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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Insa Popken, Zoana Gepner-Müller,

Maj Popken, Jürgen Müller-Popken

Layout: Jürgen Müller-Popken

jurgen@mueller-popken.com

Einbandgrafik: Holzschnitt von Marcel Müller-Wieland
© Marcel Müller-Wieland

m.mueller.wieland@googlemail.com

  Jürgen Müller-Popken

jurgen@mueller-popken.com

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783738693522

Inhalt

Vorwort

Mein Entwurf zu „Lysa“ liegt weit zurück. Ich habe ihn wieder aufgegriffen und zu Ende geführt, weil mir deutlich wurde, dass dieser kleine Versuch meine pädagogischen Bemühungen im Ganzen in einer neuen Weise beleuchtet und so manches von mir nur Angedeutete in diesem Gespräch konkreter und verständlicher ausgedrückt wird. Der Dialog bewegt sich auf doppelter Fährte. Die eine ist die Bemühung um das echte, fruchtbare Gespräch im Umkreis grundlegender Fragen. Die andere ist die dramatische Handlung, die die Sprechenden einholt und das Gespräch zur tätigen inneren Läuterung der einzelnen Teilnehmer aufruft.

Die Fruchtbarkeit des echten Gesprächs habe ich oft erfahren dürfen. Die Bemühung um gegenseitiges Verständnis scheint mir eine bedeutende bildende Kraft. Die Dialoge Platons hatten die gemeinsame Wahrheitssuche aufgezeigt. Freilich war darin die Entwicklung des Gedankens meist Sokrates überlassen und die andern Teilnehmer des Gesprächs dienten mehr der kurzen Prüfung und Bestätigung seiner Aussagen. Ich hätte mir gewünscht, die eigenständigen Einsichten aller Teilnehmer zu vernehmen. In meinem eigenen Gesprächs-Entwurf „Lysa“ sollte den Teilnehmern zu solch eigener Darstellung Raum gegeben sein. Der Name „Lysa“ bezieht sich auf das altgriechische „Lysis“ (Lösung, Auflösung des dramatischen Knotens) und auf Platons so genannten Dialog. „Lysa“ meint nicht den aus dem Hebräischen stammenden Namen „Lisa“ (Elisabeth, Elischaba, „Gott bekräftigt!“). Ich wählte die Teilnehmer des Gesprächs als Fachleute aus den mir vertrauten Bereichen der Philosophie, der Pädagogik, der Neurophysiologie, der Sozialwissenschaften und der bildenden Kunst. Ich wollte indessen kein Streitgespräch. So überband ich diesen erfundenen Fachleuten zugleich meine eigene Grundhaltung im Hinblick auf ihre Aussagen. Sie sprechen darum auch weitgehend meine Sprache. Ihre Fragen sind meine Fragen. Sie berühren die mir wichtigen Themen und Einsichten. So zeigt sich das Gespräch zugleich auch als interdisziplinäres Selbstgespräch. Manchmal tanzen sie auch aus der Reihe und behaupten ganz eigene, mir fremde Thesen. Aber das Ganze will eine lockere und dem Gespräch folgende Einführung in meine eigenen Schauweisen sein.

Den unmittelbaren Anstoß zu diesem Gespräch aber hatte ich schon damals gewonnen, als ich Dostojewskis „Idioten“, meinen Lieblingsroman, nochmals gelesen hatte. Die herbe Auseinandersetzung der beiden schönen, großartig geschilderten Frauen Aglaja Iwanowna und Nastasja Filippowna enttäuschte mich. Ich hatte mir den Ausgang und die Wirkung ihres Gesprächs anders gewünscht, ich vermisste den inneren Anruf und die bildende Kraft des echten Gesprächs. So entwarf ich mir in meinem Dialog eine ähnliche Konfrontation zweier Frauen, die aber gestärkt und innerlich geläutert aus dem zunächst aggressiven Gespräch hervorgehen sollten.

Die innere Bildekraft des echten Gesprächs soll vernehmlich bleiben. Zu oft hören wir auch heute Streitgespräche, in denen der Widerspruch gefeiert wird und die kämpferischen und durchsetzungsfreudigen Positionen der Kontrahenten überhand nehmen. Das gegenseitige Hören, Teilnehmen und verstehende Annehmen kommt dann zu kurz. So entfällt dann auch leicht das gemeinsame Verstehen verbindender Einsicht.

Das philosophische Gespräch ist ein Gespräch besonderer Art. Denn es zeigt, dass Philosophie nicht in der Allgemeingültigkeit des persönlichen Wortes bestehen kann. Philosophie weist im Gespräch auf eine innere Haltung des einzelnen Teilnehmers hin, die allem Begegnenden gegenüber zur Offenheit aufruft. Philosophieren ist mehr eine innere Tätigkeit, eine Bereitschaft zu geläuterter, verstehender Liebeskraft als eine Bemühung um allgemein gültige Aussage.

Marcel Müller-Wieland

Personen:

Lysa 28jährig, Neurophysiologin, die junge Frau des bekannten Psychiaters Till
Ken 68jährig, Naturphilosoph
Gotha 58jährig, Witwe, Mutter zweier Kinder, die im Ausland leben. Ehemals Lehrerin.

Jetzt Sprachpädagogin.

Bodo 45jährig, Maler und Bildhauer
Peer 35jährig, Sozialökonom und Soziologe
Till 36jährig, Psychiater
Helmut 28jährig, Maler
Hella 22jährig, Lehrerin

Die beiden Gespräche finden in Kens Ferienhaus in Graubünden (Schweiz) statt.

1. Kapitel

Lysa:

Du hast mir einmal gesagt, Ken, Auftrag und Zukunft des Menschen zu bedenken, setze voraus, sich auf die wesentlichen Motive seiner Entwicklung zu besinnen. Und überhaupt – du sprichst oftmals von den Grundmotiven des Menschen und der Welt. Was aber diese Motive sind, wie sie zu verstehen sind, hast du meines Wissens nie ganz klar gesagt. Willst du es nicht heute sagen?

Ken:

Es freut mich, dass du nach den Grundlagen meines Denkens fragst. Aber es überrascht mich, dass du glaubst, dass sie sich klar und deutlich sagen lassen.

Lysa:

Kann man denn klar verstehen, was sich nicht klar sagen lässt? Und willst du sagen, dass sich die Grundlagen deines Denkens nicht klar und deutlich verstehen lassen?

Ken:

Vielleicht ist nicht alles, was Descartes und Leibniz „klar und deutlich“ nennen, schon zu verstehen. Vielleicht sind auch gerade die Grundlagen und vielleicht auch das Einfache am dunkelsten.

Lysa:

Wäre es dann nicht gerade das Anliegen der Philosophie, Licht in diese Dunkelheit hineinzutragen?

Ken:

Es ist gut, auszuziehen, das Dunkle zu erleuchten. Doch könnte es eine lange Reise sein. Wäre es da nicht vorsichtig, zunächst das „Vorgelände“ abzuschreiten? Auch ist dein Mann noch gar nicht da. Vielleicht kommt er noch. Da könnten wir uns dann im ganzen Kreis bemühen, Licht ins Dunkel hineinzutragen – wie du sagst.

Lysa:

Mein Mann wird etwas später kommen. Er bat, nicht auf ihn zu warten. Es könnte sein – nun ja, manchmal ruft er dann noch an, um sich vollends zu entschuldigen.

Bodo:

Till hat Sprechstunden, auch am Samstagabend?

Lysa:

Nein. Das hat er nicht. Aber du weißt ja, wie er ist. Bittet ihn jemand um einen Rat, kann er nicht Nein sagen.

Bodo:

Das zeugt von großer Freundlichkeit.

Lysa:

Von Freundlichkeit, ja, aber manchmal wünscht ich mir, dass er auch meine Bedürfnisse ernst nähme.

Bodo:

Till kommt gewiss. Er ist doch so gern in unserem Kreis. Bis dahin wollen wir dich ein wenig für uns haben. Das Licht fällt schön in dein blondes Haar. Ich liebe blonde Haare. Eigentlich könntest du mir einmal Modell stehen. Das wäre auch eine gute Art, Licht in die Sache hineinzubringen.

Lysa:

Du bist ein rechter Schmeichler. Aber das mit dem Modell, das schlag dir aus dem Sinn. Da könntest du ja eine Perücke malen und sie schön belichten.

Bodo:

Ich meine es ernst. Aber lass uns doch beginnen. Sonst führt uns Ken nicht einmal in sein „Vorgelände“ ein.

Ken:

Es gibt so viele Weisen der Motive, Bodo. Da ist es wohl ganz gut, zunächst solche zu bedenken, die sich im Alltag zeigen. Die jeder kennt. Wie sagtest du doch, Lysa, dass du wünschtest, dein Mann möchte deine Bedürfnisse ernst nehmen. Was sind das für Bedürfnisse – so könnte man doch fragen, was für Motive, die dich da bewegen?

Lysa:

Ach, Ken! Du bist immer der Gleiche. Kaum will man mit dir etwas Allgemeines, etwas Philosophisches besprechen, wendest du es ins Persönlichste.

Ken:

Vielleicht ist das Persönlichste dem Philosophischen am nächsten.

Lysa:

Meine Wünsche kann ich vielleicht gar nicht so deutlich sagen.

Ken:

Du schon, Lysa. Denn du bist gewohnt, was du verstehst, auch klar und deutlich zu sagen.

Lysa:

Ach, Ken!

Ken:

Willst du mich nun auch einen rechten Schmeichler nennen?

Lysa:

Dich nicht. Oder nicht im gleichen Sinn.

Ken:

So versuche, es klar zu sagen.

Lysa:

Ich wollte nicht so schlechthin sagen, dass Till meine Wünsche und Bedürfnisse im Ganzen nicht ernst nähme. Er ist, im Gegenteil, oft sehr darauf bedacht, mir jeden Wunsch an den Augen abzulesen. Ich wollte mich auch nicht beklagen. Und doch: Vielleicht sieht er mich gerade dort zu wenig, wo ich gern wahrgenommen wäre. Ich weiß, dass Till mich liebt. Dass er mir alle ihm mögliche Aufmerksamkeit zukommen lässt, dass er mir alle Verfehlungen und Irrtümer vergibt, dass er mich in schönster Weise stützt und zu mir steht. Ach, ich bin ihm so dankbar für dies alles. Doch manchmal und gerade in letzter Zeit wünschte ich mir, er nähme wahr, dass ich auf ihn warte. Dass wir persönlich Zeit für einander hätten. Und dann bedrückt es mich, wenn all die beruflichen Dinge vorgehen und er sich zurückzieht, besonders jetzt, wo ich das Kind erwarte.

Peer:

Till ist ein vielbeschäftigter Mann. Und viele brauchen seinen Rat.

Gotha:

Ich verstehe dich, Lysa. Als mein Mann noch lebte, empfand ich ähnlich. Ich mochte es nicht, wenn er während der Mahlzeit geschäftliche Anrufe beantwortete. Oder wenn er abends vor dem Theater noch einen dringlichen Brief beantworten musste. Aber heute sehe ich anders. Heute sehe ich in der Erinnerung eher die vielen Stunden, in denen wir zusammen waren. Und da war es oft sehr schön.

Lysa:

Gemeinsame Stunden durfte ich auch genießen. Nur ist es schwer, die Schatten des langen Wartens zu verscheuchen. Und nur zu oft legen sie sich auch auf die Zeiten des Zusammenseins. Das tut mir Leid. Ich wollte, ich könnte dann ganz frei und unbelastet sein.

Gotha:

Ist es denn nicht an dir, diese Schatten zu verscheuchen?

Lysa:

Vielleicht. Doch dann will er so oft berichten von den Menschen, die er betreute. Ach, all die Frauen, ja, auch Männer, aber so viele Frauen, die sich an ihn hängen und seine „Freundlichkeit“ – wie Bodo meint – missbrauchen. Er ist ein schöner Mann. Er weiß sehr viel. Und ich glaube, viele suchen mehr den Freund in ihm, als den Psychiater. Er merkt das nicht. Er sagt auch immer, das sei fast das Gleiche.

Gotha:

Warum nur fast?

Lysa:

Nun, er lässt sich für seine Stunden ja bezahlen, jedenfalls für die eingeschriebenen. Die viele Zeit, die er daneben mit den Patienten braucht, bemerkt er freilich nicht.

Gotha:

Und schmerzt es dich, dass er den anderen Frauen so viel Freundschaft einräumt?

Lysa:

Du fragst, ob ich ein wenig eifersüchtig sei? Ich habe mich das schon selbst gefragt. Doch glaube ich, das ist es nicht. Er ist mit mir ganz anders, als mit den anderen. Das spüre ich wohl. Aber ...

Gotha:

Nun?

Lysa:

Ja, wenn ich das nur sagen könnte? Es kommt vor, dass ich mich für ihn hübsch gemacht habe. Er sieht es nicht. Und wenn ich ihn darauf anspreche, sagt er wie beiläufig: Ach, hast du ein neues Kleid? Er weiß nicht mehr, dass wir es gemeinsam letztes Jahr gekauft hatten. Doch das ist Äußerliches. Nichtiges. Wichtiger wäre mir eigentlich, dass er mich sehe in jenen kleinen Freundlichkeiten, die ich ihm zuliebe tu. Wenn ich ihm eine Blume auf den Schreibtisch stelle, er übersieht sie. Zumindest weiß ich lange nicht, was sie ihm bedeuten mag. Er liebt zwar Blumen. An jeder Blüte freut er sich. Doch ob er meine kleine Zuwendung verspürt, wie ich sie meinte, dass kann ich nicht erfühlen. Wenn er mir einmal Blumen bringt, dann steht das ganze Haus voll Blumen. Und ...

Gotha:

Ja?

Lysa:

Nun, da ist dann noch das Andere. Ich meine zu verspüren, dass er in mir ein Wesen sucht, das ich nicht bin. Ich weiß, er schätzt mein Denken, meine Kraft des Diskutierens, er will von meinen Stunden hören, er nennt mich seinen Magister cerebri, als wären wir Kollegen. Ich will nicht sein Kollege sein. Ich möchte nicht immer so ernst mit ihm sprechen. Manchmal wünschte ich, er wäre ein Anderer. Ein wenig lustig. Vielleicht wie Bodo. Ein wenig zärtlicher. Aber um auf deine Frage zurückzukommen, Ken: Sind die Motive, die mich in solchen Augenblicken bewegen, und die die Lichtseite wie auch die Schatten unseres Verhältnisses bedingen, nicht ganz einfach Weisen der persönlichen Liebe zu diesem einen Menschen?

Ken:

Gewiss. Aber diese Liebe – ist sie denn ganz einfach zu verstehen?

Gotha:

Ja, da könnte man sich fragen, wie Goethe es in seinen „Wahlverwandtschaften“ tat, oder wie Erich Fromm in seinem Buch über die Liebe schreibt, ob es für den Liebenden nicht wesentlicher wäre, die Kraft und Fülle seines eigenen Liebens zu bedenken, als die Erfüllung des Wunsches, selbst geliebt zu sein.

Lysa:

Und ist das Bedürfnis, geliebt zu werden, wie jedes Kind es hegt und wie es die meisten Menschen zutiefst bewegt, nicht auch ein sinnvoller menschlicher Wert? Ist denn die Kunst des Liebens ablösbar von Gegenliebe, von dem Bedürfnis, selbst geliebt zu sein?

Bodo:

Das ist sie nicht. Und deine Liebe zu erwidern, dürfte gar nicht schwerfallen. Aber man ersieht aus dem Gespräch schon jetzt, dass es sehr verschiedene Weisen der Liebe gibt. In der bildenden Kunst ist die Liebe oftmals dargestellt worden und immer wieder anders. Wenn Tizian die „irdische“ und die „himmlische“ Liebe malte, so meinte er wohl etwas Ähnliches, wie die Unterscheidung, die sich in unserem Gespräch soeben zeigte. Etwas Ähnliches, möchte ich sagen, denn mit der „himmlischen Liebe“ meinte er wohl noch etwas ganz anderes.

Peer:

Es ist wie du sagst. Liebe ist in einem gewissen Sinne alles. Und doch gibt es sehr verschiedene Weisen dieser Liebe. Die Liebe zu einem guten Braten ist mir auch eine vortreffliche Liebe, auch wenn sie ganz und gar keine Gegenliebe erwarten darf.

Gotha:

Ließe sich dann nicht eine Stufenleiter der Liebe denken, von der triebhaften Liebe zu Essen und Trinken und Atmen und von der sexuellen und erotischen Liebe bis zu den höheren Weisen der personalen Liebe, zu echter Freundschaft und vielleicht zu Formen der himmlischen Liebe? Wie Platon es tat in seinem „Symposion“ oder Max Scheler in seiner Stufenleiter der Vorbildmodelle.

Lysa:

So etwas ließe sich denken. Doch eine rechte Stufenleiter ergibt sich mir nicht. Ist etwa das sexuelle Bedürfnis menschlich gering zu achten? Ist es nicht selbst eine ganz wesentliche Triebfeder fast alles Lebendigen? Und feiert nicht gerade hierin die lebendige Natur im Ganzen ihre stärksten Motive des Fortbestandes jeder einzelnen Art wieder? Vielleicht ist es so etwas wie eine „List der Natur“, dem Menschen im Zärtlichkeitsbedürfnis das Gefühl des Privaten und ganz Persönlichen zu belassen, wo sie doch eigentlich im großen, überdachenden Sinne durch das sexuelle Bedürfnis den Fortbestand des Lebens sichert.

Gotha:

Die „List der Natur“– das gefällt mir. Hegel hatte von der „List der Vernunft“ gesprochen.

Lysa:

Wie du das alles weißt! Doch kann nicht andererseits im menschlich-seelischen Bereich das sexuelle Erleben durch die innige Verwobenheit mit der personalen Liebe zu diesem einen Menschen zu einem besonders innigen und menschlich wesentlichen Gefühlsbereich erhoben werden?

Peer:

Das leuchtet ein. Doch ist nicht auch wieder die Östrogen-Pille eine raffinierte Überlistung der Natur? Und hat sie nicht vielfach wieder dazu geführt, die sexuelle Liebe von der personalen zu entbinden? Das musst doch du, als Physiologin und Kennerin der Endokrinologie am besten wissen. Doch gebe ich zu, dass die Pille auch wieder bedeutende Möglichkeiten der Geburtenregelung in sich birgt.

Lysa:

Die sozialen Auswirkungen der Pille übersehe ich nicht. Und auch meine Studien auf endokrinologischem Gebiet sind noch nicht sehr weit gediehen. Doch vermag die Endokrinologie heute aufzuweisen, dass die menschlichen Hormone von großartiger Vielfalt sind und ich bin überzeugt, dass der natürliche Haushalt und das innere Gleichgewicht der Hormone und der Neurotransmitter die persönlich seelische Entfaltung des einzelnen Menschen entscheidender mitbedingen, als wir es heute sehen. Ich habe die Pille indessen nie verwendet. Es ist auch eine Frage der persönlichen Entscheidung. Ich habe mir immer ein Kind gewünscht.

Gotha:

In welchem Monat bist du?

Lysa:

Im vierten.

Gotha:

Die Liebe zu einem Kind ist ganz anderer Natur als die Liebe zum Partner des anderen Geschlechts. Ich meine – sie ist ganz aus personaler Liebe heraus geboren.

Lysa:

Ja, wenn ich an mein Kind denke, fühle ich mich in einer tiefen – und das wirst du mir nachsehen, lieber Ken! - schwer sagbaren Weise durch eine innere Erwartung und Dankbarkeit eigener Art getragen. Ich bin nicht religiös. Ich bin Naturwissen schaftlerin. Aber in diesem Betroffensein vermag ich dem religiösen Menschen ein wenig nachzufühlen, dass es so etwas wie ein Heiliges im Menschen gibt.

Peer:

Gibt es nicht auch eine Liebe zum eigenen Kind, die recht eigennützig ist? Besonders solange es klein ist. Da kann man es lieben wie einen teuren Besitz, wie ein Eigentum. Man liebt seine Liebesbedürftigkeit, sein hingebendes Bedürfnis nach Geborgenheit, seine Gegenliebe. Nur schade, dass die Kleinen solcher Liebenswürdigkeit so rasch entwachsen.

Bodo:

Da täte man wohl besser, sich einen Hund zu halten oder eine Katze.

Gotha:

Einen Hund, den man sich als treuen Gefährten wünscht, oder eine Katze, die sich an das Zusammenleben gewöhnte, kann man doch wohl auch nicht im wahren Sinn als Eigentum betrachten. Alle Tiere haben ihr Leben in sich selbst.

Bodo:

Da stimme ich dir zu. Zwar esse ich, wie Peer, gern gelegentlich einen guten Braten. Doch mag ich abgerichtete Hunde nicht. Und manchmal ist es gut, auch einen kleinen Käfer in seinem Eigenleben zu erfahren.

Gotha:

Wäre es da nicht besser, sich von dem zu ernähren, was die Natur uns leiht, ohne dass wir Leben vernichten müssten?

Peer:

Du meinst, wir sollen vegetarisch leben. Aber ist die einzelne Pflanze nicht auch auf ihre Weise lebendig? Ja, ist nicht alles in einem gewissen Sinne lebendig? Und müsste man nicht die ganze Natur mit der gleichen Liebe umfassen? Dann müssten wir verhungern.

Bodo:

Es gibt freilich einzelne Menschen, „Heilige“ wie Bruder Klaus, die aller Nahrung entbehren können und doch leben. Und auch so mancher ostische Meister zeigt das auf. Sie leben von „Prana“.

Lysa:

Freilich können einzelne Menschen lange auch ohne die uns übliche Nahrung leben. Aber das entspricht nicht dem Grundumsatz des Lebendigen. Wir haben nun ganz verschiedene Motive der Liebe besprochen, im physischen und im psychischen Bereich. Wollen wir da nicht nach dem Begriff des Motivs an sich selber fragen?

Gotha:

Oh, du bist gut. Du fragst wie Sokrates in Platons „Menon“ tat. Wie war das doch, Ken?

Ken:

Platon hat an jener Stelle im „Menon“ ein Weniges von seiner sokratischen Ironie versprüht. So ließ er Sokrates sagen: „Wie herrlich, lieber Amytas, haben wir es doch getroffen, da wir nur eine Tugend suchten und einen ganze Schwarm von Tugenden gefunden haben.“ So etwa sagt er. Doch scheint auch uns ein wenig sokratische Ironie angemessen, da wir nun zufällig einige wenige Liebesweisen aus dem weiten Garten der Liebesmotive, ja, aus dem fast unendlichen Gelände der menschlichen Motive bedacht und schon so viele gegenteilige Meinungenangetroffen haben. Und dies, obgleich wir sie nur so obenhin streiften. Und meint ihr nicht, dass, wenn wir das Einzelne, das gesagt wurde, sorgfältiger betrachten würden, wir uns noch in sehr viel Unterschiedlicheres verlören?

Lysa:

Wie meinst du das?

Ken:

Wenn du etwa von physischen und psychischen Motiven sprichst, glaubst du, dass wir uns da leicht verstehen können?

Lysa:

Du deutest das Problem von Leib und Seele an. Aber ich meinte nur die physischen und psychischen Funktionen. Wir Naturwissenschaftler sprechen nicht gern von der Seele.

Ken:

Ich spreche lieber von der Seele als vom Leibe. Zumindest scheint sie mir fassbarer. Doch lassen wir das noch. Allein, wir müssten in deinen Worten doch durchschauen, was du darunter verstehst, wenn du vom Seelischen oder vom Leiblichen der Liebe sprichst.

Lysa:

Das zu unterscheiden scheint mir nun nicht so schwer. Denn das Physische ist uns durch das biologische, anatomische und physiologische Studium des Leibes und seiner Organe beim Menschen und bei zahlreichen Lebewesen hinreichend vertraut. Das Psychische aber kennen wir als Erlebnisfeld im Umgang mit uns selbst und anderen Menschen, als Innenleben. Da bietet wieder die Psychologie ein ausgedehntes Feld zahlreicher Einzelerfahrungen.

Ken: