Über das Buch

Die Welt anhand von sieben außergewöhnlichen Rohstoffen erklärt: »Ein Ausnahme-Debüt … Mit Posnett zu reisen ist vergnüglich und lehrreich.« Robert Macfarlane

Ist eine nachhaltige Beziehung zwischen Mensch und Natur möglich oder eine Illusion romantischer Idealisten? Diese Frage treibt viele von uns um, ebenso wie Ökonomen, Politiker, Ingenieure und Umweltschützer. Edward Posnett geht ihr auf ungewöhnlichen Wegen nach und stößt dabei auf erstaunliche Geschichten. Er entführt uns in Höhlen auf Borneo, an die Küsten Islands und in die Anden. Anhand faszinierender Rohstoffe wie Muschelseide und Vikunjawolle sucht er nach Ansätzen, natürliche Ressourcen zu nutzen, ohne sie auszubeuten. Posnetts Buch ist eine Wunderkammer, die uns mit Hilfe besonderer Rohstoffe unseren Lebensstil hinterfragen und die Natur mit einer neuen Dringlichkeit sehen lässt.

Edward Posnett

Die Kunst der Ernte

Sieben kleine Naturwunder und ihre Geschichten

Aus dem Englischen von Sabine Hübner

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Einleitung

Eiderdaunen

Essbare Vogelnester

Katzenkaffee

Muschelseide

Vikunjafaser

Tagua

Guano

Epilog

Dank

Anmerkungen

Bildnachweise

Register

Für Gabriella

Einleitung

Einige Jahre bevor ich diesen Text schrieb, arbeitete ich in Canary Wharf in einem Glasgebäude voller Experten für Zahlen und Systeme. Es gehörte zu meinem Job, Berichte über Firmen, Märkte und politische Bedingungen in fernen Ländern zu schreiben. Bei meinen Recherchen ging es um schwerwiegende Themen: Millionen-Dollar-Ölgeschäfte in Afrika, Skandale um kriminelle Wertpapiergeschäfte, Bestechungsvorwürfe im nordamerikanischen Baugewerbe. Blickte ich aber aus den Fenstern — beziehungsweise durch die Glaswände — meines Büros auf den Londoner Norden, empfand ich nicht diesen Ernst, sondern nur die trostlose Kluft zwischen den Worten, die ich schrieb, und ihrer Bedeutung.

Canary Wharf, eines der beiden Londoner Finanzzentren, hat seinen Sitz im Herzen der alten westindischen Docklands in einer Themseschleife. Hier in die Docks zwängten sich einst Schiffe, deren gelöschte Fracht — Rum, Zucker und Kaffee aus Westindien — in Backsteinhallen gelagert wurde, die heute Restaurants und Wohnungen sind. Die Docks waren fast zweihundert Jahre lang ein lebendiger Umschlagplatz, bis sich die Schifffahrtsindustrie Ende der 1960er-Jahre mit dem Aufkommen des Containers mehr nach Osten hin orientierte. 1983 wurde der größte Teil des Areals an einen Bauunternehmer verkauft; binnen weniger Jahre wurde die Geschichte der Docks unter Schichten von Glas und Stahl begraben, der Architektur eines liquideren Finanzplatzes. Wer je das Canary Wharf-Areal besucht hat, weiß, wie leicht man sich dort verirren kann. Dem ungeschulten Auge scheint das Viertel gesichtslos; die Glasgebäude in den Straßen sind kaum zu unterscheiden, nur jeweils unterschiedlich angeordnet.

In seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel stellt Jorge Luis Borges sich eine riesige Bibliothek vor, die alle denkbaren, aus fünfundzwanzig Zeichen und 410 Seiten bestehenden Bücher umfasst. Zahllose hexagonale Galerien enthalten in Regalen, die jeweils vier Wände bedecken, Borges’ imaginäre, aus verschiedenen Buchstabenkombinationen bestehende Bücher. Irgendwie erinnerte mich mein Arbeitsalltag in Canary Wharf an diese Erzählung. Jeder Bericht, den ich damals schrieb, verschmolz mit den vorangegangenen Berichten; denn schließlich ging es um die immer gleichen Begriffe: Shareholder, Ölblock, Konzession, Akquisition, Investigation; sie unterschieden sich nur in ihrer Anordnung, ihrer Syntax.

Während meiner Mittagspause joggte ich auf der Isle of Dogs und dachte an die Schiffe, die hier einst einliefen, und an die Rohstoffe, die sie aus fernen Erdteilen mitbrachten: Elfenbein, Zuckerrohr, Wolle und Tierfelle. Der Wind wehte die Aromen all dieser Waren von der Themse her ins Hafenviertel. Atmete man damals diese mit Gerüchen geschwängerte Luft, bekam man vielleicht ein Gefühl dafür, wie die Welt kleiner wurde; alles, was man sah, zeugte von den neuen Handelsverbindungen, von den Entfernungen, die die Schiffe der Ostindischen Kompanie mit großer Geschwindigkeit überwanden. Dieses exotische Flair muss berauschend gewesen sein, aber auch verstörend, weil sich die sichere und vertraute Welt mit dem Unbekannten, Fremden mischte.

In London, Antwerpen, Venedig und anderen Zentren des internationalen Handels versuchten sich Denker einen Reim auf diese neue Welt zu machen, auf all die Gerüche, Eindrücke und Texturen. Manche schrieben über diese neuen Verbindungen und reisten in ferne Länder, andere wiederum fanden eine Möglichkeit, sie durch Objekte zu repräsentieren. Männer wie Hans Sloane, John Tradescant und Ole Worm sammelten Objekte aus aller Welt, stellten sie in einzelnen Räumen, sogenannten Wunderkammern, aus und schufen »eine Welt der Wunder, eingeschlossen in ein Kabinett«.1 Diese Kabinette waren nicht nur exzentrische Sammlungen, sondern wollten die sich weitenden Grenzen des Wissens repräsentieren, Zusammenhänge veranschaulichen und das Geflecht von Beziehungen begreiflich machen. Wie der Historiker Mark Meadow schreibt: »Auch in der Welt des Kuriositätenkabinetts waren, wie an jedem anderen Ort, in jeder anderen Zeit, die Stränge des Bluts, des Handels, der Obrigkeit und Behörden sämtlich präsent und alle miteinander verflochten. Berührt man einen dieser Stränge, versetzt man alle anderen in sympathetische Schwingung.«2

Meine liebste Wunderkammer gehörte dem dänischen Arzt und Altphilologen Ole Worm.3 Im Jahr 1605 brach Worm zu einer Kavalierstour auf, die acht Jahre dauern sollte, und reiste nach Deutschland, Italien, Frankreich, England und in die Niederlande. Auf dieser Reise sammelte er Objekte und traf sich mit Gelehrten, etwa dem berühmten Sammler Ferrante Imperato in Neapel. Samen, Muscheln und Horn, aber auch Mirabilien — Wunderdinge, unter anderem ein »magisches Ei«, das angeblich von einer Frau in Norwegen gelegt worden war. Worm konservierte diese Gegenstände, wie er schrieb, »mit dem Ziel, nicht nur kurz die Geschichte zahlreicher Dinge zu skizzieren, sondern meinem Publikum die Möglichkeit zu bieten, die Dinge eigenhändig zu berühren, mit eigenen Augen zu sehen, sodass jeder selbst beurteilen kann, wie das Gesagte mit den Dingen übereinstimmt und sich detailliertere Kenntnisse von ihnen erwerben kann«.4

Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sammelten viele Einzelpersonen Naturobjekte: Athanasius Kircher und Ulisse Aldrovandi ebenso wie Imperato.5 Kinder der Renaissance, blickten sie meist auf klassische Texte, um die Objekte ihrer Sammlungen zu erklären, und verfolgten deren Erscheinen etwa in der Naturgeschichte des Plinius oder der Tiergeschichte des Aristoteles. Ole Worm war von diesen Sammlern beeinflusst, aber auch fasziniert von der Berührung, der sinnlichen Erfahrung, mit den Objekten in Beziehung zu treten.6 In seinem Vorwort zum Katalog seiner Sammlung, der Musei Wormiani historia, schrieb er von »der klaren Absicht, [die Menschen] durch direkte Beobachtung zum Wissen zu führen, weg von hohlem Geschwätz«7. Wenn man ein Objekt in Händen hielt, mit dem Finger darüberstrich, daran roch, konnte man die Wahrheit erkennen und Mythen entlarven.

Wäre mir damals, als ich noch in Canary Wharf arbeitete, das Museum Wormianum schon ein Begriff gewesen, hätte ich in den Arbeitspausen vermutlich stundenlang den Museumskatalog studiert. Im siebzehnten Jahrhundert befand Worm sich am Beginn des Prozesses der Kommerzialisierung der Natur, der in unserem Zeitalter seinen Höhepunkt erreicht hat. Während Worm schrieb und sammelte, die Welt bereiste und Dinge berührte, fuhren Schiffe privater Eigner wie der Virginia Company zum indischen Subkontinent oder in die Neue Welt und handelten mit Gewürzen, Samen, Tabak und Fasern. Viele der Objekte in Worms Museum erzählten eine simple Geschichte und zogen eine direkte Linie von der »Welt der Natur« zu seinem Museumsraum, andere wiederum zeugten von den komplexen neuen Handelsrouten, verwoben Muster, Kontakte und Beziehungen und verzweigten sich während ihrer langen Reise aus der Wildnis bis in Worms Hände auf vielfältige Weise.8

Mich faszinierte die Vorstellung, was Worm wohl von unserer Zeit gehalten hätte, in der sich fast alles zur Konsumware, zum Handelsobjekt gewandelt hat; einer Zeit, in der das Exotische zum Einheimischen geworden ist und, wie spontan erzeugt, in Läden und Lagerhallen auftaucht. Im Rahmen meiner Arbeit in Canary Wharf verfolgte ich die Bewegungen von Objekten und beschrieb, wie Materialien und Dinge über Grenzen hinweg getauscht werden, von Flugzeugersatzteilen über Unterwäsche bis hin zu Ölderivaten. Wenn Worm seine neuen Objekte sinnlich wahrnahm, empfand er so etwas wie einen radikalen Bruch mit den alten Sichtweisen, durch die Konfrontation mit der Beschaffenheit der Dinge. Ich selbst erlebte bei meiner täglichen Routinearbeit keinen Bruch, nur einen kontinuierlichen Warenstrom, der sich in abstrakten Zahlen messen ließ.

Die Zeit zu messen ist allerdings schwierig, wenn man in Canary Wharf arbeitet. Der Markt lebt ewig in der Gegenwart; jedes unvorhergesehene, unvergessliche Ereignis verschlingt das vorangegangene und wird seinerseits verschlungen und ersetzt. Hinzu kommt der Mangel an Tageslicht. Man kann vom Augenblick der Ankunft mit Zug oder U-Bahn bis zum Ende des Arbeitstages stets im Untergrund oder im Inneren der Gebäude bleiben. Ich maß das Vergehen der Zeit, indem ich die Fortschritte beim Ausbau der Crossrail Station auf dem nördlichen Dock beobachtete, etwa 50 Meter tiefer als mein Schreibtisch, eine Wasserfläche, die einst bis zu zweihundert Schiffen aus Westindien Platz geboten hatte. Zuerst war da nur ein riesiger Kubus unterhalb des Wasserspiegels, stabilisiert durch dicke Metallrohre. Allmählich füllte sich der Abgrund mit Baukränen, Männern, Zementblöcken und Tragbalken. Als die Baukräne auf Höhe meines Bürofensters angekommen waren, war es für mich an der Zeit, weiterzuziehen.

Nachdem ich die Finanzwelt hinter mir gelassen hatte, versuchte ich dies und das: Ich arbeitete als Lehrer, betrieb Archivrecherche, war als Anwalt für eine Stiftung tätig, engagierte mich in einem Obdachlosenheim. Je nach Tagesform empfand ich entweder tiefe Erleichterung oder das lähmende Gefühl, versagt zu haben. Ich begann mich über die Geschichte der Rohstoffgewinnung zu informieren, befasste mich intensiver mit Artikeln, die ich in Canary Wharf nur überflogen hatte. Doch statt mit dem Thema abschließen zu können, blieb mir das vage Gefühl, allein schon dadurch, dass ich existierte, aß, atmete und verdaute, in Zusammenhänge involviert zu sein, die ich nicht begriff. In seinem Buch Die unsichtbaren Städte stellt sich Italo Calvino einen Ort namens Ersilia vor. »In Ersilia spannen die Einwohner Schnüre von Haus zu Haus, um die Beziehungen festzulegen, die das Leben in der Stadt regeln: weiße, schwarze, graue oder schwarz-weiße Schnüre, je nachdem, ob sie Verwandtschaftsverhältnisse, Handel, Autorität oder Repräsentanz bezeichnen.«9 Diese Fäden waren in meinem eigenen Leben offenbar so überreichlich vorhanden, dass sie sich zu einem dunklen Stoff verwoben, in dem alles zugleich verbunden und getrennt war.

Einmal besuchte ich am Wochenende das London Wetland Centre in Barnes, ein künstlich angelegtes Feuchtgebiet, das, verborgen in einer anderen Themseschleife, auf dem Areal von vier stillgelegten viktorianischen Reservoirs lag. Ich fand es belebend, das Feuchtgebiet zu durchstreifen, und blieb immer wieder stehen, um all die Lagunen und Inselchen zu betrachten. Ich sah Kanadagänse, Regenpfeifer, Stockenten und Eiderenten, Wildtiere aus mehreren Kontinenten, alle auf einer Fläche von einhundertfünf Morgen versammelt. Ich blieb vor den Eiderenten stehen, großen Tauchenten, die wie Hausgeflügel ruhig im Gras saßen. Sie sind exzellente Taucher, halten sich meist draußen auf dem Meer auf und suchen auf dem Meeresgrund nach Muscheln oder Krabben. Es war seltsam, sie hier zu finden, mit gestutzten Flügeln, eingeschlossen mitten in London, umgeben von Teichwasser statt vom Salzwasser des Nordatlantiks. Auf einem Schild vor den Eiderenten las ich, dass die Isländer die Enten jahrhundertelang geschützt hätten, im Austausch gegen ihre zarten Daunen, einem kostbaren Rohstoff, mit dem Island weltweit Handel trieb.

In den 1880er-Jahren trat mein Urgroßvater Robert Posnett eine Stelle in Runcorn, Cheshire, an, als Werkmeister in einer kleinen Gerberei, die seinem Onkel gehörte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die meisten meiner Vorfahren wesleyanische Prediger gewesen, doch Robert zog es mehr zu den Gerbergruben von Cheshire als auf die Kanzel. Praktisch und eigensinnig veranlagt, taugte er gut für die Arbeit im Ledergewerbe, das Einweichen, Abschaben und Trocknen der Felle, die Verwandlung borstiger Tierhaut in Stiefelsohlen, Maschinenriemen und Gurtzeug für Tiere. Und er hätte für seinen Einstieg in das Berufsleben keinen günstigeren Zeitpunkt wählen können. Während der industriellen Revolution explodierte die Nachfrage nach Leder, und Runcorns Gerbereien produzierten am laufenden Band harte Riemen für die Baumwollspinnmaschinen von Lancashire. Später übernahm Robert dann die Gerberei und erwarb noch eine weitere in Runcorn, und beide Betriebe lieferten im Ersten Weltkrieg robustes Sohlenleder für die alliierten Truppen. Bei Kriegsende produzierte mein Großvater neuntausend Häute pro Woche und verwandelte meinen Nachnamen, den man einst mit Predigten und Kirchenbänken assoziiert hatte, in ein Synonym für die Lederproduktion.

Bevor die synthetischen Materialien ihren Siegeszug antraten, war Leder lange Zeit durch seine Haltbarkeit unentbehrlich für die Baumwollproduktion gewesen und kriegswichtig für die Alliierten. Roberts Gerbereien brachten Hunderte von Menschen in Lohn und Brot und stärkten bei den Menschen in Runcorn das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Ein gewisses Unbehagen wurde ich angesichts dieser Zahlen allerdings nie los: Tausende von Häuten pro Woche, Hunderttausende pro Jahr, Millionen im Lauf von Jahrzehnten, eine endlose Reihe von Fellen und Kadavern, die sich von den Pampas Argentiniens bis zu den Gerbereien Cheshires erstreckte.

Ganz anders die Geschichte der Eiderdaune. Hier herrschten ungeschriebene Regeln der Kooperation, und so erschien mir die Daunengewinnung fast wie eine jener Symbiosen, die es in der Natur gelegentlich zwischen verschiedenen Arten gibt: der Putzerfisch, der die Körperoberfläche des Riffbarschs reinigt; der Regenpfeifer, der die Zähne des Krokodils säubert; der Muschelwächterkrebs, der in der Steckmuschel haust. Über eine spezielle Erntemethode hinaus ermöglichte die Eiderdaune eine andere Beziehung zur Natur, die eher auf Kooperation als auf Dominanz beruht. Die Isländer und die Enten waren ebenbürtige Partner: Falls eine der beiden Parteien den Vertrag verletzte, konnte die andere Partei einfach gehen oder vielmehr davonwatscheln.

Inspiriert von dieser Verheißung beschäftigte ich mich mit Methoden zur Rohstoffgewinnung, die auf ähnlich ausgeglichenen Beziehungen basieren. Es kamen sieben seltsame Objekte zusammen: die Daunen einer Tauchente, ein winziges gelatineartiges Nest, eine deftige Kaffeebohne, goldbraune Seidenfäden, eine feine, zimtbraune Faser, eine Art elfenbeinfarbener Kieselstein und ein ammoniakhaltiges Pulver. Ich fand es elektrisierend, diese merkwürdigen Objekte in der Hand zu halten und mir die Tiere oder Pflanzen vorzustellen, von denen sie stammten. Die Gerüche und Texturen waren seltsam fremd, doch ihre Fremdheit transzendierte ihre Form und zeugte von den Möglichkeiten des Zusammenwirkens. Jedes dieser Objekte diente in der Natur einem wichtigen Zweck — als Isoliermaterial, Schutz, Abfallprodukt, Verankerung oder Nahrung —, doch die Gewinnung, die Ernte dieser Rohstoffe, musste nicht zwangsläufig Qual, Verstümmelung oder Tod bedeuten.

Anders als Worm hätte ich gar nicht weit reisen müssen, um meine sieben Objekte zu finden: Längst sind sie in unser eigenes Leben verwoben und wären größtenteils wohl im Supermarkt zu finden gewesen, in geringer Entfernung zu meiner Wohnung in London oder später dann Philadelphia. Dass diese Dinge heutzutage per Flugzeug oder Containerschiff in unsere Städte befördert wurden, spiegelte die globale Vernetzung wider. Die allerletzten Winkel wurden erreicht, von der endlos weit entfernten Höhle bis zum dichtesten Urwald. Gehandelt, getauscht oder verschenkt waren diese Dinge durch zahllose Hände gegangen, die Hände von Erntearbeitern, Händlern und Verkäufern, bevor meine eigenen Hände sie berührten. Welche Bedeutung lag darin, dass es diese Dinge hier gab? Was sagte dies über unsere Beziehung zur Natur und über unsere Beziehung zueinander aus? Wenn ich mit diesen Objekten umging oder an ihnen roch, spürte ich, dass sie Geheimnisse bargen, Empfindungen und Verheißungen — in ihren Widerhäkchen aus Protein, ihren Fäden, Fasern, Büscheln oder in ihrer pulverisierten Form. Ich hätte gern enthüllt, welche Geschichten in ihnen verborgen lagen, mit welchen Menschen sie in Berührung gekommen waren.

Eiderdaunen

In Ísafjörður, dem Wirtschafts- und Verwaltungszentrum der abgelegenen Westfjorde Islands, verglich ein evangelisch-lutherischer Pastor die Eiderdaunen mit Kokain. »Manchmal denke ich, uns geht es wie den Kokabauern in Kolumbien«, sagte er. »Wir [die Daunensammler] bekommen nur einen Bruchteil des Preises, den das Produkt dann kostet, wenn es auf die Straßen Tokios gelangt. Unsere Daunen sind die kostbarsten der Welt, und wir exportieren sie in schwarzen Müllsäcken.«

In einer Sprache, die als Inbegriff des Leichten die Feder kennt, ist es schwierig, das Gewicht von Daunen zu beschreiben. Während bei einer Feder rund um einen festen Kiel Federäste mit feinen Widerhäkchen angeordnet sind, wirkt die Eiderdaune unter dem Mikroskop völlig chaotisch: Hunderte weicher Federästchen sprießen strahlenförmig aus einem einzigen Punkt hervor und winden sich umeinander. Jedes dieser Fädchen weist zahllose Häkchen auf, die sich zu einem feinen Vlies verhaken und wärmende Luftkammern bilden.

Nach meiner Rückkehr aus Island bat ich meine Frau, die Augen zu schließen und die Hände zu öffnen. Nachdem ich ihr einen entengroßen Daunenballen hineingelegt hatte, fragte ich sie, was sie spüre. »Wärme«, erwiderte sie. Als sie die Augen öffnete, sah sie die Daunen als geisterhaft graues Gebilde über ihren Handflächen schweben; sie zupfte die Daunen auseinander, wodurch sich die Häkchen lösten. Es knisterte wie elektrisiert und roch leicht nach verbranntem Haar. Jetzt drückte meine Frau die Hände zusammen, und die Daunen verschwanden zwischen ihren Fingern, zusammengepresst zu einem winzigen Ball, kleiner als der Schnabel eines Entchens.

Seit Jahrhunderten werden Eiderdaunen von den Menschen, die ihre Ländereien mit den Eiderenten teilen, hochgeschätzt.1 Schon die Wikinger füllten ihre Betten mit Eiderdaunen,2 mittelalterliche Steuereintreiber akzeptierten sie als Zahlungsmittel, und es ist durchaus möglich, dass auch die russischen Zaren, die Romanows, deren Herrschaftsgebiet einige der weltweit größten Eiderenten-Populationen beherbergte, die Daunen schätzten.3 Heute werden sie weltweit an Superreiche verkauft. In Island hörte ich allerlei Geschichten — dass in den Golfstaaten die Mitglieder der Königsfamilien in der Wüste unter Eiderdaunen schlafen, und dass es russischen Politikern das Herz erwärmt, wenn man ihnen eine Daunendecke schenkt.

Die Qualitäten der Eiderdaune, ihr extrem leichtes Gewicht und ihre hohe Isolationsfähigkeit, erschließen sich aus der Lebensweise der Tiere, von denen sie stammen. Eiderenten sind massig wirkende Seevögel, mehr Pinguin als Ente, die vorwiegend am nördlichen Polarkreis leben. Besucht man die isländische Küste, sieht man Hunderte dieser Vögel gesellig im Meer schaukeln. Sie haben ein keckes Wesen, und die Isländer bewundern ihren Mut. »Die Eiderenten sind unbesungene Helden, viel kühner als die Raubvögel, die sie sogar angreifen, um ihren Nachwuchs zu beschützen«, erzählte mir ein Einheimischer.

Die Federn in unseren Bettdecken haben meist eine traurige Geschichte. Laut den Angaben verschiedener Handelsorgane sind Federn größtenteils ein Nebenerzeugnis der Fleischindustrie.4 Noch schlechter geht es Vögeln, die bei lebendigem Leib gerupft werden, eine Praxis, die als »Lebendrupf« bekannt ist (und in China und Ungarn, beides bedeutende Daunenexporteure, weitverbreitet).5

Doch zu dieser verstörenden Beziehung zwischen Mensch und Vogel scheint es durchaus eine Alternative zu geben. Als ich in Island einen Ballen Eiderdaunen in der Hand hielt, erfuhr ich nämlich, dass die Eiderente, von der die Daunen stammten, höchstwahrscheinlich noch lebte — aber nicht etwa in einem dunklen Stall oder in einem Freigehege, sondern in der Wildnis des Polarkreises.

In einem Café in Ísafjörður erklärte mir der Pastor, wie er Eiderdaunen erntet. Zu seinen Pfarrerspflichten gehört die Bewirtschaftung eines kleinen Bauernhofs, ein Relikt aus früheren Zeiten, als Pfarrer in abgelegenen Gegenden nur durch ihre eigene Landwirtschaft überleben konnten. Selbst jetzt ist man hier nicht vor Überraschungen gefeit, vor allem im Winter bei extremen Wetterbedingungen. Im Jahr 1995 wurden in den Westfjorden zwei Ortschaften unter Lawinen begraben, wobei vierunddreißig Menschen ums Leben kamen. Gemeindepfarrer gehörten zu den Ersten, die den Überlebenden Trost spendeten.6

Jedes Jahr im Juni, sagte mir der Pfarrer, kämen etwa fünfhundert Enten vom Meer her zu seinem Bauernhof gewatschelt. Normalerweise nisten Eiderenten zwar nicht in derart großen Kolonien, doch versammeln sie sich in der Nähe menschlicher Siedlungen, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Enten nisten überall: in Reifen, in Hauseingängen, ja sogar im Haus selbst. »Ich nehme immer jede Menge Wimpel mit und pflanze einen neben jedes Nest, damit ich es wiederfinde. Denn diese Enten sind unglaublich gut getarnt. Manchmal tritt man fast auf sie.« Nachts beschützt der Pastor die Enten vor Raubtieren, die ihnen gefährlich werden können: Seemöwen, Füchse und Nerze. »Mit circa zwanzig habe ich mich glücklicherweise mal eine Zeit lang für Gewehre interessiert«, sagte er. »Das war, bevor ich Theologie studierte.« Würde er einschlafen, säßen die Enten für den Fuchs wie auf dem Präsentierteller. »Das wäre mehr als nur ein finanzieller Verlust, denn irgendwie sind sie ja auf mich angewiesen. Deshalb möchte ich sie nicht im Stich lassen. Ich war früher Nachtwächter, habe also ein bisschen Übung im Wachbleiben.«

Im Mittelalter herrschte der Glaube, dass der Pelikan sich selbst die Brust aufreißt, um die Jungen mit seinem Blut zu nähren. Diese mythologische Handlung war als Selbstverwundung bekannt, ein an Christus erinnernder Akt der Selbstopferung.

Auch auf den Ländereien des Pastors bringt die Eiderente ein Opfer für ihren Nachwuchs, wenngleich es sich nicht um Blut, sondern um Daunen handelt, die sich die Enten aus dem Brustgefieder reißen. Aus diesen Daunen bauen sie ein Nest und wärmen ihre Eier mit ihrer nackt gerupften Brusthaut. Die Eiderente brütet ungefähr achtundzwanzig Tage lang und verliert dabei bis zu einem Drittel ihres Körpergewichts; manche Muttervögel verhungern sogar.7

Wenn die Eier ausgebrütet sind und die Küken schlüpfen, watscheln die Mütter mit dem Nachwuchs zurück ans Meer, und der Pastor sammelt ihre Daunen ein — sein Lohn dafür, dass er ihnen Schutz gewährt hat. »Ich sammle die Daunen immer erst ein, wenn sie weg sind«, sagte er. »Manche Bauern nehmen gern mal ein paar Daunen weg, [während die Enten noch nisten]. Aber ich warte lieber, um sie bloß nicht zu stören … Wenn man sie aufschreckt, springen sie hoch und scheißen das ganze Nest voll.« Bei der »Scheiße«, von der er spricht, handelt es sich jedoch nicht um Exkremente, sondern um eine ölig braune Flüssigkeit, deren Geruch an gebratene Leber erinnert. »[Der Geruch ist] so stark«, schrieb ein belgischer Eider-Enthusiast, »dass ein damit in Berührung gekommenes Ei selbst vom hungrigsten Hund verschmäht, ja verabscheut wird.«8

Die vom Pastor geschilderte Szene war in Island jahrhundertelang ein gewohnter Vorgang. Daunen wurden hier wahrscheinlich schon seit der Ankunft der altnordischen Siedler im neunten Jahrhundert gesammelt. Der Anblick Tausender zahmer Eiderenten in der Nähe menschlicher Siedlungen versetzte frühe europäische Reisende in Erstaunen. C. W. Shepherd, ein Engländer, der 1862 die Insel Vigur in den Westfjorden besuchte, schilderte ein von Eiderenten belagertes Gehöft: »Die Lehmmauern, die es umgaben, und die Fensterbänke waren voller Enten. Auf dem Boden rund ums Haus saßen Enten ebenso wie auf dem geneigten Torfdach; eine Ente saß sogar auf dem Fußabstreifer. Eine Windmühle wimmelte nur so von Enten; und auch alle Nebengebäude, Erdhügel, Felsen und Klüfte. Enten überall.«9

Umweltschützer, Ökonomen und Ornithologen sind von der isländischen Daunenernte begeistert. Die Beziehung zwischen den Menschen, die die Daunen ernten, und den Eiderenten ist von unwiderstehlicher Schlichtheit: Kümmert sich ein Mensch um die Enten, kommen immer mehr Enten zum Nisten und erhöhen somit die Daunenmenge, die ihr menschlicher Beschützer einsammeln kann. Zeitweise kann diese Beziehung allerdings durchaus auf die Probe gestellt werden. Wie ich vom Pastor erfuhr, können manche Leute der Versuchung nicht widerstehen, einen Teil der Daunen einzusammeln, solange sie noch frisch und sauber sind, also vor dem Schlüpfen der Küken, und ersetzen die Daunen durch Stroh. Kein schöner Anblick, wenn Eiderenten beim Brüten aufgescheucht werden, und doch kehren sie rasch wieder in die Nester zurück und scheinen nicht nachtragend zu sein; dieselben Enten kehren Jahr für Jahr wieder.

Im Jahr 1914 untersuchte Charles Wendell Townsend, ein Arzt und Amateur-Ornithologe aus Massachusetts, die sinkende Zahl der Eiderenten in Labrador, Neufundland und Neuschottland und begeisterte sich für die isländische Methode. Erschüttert von der Entenjagd in Nordamerika, empfahl er zur kommerziellen Daunengewinnung die Einrichtung von Schutzgebieten für Eiderenten. In Reiseberichten hatte er von der isländischen Daunenernte gelesen und träumte nun von einem Ökologie und Handel umfassenden utopischen Modell, das er entlang der Küste der Vereinigten Staaten und Kanadas realisieren wollte. »Der Balzruf, an so vielen Orten kaum noch vernehmbar, würde wieder über das Wasser hallen«, schrieb Townsend 1914 in einem »dringenden Gesuch, die Eiderente zu schützen«.10 »Und das Beste daran ist, aus praktischer Sicht, dass uns die Vögel für diesen Schutz mit Eiern und kostbaren Eiderdaunen reichlich entlohnen würden.«

Ich fragte mich, wie fragil die Beziehung zwischen den Isländern und ihren Tieren ist und ob das Streben nach Profit die goldene Gans vielleicht irgendwann umbringen würde. Falls die Nachfrage nach Daunen irgendwann ebenso groß sein würde wie die nach Rhinozeroshorn, Bärengallenblasen und Elefantenelfenbein — könnte die Eiderente dann vom Aussterben bedroht sein? Würde man in Island Methoden der Massentierhaltung entwickeln müssen, um die Daunenmenge zu steigern und womöglich die illegale Jagd einzuschränken?

Diese Möglichkeiten scheinen in Island, wo man die Eiderente seit Jahrhunderten respektiert, vollkommen abwegig. Ich selbst habe dies auf der abgelegenen Insel Vigur erlebt, die an den Polarkreis grenzt. Dort lernte ich einen sechzehnjährigen Jungen kennen, dessen Familie dort seit dem neunzehnten Jahrhundert einen Bauernhof besitzt. Auf den Unterarmen des Jungen bemerkte ich Dutzende kleiner Narben. Diese Verletzungen hatten ihm Papageientaucher beigebracht, die er mitten im Flug mit einem großen Schmetterlingsnetz zu fangen pflegte. Ohne Bedenken brach er Hunderten von Papageientauchern wegen ihres Fleischs das Genick, die Eiderente jedoch galt ihm als unantastbar, als heiliger Vogel.11 Sein Onkel erklärte mir später, Eiderdaunen machten mehr als ein Drittel des Familieneinkommens aus.

Sollte sich die Beziehung der Isländer zu den Enten eines Tages doch wandeln, dann eher aus anderen Gründen. Die Norweger ernteten einst ebenfalls Daunen, entlang ihrer gesamten Küstenlinie, entdeckten dann aber in den 1960er-Jahren eine wesentlich profitablere natürliche Ressource — Öl — und begannen sich aus abgelegenen Küstengebieten zurückzuziehen.12 »Die Eiderenten wollten mit, weil sie sich von den Menschen beschützt fühlten«, erzählte mir einer der Eiderbauern. »Die Enten wollten lieber mit Katzen und Hunden zusammenleben als mit Seemöwen.«

Auf Öl ist man in Island zwar noch nicht gestoßen, doch verfügt das Land über ungenutzte Reserven an Wasserkraft und Erdwärme, die jetzt ausgeschöpft und exportiert werden sollen. (Es gibt Pläne für ein Seekabel zwischen Island und Schottland, das europäische Haushalte mit Strom versorgen würde.)13

Die Zukunft von Islands erneuerbaren Energiequellen weckt starke Emotionen in diesem Land, wo bereits unberührte Naturlandschaften großräumig geflutet wurden, um geeignete Bedingungen für die Stromerzeugung durch Wasserkraft zu schaffen.14 Wenn Island sich entschließt, die erneuerbaren Energiequellen voll auszuschöpfen und Strom zu exportieren, so wie die Norweger Öl, könnte die Tradition der Daunenernte allmählich an Bedeutung verlieren.

Die unerfreulichste und destruktivste Phase im Zyklus einer natürlichen Ressource ist der Prozess ihrer Gewinnung. Um in einem Entwicklungsland Rechte an einem Erdölblock zu erwerben, fließt womöglich Schmiergeld in die Tasche eines Funktionärs. Zur Ertragssteigerung mag der Besitzer einer Gänsefarm es profitabel finden, lebenden Vögeln die Federn auszureißen. Die Geschichte der Daunenernte unterscheidet sich grundlegend von diesen Narrativen destruktiver Rohstoffgewinnung. Allerdings funktioniert die Vermarktung der Daunen dann wieder wie bei jedem anderen Rohstoff. »Was von außen betrachtet wie ein nettes, kleines, nostalgisch-friedliches Gewerbe wirkt, ist in Wirklichkeit ein Krake aus Monopol und Manipulation«, sagt Jón Sveinsson, ein isländischer Geschäftsmann. »Kratzt man an der Oberfläche und folgt der Spur des Geldes, wandelt sich das Bild sehr rasch, und aus einem idyllischen Hobby wird mörderische Ausbeutung.«

Sveinsson, ein ehemaliger Marineoffizier, hat sein Leben der Eiderdaune gewidmet. Im Gegensatz zu vielen anderen Produzenten ist er mit allen Stadien des Lebenszyklus einer Daune befasst, vom Entennest bis zur Bettdecke des Oligarchen. Seit seiner Kindheit hat er auf der familieneigenen Farm in den Westfjorden Daunen geerntet und später dann Hunderttausende Euro in die Entwicklung eigener Maschinen zur Trocknung und Reinigung der Daunen investiert. Vor allem aber kümmert er sich um den Vertrieb. Als passionierter Leser Edgar Allan Poes verglich er seine Marketingbemühungen mit Detektivarbeit, »bei der ich nach potenziellen Kunden fahnde, wie ein Jäger ein seltenes Wild bis ans Wasserloch verfolgt«.

Sveinsson erklärte, schon die Produktion eines einzigen Kilos gereinigter Daunen bedeute einen kolossalen Arbeitsaufwand. Es müssten etwa sechzig Nester gesammelt, getrocknet und gereinigt werden, um Schmutz, Seetang und Pflanzen zu entfernen. Dieser Prozess wurde in den 1950er-Jahren mechanisiert, als die Isländer ihre eigene Technologie zum Trocknen und Reinigen entwickelten. Trotz dieses großen Arbeitsaufwands werden die in Island produzierten und gereinigten Daunen zu einem Bruchteil des Ladenpreises an Zwischenhändler verkauft. Japanische und europäische Grossisten kaufen die gereinigten Daunen in riesigen Mengen auf. Dann werden sie in Kopfkissen, Federbetten und Kleidungsstücke gefüllt und landen in Läden in Japan, China, Deutschland und Russland. Die Isländer erhalten etwa drei Millionen Euro für die durchschnittlich drei Tonnen Daunen, die sie pro Jahr exportieren, doch Sveinsson zufolge liegt der Ladenpreis oft zehnmal höher. »Tatsächlich bekommen die Eiderbauern einen niedrigeren Prozentsatz vom Einzelhandelspreis als ein afrikanischer Kaffeebauer«, sagt er.

Seine Worte erinnerten mich an das, was die Schriftstellerin Rebecca Solnit (in einem 2008 erschienenen Essay für Harper’s Magazine) Islands »rückwärts erzähltes Märchen« nannte, in dem die Menschen »ihrer wunderbaren Gaben und ihres Geburtsrechts beraubt wurden«.15 Laut Solnit begann dies alles vor etwa drei Jahrzehnten, als Island die Fischereirechte privatisierte und Fangquoten einführte und damit Quotenhandel und Akkumulation ermöglichte. Heute wird die Fischereiindustrie durch große Firmen kontrolliert. 2006 wurde dann eine abgelegene Hochebene im Osten Islands überflutet, um ein riesiges Reservoir zu schaffen, als Stromquelle für eine Aluminiumhütte. Die Kosten dieses Wasserkraftwerks betrugen etwa 2 Milliarden Dollar, die größtenteils von internationalen Banken geliehen wurden. Angesichts der paar Hundert Arbeitsplätze, die dabei abfielen, finden Kritiker sowohl diesen exorbitanten Betrag als auch den Preis für die Umwelt zu hoch.

Die billig verkauften Eiderdaunen schienen nur ein weiteres Kapitel dieser Geschichte zu sein. Der Schriftsteller Andri Snær Magnason verweist darauf, dass das isländische Wort für »Fallobst« hvalreki lautet, wörtlich übersetzt ein gestrandeter Wal.16 Während wir bei Fallobst an vom Baum gefallene Früchte denken, meint die isländische Übersetzung einen gestrandeten Meeressäuger, Fleisch als ein Geschenk der Natur.

Als er mir erklärte, warum die Isländer beim Daunenverkauf so unfair behandelt werden, verwies Sveinsson auf die historische Beziehung Islands zu seinem größten Exportgut, dem Fisch. »Reiche Fanggründe waren eine Ressource, die die isländische Wirtschaft ebenso geformt hat wie unsere Mentalität, Segen und Fluch zugleich«, sagte er. »Es entwickelte sich eine Art Von-der-Hand-in-den-Mund-Mentalität — man konnte sich immer darauf verlassen, dass sich der Sturm eines Tages legen würde und das Boot auslaufen konnte, um wieder einen reichen Fang einzuholen.«17

In Sagen, Fabeln und Hagiografien liest man oft von Menschen, die die Fähigkeit besitzen, wilde Tiere zu zähmen, womit ihre Tugendhaftigkeit, Sensibilität oder Heiligkeit betont werden soll. Angeblich soll der hl. Cuthbert, ein Missionar im siebten Jahrhundert, der sich auf den Farne-Inseln vor der Küste Northumberlands niederließ, Eiderenten beschützt und gezähmt haben.18 (Heutzutage werden die Eiderenten in Northumberland auch manchmal St.-Cuthbert-Enten oder Cuddy-Enten genannt.) Viele solcher Geschichten dienten der Ausschmückung oder entsprangen purer Fantasie, doch was Island betrifft, bestätigten Reiseberichte immer wieder, dass es diese seltsame Beziehung zwischen den Isländern und den Enten tatsächlich gab.19 Im Jahr 1875 bemerkte der englische Forschungsreisende Richard Burton, dass Eiderenten »Stalltür-Vögel« seien, »zahm wie Hausgänse«.20 »In Reykjavik dürfen keine Salutschüsse abgegeben werden«, schrieb er, »aus Angst› ›Somateria mollissima‹ zu erschrecken.«21

Ich las alles über Eiderdaunen, was ich kriegen konnte, durchsuchte Bücher und Artikel, verschlang Berichte unbekannter Reisender und Aufsätze von Biologen und befragte Eiderentenbauern. Ich wollte wissen, wie diese Beziehung funktioniert, wie es sein konnte, dass sich ein Wildvogel verhielt, als sei er domestiziert. Wie war diese seltsame Tradition entstanden? Wie hatte man diese Beziehung in die Zeit der globalen Marktwirtschaft hinübergerettet? Ließ sich die isländische Tradition einfach auf andere Küstenregionen übertragen? Konnte uns die Eiderdaunenernte etwas über unsere Beziehung zu anderen Arten sagen? Während frühere Schriftsteller das Phänomen der isländischen Daunenernte mit ergriffenem Staunen betrachtet hatten, suchte ich fieberhaft nach Antworten.

Zurück in Ísafjörður erzählte mir der Pastor von einer japanischen Filmcrew, die eine Dokumentation über ihn gedreht hatte. Mehrere Wochen lang hatten sie ihn auf seiner Farm begleitet, ihn dabei gefilmt, wie er gemeinsam mit seinen Kindern Eiderdaunen einsammelte und dabei einen großen Bogen um nistende Eiderenten machte. Das Interesse des Teams schien den Pastor zu verwirren, ebenso wie meines. Schließlich, sagte er, seien die Daunen doch nur brauð, sein täglich Brot.

Die Gemeinde des Pastors lag eine kurze Autofahrt von Ísafjörður entfernt in einem anderen Fjord, Önundarfjörður. Einst war man hierher nur über eine kurvenreiche Bergstraße gelangt, doch seit 1996 sind beide Fjorde durch einen riesigen Tunnel miteinander verbunden, der sich direkt in die Bergflanke bohrt. Eines Morgens fuhr ich aus dem Tunnel ins Freie, geblendet vom subarktischen Licht, und hielt auf die Kirche des Pastors zu, um mit ihm eine Rundtour durch das Nistgebiet der Eiderenten zu unternehmen.

Wie dies bei evangelisch-lutherischen Pfarreien ja oft der Fall ist, zählt das Grundstück des Pastors zu den wertvollsten Ländereien der Westfjorde. Im Schatten einer steilen Gletscherwand gelegen, überblicken Pfarrhaus und Kirche eine Flussaue, die sich bis zur Küste erstreckt. Nach einer zehnminütigen Fahrt durch den finsteren Tunnel überwältigten mich die intensiven Farben des Fjords. Im subarktischen Licht erschienen mir die Farben fast unwirklich — das Blau des Himmels und des Meers verschmolzen zu einem einzigen Aquamarin-Ton. Vom Weiß des Strandes hob sich eine pinkfarbene Boje ab, hingetupft wie ein nachträglicher Einfall.

Einen friedlicheren Ort konnte man sich für eine Familie kaum vorstellen, und doch wirkte das Pfarrhaus irgendwie verlassen. Kinderspielzeug lag am Boden verstreut, die Arbeitsflächen waren mit einer Staubschicht bedeckt, die Bücher des Pfarrers (Werke über Kriegshelden und Bergsteiger) lagen unberührt im Regal. Im vorigen Winter, erklärte er, sei das Wetter so schlecht gewesen, dass er mit seiner Familie die Pfarrei verlassen und nach Ísafjörður ziehen musste, wo sie jetzt in einer Wohnung lebten. Er verbrachte kaum noch Zeit im Haus. »Einmal haben wir hier ganze sechsunddreißig Stunden festgesessen, ohne Strom, ohne Telefon«, sagte er. »Das kann ich nicht verantworten.«

Wie zum Beweis zeigte er mir die Sturmschäden: ein ramponierter Zaun, die vom Blizzard beschädigte Fassade einer Scheune und das verbogene Kirchturmkreuz, mehr Wetterfahne als religiöses Symbol. In der Ferne erkannte ich Flateyri, das Fischerdorf an der Mündung des Fjords, das beim Lawinenabgang 1995 zum Teil zerstört wurde. Hinter dem Dorf sah ich einen riesigen Lawinenschutzdamm, eine ständige Erinnerung an die Gefahren, die das Leben in diesen abgelegenen Fjorden mit sich bringt.

Die Eiderdaunensaison war zwar schon vorbei, aber der Pastor bot mir trotzdem an, mich auf dem Grundstück herumzuführen und sein alljährliches Sommerritual nachzustellen, so wie er es für das japanische Filmteam getan hatte. In einer alten polnischen Militäruniform ging er über die flache Ebene Richtung Strand und suchte nach Nestern, die er womöglich übersehen hatte. Es war ein ruhiger Tag, nur der Warnruf eines aufgescheuchten Austernfischers zerriss die Stille.

Beim Gang durch diese flache Landschaft hatte ich das Gefühl, ein großes Festgelage verpasst zu haben. Ringsum sah ich Hunderte kleiner Häufchen ausgespiener Muschelschalen, die Überreste des Festmahls der Eiderenten, von ihren starken Kaumägen geknackt und als Speiballen wieder ausgeschieden. Diese quarzartig im Licht glitzernden Überreste, waren von subtiler Schönheit. »Gegen Ende der Saison bricht Chaos aus«, sagte der Pastor. »Enten und Küken rennen umher, ständig attackiert von Küstenseeschwalben. Ein Besenstiel leistet da gute Dienste.«

Auf unserem Weg zum Strand bemerkte ich, dass es im Fjord außer der Boje praktisch keinerlei Müll gab. »Ja, sehr wenig«, erwiderte der Pastor, »aber manchmal taucht plötzlich etwas Interessantes auf. Vor zwei, drei Jahren fand ich zum Beispiel diese grüne Röhre.« Er führte mich zu einer ausrangierten Windentrommel, wie sie von industriellen Trawlern verwendet werden, und zog darunter eine hellgrüne Plastikgurke hervor. »Im ersten Moment dachte ich: Was ist denn das? Eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg?« Als er den Deckel abschraubte, kam ein Gummi-Dildo zum Vorschein.

Dass am Ufer dieses abgelegenen Fjords zwischen ausgespienen Muschelschalen und Seepflanzen ausgerechnet ein angeschwemmter Dildo liegen würde, hatte ich nun wirklich nicht erwartet. »Ich vermute mal«, fuhr der Pastor fort, »irgendwo wurde von einem großen Containerschiff Sexspielzeug über Bord gespült.« Gestrandet auf dem Weg zu seinem Pendant aus Fleisch und Blut, gehörte dieses schlaffe Gummiteil zu einer ganz anderen Welt als die Eiderenten. Aber es würde länger existieren als all die anderen Dinge hier am Strand: während die Eiderdaunen verfaulten, alte Geschütze verrosteten und Holz vermoderte, würde der Gummi-Dildo überdauern, als bleibende Erinnerung an eine Schiffspanne und die gigantische Gewalt der arktischen Gezeiten.

Nachdem wir den Dildo wieder in seiner Hülle verstaut hatten, gingen wir zur Kirche zurück und zählten unterwegs die Muschelquarzhäufchen. Plötzlich ein Aufschrei, und der Pastor zeigte auf ein Nest, das er bei früheren Rundgängen übersehen hatte. Von Moos, Gras und zerbrochenen Eiern bedeckt, sah es aus wie ein pelziges Omelette, ein grauer Pfannkuchen. Der Pastor schob seinen Stock unter die Daunen, löste sie sanft vom Gras und hob den Ballen auf. Voller Seetang, Zweige und Schmutz erinnerte er mich an den Inhalt eines Staubsaugerbeutels, Flusen, Krümel und sonstige Abfälle. Anders als der gereinigte Daunenballen, den meine Frau in Händen gehalten hatte, verströmten diese Daunen einen stechenden Modergeruch, der an die Ente erinnerte, von der sie stammten. Beim genaueren Hinsehen entdeckte ich im Flaum Eierreste. Durch den Regen zäh wie Gummi geworden, waren diese Fragmente der Beweis für die Worte des Pastors, dass er mit dem Einsammeln der weichen Daunen immer wartete, bis die Küken geschlüpft seien. »Nehmen Sie es als Geschenk«, sagte er.

Ungefähr fünfzig Jahre vor meinem Islandbesuch faszinierte auch den britischen Schriftsteller Gavin Maxwell, der damals in Sandaig, einer Bucht im abgelegenen Westen Schottlands, lebte, die isländische Eiderdaunenernte. Er las alles, was er darüber finden konnte, und unternahm sogar eine Forschungsreise nach Island, um den bekannten isländischen Ornithologen Finnur Guðmundsson kennenzulernen.22 Am bekanntesten wurde Maxwell für die Beziehung zu seinen zahmen Fischottern, doch er liebte auch Eiderenten, über die er schrieb, dass sie ihn eher an »Säugetiere als an Vögel« erinnerten. »Vielleicht«, sinnierte er, »sind es ihre seltsam rauen Stimmen oder die Art, wie ihre kräftigen Schnäbel in direkter Linie zum Schädel hinauf verlaufen, ohne irgendeine ›Kelle‹ dazwischen. Oder vielleicht ist es ihr sehr eigentümlicher Geruch, der so gar nicht zu einem Vogel zu passen scheint.«23

Im Gegensatz zu Reiseschriftstellern vor ihm, die über Eiderdaunen geschrieben hatten, träumte Maxwell davon, das Erfolgsmodell der Isländer nachzubilden.24 Von seinem Cottage aus bemerkte er Eiderenten, die ganz in der Nähe auf einer kleinen Insel nisteten; er zählte insgesamt nur dreißig Paare, stellte sich aber vor, dass er diesen Ort in eine Art »Entenmagnet« verwandeln könnte, der, so wie ein Magnet Eisenspäne anzieht, Tausende von Enten anlocken würde. Inspiriert durch die isländische Methode schlug er vor, Wimpel, Windräder, Vogelscheuchen und Erpelattrappen aufzustellen, künstliche Nistplätze und windgeschützte Areale einzurichten, um die Enten anzulocken. Er plante, die Enten mit Muscheln zu füttern und sie — offenbar — sogar mit Musik zu unterhalten.

Maxwell ist berühmt für sein Erinnerungsbuch Im Spiel der hellen Wasser, in dem er von seinem Leben mit mehreren Fischottern erzählt. Zuvor allerdings war seine Beziehung zu wilden Tieren eher blutrünstiger Natur gewesen. Nach dem Militärdienst kaufte er die kleine schottische Insel Soay und betätigte sich als Riesenhai-Fischer. Er jagte diese riesigen Meerestiere mit der Harpune, färbte die schottischen Gewässer blutrot und schilderte seine Erfahrungen später in Harpoon at a Venture. Strotzend von grausamen Details verherrlicht das Buch den Kampf des Menschen gegen diese sanften Riesen, die sich nur von Plankton ernähren. »Darin demonstriert Maxwell — ein Queequeg mit einem Oerlikon-Gewehr, ein Ahab mit einer Erbschaft — einen erstaunlichen Mangel an artübergreifender Empathie und eine absolute Rohheit, die ans Psychopathische grenzt«, schreibt Robert Macfarlane.25

In seinen späteren Lebensjahren sah Maxwell die Eiderdaunen26 Mystisches27