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Merethe Lindstrøm

Aus den Winterarchiven

Roman

Aus dem Norwegischen von
Elke Ranzinger

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Ich schreibe als gälte es, jemandem das Leben zu retten.
Wahrscheinlich mir selbst.
Leben ist eine Art Wahnsinn, den der Tod unternimmt
.

CLARICE LISPECTOR

Inhalt

NACHTNOTIZEN

WINTERALPHABET

DIE GRAUEN HUNDE

NACHTNOTIZEN

ERINNERST DU DICH an diesen Traum, den ich hatte, als die Kinder klein waren, man hätte in der Wüste Nevadas einen Beweis für die Existenz Gottes gefunden. Die Leute strömten herbei, um ihn zu sehen, die Weltpresse versammelte sich, das Entdeckte, hieß es, sei als Beweis unwiderlegbar. Die Wüste, die von Bergformationen durchbrochene, rostrote Ebene, die endlosen, schnurgeraden Straßen. Ich schlief, ich träumte, ich wachte auf. Was ich geträumt hatte, war noch da, als Abdruck. Nicht dass ich gläubig wäre, ich weiß nicht, vielleicht doch. Manchmal denke ich, ich bin gläubig, aber das geht dann wieder vorbei. Ich weiß nicht, ob ich deshalb diesen Traum hatte, worin der Beweis bestand, habe ich nie erfahren, so etwas erfährt man nicht im Traum. Er war einfach etwas Leichtes, als uns sonst alles nach unten zog. Ich weiß noch, wie es war, wie ich aufwachte und erst einmal Trauminventar und Zimmer nicht unterscheiden konnte. Du lagst neben mir, schlafend, ich blieb liegen und beobachtete eine Gardine, die sich im offenen Fenster bewegte, daran erinnere ich mich am besten, an die sanfte Bewegung der Gardine, es war gerade hell geworden, der Traum entschwand langsam, zerronnen, zerstückelt, so wie das mit Träumen wohl ist. Und doch war er noch lange da, der Abdruck.

DIE HUNDE SCHLAFEN den ganzen Vormittag im spärlichen Licht, das vom Fenster hereinfällt, nur wenn sie etwas aufschreckt, verändern sie ihre Position. Es sind große Hunde, ihr Fell schimmert braun, silbern. Ein für uns unhörbares Geräusch weckt sie auf, sie heben den Kopf, sehen zum Fenster, zur Scheibe, und legen sich wieder hin, und während sie weiter träumen, verändert sich das Licht im Wohnzimmer. Wir sind aufs Land gezogen. Ich sollte schreiben, die Hunde schreiben, die Landschaft und das, was ich sehe, mich aus der Schwere schreiben, aber ich gerate ständig ins Stocken, ich spüre, es stimmt so nicht, selbst wenn das, was ich schreibe, wahr ist, kriege ich nicht hin, dass es stimmt, wie auch ein logischer Ausdruck zwar wahr sein kann, aber trotzdem weder einen weiteren Zusammenhang herstellt noch durch die Sprache richtig ausgedrückt wird. Dann streicht man durch und beginnt von Neuem, wieder und wieder. Richtig fühlen sich nur die Pfade an, die Hügel, die geraden Wege, die Ahnung von Einsamkeit, denn die Einsamkeit liegt in der Landschaft, wie das Haus unten zwischen den Feldern, wo seit vielen Jahren niemand mehr wohnt. Wo angeblich einmal jemand gewohnt hat, man hat aber vergessen wer.

Wir sind im Spätsommer hierher gezogen. Hier wollen wir erwachsen sein, wollen die Stadt hinter uns lassen, alles, was wir dort waren, was wir als gescheitert bezeichnen. Die beiden Wohnzimmerfenster zeigen zu den Wiesen hinaus, etwas weiter unten verläuft die Straße als schmaler Gürtel, ein kaum befahrener Streifen, noch weiter unten liegen die Felder, eng beschriebene Blätter mit schmalen Fugen, holprigen, aber sorgfältigen Sätzen, die Ränder des Ackers, den man wieder und wieder umpflügt, um zu sehen, was er hergibt, die Wiederholung an sich ergibt Sinn. Darin erkenne ich mich wieder, in dieser Arbeit. Wenn die Landschaft etwas sagt,dann das: Hab einfach Vertrauen, es ist hier, war schon immer da. Und man kann hineingehen, kann diesen Wegen folgen, immer wieder tun wir das, tasten uns vor, wollen hineinpassen, in das zerschlagene Grün, den gelben Himmel am Abend, das grelle Licht am Morgen, die vom Frost schwarzweißen Äcker, erstellen mit unseren Schritten eine Skizze, so wie du es tust, mit weichem Kohlestift auf Papier.

Ich hatte Geld bekommen, wir hatten Geld bekommen, und so zogen wir hierher. Der Umzug dauerte lange. Unser altes Haus war voller Gerümpel. Das ganze Zeug im Keller war von einem weißen Pilz befallen, er wuchs die Wände hinauf, kroch über den Boden, bedeckte Ritzen und Leisten, war stärker, ausdauernder als wir. Du warst während des Umzugs nicht ganz wohlauf, fast schien es, als hielte uns etwas zurück, als könnten wir diesen Ort, an dem wir knapp zehn Jahre gelebt hatten, nicht verlassen, als müssten wir uns noch einmal bedenken, denn als wir uns endlich aufrafften, brauchten wir mehrere Wochen nur zum Sortieren und Wegwerfen der kaputten, befallenen Möbel, der Kisten voll Bücher, der alten Spielsachen unserer Kinder.

Der Zweifel ist mitgekommen. Wir möchten Vertrauen haben, möchten dem Ort etwas von uns geben, wir stürzen uns auf den Garten, die Bepflanzung, lebt man in einem solchen Haus, macht das Sinn, wir kaufen Pflanzen für eine Hecke. Sechs kleine Bäumchen liegen da wie putzig grün angezogene Kinder, du gräbst einen perfekten, kurzen Graben und setzt sie am Nachmittag ein. Es gefällt ihnen da, sie bilden nur ein Teilstück, ein Heckenfragment ohne jeglichen Zusammenhang, die Leute bleiben auf der Straße stehen und betrachten die Strauchreihe, die keinen richtigen Anfang hat und kein richtiges Ende. Uns ist das egal, den Hunden auch. Der ältere patrouilliert entlang der merkwürdig kurzen Hecke, bellt zur Warnung, wenn jemand daran vorbei auf unser Grundstück stapft, der andere rennt sofort freudig hin, zur Begrüßung, beide kacken schwarze Klumpen auf den Kies oder verschwinden zum Nachbarn, um auf dessen schönen Rasen zu pinkeln. Unser Haus steht frei im Licht. Davor die weiten Äcker, endlich haben wir die Stadt hinter uns gelassen, uns offene Räume verschafft.

Alles ist am Werden, du schattierst mit Kohle, Felder, Äcker, Wege, manche Details deutlicher, klarer als andere, radierst wieder aus, bis kaum mehr eine Landschaft da ist, zerschneidest. Die Leinwände grundierst du schwarz, als wolltest du betonen, dass die Dunkelheit zuerst da ist, Licht ist nur Abwesenheit von Dunkelheit, nicht andersherum, zu Beginn klebst du Malerband auf, um scharfe Linien zu erhalten, du benutzt die alten Pinsel. Du hast das große Zimmer bekommen, es hätte auch meins sein können, ich hätte dort schreiben können, aber nein, du sollst es haben, du brauchst die Fenster, das Licht, ich will, dass du es bekommst. Du sollst deine Leinwände auf die alten Staffeleien meines Vaters stellen, die wir beim Ausräumen seines Hauses gefunden haben. Konstruiert aus ein paar zusammengenagelten Latten, er war ein Heimwerker, du stehst in diesem Zimmer und malst, und manchmal trägst du seinen Pullover, einen Pullover, der sich langsam auflöst, und deine Hände sind voller Farbflecken, das waren seine auch, manchmal legst du dich auf die Matratze und betrachtest dein Werk, und wenn du wieder aufstehst, sind deine Haare genauso zerzaust wie seine, wenn er in seiner Arbeit versunken war, du arbeitest unten in dem großen Zimmer, ich oben, und mitten am Tag bellt einer der Hunde. Wir müssen raus.

Jeder Schritt ist eine Bestätigung. Da haben wir die Häuser, die Gärten, die Garagen voll mit Werkzeug, Skiern und Autoreifen. Oberhalb der Bahngleise: ein Bauernhof mit ein paar Schuppen und einem Hundezwinger. Darin leben sie, die Schlittenhunde, eingesperrt in ihrem begrenzten Bereich. Wir hören ihr Bellen, ihr Heulen, in Wellen rollt es über die Wiese, bricht sich am Antwortgebell anderer Hunde, schwappt zurück. In den Hügeln hier lebt angeblich ein Wolf, im Frühling wurde er gesehen, da lief er die Landstraße entlang, dann über ein Feld, querte den Fluss, weiter Richtung altes Eisenwerk. Danach hat ihn keiner mehr gesehen, wir hören nur die Hunde. Die Straße hinauf, unter der Brücke hindurch, weiter auf der anderen Seite der Bahngleise, links auf den Weg am Waldrand. Bei den Hunden ist es still, wir gehen am Zaun entlang. Ein paar schauen hoch, überrascht, wie dicht wir bei ihnen sind. Wir gehen weiter, sind fast schon am Auslauf vorbei, es hat angefangen zu regnen, ich hebe die Hand, um die Kapuze aufzusetzen, und diese Bewegung bekommt einer von ihnen mit. Ein großer grauweißer Hund erhebt sich, ein Wolf in Gefangenschaft, wie aus einem Bilderbuch, hier das Maul, da der große Schädel, von seiner Schnauze aus nach oben verläuft ein Strich, teilt sich auf der Stirn, ein dunkler Stempel, zwei gebogene Federn im weißen Fell, eine Verlängerung des Walds in seinem Blick, im gefleckten Fell, ein Winterwaldboden. Die Augen, helle Glaskugeln, eingefasst in einem Sockel, sie werden schmaler, während er uns fixiert, wir starren zurück. Der Hund will auf uns losgehen, wird von der Kette gestoppt. Zwar kein Wolf, aber vielleicht ihr Anführer, denn jetzt legen alle los. Sie schnellen hoch, springen gegen die Ketten an. Wir stolpern an dem jaulenden, heulenden Rudel vorbei; der Radau nimmt kein Ende. Ihre Loyalität, eine Form von Liebe, dass sie ihr tristes Fleckchen bewachen. Erst weit weg, oberhalb von Hof, Haus und Zwinger, hören wir sie nicht mehr.

Alles hier streckt sich aus, die Straße führt hierher und vorbei, weiter Richtung Roa. Die Felder erstrecken sich bis zu den Bäumen, zum Waldrand, die Hügel zu den Zeichnungen am abendlichen Himmel, und am Morgen schwebt oft Nebel über den Acker, eine Weile hängt ein durchlässiges Gewebe in der Luft, dem Himmel entrissen, die Sonne bleicht es langsam aus. Alle, die hier leben, alles, was sie tun, das ganz Gewöhnliche. Zumindest glauben wir das. Wir brauchen das, schauen hinein, bleiben stehen, lauern wie die Hunde darauf, dass sich etwas bewegt. Wir gehen zu ein paar Plätzen, die wir im Wald entdeckt haben. Ohne bestimmte Absicht, du rauchst und ich mache Fotos, anfangs bin ich von diesem Ort überzeugt, hier passen wir her. Ein Ort, an den wir passen. Nach einiger Zeit stehst du seltener in deinem Zimmer, die Staffeleien bleiben leer. Du bräuchtest neue Farbe, sagst du. Aber auch ich spüre es. Wir haben zu viele Menschen mit hierhergebracht. Jetzt, wo es ruhiger wird, in der Stille hier draußen, machen sie sich bemerkbar, tauchen auf, beziehen das Haus, mein Vater, deine Mutter. Geliebte. Andere vergessen Geglaubte.

In dem Haus, in dem wir vor unserem Umzug lebten, schrieb ich in verschiedenen Zimmern, eine Weile stand mein kleiner Schreibtisch oben im Flur, dann schob ich die schmale Seite des Tischs in einen Schrank und schrieb dort, einen Erzählband, zwei Romane, noch einen Erzählband, all das schrieb ich in dem Haus, das mir nicht gehörte, aber dessen Verfall ich mit einem gewissen Interesse verfolgte, er schien mir parallel zu meinem Verfall zu verlaufen, vielleicht auch unserem. Wir waren unfähig, uns um das Haus zu kümmern, wir versuchten es, wir mieteten es günstig, strichen die Wände und richteten es mit Möbeln ein, die ich auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Ich war für dieses Haus so dankbar. Es war unsere Rettung, als wir nichts hatten, keine Wohnung, kein Geld. Nach und nach vernachlässigte ich es. Das Haus war wie ein Gebilde aus Knochen, die man in zufälliger Reihenfolge aneinandergesetzt hatte, in der Annahme, so hätte der ursprüngliche Organismus einmal ausgesehen, uns fehlte bloß eine Skizze, dachte ich, die müssten wir unbedingt finden, um es richtig zusammenzubauen, aber dass es uns nicht gelang, die verschiedenen Zimmer zusammenzufügen, war allein unsere Schuld. Einmal lief im Winter Schmelzwasser an den Wänden herunter, graue Bäche ergossen sich über die Tapete, im Abfluss waren Silberfische, entlang der Leisten kleine Tierchen, ein schwarzer Pilz saß in dem verrotteten Holz der alten Fenster, ich wohnte gerne dort, ich versuchte so lange dort zu leben, im Winter zogen wir die Vorhänge zu, wohnten wie in einem Kokon, so kalt die Wintermonate, dass ich mit Handschuhen und Mütze in einem Schlafsack schlief, der Atem aus meinem Mund weiß und dünn, im Sommer machten wir alle Fenster auf und saßen auf der kleinen Treppe zum Garten.

Jahr um Jahr geht das so. Die Zeit schwindet dahin. Du schläfst gern. Du trinkst Kaffee, schläfst. Du wachst auf, wir schauen Filme. Wir lieben uns, vögeln, du gehst zur Arbeit. Du lektorierst für einen Verlag, du arbeitest als ambulanter Pfleger, als Hausmeister. Erhältst eine Anstellung bei einer staatlichen Institution, bereitest für die Blindenbibliothek Bücher auf. Du machst Skizzen und zeichnest, versuchst zu malen. Du rufst deine seit Jahren frühverrentete Mutter zu selten an, du würdest so gerne. Wärst gern so, anständig. Aber du kannst es nicht.

Du hast in diesem Jahr abgenommen, du bist dünn geworden, mager. Nachts wecken dich Albträume, immer derselbe, Leute laufen mit Fackeln in den Händen über die Felder, sie suchen nach jemandem, nach dir, treiben dich in ein Gebäude, die Reste eines Kriegsbunkers, hier unten presst sich Sägemehl in deinen Atem. Schimmlige, leere Räume, Folterkammern, überwuchert von Pflanzen, wachsartige Stängel, in eine Hecke hineingewachsene Körperteile. Du kannst nicht weglaufen, entkommen, auch wenn du das Ende des Traums kennst, musst du da durch, man treibt dich weiter, am Schluss nur ein Schlupfloch, eine schmale Wand, in die du kriechst, um dich zu verstecken. Oben erahnst du den Himmel, draußen die offene Landschaft. Du wachst auf, immer umzingelt, manchmal stehen sie parat, um ein großes Feuer anzuzünden, ein Haufen von Müll aus unserem Haus flammt im Garten als riesiges Feuer in die Höhe. Der Albtraum beunruhigt dich den ganzen Tag, du trinkst Kaffee, um ihn loszuwerden, als hätten sich Reste des Traums unter deinen Augenlidern festgesetzt.

Was im Weg steht, hat der Umzug nicht verändert, vielleicht hat er es schlimmer gemacht, du hasst es umzuziehen. Ich bin so oft umgezogen, ich bin immun, eine Umherreisende, ich glaube nicht an Verwurzelung. Für mich ist klar, wenn ich einen Ort, ein Haus, wähle, wenn ich mich dafür entscheide, verändert sich der Ort oder ich. Genau deshalb sei ich jetzt vorsichtig, zu misstrauisch, zweifelnd, sagst du. Aber auch du bist auf der Hut. An einem Nachmittag stehen wir an einer Pferdekoppel. Direkt am Zaun grast ein brauner Wallach, weiter unten unter einem Baum sind zwei weitere Pferde, sie ruhen sich aus. Wir kommen oft hierher und beobachten sie in ihrem Gatter, ein schwarzweißer Hund streunt um sie herum, weicht ihren massigen Hufen aus. Dein Blick verändert sich, gleitet über die großen Tiere, über den Baum auf der riesigen Weide; für einen Augenblick sind wir ganz ruhig, genau wie die Pferde. Dann gehen wir weiter.

Wir gehen über einen Acker, die abgemähten harten Halme ragen wie Stacheln, wie Nägel aus der Erde, wir gehen mit den Hunden spazieren, gehen immer weiter, hier gibt es gar keinen Weg, sage ich am Ende des Felds, alle Wege hören auf einmal auf, brechen ab, nein, sagst du, du sagst, du irrst dich, wir können hier lang, und schon sind wir in einem Urwald, einem Chaos aus langen Ästen, toten Bäumen, und mitten hindurch, am Fluss entlang, hat jemand dicken rostigen Stacheldraht gezogen, wir verlassen die Landschaft, in der wir losgegangen sind, das sanfte Licht, und ich weiß, wo wir jetzt sind, in einer deiner Skizzen. Oder in dem gerahmten Bild über meinem Schreibtisch, dem von Akira Kanayama, diesem Gewirr.

Wieder Dunkelheit, diesmal am Tag. Ein Mangel, der jeden Tag durchdringt, ein Loch hinterlässt, das Licht entzieht, wie ein Schwamm die weiße Farbe von der schwarzen Grundierung saugt, sie ausstreicht, sie unsichtbar macht. Ich kenne das schon, wie sich deine Bewegungen verändern. Ein schwarzer Plastiksack, mit dem du Dinge einsammelst, du gehst durchs Zimmer und steckst alles hinein, was dir etwas bedeutet, deine Pinsel, deine Leinwände, Zeichenblöcke, Bücher, alles muss hinein, wie Beweise, Gegenstände vom Tatort. Der Sack, die schwarze Tüte, groß genug für einen Menschen.

Alles durchsehen und wegnehmen, was etwas bedeutet; an deinen Händen sind keine Farbflecken mehr, schon seit Wochen nicht, warum wirfst du das weg, frage ich, aber du gibst keine Antwort. Ich nehme dir den Plastiksack ab. Er hat einen Riss, ein sehr großes Loch, so kann ich den Inhalt sehen, die verschiedenen Gegenstände.

AUF DEM NACHHAUSEWEG merkst du, dass du deinen Schlüssel verloren hast. Du durchsuchst deine Hose, deine Jacke. Du bist zehn, die Weihnachtsferien sind bald vorbei. Der Bus fährt durch Straßen, die du kennst, die Stadtlandschaft, später erinnerst du dich daran, wie du vom Bus aus die Stadt betrachtet hast, schon in diesem Moment sahen die Häuser aus wie Kulissen, ihre Fassaden am Boden festgeklebt, mit Lichtern geschmückt, und über den Fassaden liegt die Winterdunkelheit, die Stadt gaukelt dir nur vor, dass du sie kennst. Du warst lange von zu Hause weg, zum ersten Mal hast du Weihnachten bei deinem Vater gefeiert. Als du aus dem Bus steigst, beginnt es wieder zu schneien. Du siehst die Reihenhäuser im Grevinneveien, das Haus steht noch da, wo du es verlassen hast, am Ende der Straße. Du rennst los, gleich bist du zu Hause. Der Papierstern im Fenster ist weg, aber den nimmt sie immer früh ab, am ersten Weihnachtsfeiertag, da räumt sie auf, deine Mutter, der Schmuck wird weggepackt, der Weihnachtsbaum in den Garten geworfen, wo er dann vertrocknet, und seit dein Vater ausgezogen ist, sitzt sie meist rauchend auf dem Sofa, konzentriert auf ihre Zigaretten, diese Arbeit, Inhalieren und Ausatmen, als bliese sie warmes Glas und nicht Rauch.

Das Fahrrad deiner Schwester ist weg, sie lässt es immer einfach fallen, es schneit ein, die Lenkergriffe ragen aber noch heraus, als würde sich jemand nach oben kämpfen, bevor neuer Schneefall wieder alles bedeckt. Vor der Haustür ist nichts, nur eine scharfe, weiße Schneekante hängt am Geländer und an der Treppe. Noch etwas ist anders, vor der Tür steht jetzt eine Laterne, und um die Fußmatte herum liegen Fichtenzweige. Das Läuten der Türklingel ist kurz und gepresst, wie immer. Du wischst dir mit dem Ärmel über die Nase und wartest, drinnen bewegt sich jemand, durch das Glasviereck in der Tür siehst du einen Schatten, er wird größer, verschwindet wieder, deine Schwester, deine Mutter?

Der Mann, der öffnet, ist groß, bärtig, du hast ihn noch nie gesehen. Er sieht dich geduldig an. Ein Nikolausbesuch mit vertauschten Seiten, du, eigentlich hier zu Hause, stehst draußen, und er, ein Fremder, macht dir die Tür auf. Er spricht mit dir, als würdet ihr euch gut kennen, so als hätte er fast darauf gewartet, dass du kommst. Mats, sagt er, komm rein, komm rein. In dem Haus, das du für deines gehalten hast, herrscht ein anderer, ein neuer, schärferer Geruch, vielleicht ist es das falsche Haus, vielleicht hast du den Weg vergessen, hast dich verirrt, du warst noch nie in einem Haus, das deinem so ähnelt und doch so verschieden ist. Und ihn hast du noch nie gesehen, diesen bärtigen Typen, der sich als Roar vorstellt. Das Schuhregal ist neu, das Telefon ist noch genauso grau, steht aber auf einem anderen Tisch; darüber hängt ein Spiegel mit Plastikrahmen. Der fremde Mann holt einen Zettel hervor, wählt eine Nummer, wartet mit dem Hörer in der Hand, er schaut die Wand an, nicht dich, dann legt er wieder auf, niemand zu Hause, sagt er.

Jetzt, wo du mit Roar durchs Haus gehst, stellst du fest, dass es komplett verändert ist, die Zimmer haben alles Alte abgeschüttelt. Er fragt, ob du hier im Flur warten willst, du nickst und weißt nicht genau, worauf. Die Wände sind neu, voller Bilder mit fremden Gesichtern. Ein Foto von Roar im Anzug, die Frau daneben trägt einen Schleier und ein weißes Kleid, sie haben sich einander zugewandt, blicken dich aber direkt an, die Arme der Frau enden in einer Blumenflut, ein Bild in Schwarz-Weiß. Man stellt dir einen Hocker hin. Durch die offene Küchentür kannst du sehen, dass sich Roar mit der Frau von dem Foto an den Tisch gesetzt hat. Du horchst. Sie sprechen miteinander, diskutieren, doch die Geräusche von Besteck, Gläsern und Tellern übertönen fast ihre Stimmen. Er nennt sie Cecilia.

Roar kommt in den Flur und versucht noch einmal anzurufen. Cecilia fragt dich, ob du hungrig bist, willst du etwas essen, hast du Durst? Du betrachtest die Tür, die Wand, deine Hose, von deinem Handrücken lösen sich die Überreste eines Piratenschiffs, eines mit Wasser festgeklebten Tattoopflasters, du nickst, und sie führt dich zu dem Tisch in deiner eigenen Küche. Neue Vorhänge, geweißte Wände, nur die Schranktüren haben noch die vertraute Farbe, deine Mutter nennt sie eine Beleidigung und plant ständig, die Schränke neu zu streichen. Du kriegst einen Teller, der Kühlschrank brummt wie immer. Du nimmst das Wasserglas und trinkst, es schmeckt genau wie vorher, es ist dein Wasser! Roar sagt, heute gibt es Fisch, Cecilia sagt, iss einfach so viel du willst, du sitzt zwischen ihnen und tust so, als wärst du ein normaler Gast, oder vielleicht ein Kind, das mit ihnen zusammenlebt, und sie tun auch so. Es gibt hier keine Kinder, wo sind ihre Kinder, leben sie alleine, du merkst, dass sie sich Sorgen machen, wie könntest du hier reinpassen, wo sollen sie mit dir hin.

Nach dem Essen, das du nicht geschafft hast, fragst du, ob du aufs Klo gehen kannst. Sie nicken, irgendetwas an der Frage macht sie froh. Dein Körper funktioniert, wie er soll, du wirst durchkommen. Du musst erschöpft sein, sagt Cecilia. Du weißt zwar nicht warum, nickst aber und stehst vom Tisch auf.

Dein Zimmer ist weg. Die Wände sind leer, die Fußballposter abgerissen. Ohne Gardinen ist das Fenster ein furchteinflößendes Loch. Das Schlafzimmer von Cecilia und Roar ist nebenan, auf dem Nachttisch liegt Geld, ein paar Scheine unter einer Vase. Du nimmst einen Schein und steckst ihn in die Hosentasche, ein geschmeidiges Stück Papier, deine Fingerspitzen sind feucht. Auf dem Klodeckel Rückstände vom Scheuermittel, auf der Badablage ein Stück Seife, in dieser Badewanne hast du deine Schwester nackt gesehen, sie stand auf, Wasser lief an ihr hinunter, über eine glatte, beinahe geölte Oberfläche, sommersprossige Haut, und wo sich die Schenkel treffen, ein flaumiger Pfeil, dann schrie sie, mach die Tür zu, diese Haken hat dein Vater montiert, als er noch bei euch gewohnt hat, du hast ihm die Schrauben gehalten, die gesamte Aktion war von einer Ernsthaftigkeit geprägt, da hing immer dein Handtuch, daneben das deiner Schwester. Die Haken sind leer. Du pinkelst einen dünnen Strahl in das alte Klo. Fragst dich, ob sie zurückkommen. Deine Mutter. Deine Schwester.

Die zwei, die du nicht kennst, stehen im Flur, Roar legt den Hörer auf, sagt: Schade, dass das so gelaufen ist, jemand hätte dir Bescheid geben müssen. Hast du Lust fernzusehen? Im Wohnzimmer haben sie die Möbel neu angeordnet, Möbel, die du nicht kennst, auf der anderen Seite des Raums, du wusstest nicht, dass das geht, es war wie ein Gesetz, das Sofa muss da stehen, der Sessel dort, du glaubtest, sie ließen sich nur innerhalb eines bestimmten Radius bewegen. Jetzt sind sie nicht nur neu angeordnet, sie sind verschwunden. Das Zimmer ist eine Ansage, auf nichts ist Verlass, das Ganze ist eine Bühne, auf der Requisiten wie selbstverständlich durch neue ersetzt werden, Menschen kommen und gehen. An der Wand diffuse, auffällige Lücken, Schatten, Ellipsen und Vierecke. Das klinische Licht einer Lampe mit weißem Schirm, der Weihnachtsbaum hat dichtere Nadeln als sonst, die Kugeln blitzen. Im Bauch die Angst als leichtes Zwicken, wenn sie weg sind, deine Familie verschwunden ist, warum haben sie dich nicht mitgenommen.

Du gehst mit Roar zum Nachbarn, Roar erklärt, es gebe ein Problem. Der Nachbar, den du vom Sommer her nur als sonnenverbrannten Rücken auf dem Rasen kennst, steht in der offenen Tür, ist plötzlich eine wacklige Brücke zu alten Zeiten, als du hier gelebt hast. Er hat Gäste zum Weihnachtsessen, drinnen drückt jemand auf einem Akkordeon eine Taste nach der anderen, der Atem des Nachbarn macht sich breit, umarmt die kalte Luft und nistet sich in deinen Nasenlöchern ein, Schnaps, Rippchen und gefülltes Konfekt. Roar fragt nach deinem Vater, Scheiße aber auch, sagt der Nachbar, den zu finden wird schwer, der sitzt bestimmt schon irgendwo in einer Kneipe, du weißt, dass das stimmt, dein Vater kann fünf Sprachen, unterrichtet am Handelsgymnasium in Tønsberg, aber an Restaurants oder Cafés kommt er nicht vorbei. Er trinkt mit seinen Freunden, und wenn seine Freunde gegangen sind, trinkt er mit dem Personal, mit dir. Danach trinkt er im Wohnzimmer, oder auch im Auto, einmal glaubst du, gesehen zu haben, wie er getrunken hat, obwohl er schlief, im Schlaf hat er das Glas hochgehoben, den Mund gefunden, es wieder auf dem Tisch abgestellt und weitergeschlafen. Ihr geht zurück zu Cecilia. In dem alten, neuen Wohnzimmer wartest du mit den zwei Menschen, die du nicht kennst, mit Roar und Cecilia, du träumst einen Augenblick, von einem flüssigen Stoff, er rinnt wie kaltes, klares Wasser durch dein Denken, dann wachst du von der Haustürglocke auf.

Dein Vater kommt herein, die Sendung im Fernsehen ist zu Ende, eine neue geht los, du bist jetzt in einem Zustand von Wärme, Verwirrung, das Ganze hier, das Wohnzimmer und alles, schmilzt und vermischt sich vor einem schwankenden, schreiend grellen Hintergrund. Du solltest im Bett sein, aber du hast kein Zimmer mehr. Dein Vater ist sauer, er hat gerade erfahren, dass deine Mutter mit deiner Schwester nach Oslo gezogen ist, er kann es nicht erklären, er bremst sich beim Sprechen, wie man ein Auto ohne Licht abbremst. Die zwei anderen nicken. Du willst nicht gehen, willst plötzlich nicht gehen, es ist eine Eingebung, du besetzt das Sofa und weigerst dich mitzukommen. Er ist übermüdet, sagen sie. Dein Vater redet auf dich ein, Cecilia holt Schokolade, sie beugt sich zu dir und umarmt dich kurz, diese warme Umarmung überrascht dich, die Frau und du, ihr kennt euch nicht, aber du bist jetzt ein Kind, das einem leidtut. Beim Hinausgehen streichst du mit den Fingern über die Wand, die Tür, den Türgriff, nichts zum Festhalten, nichts, was dich zurückhält.

Ihr steht in der Tür, und du ziehst deine Schuhe an, ein Mädchen kommt die Eingangstreppe hoch, ein Mädchen in deinem Alter, vielleicht ist es ihre Tochter, und sie wird in deinem Haus wohnen, sie ist bleich wie eine Wand, als wäre ihre Haut die hauchdünne oberste Schicht eines Anstrichs oder einer zerschlissenen Tapete. Sie kommt ins Haus, du bist auf dem Weg hinaus, ihr geht aneinander vorbei, seht euch an, in ihrem Blick liegt eine Spur harter Genugtuung. Jetzt ist es, bis auf den Schein der Kerzen an den Weihnachtsbäumen hinter den Fenstern und den lose am Himmel verstreuten Sternen, fast dunkel, du blickst noch einmal zurück, vielleicht ist jemand am Fenster, vielleicht das Mädchen, die Familie, die deine hätte sein können. Du möchtest die Treppe hochlaufen, möchtest laut schreien, dass es nicht stimmt, du wohnst doch hier, das ist dein Zuhause, aber wenn du es jetzt ansiehst, weißt du, das ist nicht wahr, der Gedanke, das sei es vielleicht nie gewesen, ein Frösteln im ganzen Körper, wie der Beginn einer langwierigen Erkältung.

EIN PAAR JAHRE SPÄTER siehst du häufig, wie deine Mutter im Wohnzimmer eurer neuen Wohnung zur Balkontür starrt, sie entspannt sich in dem roten Stuhl mit dem rauen Bezug, raucht, wenn sie erschöpft ist, ihre Arbeit setzt ihr mehr und mehr zu. Damals heißt sie Marina, Namen sind etwas, das sie ausprobiert, in ihnen ruht sie wie im Bett von jemand anderem. Ihre ständigen Einfälle lassen sie reisen, erwecken in ihr den Wunsch, jemand anderes zu sein, einmal wirft sie alle Fotos von dir und deiner Schwester weg, mehrere Alben, und alte Bücher und Schallplatten. Sie will Urlaub machen, sucht sich ein Reiseziel aus, und will dann doch nicht fahren. Du bemerkst die Zigarette in ihrer Hand, die Asche vorne zittert, deine Mutter schläft, schläft im Sitzen, sie wacht auf und sieht dich an, komm her, sagt sie, Malukk. Liebling, komm her.

Du gehst zu deiner Mutter, die mit krummem Rücken ihre Zigarette beschützt, ihr ewiges Kuscheltier, von der Seite betrachtet bildet ihr Körper ein deutliches G, ich mag deine langen Haare, sagt sie. Stehen dir.

Du setzt dich auf die Armlehne, unbeholfen streichelt sie dir über die Haare. Mein lieber Junge, sagt sie, lieber Malukk. Ob du was anderes zum Rauchen hättest, fragt sie, was Besseres als Tabak, sie sei wieder ganz nervös. Ich bin so nervös, Malukk. Was soll ich denn haben, fragst du mit diesem Ausdruck, den du dir antrainiert hast, der nichts sagt, unverbindlich ist. Sie lacht, oh, du legst mich nicht rein. Ich weiß, was du hast. Sei ein lieber Junge, sagt sie, bittet sie. Du gehst in dein Zimmer. Du ziehst die Schublade der Kommode heraus, an der noch immer alte Aufkleber pappen, Tom jagt Jerry, und auf jedem streckt die Katze die Arme nach der nervigen Maus aus, und ganz unten, versteckt zwischen den Unterhosen, liegt das, was du suchst. Im Wohnzimmer setzt du dich neben deine Mutter und baust mit deinen kindlichen Fingern einen Joint, aufmunternd tätschelt sie deine Oberschenkel, gähnt, drückt den Zigarettenstummel aus und greift nach dem Feuerzeug, entzündet damit den schmalen Papierzylinder, den du ihr gibst, sie zieht den Rauch ein, behält ihn in der Lunge, ihre Augen werden klein, verschwinden tiefer im Schädel, ja, du weißt, was ich brauche, sagt sie hustend. Das weißt nur du.

Marina, deine Mutter, geht durch das Tor am Ullevål-Krankenhaus, in dem sie als Sekretärin arbeitet, auf Station sieben, wo die Selbstmordversuche eingeliefert werden, ihre Aufgabe ist es, die Details niederzuschreiben, sie in saubere, lesbare Krankenakten zu übertragen; sie transkribiert Notizen, liest Abschiedsbriefe, verletzliche Worte, archiviert alles. Sie ist fünfundvierzig. Sie geht zwischen den Backsteingebäuden hindurch. Bald werden die Bäume kahl sein, im Libanon hat es einen neuen Angriff gegeben, Kriegsnachrichten machen sie nervös, sie läuft neben einem Jungen her, der in dieselbe Richtung unterwegs ist. Bist du ein Freund von meinem Sohn Mats?, fragt sie, der Junge schaut sie nur böse an, jedenfalls siehst du seinem Freund sehr ähnlich, sagt Marina und geht weiter, ins Gebäude hinein. Im Pausenraum ihrer Station hat sich ein Grüppchen versammelt, mittendrin B. mit ihrem markanten, unfreundlichen Gesicht, sie hält einen Brief in die Höhe, in dem Marina um Versetzung auf eine andere Station bittet. B. hat eine übergeordnete Stellung, sie hat es auf Marina abgesehen, irgendetwas an Marina macht sie rasend, sie fragt: Der ist doch von dir, oder? B. macht sich über den Brief lustig. Sie lacht über Marinas Idee, wichtig genug zu sein, um die Station wechseln zu dürfen. Was meinst du damit, fragt sie und liest Auszüge aus dem Brief vor, dem wohlformulierten Brief deiner Mutter, Briefeschreiben konnte deine Mutter schon immer gut. Marina sagt, ihr sei schwindelig. B. lacht und fragt, ob man sie vielleicht sofort versetzen solle, sie könne bestimmt woanders arbeiten, ein eigenes Büro bekommen, mit ihrem Namen an der Tür, dann ginge es ihr bestimmt gleich besser.

Deine Mutter erreicht ihren Schreibmaschinenplatz, sie muss einen Stapel Papiere durcharbeiten, bevor sie in die Mittagspause kann, durch das Fenster blickt sie auf ein anderes Gebäude. Sie betrachtet den Stapel. Sie ist müde, trinkt zurzeit zu viel Kaffee, manchmal überkommt sie in der Raucherpause ein Zittern, sie meint, den Gestank fauliger Wunden von Patienten aus der Dermatologie wahrnehmen zu können. In ihrer Krankenakte wird später stehen, B. habe sie gequält, gemobbt und vor den anderen Angestellten lächerlich gemacht. Marina selbst sagt, das sei nicht wahr, B. sei herrschsüchtig gewesen. Sie mochte es nicht, wenn ich mein Hörgerät ausgeschaltet habe, sagt sie.

Aber dann entbrennt ein Streit, und Marina schafft es eine Woche lang nicht zu arbeiten, schafft es nicht, das Haus zu verlassen, schafft nichts mehr, außer Kaffee zu trinken und zu rauchen, sie liegt auf dem Sofa, neben ihr der Hund. Du schläfst nicht mehr, hast Bauchschmerzen, die kommen und gehen, sie gibt dir Pillen, Hustensaft mit Morphin, Tabletten wie Rohypnol und Aporex, die bringt sie aus dem Krankenhaus mit, Rezepte sind kein Problem. Du drehst schnelle Joints, um schlafen zu können, um Ruhe zu finden, rauchst, schluckst die Pillen. Reinigst ihr Hörgerät.

Eines Nachts wachst du auf und siehst, wie Marina sich mit der Balkontür abmüht, sie kriege die Tür nicht auf, sagt sie. Du bist müde, Mama, sagst du, warum musst du raus? Deine Mutter inhaliert den Rauch ihrer Zigarette, drückt sie in der Kaffeetasse auf dem Tisch aus, ich verstehe einfach nicht, warum die nicht aufgeht, sagt sie. Sie hat sich durch den ganzen Regen verzogen, antwortest du, ich kann mir das morgen ansehen.

Glaubst du?, sagt Marina. Kannst du mir helfen?

Ja, sagst du. Aber morgen. Jetzt ist es kalt.

Marina will sich eine neue Zigarette anmachen, ihre Hand zittert stark, als sie das Feuerzeug an das Ende hält, sie presst beim Anzündversuch die Arme eng an den Körper, dann gibt sie auf. Setzt sich auf den Stuhl. Kannst du es nicht jetzt machen?, fragt sie, bitte, Malukk. Ich steh so gern da, weißt du, denke an alte Zeiten und schau auf die Lichter der Stadt. Ihre Stirn ist schweißnass, die Stirn und ihre schwarzen Haare, feucht und glatt, und ihre Hände zittern noch immer, deshalb hat sie sich jetzt draufgesetzt. Dir wird klar, sie darf die Tür nicht aufmachen, was sie sagt, stimmt nicht. Ich will nur schauen, sagt sie, lacht. Lacht wie ein kleines Meerkätzchen, ein am Grunde eines schluchzenden Lachens versteckter Schrei. Bitte, sagt sie, bitte, aber du bringst sie in ihr Zimmer, ins Bett. Sie sitzt auf der Bettkante, und du hilfst ihr aus der Jacke, den Hausschuhen, du deckst sie zu, schlaf jetzt.

Nach einem Zusammenbruch wird deine Mutter eingeliefert, die Details stehen in ihrer Krankenakte. Sie hat Geruchshalluzinationen, riecht faulige Wunden, Leichen, sie schläft nicht mehr. Zu guter Letzt darf sie also die Station wechseln, aber man bringt sie nicht in das Krankenhaus, in dem sie arbeitet, sie wäre lieber an einem vertrauten Ort. Doch sie ist nicht weit davon entfernt. Da drüben ist meine Arbeit, ich habe immer so gesessen, dass ich raussehen konnte, dort ist mein Platz, erzählt sie einer Schwester, als sie an einem Fenster vorbeikommen, durch das Marina verschwommen jene Umgebung zu erkennen glaubt, wo sich bis vor wenigen Wochen ihr Arbeitsplatz befunden hat, dort drüben, hinter den Bäumen, ist ein kleiner Raum mit Neonröhren an der Decke, ein Schreibtisch mit einem verwaisten Bürostuhl, ordentlich gestapelten Krankenakten, ihrer leeren Kaffeetasse, der Schreibmaschine; der Raum mit seinem Inventar klebt in ihrem Bewusstsein und ist bedrückend, wie das Backsteingebäude, zu dem er gehört, dahin zeigt sie, wenn sie an diesem Fenster vorbeigeht. Dort werde ich in ein paar Wochen wieder arbeiten, erklärt sie der Schwester, wenn ich mich ausgeruht habe. Die Schwester sagt, das sei schön, zu einem Job zurückzukommen sei gut. Marina nickt, alles ist beruhigt worden, heute keine Gerüche, kein Gestank.

Sie will so oft wie möglich an dem Fenster vorbeigehen, hinüberschauen, als würde sie auf ihren Job aufpassen, sie ist nur kurz mal nebenan. Bis eine andere Schwester ihr erklärt, das Gebäude, das sie da sehe, sei gar nicht ihr Arbeitsplatz. Wir sind ja weit weg davon, sagt sie. Erst glaubt Marina, das sei gelogen, das könne nicht wahr sein. Dann meidet sie das Fenster.

Nach ein paar Wochen entlässt sie sich selbst, oder sie überredet einen Arzt dazu.

Marina öffnet die Tür zur Abteilung, in der sie arbeitet, ihre Kollegen grüßen, sagen willkommen zurück, eine aus Drammen sagt, sie zu sehen, sei eine Erleichterung, die Station erstrahlt in fluoreszierendem Licht, das kleine Büro ist jetzt ein Saal, in den elektrischen Schreibmaschinen, in den Lampen rundherum surrt der Strom, für einen Moment wird ihr schwindelig, aber sie schafft es zu ihrem Schreibtisch. Eineinhalb Stunden lang arbeitet sie, dann muss sie auf die Toilette, beim Hinausgehen trifft sie auf B., die fragt, was Marina denn hier mache, Sie dürfen hier nicht sein, sagt sie verärgert, wer hat Sie reingelassen, ich arbeite hier, sagt Marina. Jetzt nicht mehr, sagt B., Sie müssen bitte gehen. Sie sind Patientin, Frau Kober, sagt sie. Aber ich arbeite hier schon lange, sagt deine Mutter, ich habe viel zu tun, ein ganzer Stapel wartet auf mich. Ich arbeite hier seit vielen Jahren. Ja, aber dann wurden Sie Patientin, sagt B., und jetzt können Sie hier nicht mehr arbeiten.

Marina packt sich selbst am Arm, wie jemand, der im Vorbeigehen bemerkt, diese Marina braucht Hilfe, sie ist vielleicht ein Eindringling, etwas, das auf den Fluren herumlungert, aber man muss ihr beistehen, kann ich zumindest auf die Toilette, bittet sie, wenn Sie sich beeilen, sagt B., aber danach gehen Sie. Marina kommt zurück in den Büroraum, das Gespräch ist wohl durch die halb offene Tür gedrungen, denn zwei der Kolleginnen sind jetzt schwer beschäftigt, in ihre Arbeit vertieft, Marina geht zu ihrem Schreibtisch, nimmt ihre graue Tasche von der Stuhllehne, ihre Brille aus der Schublade, sie fällt ihr herunter, Marina bückt sich und hebt sie auf, und während sie wieder hochkommt, weiß sie, dass sie beobachtet wird, der gesamte kleine Raum konzentriert sich auf diese Bewegung, vom Boden bis sie wieder aufrecht ist, aber sie ist mit ihrem Blick nicht schnell genug. In dem Moment, wo sie guckt, haben sich alle wieder über ihre Arbeit gebeugt.

Es tut mir leid, sagt sie, ich dachte ja nur, ich sollte sicher nicht hier sein, so war es nicht gedacht. Die Kolleginnen lächeln, eine nach der anderen, lächeln, wenn sie ihrem Blick begegnen. Ein stummes Gelächel, nur die aus Drammen, die im Raum nebenan arbeitet, kommt herüber, viel Glück, Frau Kober, sagt sie, ja Glück, denkt deine Mutter.

Aber wofür? Sie will nicht gehen, aber gerade hat ihr jemand Glück gewünscht, diese unerwartete Wärme muss doch etwas wert sein. Die Glückwünsche hallen ihr im Ohr nach wie eine verschwommene, aber optimistische Melodie, bis sie begreift, dass nur ihr Hörgerät dröhnt, sie macht es aus. Sie geht den Korridor entlang und ist mit jedem Schritt mehr davon überzeugt, dass du und deine Schwester draußen warten. Man hat euch angerufen, natürlich haben sie euch angerufen, und ihr seid zum Abholen gekommen, jetzt, wo sie sicher ist, dass jemand auf sie wartet, geht sie schneller.

Es ist kalt draußen, als sie sich auf dem leeren Parkplatz umsieht, brennt ihre Haut wie nach einer Ohrfeige.

Eine Woche später steht sie auf dem Balkon, sie hat einen Stuhl an die Brüstung geschoben und ihre Hand zittert heftig bei dem Versuch, sich die letzte Zigarette anzuzünden, nur noch eine. Deiner Schwester gelingt es, die Tür aufzumachen, sie packt deine Mutter, an Nachthemd und Haaren, packt Marina, die sich an der Mauer abstützt und probiert, auf den Stuhl zu klettern, vor, Richtung Kante. Marina schlägt um sich, aber deine Schwester ist stärker und ringt sie zu Boden, da liegen die beiden, sie trug nur ein Nachthemd, sonst nichts, erzählt deine Schwester immer wieder, als wäre der Tod mit mehr Kleidung besser gewesen.