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© 2010 Werner Kinne, Neuwied

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Redaktion und Layout: Thomas Kinne, Nauheim
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

1. Auflage Mai 2010

ISBN 978-3-844-86830-2

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Ein Narr zieht Bilanz

Wieso? Woher? Warum?

Entwicklung und Struktur der Fastnacht

Die Neuwieder Fastnacht – zwischen Köln und Mainz

Die Bütt als Bollwerk des Humors

1974

1976

1983

1984

1985

1986

1993

1994

1984

2003

2005

 

Kirche und Karneval

Der Straßenkarneval

Nachgedanken

Geleitwort

von

Oberbürgermeister Nikolaus Roth

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Nichtkarnevalisten aufgepasst: Dieses Buch ist infiziert. Mit dem „Virus Karnevalitis“. Es besteht Ansteckungsgefahr. Sollten beim Lesen Ihre Mundwinkel ständig nach oben zucken, dann hat es auch Sie erwischt. Aber keine Sorge – die Symptome sind ungefährlich. Im Gegenteil: Sie erleichtern das Alltagsleben ungemein.

Wer die Zeilen von Werner Kinne liest, der versteht, warum er die Narretei als Philosophie bezeichnet. „Erleben“ kommt von „leben“, sagt der Autor. Und ein Leben, gewürzt mit einer Prise Humor, ist nun einmal leichter. Denn: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“. Werner Kinne nennt als Beispiel dafür die Menschen der Nachkriegszeit, die es sich besonders im Kölner Raum nicht nehmen ließen, auf den Trümmern ihrer im Krieg zerstörten Häuser zu tanzen und sich in fröhlichen Gesängen als „die Einwohner von Trizonesien“ bezeichneten. Humor sei die Nahrung für das Lachen, Humor, gepaart mit Geist, die Feinkost. Und dass die Neuwieder sich im Laufe der Jahre zu karnevalistischen Feinschmeckern entwickelten, das belegt dieses Buch. Es ist nicht nur ein Rückblick auf ein Leben, das ganz dem Karneval und der Intention, Freude zu verbreiten und Begeisterung zu wecken, gewidmet ist. Es ist auch ein Zeugnis der Geschichte der Neuwieder Fassenacht.

„Karneval ist die rheinische Kur gegen Griesgram“, sagt Werner Kinne. Und die Narretei sei der fünfte Gang eines Autos. „Man muss ihn nicht unbedingt haben, aber es fährt sich ruhiger damit.“

Ich kann nur hoffen, dass das vorliegende Buch möglichst viele Menschen mit dem „Virus Karnevalitis“ infiziert. Denn die Geschichte von Werner Kinne zeigt uns, dass das Leben sich mit Narretei und mit einer Prise Humor und gemeinsamer Fröhlichkeit viel leichter bewältigen lässt.

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Nikolaus Roth
Oberbürgermeister
der Stadt Neuwied

Vorwort

Ein Leben ohne Humor kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich auf mein Leben voller närrischer Aktivitäten zurückblicke und der Frage nachgehe, welchen Einfluss diese „schönste Nebensache der Welt“ auf mein Leben nahm, komme ich sehr schnell zu dem Schluss, dass Humor und Frohsinn in meinem Leben niemals als Nebensache empfunden wurden. Ganz im Gegenteil werte ich den Humor als eine hilfreiche und stützend wirkende Tugend, die ich als Werkzeug bei der Umsetzung aller lebenswichtigen Tugenden in Familie, Beruf und Gesellschaft immer positiv einsetzen konnte. Mehr noch: Ich finde, dass alle Probleme in Staat, Politik und Kirche ohne Humor kaum oder nur schwer zu bewältigen sind.

So, wie der gemeinschaftlich gepflegte Humor in Verbindung mit dem Austausch von Frohsinn und Freude die Lebensqualität der Menschen fördert, so sind Karneval, die Narretei und das Brauchtum der rheinischen Fastnacht als Börse zu verstehen, an der diese Werte gehandelt werden. Als überzeugter Altkarnevalist und erfahrener „Fachmann“ übernehme ich gerne die Rolle des Brokers in diesem Aktienhandel. Deshalb möchte ich in diesem Buch meine Ausführungen nicht als prahlerische Selbstdarstellung, sondern als Botschaft, als Angebot oder – besser noch – als Vitaminstoß zur Bekämpfung der inneren Verbitterung verstanden wissen.

Es würde mich freuen, wenn die von mir beschriebene Freude auch vom Leser dieses Buches nachempfunden würde. Sollten sich dadurch viele frohgesinnte Mitmenschen zur Weitergabe dieser Freude animiert und zum fröhlichen Brauchtum der rheinischen Fastnacht hingezogen fühlen, wäre dies die beste Bestätigung dafür, dass meine Botschaft angekommen ist. Geben wir also dem Humor und der Narretei eine Chance, und machen wir die Welt mit dieser Philosophie etwas fröhlicher und unser aller Leben etwas leichter!

Sicher könnte man dieses Thema mit zahlreichen historischen und beispielhaften Beschreibungen aus anderen Quellen anreichern. Ich will jedoch auf wissenschaftliche Analysen über die Herkunft des närrischen Brauchtums bewusst verzichten und dafür mehr das Wissen aus dem Fundus meiner praktischen Erfahrung bemühen, um so die Lektüre unterhaltsamer und nachvollziehbarer zu gestalten.

Statt dessen möchte ich meinen geschätzten Lesern einen Einblick in die Details und in die Hintergründe dieser Auftritte gewähren. Sie sollen die Atmosphäre solcher Veranstaltungen nachempfinden können und die von mir erlebte Freude möglichst selbst spüren. Dazu werde ich an geeigneten Stellen kürzere oder auch längere Redepassagen zitieren und einige aussagekräftige Bilddokumente einfügen.

Es bleibt dann dem Leser oder der Leserin selbst überlassen, aus den zitierten Beispielen persönliche und allgemeingültige Schlüsse zu ziehen und daran die eigene Betrachtungsweise auszurichten. Lösen Sie sich also von jeglicher Befangenheit, und genießen Sie mit mir und mit diesem Buch den Spaß an der Freude!

W.K., im April 2010

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Der Verfasser in der Rolle des „Till“, der das jeweils aktuelle Geschehen in Politik und Gesellschaft im Narrenspiegel betrachtet.

Ein Narr zieht Bilanz

In den sieben Jahrzehnten meiner Lebenserfahrung haben sich inzwischen sehr viele Jubeldaten in allen Lebensbereichen ergeben. Freilich waren nicht alle Jubiläen närrischer Natur. Meist sind dies Anlässe, mehr oder weniger ehrlich gemeinte Lobesoder Dankeshymnen loszuwerden oder entgegenzunehmen. Dabei kann kein Mensch etwas dafür, dass er älter wird. Ich, der ich viele Jahre als „Chef vom Protokoll“ in der Bütt stand, ziehe es daher vor, meine närrischen Jubeldaten inhaltlich zu analysieren – schon allein deshalb, weil damit Erinnerungen an tausend schöne Erlebnisse geweckt werden. Auch möchte ich mit der Niederschrift dieser Gedanken meine erlebte Freude mit dem interessierten Leser teilen, ganz im Sinne meines Vorworts.

Zunächst will ich in einem kurzen Überblick die Eckdaten meines närrischen Wirkens umreißen, um einen ersten Eindruck davon zu vermitteln, was ein Vollblutkarnevalist in einem erfüllten Narrenleben alles schaffen und genießen kann. Dabei lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich keineswegs eine närrische Ausnahmeerscheinung bin und mich vielmehr in der großen Gesellschaft der rheinischen Narretei sehr wohlfühle. Das wird jeder aufmerksame Leser sicherlich spüren und nachempfinden – sind es doch immerhin inzwischen mehr als 5 × 11 Jahre, in denen ich mich aktiv in den Dienst der Fastnacht einbringe. Davon war ich 4 × 11 Jahre als Büttenredner im Einsatz, 3 × 11 Jahre davon in wechselnden Rollen fester Bestandteil des Sitzungsprogramms der Funken Rot-Weiß 1884 e.V. Neuwied. Dreimal stand ich mit einem Solovortrag, achtmal mit meinem Bruder Gerhard im Duo mit einem Dialogvortrag (3 + 8 = 11!) sowie elfmal als Till und elfmal als Chef vom Protokoll in der rot-weißen Bütt. Mit einem Teil dieser Vorträge trat ich bei Karnevalsveranstaltungen der Neuwieder Ruhestandsbeamten auf. Parallel zur Funken-Fastnacht war ich zudem 3 × 11 Jahre im Karneval der katholischen Pfarrgemeinde St. Bonifatius zu Niederbieber (Neuwied) aktiv, und als Gründungsmitglied dieser Sondersparte der Fastnacht war ich ebensolange als Organisator und Sitzungspräsident tätig. Mit meinem Bruder Gerhard kam ich 2 × 11 Jahre im Duo „Boni und Faz“ in regelmäßiger Folge erfolgreich zum Einsatz. Außerdem waren wir beide in dieser Zeit häufig bei Veranstaltungen anderer Gesellschaften engagiert.

Über diese persönlichen Einsätze hinaus war ich auch ständig bemüht, meine dichterischen und gestalterischen Fähigkeiten möglichst vielseitig in den Dienst der Fastnacht zu stellen. So habe ich mehr als 2 × 11 Büttenreden für Nachwuchskräfte und andere Rednerinnen und Redner geschrieben. Vorwiegend individuell auf die vortragende Person zugeschnitten waren die Redetexte für die Auftritte meiner Frau und meiner Tochter. Zu meinen weiteren Aktivitäten gehörte dann auch die Planung und Gestaltung von 11 Rosenmontagszugwagen, darunter neben Motivwagen auch zwei Komiteewagen und drei Prinzenprunkwagen. Außerdem waren meine Ideen bei der Gestaltung von Saal- und Bühnendekorationen, Hofburgfassaden, Plakat- und Ordensentwürfen sowie bei den Texten für Sessions- und Wagen-Mottos und Jubiläumsprologe seitens meines Vorstands oft gefragt.

Wie man sieht, gibt es viele Möglichkeiten, die Philosophie der Narretei umzusetzen und ins Volk hineinzutransportieren. Nach Aufzählung all meiner närrischen Aktivitäten ist es wohl nicht verwunderlich, dass ich in schönen Erinnerungen schwelge und sich ein umfangreiches Erzählbedürfnis bei mir angestaut hat. Diesen Stau aufzulösen und mit einer amüsanten Leseunterhaltung zu verbinden, war der Anlass für dieses Buch.

Wieso? Woher? Warum?

Vom normalen Menschen zum Vollblutkarnevalisten

Forscher könnten heute sicherlich wissenschaftlich belegen, dass mir die entscheidenden Gene für dieses närrische Dasein bereits in die Wiege gelegt wurden. Da zum Zeitpunkt meiner Geburt im Jahre 1935 das Klonen noch nicht erforscht war, kann man davon ausgehen, dass die leiblichen Eltern für die Erbanlagen allgemein und für die närrischen Gene ganz speziell verantwortlich waren. Dies wird auch durch analytische Recherchen bei der Ahnenforschung bestätigt, wobei eine leichte Dominanz des Einflusses von väterlicher Seite feststellbar ist. So war Anna Kinne (1858–1939), meine aus Vallendar stammende Großmutter, trotz Verantwortung und Sorge für ihre Großfamilie mit zwölf Kindern eine oft bis zur Unkenntlichkeit bunt maskierte Besucherin von Maskenbällen, und als waschechte rheinische Frohnatur animierte sie die erwachsenen Kinder ebenfalls zur Teilnahme am närrischen Treiben – es war Teil ihrer Lebens- und Erziehungsphilosophie. Und so war es nicht ungewöhnlich, dass einer ihrer Söhne – mein Vater Hermann (1892–1972) –, aus Bad Hönningen stammend, einem seiner Brüder bei der Gründung einer großen Karnevalsgesellschaft beratend zur Seite stand. Mein Vater war auch privat in verschiedenen Bereichen des Karnevals aktiv. Er erzählte uns Kindern unter anderem, dass er einst beim Bau eines Wagens mit der Nachbildung des Halleyschen Kometen mitwirkte, und bei Maskenbällen war er meist unter den Preisträgern zu finden.

Auf der anderen Ahnenseite war meine Mutter Maria (1896–1972) zwar nie aktiv am Karneval beteiligt, doch war sie meinem Vater und uns Kindern gegenüber immer eine großzügige und aufgeschlossene Dulderin. Man konnte förmlich spüren, dass es auch ihr Freude bereitete, wenn wir der Narretei huldigten. Oft und gerne hat auch sie herzhaft gelacht und war immer kooperativ, wenn wir beim Nähen von Kostümen ihrer Hilfe bedurften – schließlich stammte sie aus Kettig, der linksrheinischen Narrenhochburg. Aus diesem Zweig unserer großen Verwandtschaft gingen in den letzten fünfzig Jahren immerhin mehrere Karnevalsprinzen und -Präsidenten hervor, was auf eine närrische Vorbelastung auch von dieser Seite schließen lässt.

Nun will ich nach diesem Ausflug in die Welt der Vorfahren doch wieder auf meine eigene närrische Laufbahn zurückkommen. Wenngleich meine Kindheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr von Hunger und Not geprägt war, so erheiterten doch der „kölsche“ Humor und die „kölschen“ Lieder – vorwiegend von Willi Ostermann und Jupp Schmitz –, unser angeschlagenes Gemüt, wenn sie über die Radiowellen in unser heimisches Wohnzimmer drangen – wussten wir doch, dass gerade Köln, eine von Bomben völlig zertrümmerte Stadt, ihren eigenen, typisch kölschen Weg gefunden und beibehalten hatte, um aus diesem Tal des Elends herauszufinden, ganz nach der Devise: „Wat wellste maache – et kütt, wie et kütt!“1

Als man seinerzeit in ganz Deutschland verzweifelnd über Besatzungsdruck und Lebensmittelknappheit stöhnte, sang man in Köln: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“2, und die Menschen standen dabei schunkelnd auf den Trümmern ihrer Häuser. Wenn mein Vater bei solcher Radiomusik meine Mutter in der Küche in den Arm nahm und mit ihr tanzte, dann verflog jegliches Stimmungstief, auch wenn die Nachkriegsjahre noch so hart für uns waren. Und wenn mein Vater dazu noch das Lied „Freut euch des Lebens“ aus vollem Herzen anstimmte, dann sprang auch bei uns Kindern ein echter Funke der Freude über.

Bei mir löste dieser Funke einen närrischen Schwelbrand aus, der sich später zu einem unauslöschbaren Flächenbrand entwickelte. Zurückblickend könnte man annehmen, dass dies die Geburtsstunde des späteren Vollblutkarnevalisten Werner Kinne gewesen sei. Jedenfalls wurden der Humor, der Frohsinn, die Fastnacht und alles, was damit zusammenhing, von dieser Zeit an zu meinem Haupthobby. Ich wurde neugierig auf alles, was mit Karneval zu tun hatte. Mit Begeisterung hörte ich zu, wenn mein Vater mir von der Tradition und vom Brauchtum der Fastnacht erzählte. Zudem lagen auf unserem Dachboden noch drei aus Pappe gefertigte Gardehelme, die vor langer Zeit einmal zu einer karnevalistischen Gardeuniform getragen worden waren. All dies weckte in mir das Interesse, auch selbst in diesem Bereich aktiv zu werden. Bald fertigte ich mir eine Narrenkappe aus Pappe, überzog sie mit Stoff und nähte mir selbst die Litzen und Pailletten auf. Jede mir zugängliche Musik-, Lieder- und Textquelle erschloss ich mir, und mit 12 oder 13 Jahren fing ich an, selbst närrische Texte und Parodien zu verfassen.

Als uns dann unser – ebenfalls aus Bad Hönningen stammender – Lehrer Josef Graben in unserer Klasse der katholischen Volksschule Niederbieber eine karnevalistische Stunde im Unterricht einräumte, war ich bereits in der Vorbereitung darauf der weitaus eifrigste Schüler. Mit zwei Mitschülern bildete ich ein „Offizierskorps“ und ernannte mich selbst gleich zum Kommandeur desselben. Meine erste Aufgabe war es, in der Klasse den närrischen Schlachtruf mit dem dreimaligen „Alaaf!“ einzuüben. Außerdem stellte ich mit dem Lehrer ein Programm zusammen, schmückte den Klassenraum mit bunten Luftschlangen und bemalte die Tafeln mit lustigen Clownsgesichtern. Obwohl ich im Musikunterricht immer als eher unmusikalisch eingestuft wurde und nur mit sehr viel Nachsicht seitens meines Musiklehrers die Note „befriedigend“ erreichte, war ich bei unserer Klassen-Kappensitzung als oberster Stimmungsmacher bemüht, die anderen zum Mitsingen und Schunkeln zu animieren. Dabei erkannte ich sehr früh, dass der liebe Gott meine gesanglichen Fähigkeiten wohl speziell auf den Bereich der Karnevalslieder begrenzt hatte.

Diese erste „halböffentliche“ närrische Aktion war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ein wichtiger Aspekt war dabei auch der selbstkritische Rückblick im Anschluss. So konnte ich zum Beispiel nicht verstehen, warum der Funke der Begeisterung, den zu zünden ich beabsichtigt hatte, nicht sofort auf jeden in unserer Klasse übergesprungen war. Als mich mein Lehrer dann daran erinnerte, dass ich von Haus aus närrisch vorbelastet war, die meisten Mitschüler hingegen möglicherweise zum ersten Mal der Fastnacht auf diese Art begegnet waren, war ich ein wenig beruhigt. Um so erfreulicher fand ich, dass es mir gelungen war, nach dieser närrischen Schulstunde alle Klassenkameraden und -kameradinnen in ihren bunten Kostümen auf die Straße zu locken. So konnte ich mit meinem Dreimann-Offizierskorps tatsächlich den ersten närrischen Umzug in unserem Dorf inszenieren und anführen. Das alles hat mir riesigen Spaß gemacht und mich gelehrt, dass man auf die Menschen zugehen und sich auf sie einstellen muss, wenn man etwas bewirken will. Mein Ziel war es, Freude zu verbreiten – und das habe ich auch geschafft. An diese positive Erfahrung aus meinem närrischen Einstand habe ich mich später in meiner langjährigen Büttenpraxis noch oft erinnert, ebenso wie an meine erste Lektion in Sachen karnevalistischer „Missionsarbeit“: Die Begeisterung wie auch den Spaß an der Freud muss man in sein Umfeld hineintragen, um sie selbst ausleben zu können.

Dies habe ich sehr früh erkannt, weil ich in der (damals noch eigenständigen3) Verbandsgemeinde Niederbieber-Segendorf, also in einer absoluten Fastnachts-„Diaspora“ aufwuchs. Es schien, als beschränke sich der Kreis karnevalistisch aufgeschlossener Mitmenschen außerhalb unserer Familie auf meinen Klassenlehrer. Doch diese Tatsache verstärkte in mir nur den närrischen Pioniergeist. Es gab in meinem Heimatort Segendorf weder einen Karnevalsverein noch eine Sitzung noch sonst ein närrisches Treiben – einzig einen Masken- oder Kostümball und gelegentlich einen sogenannten „Rappel“, d.h. einen Fastnachtsabschlussball am Vorabend des Aschermittwochs – fürwahr ein mageres närrisches Angebot für einen jungen Fastnachtsheißsporn wie mich. Mein Vater hatte meinen Hunger nach professioneller Fastnacht bald erkannt und nahm mich mit zu einer großen Prunksitzung in sein heimatliches Bad Hönningen. Von dort habe ich noch heute die gekonnte, souveräne Art der Sitzungsleitung durch einen sprachgewaltigen Sitzungspräsidenten in Erinnerung. Dieser Mann löste bei mir sogleich den Wunsch aus, später auch einmal Sitzungspräsident zu werden. Es waren aber auch die „Bombenstimmung“ und das begeisterte Publikum sowie die schicken Garden und Tanzmariechen, die mich faszinierten – für mich unvergessliche Glanzlichter dieser Prunksitzung. Und der dem „Kölschen“ ähnelnde „Hünnijer“ Dialekt war eine wohltuende, originelle Verpackung der pointenreichen Vorträge.

Wenn auch während meiner Berufsausbildung als Maurerlehrling meine Freizeitaktivitäten, wie wohl bei jedem Teenager dieses Alters, in verschiedene Richtungen – darunter Fahrradfahren, Fußballspielen und Ausschau nach hübschen Mädchen – durchaus abwechslungsreich verliefen, so schlug mein Herz doch spätestens ab Silvester und dann bis zum Aschermittwoch nur noch im närrischen Dreivierteltakt. Die Spannung zwischen meinem karnevalistischen Wollen, Können und Dürfen war in dieser Zeit so groß, dass ich mich nur mühsam mancher Zerreißprobe entziehen konnte. So nahm ich im Rahmen meiner sehr begrenzten Möglichkeiten 1952 (noch nicht volljährig) in Begleitung meines erwachsenen Bruders Wilhelm erstmals an einem Preismaskenball in Segendorf teil. Mein selbstgefertigtes Kostüm als Toto-Lotto-Werbefigur bestand daraus, dass ich einen frischen weißen Maurerarbeitsanzug ringsum mit Tippzetteln und Lottoscheinen bestückte und aus Pappe in gleicher Weise eine Gesichtsmaske fertigte. Dann besorgte ich mir in einer Toto-Lotto-Annahmestelle noch Plakate mit den großen VW-Käfer-Aufdrucken, mit denen damals für die Hauptpreise der Sonderziehungen geworben wurde. Aus diesen Plakaten schnitt ich mir die wichtigsten Motive aus, klebte sie auf Pappe und bereicherte damit meine Kostümausstattung von Kopf bis Fuß. Diese originelle Idee brachte mir bei der Kostümprämierung gleich einen zweiten Preis ein. Es war weniger das Tanzvergnügen, das ich ohnehin nicht sonderlich beherrschte, sondern die fröhliche, ausgelassene Stimmung und vor allem das Dabeisein, durch die mir dieser Abend so stark in der Erinnerung haften blieb.

In der Zeit meines Ingenieurstudiums von 1953 bis 1956 zügelte ich meinen karnevalistischen Eifer und nahm nur noch sehr begrenzt und passiv am närrischen Geschehen in meinem Umfeld teil, indem ich Fastnachtssendungen und Sitzungsübertragungen im Rundfunk verfolgte und mir aktuelle Liedtexte und Karnevalsinformationen aus Köln besorgte, um auf dem laufenden zu bleiben.

Nach erfolgreichem Studium konnte ich mich dann auch mit 21 Jahren – endlich volljährig – ganz offiziell frei und ungehemmt ins öffentliche Karnevalsleben stürzen. In diese Zeit fielen auch die ersten Schwarzweißfernsehübertragungen der großen Sitzungen aus Köln und Mainz – für mich damals das Nonplusultra der Fastnacht überhaupt. Dies war mein „Telekolleg“, aus dem ich die Anregungen für eigene Büttenreden schöpfte, auf die ich mich dann kontinuierlich und gezielt vorbereitete. Ständig machte ich mir Notizen, formulierte Texte, verfasste Liedparodien und dichtete lustige Verse, ohne jedoch zu wissen, wie ich meine Produkte jemals „unters Volk“ bringen könnte. Immer wieder erinnerte ich mich meiner ersten „live“ erlebten Sitzung in Bad Hönningen und des wortgewaltigen Präsidenten. Im „stillen Kämmerlein“ übte ich, mich rhetorisch auf Büttenauftritte vorzubereiten. Ich studierte Witze ein und feilte an den Pointen meiner Texte.

Endlich war es dann soweit: Die erste Chance für einen Büttenvortrag in einer großen Kappensitzung bot sich mir 1957 bei der Gesellschaft „Edelweiß“ in der Nachbargemeinde Oberbieber. Nun war es absehbar, dass der große Traum für mich endlich in Erfüllung gehen sollte. Andererseits löste diese Aussicht auch Aufregung und Lampenfieber aus. Sorgfältig vorbereitet und inhaltlich sowohl meinem Alter als auch den mutmaßlichen Erwartungen des Publikums angepasst wurde der Text meiner Rede zuerst im Familienkreis besprochen und rezensiert.

Als Vorbild für meinen Auftritt schwebte mir die Figur und Mimik der „doof’ Noss“4 aus Köln vor. Mich einmal richtig „doof“ zu stellen, fiel mir zum Glück nicht schwer und machte mir riesigen Spaß. Als Pointen verwendete ich aber neben albernen Kalauern auch andere Wortspiele und Doppeldeutigkeiten. Ich wusste, dass ich in dieser Rolle langsam, laut und deutlich sprechen musste, weil es auf jede einzelne Silben ankam, wenn die Gags nicht untergehen sollten. Außerdem benötigt das Publikum eine gewisse Zeit, um bestimmte, „um die Ecke gedachte“ Pointen aufzunehmen. – So weit meine Theorie.