Mit blassem Gesicht kehrte Bhutor an seinen Platz zurück.

»Wir hatten Sie gewarnt!«, erinnerte ihn Cnossos.

Bhutor hörte ihn kaum. Seine hochfliegenden Pläne hatten einen Dämpfer bekommen. Konnte er es wagen, solche Kreaturen nach Atlantis kommen zu lassen? Die unterschwellig noch immer spürbare Furcht vor den Fremden aus der Paralleldimension begann wieder zu wachsen.

»Ich weiß nicht, ob es unter diesen Umständen möglich sein wird, die Zustimmung des Rates zu erhalten«, sagte er schwerfällig.

Cnossos lächelte. Er schien überhaupt nicht enttäuscht zu sein, sondern mit solchen Einwänden gerechnet zu haben.

Bhutor sah, wie der Fremde die Schalttasten auf dem Schreibtisch drückte. Ein Teil der Wand glitt zurück. Muras Bild leuchtete auf.

»Lassen Sie das!«, rief Bhutor zornig. »Das geht niemand etwas an!«

»Ihre Freundin?«, erkundigte sich Cnossos.

»Sie wird es einmal sein!«, erklärte Bhutor widerwillig. »Noch weigert sie sich.«

Cnossos und Gnotor begannen sich in einer für Bhutor unverständlichen Sprache zu unterhalten. Während er verwirrt zuhörte, überlegte der Erste Rat verzweifelt, wie er die beiden Fremden wieder loswerden konnte. Die monströse Gestalt, in der sie sich gezeigt hatten, konnte er nicht vergessen.

Die Balamiter beratschlagten noch immer, als Bhutor sich langsam erhob und in Richtung der Tür davonschleichen wollte.

»Warten Sie!«, erklang Cnossos' Stimme. »Wir werden Ihnen auch in dieser Beziehung helfen. Sie müssen nur Geduld haben.«

Wie erstarrt blieb Bhutor stehen. Er spürte, dass fremde Geisteskräfte ihn wieder unter Kontrolle bekamen. Die Chance verstrich ungenutzt.

Cnossos stellte sich vor Muras Bild und betrachtete es eine Zeitlang. Schließlich wandte er sich zu Bhutor um.

»Sie müssen diese Frau sehr lieben«, stellte er fest.

Bhutor antwortete nicht. Er sah den Balamiter mit finsterem Gesicht an.

»Ich werde Ihnen jetzt meine Freundschaft beweisen«, verkündete Cnossos.

Wieder begann sein Körper vor den Augen des Ersten Rates zu zerfließen. Bhutor glaubte bereits, dass der Balamiter wieder seine Urgestalt annehmen würde, doch Cnossos entwickelte schon bald weibliche Formen.

Bhutor blickte von Muras Bild zu Cnossos.

Der Balamiter begann Mura zu imitieren.

Er verwandelte sich allmählich in Mura.

Mit offenem Mund sah Bhutor zu. Er war unfähig, seinen aufgewühlten Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das Mura-Ding stabilisierte sich. Cnossos nahm die letzten Verfeinerungen vor. Als er sich zu Bhutor umwandte, war er Mura. Das Bild über dem Schreibtisch schien körperlich geworden und herabgestiegen zu sein.

Bhutor stöhnte ungläubig.

»Hören Sie auf!«, brachte er endlich hervor. »Lassen Sie mich in Ruhe. Warum quälen Sie mich so?«

Das Mura-Ding lächelte verführerisch, dann sagte es mit Muras Stimme: »Aber Bhutor, freust du dich nicht, dass ich endlich zu dir gekommen bin?«

Sie schritt mit wiegenden Hüften auf ihn zu. Bhutor fühlte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Er konnte seine Blicke nicht von dieser Gestalt wenden, die wie Mura aussah, von der er aber wusste, dass es ein Monstrum war.

»Geh weg!«, keuchte er.

Sie sah ihn aus unergründlichen Augen an, dann schürzte sie die Lippen, als wollte sie ihn küssen.

»Stören dich die Kleider?«, fragte sie mit sanfter Stimme. »Sie passen natürlich nicht zu mir, denn sie waren für einen Atlanter gemacht – für Jokanmer.«

In Bhutors Schädel begann es zu dröhnen. Er glaubte den Verstand zu verlieren.

Plötzlich streckte das Mura-Ding beide Arme aus.

»Komm zu mir!«, flüsterte sie heiser. »Komm her, Bhutor!«

Bhutors Atem ging stoßweise, seine Augen traten hervor. Er war wie von Sinnen. Seine Hände krallten sich in seine Tunika, aber das Bild verschwand nicht vor seinen Augen.

Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Verlockung und Herausforderung zugleich.

»Bhutor!«, rief sie. »Ich habe lange genug auf dich gewartet. Warum kommst du nicht zu mir? Ich will, dass du mich küsst.«

»Nein!«, ächzte er. »Du bist nicht Mura! Du bist ... ein ... Ungeheuer!«

Sie glitt in seine Arme. Sie war warm und verströmte einen angenehmen Duft. Bhutor schloss die Augen. Alles um ihn herum begann sich in einem wahnsinnigen Wirbel zu drehen.

»Küss mich!«, hauchte das Mura-Ding.

Nein!, dachte er. Ich will nicht. Unglaubliches Entsetzen drohte ihn zu ersticken. Gleichzeitig stieg ein überwältigendes Verlangen in ihm hoch.

Er riss das Mura-Ding in die Arme und presste es an sich.

»Mura!« Seine Stimme klang hohl.

Während er das Mura-Ding umarmte, gellte Gnotors Gelächter durch den Raum.

2.

 

Die großen hageren Gestalten in den wallenden Samtgewändern bewegten sich lautlos durch die spärlich beleuchtete Zentrale des großen Schiffes. Vor wenigen Augenblicken hatte der Kommandant das zweite Stadium der Metamorphose – die Verpuppung – eingeleitet und dadurch für nicht unbeträchtliche Aufregung gesorgt. Arkh Tronfrohs, Stellvertretender Kommandant und Chefnavigator an Bord des Vampirschiffs, hatte jetzt den Platz des Kapitäns eingenommen und blickte auf den Abblendschirm, wo sich der dritte Planet der kleinen gelben Sonne abzeichnete. Arkh Tronfrohs besuchte dieses System nicht zum ersten Mal, und er beglückwünschte den Kapitän, der sich einen günstigen Zeitpunkt für das zweite Stadium ausgesucht hatte und sich nicht der Helligkeit dieses Planeten auszusetzen brauchte.

»Landekurs einschlagen!«, zirpte Tronfrohs. Seine Stimme lag gerade noch im oberen Hörbereich eines Atlanters.

In diesem Augenblick sah er es.

Es war nur ein winziger Lichtpunkt, aber den erfahrenen Blicken des Chefnavigators entging nicht, dass er sich bewegte. Es musste ein winziges Raumschiff sein, das offenbar vom Kurs abgekommen war und sich bereits wieder vom dritten Planeten entfernte.

Arkh Tronfrohs wusste, dass das Lichtpünktchen in wenigen Augenblicken wieder erlöschen würde.

Die Vampire kümmerten sich niemals um die Angelegenheiten anderer Intelligenzen, und Arkh Tronfrohs wäre der Tradition seines Volkes wahrscheinlich auch diesmal treu geblieben, wenn er nicht durch die unerwartete Metamorphose des Kapitäns in eine gewisse Erregung versetzt worden wäre.

So wandte er sich im Sitz um und machte den Zweiten Navigator auf die Erscheinung aufmerksam.

»Ein Beiboot!«, stellte Ofron Targalan fest. »Wer immer es steuert, muss vergessen haben, dass man sich mit solchen Schiffen nicht zu weit von seiner Heimatwelt entfernen sollte.«

»Stellen Sie fest, ob ein Mutterschiff in der Nähe ist. Ich kümmere mich inzwischen um die Landevorbereitungen.«

Targalan lächelte verständnisvoll und entblößte dabei zwei fingerlange Schneidezähne, die bisher unter seiner herabhängenden Oberlippe verborgen geblieben waren.

Unwillkürlich musste Arkh Tronfrohs daran denken, dass er seine Schneidezähne bereits hatte abschleifen lassen, denn auf vielen Welten empfanden die Eingeborenen Abscheu vor diesem Anblick, und mit Wesen, die sich fürchteten, ließ sich nicht vernünftig reden oder handeln. Vielleicht war ein Vampir im dritten Stadium tatsächlich gefährlich, aber in diesem Zustand wäre sicher kein Angehöriger von Arkh Tronfrohs' Volk auf die Idee gekommen, eine andere Welt zu betreten.

»Kein Mutterschiff in der Nähe!«, rief Targalan.

»Wir ändern den Kurs!«, entschied der Stellvertretende Kommandant. »Ich möchte mir das Beiboot aus der Nähe ansehen.«

Die in der Zentrale hin und her huschenden Gestalten glitten jetzt auf ihre Plätze. Insgesamt hielten sich dreiundvierzig Vampire an Bord auf, sechzehn von ihnen hatten sich inzwischen verpuppt. Bis zum Ende der Reise würden nur noch vier oder fünf Raumfahrer aktiv sein, gerade genug, um das Schiff auf der Heimatwelt zu landen.

Arkh Tronfrohs würde zu diesen wenigen Vampiren gehören. Er musste mit der Verpuppung warten, bis die Heimatwelt erreicht war.

Das Manöver, mit dem der Vampir den Kurs des Schiffes änderte, wäre auch von erfahrenen Sternfahrern als elegant bezeichnet worden. Vorsichtig näherte sich das große Schiff dem Beiboot.

»Es entfernt sich tatsächlich wieder von dem dritten Planeten«, bestätigte Targalan. Die weiße Haut seines Gesichts schimmerte unter der Kapuze hervor, die er sich über den Kopf gezogen hatte. »Der jetzige Kurs würde es sogar aus dem Sonnensystem tragen.«

»Hm!«, machte Arkh Tronfrohs nachdenklich. Normalerweise hätte er nach Feststellung dieser Tatsachen umkehren müssen. Aber irgendetwas an dieser Sache interessierte ihn. Mit dem Instinkt eines Kaltoven erfasste er, dass er eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte.

»Wir gehen noch näher heran!«, ordnete er an. »Wir funken das kleine Schiff an. Ich bin gespannt, ob man uns antwortet.«

Geduldig führte Targalan alle Schaltungen aus. Ein dritter Vampir bediente die Funkanlage.

Das große Vampirschiff hatte sich dem Beiboot inzwischen so weit genähert, dass es mit bloßem Auge durch die Sichtluken zu erkennen war. Arkh Tronfrohs stellte fest, dass es sich um ein atlantisches Schiff handelte. Wie alle Schiffe der Atlanter war auch dieser Typ den Schiffen der Sternfahrer nachempfunden.

Die Tatsache, dass es sich um ein atlantisches Schiff handelte, machte seinen Kurs, der direkt aus dem Sonnensystem hinausführen musste, noch rätselhafter.

»Keine Antwort!«, sagte Targalan. »Entweder schläft der Pilot, oder er will nicht antworten.«

»Wir gehen noch näher heran!«, befahl Arkh Tronfrohs. »Lassen Sie ein Beiboot klarmachen. Ich will mir das kleine Schiff aus der Nähe ansehen.«

Er verließ seinen Platz und überließ Targalan die Schiffsführung. Wenige Augenblicke später betrat er den Hangar und begann mit der Kontrolle eines der Beiboote. Es war ein ovales Flugobjekt, vor allem für Landungen in unwegsamen Gebieten fremder Welten geeignet. Doch aus diesem Grund hatte Tronfrohs die Wahl nicht getroffen, denn ihn interessierte nur die doppelte Magnetleine des Beiboots.

Er stieg ein und ließ sich ausschleusen. Es fiel ihm nicht schwer, das Beiboot zu finden. Sofort flog er darauf zu. Er stellte jetzt fest, dass das fremde Schiff sich langsam um die eigene Achse drehte. Als es dabei mit der Kanzel ins Sonnenlicht geriet, konnte Arkh Tronfrohs ins Innere blicken. Er sah zwei Männer im Schiff liegen. Einer war vor den Kontrollen zusammengesunken, der zweite lag hinter dem Sitz und war körperlich völlig entstellt.

Der Vampir steuerte sein Kaltovenschiff dicht an das Beiboot heran und katapultierte die Magnetleinen. Wie große Schlangen wickelten sie sich um den Metallkörper und hielten ihn fest.

Tronfrohs schaltete die Funkanlage ein.

»Ich bringe das fremde Schiff an Bord!«, kündigte er an.

Targalan schien einen Moment so überrascht zu sein, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.

»Kein Fremder soll eines unserer Raumschiffe betreten!«, zitierte er dann einen Kaltovenspruch.

»Ich habe damit gerechnet, dass Sie mir das vorhalten würden«, lächelte Tronfrohs. »Natürlich werde ich die Vorschriften einhalten. Die beiden Männer, von denen einer mit Sicherheit nicht mehr am Leben ist, werden auch im Hangar an Bord ihres Schiffes bleiben, so dass die Vorschriften gewahrt sind. Ich werde an Bord des Beiboots gehen, auch wenn es dann ziemlich eng sein wird. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.«

Es ging Targalan weniger um die Vorschriften, das wusste auch Arkh Tronfrohs. Wie jeder Vampir hatte Targalan Angst, dass ein Fremder einen Vampir im zweiten oder dritten Stadium der Metamorphose sehen könnte. Doch die verpuppten und geflügelten Vampire hielten sich in streng abgeschlossenen Räumen des Schiffes auf, so dass sie noch nicht einmal den Besatzungsmitgliedern auffielen.

Die Angst seines Volkes, im Stadium der Metamorphose von Fremden gesehen zu werden, ging auf ein schreckliches Unglück vor unzähligen Jahren zurück.