Inhaltsverzeichnis
Der Stoff, aus dem das Neue ist
I. Die Innovationskultur
II. Die Wellen der Erneuerung
III. Die Innovatoren
IV. Die Innovationsgesellschaft
Am Schluss ein Anfang
Anhang
Literatur
Anmerkungen
Über den Autor
Impressum

Der Stoff, aus dem das Neue ist

Innovation ist die harte Währung der Wissensgesellschaft. Es ist Zeit, dieser Währung den Wert zuzuweisen, der ihr zusteht.

Das klingt einfacher, als es ist. Denn nichts wird mehr missverstanden als das Neue.

Und kaum ein anderer Begriff ist heute so wohlfeil wie jener der Innovation. Wir leben in Zeiten der Innovationsinflation.

Inflationen entwerten – Materielles ebenso wie Geistiges. Das aber kann sich eine Gesellschaft, die von Wissen und Ideen lebt, nicht leisten. Und dies ist so eine Gesellschaft, ob unsere industriell bestimmte, mechanistische, etwas starrsinnige und rückwärtsgewandte Kultur das wahrhaben will oder nicht. Was soll man tun?

Wir sollten zuerst einmal versuchen, die Innovation ernst zu nehmen, sie nicht als Sonderfall oder lästige Störung begreifen. Die Voraussetzung dafür ist, dass Veränderungen in unserer Kultur nicht mehr als Bedrohung gelten, sondern als Angebot, als Alternative zum Bestehenden. Innovationen sind das Leben, das wir noch vor uns haben. Und dieses Leben wird abwechslungsreicher, überraschender werden als das, was wir in den letzten drei, vier Jahrzehnten erlebt haben. Es fordert jeden Einzelnen heraus: Wir müssen lernen, uns zu entscheiden. Der Kern aller Innovation ist das Erkennen des Unterschieds und die Einlassung darauf.

Das muss man wollen. So wie man wissen muss, was man nicht mehr will. Die Erneuerung der Innovationsidee besteht vor allen Dingen darin, dass wir unsere Einstellung zum Neuen gründlich klären.

Das ist eine Kulturfrage.

Was ist das Neue, was könnte es sein? Was tun wir für die, die das Neue befördern, und für uns, damit wir zu jenen gehören, die das ebenfalls können? Ermöglichen wir Innovation – oder tun wir nur so? Dazu gehört auch ein kritischer – selbstkritischer – Geist. Ist alt folglich immer schlechter als neu?

Gewiss: Wir müssen für das Neue streiten, für die Innovation in die Schlacht ziehen, keine Gelegenheit zum Scharmützel auslassen, aber nicht auf Kosten all dessen, was an Gutem und Richtigem in dieser Welt vorhanden ist. Eine selbstbewusste und neue Innovationskultur streitet für Erneuerer, aber nicht für jene, die Veränderung und Innovation nur als Vorwand benutzen, um Vorhandenes zu beseitigen – und sich, ohne jede Verbesserung für andere, an den warmen Ofen setzen. Innovation bedeutet nicht »Survival of the fittest«, wie es die Fehlinterpretation der Schumpeter’schen »Schöpferischen Zerstörung«1 nicht nur Betriebswirten gelehrt hat. Ein neues Innovationsverständnis braucht kritisches Zweifeln: Man soll dem Neuen einiges zutrauen, aber blind vertrauen muss man ihm nicht.

Es ist oft leichter, alles auf den Müll zu werfen und neu anzufangen, als Klarschiff zu machen, obgleich doch eine Inventur klären könnte, was fehlt – und was weg kann. Einer vernünftigen, der Wissensgesellschaft entsprechenden Innovationskultur ist deshalb immer an einem klaren Blick auf das Neue und auf das Vorhandene gelegen.

Dafür muss man den Kult um das Neue, den es schon immer gibt, dekonstruieren.

Bei der Inventur fällt dann einiges auf: Vieles von dem, was heute als Neues verkauft wird, ist ohnehin ein alter Hut, eine Mischung aus Kopie, Rekombination und viel Marketing. Aber auch diese Entwicklung liegt, wie wir sehen werden, an der Kontinuität einer überkommenen Kultur, alter Denkmuster und Routinen, schlechter Angewohnheiten im Umgang mit Neuem und Überraschendem. Der Blick ist nach innen gerichtet. In Unternehmen und Politik, Peergroups und Familien bestimmt die Innensicht nahezu alles. Dicke Luft überall, nirgends ein offenes Ohr, und der Ausblick ist miserabel. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen deshalb nicht mehr, weil wir vergessen haben, wie ein Wald aussieht.

Wir leben in Organisationen, die nicht für die Erneuerung gemacht sind. Wir benutzen Begriffe wie Quer- und Vordenker, die aber nur mehr klarstellen sollen, ein solcher lege sich eben quer zur Organisation und befände sich damit außerhalb der Logik jener Strukturen. Der Zweck der klassischen Organisation ist es, ihren Zustand zu erhalten. Veränderung bedeutet zuallererst Gefahr – und wird nur pro forma geduldet. Auf diese Weise wird noch jeder Quer- und Vordenker zum Hofnarren des Status quo.

Das Gegenteil, die völlige Überhöhung der Erneuerung, ist allerdings ebenso wenig hilfreich. Innovation ist keine Glaubensfrage, sondern handfest, vielfach sogar Handwerk, das etwas Glück gebrauchen kann. Innovation ist das Kind einer Kultur der Neugier, verbunden mit Geduld und Durchsetzungsvermögen. Innovatoren sind Unternehmer. Ihre Arbeit braucht Begeisterung, Ausdauer, Nüchternheit, Know-how, Leidenschaft, Pragmatismus, von allem reichlich. Das Neue kommt als Widerspruch zur »Normalität« zur Welt, und Widerspruch ist auch das Wesen der Innovation. Deshalb ist es nicht leicht, sofort den Unterschied zwischen Luftblase und Jahrhundertidee zu erkennen, den zwischen Quertreiber und Innovator. Zugunsten der echten Innovatoren aber: Fördert das Experiment, den Versuch, das Ausprobieren – und lasst die, die das tun, in Ruhe!

Was Innovation nicht braucht, sind Vormünder, die sie so schnell wie möglich in die alte Ordnung integrieren wollen, um das Neue mehr oder weniger ruhigzustellen und sämtliche Aus- und Nebenwirkungen der Innovation im Griff zu behalten. Dabei werden zuweilen edle Motive vorgeschoben: Man wolle ja nur das Risiko kleinhalten, heißt es, verhindern, dass etwas geschieht, womit niemand rechnen kann. Damit verhindert man im Grunde genommen alles. Das Neue birgt immer Risiken. Sie lassen sich nicht vollständig berechnen. Innovationen, die sicher sind, sind gar keine. Sie werden nur so verkauft, ein Etikettenschwindel, der Chancen und Zukunft kostet.

Wohlstandsgesellschaften und ihre Bürger gehen ungern Risiken ein, sie haben etwas zu verlieren. Und da viele dem Neuen grundsätzlich misstrauen, ihren Besitzstand unmittelbar bedroht sehen, setzen sie sich auch ungern damit auseinander.

Das wahre »Innovator’s Dilemma«2, um Clayton M. Christensens berühmten Buchtitel aufzugreifen, ist, dass sie immer stärker in ein Korsett der Kontrolle und des Sicherheitsdenkens gepresst werden. Das Dilemma der Innovatoren ist, dass ihre Erneuerungsarbeit stets mit altem Maß gemessen wird.

Das hat viel mit alten Gewohnheiten zu tun, mit dem Geist der alten mechanistischen Weltsicht, die die Ära der Industriegesellschaft so prägte. Für die Wissensgesellschaft brauchen wir allerdings andere, neue Kulturtechniken und Sichtweisen. Und manchmal auch eine andere Sprache als die, die wir im Zusammenhang mit Innovation benutzen. Denn sie führt uns oft in die Irre.

Ein Beispiel: Die Auseinandersetzung von Alt und Neu ist nicht zwangsläufig die zwischen Alt und Jung. Erneuerung, Innovation, Veränderung – das wird uns in unserer Kultur von jeher erzählt – sei stets der Kampf der Ungestümen, der Jungen, der Revolutionäre gegen die Alten, Verstockten, Unbelehrbaren. Das ist ein Mythos, den eine neue Innovationskultur beseitigen muss, nicht nur weil der Rohstoff Erfahrung in der Wissensgesellschaft von größter Bedeutung ist. Allerdings ist diese Erfahrung nicht mehr so selbstgerecht wie jene früherer Tage: Sie ist offen, eine Grundlage für das Neue. Eine Innovationskultur für die Wissensgesellschaft, die wirklich barrierefrei ist, ist eine inklusive Innovationskultur – oder gar keine. Sie nützt alle geistigen und kreativen Ressourcen.

Sie verbindet Erfahrung und Experiment.

Innovation wird dann zu einem Prozess, der auf Gemeinsamkeiten, auf Austausch, auf Kooperation und Konsens beruht. Transformation, nur zur Erinnerung, heißt Verwandlung, nicht Vernichtung.

Wenn unser Innovationsbild nicht jenes der Industriegesellschaft bleiben kann, dann gilt das natürlich auch für alles, was aus ihm folgt.

Jede kulturelle Innovation braucht auch soziale Erneuerungsimpulse. Ist es beispielsweise richtig, dass der Sozialstaat auf Regeln der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts beruht? Glauben wir tatsächlich, dass mit einigen Reformen genug Innovation ins Spiel kommt, um mehr Mut in die Gesellschaft zu bringen, Veränderungen selbst zu denken und zu leben? Was fangen wir mit der Ahnung an, der Intuition, den Talenten, die nicht in die engen Korsette der Betriebswirte und Managementmechaniker passen? Kann es eine Innovationsgesellschaft geben, in der die Rolle der Kreativen (im Sinne nach Lösungen strebender Kopfarbeiter) nach wie vor als Außenseiterposition definiert ist? Natürlich nicht.

Die Wissensgesellschaft dreht sich um den menschlichen Faktor, um die Person, das Individuum. Es verlässt die Zone der Massenkultur. Für Deutschland, dessen kulturelle Identität stets mit Masse und Industrie verbunden war, werden die Lehrjahre besonders hart werden. Es gilt nicht nur die kulturelle Vorliebe zum Bestehenden zu überwinden. Es geht auch darum, das Innovationsgerede – das wahre Innovation verhindern soll – als den Neusprech zu entlarven, der er ist. Innovation entsteht nicht in PowerPoint-Präsentationen, in Seminaren, in langweiligen Meetings und anderen Absurditäten der Angestelltengesellschaft, sondern dort, wo Unternehmer arbeiten – ganz gleich, ob innerhalb einer Organisation oder außerhalb. Unternehmer im Sinne dieses Textes sind nicht einfach Menschen, die einen Gewerbeschein für ihre Tätigkeit benötigen, sondern Selberdenker, Selbstermächtiger.

Hier heißen sie Ermöglicher. Wer Innovation nicht verhindern will, muss Menschen sich frei entwickeln lassen. Das ist die schwierigste Übung von allen, denn sie widerspricht allen Regeln, die bisher in Gemeinschaften galten: von der Hierarchie, der Hörigkeit und der Abhängigkeit über genauestens definierte Arbeitsbeschreibungen und das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herrschende Misstrauen bis hin zu Vorschriftsschildern oder der Stempeluhr. Es bedarf einer neuen Vertrauenskultur. Bisher genügt es uns, dass Menschen sich zu etwas entwickeln, das mehr oder weniger genau definiert ist, und wir halten es mit Problemlösungen genauso. Wenn wir lernen, die Perspektive zu wechseln, unseren Blick nicht zu verengen, sondern fürs Ganze zu öffnen, werden wir erkennen, was uns sonst noch umgibt. Wer die Sterne am Himmel nicht übersehen will, muss auch an den Rändern schauen. Es ist ein wenig so, wie wenn man nachts in den Sternenhimmel schaut. Wer verkniffen das kleine flackernde Pünktchen am Himmel fixiert, sieht wenig. Wir sehen am Rande der Pupille am besten. Dort liegen die Überraschungen.

Totale Kontrolle und totale Fixierung sind schlechte Umgebungen für Innovationen. Es sind die alten Mittel des Gewaltsamen, die hier in Anschlag gebracht werden: »Wenn du es nicht machst, wie wir es schon immer gemacht haben, dann bist du unser Feind.« Sie gelten in kultureller Hinsicht seit jeher für alles, was sich mit dem Neuen und seinem Auftreten beschäftigt.

Wer Innovation zum Normalfall machen – und damit der Wissensgesellschaft gerecht werden – will, sollte nicht drohen, sondern überzeugen. Die Grundlage dafür ist das Verständnis unserer Vorstellung von Innovation. Was ist eine Idee, woher kommt der Mythos des Neuen, wie hat sich unser Bild von Innovation und Innovatoren entwickelt? Welche Archetypen der Innovation und der Erneuerer bestimmen unbewusst unsere Sicht auf das Thema? Und wenn dann klar ist, wie das Neue wurde, was es ist – wo fängt dann die Erneuerung der Innovation an? Vielleicht mit Geduld und der unpopulären Einsicht, dass die Zukunft nicht auf »Tools« und »Modellen« beruht, wie uns das die Technokraten der »Digitalen Revolution« weismachen wollen – wie einst schon ihre Vorgänger. Die Planung und Gestaltung der Zukunft ist so vielfach misslungen, dass das auf unsere Laune gegenüber der Innovation abfärbt. Aber das sollten wir nicht zulassen. Vielleicht ist es besser, statt mit den Sozialingenieuren und Revolutionären nach vorn zu stürmen, einfach mal sitzen zu bleiben und nachzudenken. Vielleicht ist das eine echte Innovation: Versöhnung und Ausgleich mit dem Neuen statt das ewige Gerede von Zerstörung und Revolution, dem Kammerton der ewigen Drohung.

Ein neues Innovationsbild sollte ohne Gewaltakte auskommen. Wer nicht mitmacht, verliert? Wer zu spät kommt, hat Pech gehabt? Das ist von gestern. Erwachsene, mündige Bürger entscheiden sich selbstständig für und gegen Neues.

Sie entscheiden, welche Veränderung sie annehmen möchten. Das Neue soll nicht schocken, sondern überzeugen. Auch das gehört zu einer Innovationskultur, die in die Wissensgesellschaft passt: die Freiheit, bei dem bleiben zu dürfen, was man hat.

Das wird nicht einfach werden – und das Wort Paradigmenwechsel kommt einem dafür fast zu bescheiden vor. Und ist das nicht alles reichlich naiv? Erleben wir nicht einen Innovationszwang – gerade unter der Flagge des »Digitalen«, das oft genug vage bleibt oder mit Schlagwortkanonen um sich ballert, bis niemand mehr zu widersprechen wagt, um nicht für überholt zu gelten?

Und erleben wir nicht eine Kultur der Ohnmacht gegenüber dem Tempo des Wandels, der schieren Masse an Innovationen? Vielleicht ist dieser Zukunftsschock, wie Alvin Toffler3 das Phänomen schon vor fast fünf Jahrzehnten nannte, nichts weiter als die Folge des falschen kulturellen Werkzeugs. Wir versuchen ein kompliziertes Uhrwerk, eine ausdifferenzierte Welt der Vielheit, mit Hammer und Meißel zu justieren, und wundern uns, wenn das schiefgeht. Organisationen, Methoden und Denkarten, die im 19. Jahrhundert entstanden, als die industrielle Revolution triumphierte, sind im 21. Jahrhundert untauglich geworden. Innovation aber wird verhindert, wenn das nicht erkannt und als Grundlage des Denkens verstanden wird. Denn wie das alte Sprichwort sagt: Für einen Hammer sieht alles wie ein Nagel aus.

Kann es ein Werkzeug geben, das feinere Nuancen zulässt? Aber sicher. Immanuel Kants Aufklärungs-Zauberformel »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«4 zeigt, wie dieses Werkzeug aussieht. Es ist der eigene Kopf. Innovationsfähigkeit ist eine persönliche Sache. Eigensinn schafft Innovation. Hier sind die Barrieren gegen die Erneuerung besonders hoch und breit.

Was aber ist Innovation noch?

Innovation ist, in einem Satz, der berechtigte Anlass für die Hoffnung, dass es besser wird. Der Beweis, dass die Zukunft existiert. Dass es einen Fortschritt gibt, eine Perspektive. Innovationen sind damit ein Kind der Moderne, der menschlichen Emanzipation von einem schicksalhaften Glauben an höhere Mächte. Mit der Innovation, die oft gleichbedeutend mit einer Erleichterung des Alltags und einem Mehr an Möglichkeiten einhergeht, erobern wir uns Stück für Stück das Paradies zurück, aus dem wir einst vertrieben wurden – weil Adam und Eva eine lächerlich kleine, aber selbstständige Entscheidung trafen. Seither wissen wir uns immer besser zu helfen. Die Fähigkeit, die Welt, so wie sie ist, zu verbessern und vieles in ihr »neu zu erfinden«, ist eine zentrale kulturelle Leistung, vielleicht die wichtigste von allen. Innovation und der hinter ihr steckende unruhige Geist der Veränderung kämpft sich gegen das Schicksal nach vorne, zum Licht hin. Diese »Erleuchtung«, so der Sinn des englischen Wortes für Aufklärung, »Enlightenment«, lässt uns besser sehen, wohin wir wollen könnten. Und ermöglicht uns schließlich, echte Innovation von vermeintlicher zu unterscheiden.

Der Unterschied zwischen der Kultur der Industriegesellschaft, der Welt der Routinen, und jener, die für die Wissensgesellschaft gebraucht wird, die Unterschiede und Originale in den Vordergrund rückt, lässt sich am treffendsten mit einem Wort Peter Druckers klarmachen. Er hat es benutzt, um Management als ein typisch industrielles Handwerk von dem des Leaderships, dem Führungsmittel für Zeiten der Krisen und Veränderungen, zu unterscheiden. Management, so Drucker, bedeutet, »die Dinge richtig zu tun«, also umzusetzen, was Methode und Plan hergeben. Das ist wichtig, wenn man etwas aufrechterhalten muss. Wer aber das Neue willkommen heißen will, bräuchte eben Leadership, die Fähigkeit, »die richtigen Dinge zu tun«.5 Diese Fähigkeit ist rar. Ohne sie ist der Sprung nach vorn ins Neue aber nicht machbar. Innovation ist eine Führungsaufgabe. Und der Schutz der Innovatoren vor den zahlreichen Besitzstandswahrern des alten Systems gehört ebenfalls dazu.

Das klingt merkwürdig fern in einem Land, das offensichtlich in Sachen Fortschritt und Innovation aus dem Takt gekommen ist.

In der Hauptstadt Berlin gelingt es den angeblich besten Planern und Organisatoren der Welt seit Jahren nicht, einen Flughafen fertigzustellen, ohne dass immer wieder milliardenteure Fehlplanungen ihr Werk tun. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es dabei nicht um einen Mangel an Planung geht, sondern um ein Defizit an der Fähigkeit zur Improvisation und Anpassung an neue Gegebenheiten. Es kommt der Tag, an dem einen seine Tugenden einholen und zu Schwächen werden.

Die deutsche Automobilindustrie baut die besten Autos der Welt, solange sie mit Verbrennungsmotoren laufen, aber in Sachen alternativer Antriebe ist die Indifferenz der stolzen Autobauer unübersehbar. Elektromotoren, Wasserstoff-, Erdgas-, Flüssiggasantriebe – oder gar, was wirklich eine Innovation wäre, weiterreichende Mobilitätskonzepte, die das menschliche Bedürfnis nach problemlos verfügbarer Beweglichkeit erfüllen, fristen ein Nischendasein auf spärlich besuchten Fachkongressen – sie sind programmierte Ladenhüter. Man zaudert, lebt das »Innovator’s Dilemma«, hadert mit dem »richtigen Zeitpunkt«. Innovation ist kein Kind des Olymps – alte Macht pflanzt sich nicht einfach erfolgreich fort.

Das Mutterland der »Autobahn« trödelt desinteressiert seit Jahren mit dem längst überfälligen Ausbau seiner Breitbandnetze herum. Im aktuellen Abschnitt der Digitalisierung hinkt Deutschland wieder mal hintenher – wie schon bei der Massencomputerisierung seit den späten 1970er Jahren und 15 Jahre später beim Internet. Der Innovationsindikator 2017 der Deutschen Akademie für Technikwissenschaft (acatech), mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI) erstellt, hat das erkannt. Deutschland gehört zwar zu den »innovationsstärksten Ländern der Welt« – und nimmt, jedenfalls nach den Kriterien des Innovationsindikators, den vierten Rang ein. Das ist vor allen Dingen dem hohen Anteil an Absolventen der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) an Universitäten geschuldet und deren relativ hoher Anzahl an Patenten. Das ist ohne Zweifel wichtig, doch liegen diese fast alle im Maschinenbau, in der Industrie, der Chemie – also in den »Klassischen Industrien«, auf die wir so stolz sind. Im Digitalisierungsindikator 20176 landete Deutschland aber nur auf Rang 17, weit hinter den USA und Großbritannien, die deutsche Forschung und Technologie erreichte gerade mal Platz 16, Bildung Rang 17 sowie Infrastruktur und staatliche Forschungspolitik Rang 19. Wer sich die Detailergebnisse nicht nur dieser Studie ansieht, merkt schnell: Das sind keine Ausreißer, das hat System. Deutschland lebt von der Vergangenheit. Wir frühstücken sie ab. Und das lässt sich, das muss man auch den unaufhörlich nach mehr staatlicher Förderung verlangenden Verbänden acatech und BDI zurufen, mit mehr Subventionen ebenso wenig aus der Welt schaffen wie mit Detailreformen in den einzelnen Bereichen. Deutschland leidet am Industrialismus, gesellschaftlich, kulturell und organisatorisch. An genau dieses Problem rührt Keynes mit seiner »Befreiung von den alten Gedanken«.

Wir leben im 21. Jahrhundert? Im Zeitalter der Netzwerke, des Digitalen, des Wissens? Wirklich? Die meisten Menschen benehmen sich immer noch wie die Belegschaft einer Fabrik aus der Gründerzeit. Alle fahren morgens zur gleichen Zeit zur Arbeit und spätnachmittags wieder zurück. Man organisiert sich, definiert sich in der Menge, im Schwarm, im Kollektiv, in der Regel, der Routine, dem Bekannten, das man für das Verlässliche hält. Der Schein trügt – in der digitalen Wissensgesellschaft kann sich Deutschlands Arbeitskultur nicht halten. Dem begegnet man mit Untergangsängsten und panischem Klammern ans Gestern. Das ist die Politik, die rechte und linke Populisten betreiben. Zentralismus und neue Vereinheitlichung ist genau die falsche Antwort darauf, Öl ins Feuer. Es geht darum, Unterschiede zu lernen. Zu verstehen, dass Innovation und Differenz dieselben Wurzeln haben. Innovation ist nicht mehr vom Gleichen, und es ist das Gegenteil von Gleichmacherei. Und niemals: Weiter so!

Innovation und Fortschritt

Innovationen sind also nicht rein technischer Natur. Es ist eben nicht alles nur eine »Frage der Technik«, wie es das Marketing und die Werbung gern suggerieren. Technische, soziale und kulturelle Innovationen gehören zusammen. Eines bedingt das andere. Wo Menschen beispielsweise durch Wohlstand mehr Freiräume und Individualität einfordern, entstehen durch die damit verbundenen sozialen und kulturellen Erneuerungen auch neue technische Lösungen.

Der Personal Computer, die Smartphones und Tablets von heute sind nur ein Beispiel dafür. Auch das Automobil hat eine solche Geschichte. Nur in einer zunehmend partizipativen und damit beweglichen Welt konnte das Auto, das dem Individuum mehr Freiräume ermöglicht, überhaupt zum Erfolg werden. Es bleibt also sinnvoll, nach solchen Vernetzungen im 21. Jahrhundert ernsthaft Ausschau zu halten.

Das Ziel aller Methoden und Werkzeuge, die Menschen im Laufe der Kulturgeschichte erfanden, war die Erleichterung von Arbeit, letztlich die Befreiung davon. Deshalb sind uns Routinen auch so wichtig und nehmen eine zentrale Rolle in unserem Denken ein. Wir brauchen sie. Aber müssen wir uns deshalb von ihnen einspannen lassen? Nein. Das Ziel lautet von jeher: Die Arbeit, die sich wiederholende, stupide, schwere, nervtötende Arbeit, sie soll sich von selbst machen. Das deutsche Wort Arbeit leitet sich vom germanischen arbaipis ab, das bedeutet so viel wie Leiden, Mühsal und stand auch als Begriff für Sklaverei. Automatisierung ist deshalb eine zentrale Kulturtechnik, die Innovation der Innovationen, vielleicht die wichtigste überhaupt, die durch Automaten, Maschinen, Software, Algorithmen, Methoden und immer neue Systeme vorangetrieben wird. Das Schlagwort der Digitalisierung ist nur Teil dieser gewaltigen Innovation. Das eigentliche Projekt allen Fortschritts heißt: mehr Freiraum. Mehr Zeit für sich selbst. Wenn es einen Sinn der Innovation gibt, dann diesen.

Der schwedische Autor Johann Norberg hat in seinem Buch »Progress« (Fortschritt) die Entwicklung des Neuen in den vergangenen Jahrhunderten als »Triumphzug der Humanität« bezeichnet. Innovation hat die Welt de facto besser gemacht. Wissen wir das noch? »Wenn wir vergessen, dass es Fortschritte gibt, und übersehen, wie weit wir es gebracht haben, dann bringen wir alles in Gefahr«, schreibt Norberg.7 Diese Gefahr ist weltweit groß, und sie ist in Deutschland vor allem unter den Eliten präsent, die fürchten, mit der nächsten Innovationswelle überflüssig zu werden – dazu gehören ganz besonders auch Journalisten und Medienmenschen (zu denen auch der Autor zählt), die ohnehin zur »Zuspitzung« neigen, also zur Übertreibung.

Eine Innovationskultur, die etwas taugt, weist nach vorne und weiß, was vorher war. Wir brauchen – im Sinne Karl Poppers »Offener Gesellschaft«8 – keinen Historizismus, sondern den Realismus des Gestaltenwollens. Nichts ist vorherbestimmt oder Schicksal. Dazu braucht man aber, das Allerwichtigste, nicht nur Innovatoren in Technik und Kultur, Sozialem und Politischem, sondern Alltagsinnovatoren, Bürger, die selbstbewusst und selbstbestimmt handeln. Immer wieder herausfinden, was richtig ist, das ist Innovation. Es ist ein endloses Spiel mit besseren Möglichkeiten und Chancen. Eine Verhandlungssache mit offenem Ausgang.

Der Stoff, aus dem das Neue ist, wird gewebt in Tätigkeit, Versuch und Experiment. Seine Festigkeit, seine Kontur geben wir dem Neuen selbst.

Der Leitsatz dieser neuen Innovationskultur ist eine Erfolgsformel, über 200 Jahre alt. Der Physiker Georg Christoph Lichtenberg hat sie aufgeschrieben: Das Neue kann man nur sehen, wenn man das Neue macht.9

»Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten.«

John Maynard Keynes: »Allgemeine Theorie«, 1936

Für Katharina und Jakob

I. Die Innovationskultur

Die Erneuerung als Revolutionsoper

Am 24. Januar 1984 trat ein gerade mal 28-jähriger Mann vor die Aktionäre des Unternehmens, das er gemeinsam mit Freunden acht Jahre zuvor in einer Garage im Silicon Valley gegründet hatte. Steve Jobs galt stets als äußerst selbstbewusster Macher. Doch an diesem Tag war er nervös. Es ging für ihn um alles, nicht nur im ökonomischen Sinn. Als Steve Jobs sein Modell »Macintosh« präsentierte, gewährte er der Welt Einblick in sein Inneres – und hielt auch uns einen Spiegel vor. Hier wurde nicht nur ein Computer präsentiert, sondern ein Archetyp einer Vorstellung von Innovation, die die unsere heute wesentlich prägt.

Technische Details, Geschwindigkeit, Speichervermögen, Benchmarks – darum ging es nur vordergründig. Alles, was Jobs in diesem Jahr 1984 rund um die Einführung des Macintosh auf die Beine stellte, brachte eine Lebenseinstellung zum Ausdruck – eine Innovationskultur.

Ihr Kern ist uralt: Das Junge ist gut. Das Alte ist böse. Am deutlichsten wird das im berühmten Superbowl-Werbespot für den Macintosh, den der Starregisseur Ridley Scott im Auftrag von Steve Jobs gedreht hat. Das Alte und Böse ist damals der Technologiekonzern IBM, dessen Personal Computer die Marktführerschaft Apples bei Mikrocomputersystemen angegriffen hat. Apple ist das Revolutionäre, Junge, Gute. Scott verleiht dem Konkurrenten das Antlitz von Big Brother aus George Orwells »1984«. Dieser bellt von einer Leinwand in einem düsteren, grau-bläulichen Saal eine willenlose Masse an. Doch dann sprintet eine junge Athletin los, schwingt ihren Hammer, zielt auf die Leinwand – und trifft. Peng. Das Symbol der Niedertracht geht in einem gewaltigen Blitz unter, ein Urknall. Dann lesen wir: Apple Macintosh. Damit 1984 nicht 1984 wird.

Schließlich betritt Steve Jobs die Bühne und rezitiert einen lyrischen Text:

Come writers and critics

Who prophesize with your pen

And keep your eyes wide

The chance won’t come again

And don’t speak too soon

For the wheel’s still in spin

And there’s no tellin’ who that it’s namin’

For the loser now will be later to win

For the times they are a-changin’10

Bob Dylan schrieb diese Zeilen, sie stammen aus dem Titelsong seines dritten Studioalbums »The Times They Are a-Changin’«, der Marseillaise der 1960er Jahre, die fast auf den Tag genau 20 Jahre vor dem Apple-Event in San Francisco erschien. Ein Innovator zitiert einen Innovator.