Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.

Dieses Projekt wurde realisiert in Zusammenarbeit mit dem Alpenverein Südtirol.

INHALT

VORWORT

Erich Abram war eine herausragende Südtiroler Persönlichkeit, die weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war. Die Teilnahme an der italienischen K2-Expedition und seine spätere Arbeit als Pilot, aber vor allem seine Unvoreingenommenheit sowie seine Offenheit im Gespräch mit verschiedensten Menschen trugen zu seinem Beliebtheitsgrad bei. Im Grunde genommen war er eine sehr bescheidene Person. Er hat sich seinen Erfolg hart, aber auch mit großer Freude erarbeitet und ihm lag nichts daran, im Rampenlicht zu stehen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich als junger Alpinist zwar viele Kletterrouten von Erich nachkletterte, aber eigentlich wenig von ihm wusste. Erst mein Interesse an der Fliegerei und die Berichte von seinen spektakulären Rettungseinsätzen in der Tageszeitung brachten mir seine Person näher.

In den achtziger Jahren hatte ich dann das Privileg, mit Erich ein paar Tage Bereitschaftsdienst in einer alten Baubaracke am Krankenhaus Bozen leisten zu dürfen. Die „Rettungsflugwacht Südtirol“ war gerade von einigen Idealisten aus der Taufe gehoben worden: ein erster Versuch, im Land Südtirol eine professionelle Flugrettung einzurichten, ein Unterfangen, das aber aus vielerlei Gründen von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Erich war als Pilot verdingt worden. Er war damals 58 Jahre alt und topfit. Der orangefarbene Hubschrauber vom Typ Lama hob zu keinem Einsatz ab, doch an einem Abend nahm mich Erich mit nach Trient auf die Hubschrauberbasis. Seine Frau Carla holte uns am Flugplatz ab und brachte mich zum Bahnhof.

Über drei Jahrzehnte später habe ich sie wiedergesehen, ihr Ehemann Erich hatte inzwischen diese Welt verlassen. Zusammen haben wir viele Stunden verbracht, um aus ihren Erinnerungen und Erzählungen eine Geschichte entstehen zu lassen, die Geschichte von Erich Abram.

Christjan Ladurner

Erich auf der Jebel-Erba im Sudan, 1979.
Wo es etwas zum Hinaufklettern gab, da musste Erich hinaufklettern.

Durchsteigung der äußerst anspruchsvollen Solleder-Führe
in der Civetta-Nordwestwand mitten im Winter – Erich am Biwakplatz

SEIN LEBEN

Bozen, Südtirols Landeshauptstadt, eine alte Handelsstadt und auch heute noch eine Stadt mit Flair, in der auch kulturell viel geboten wird. Im Süden der Stadt hat die faschistische Regierung in den 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts fleißig die Obstwiesen gerodet und eine ansehnliche Industriezone aus dem Boden gestampft, angrenzend an die Altstadt wurde ein neues Stadtviertel errichtet, ein kleines „Italia“, dessen faschistische Prunkbauten man heute noch bewundern kann. All den emsigen Italianisierungs-Bestrebungen zum Trotz sind die romantischen Ecken, alten Bauten und schmucken Gassen erhalten geblieben. Dazu gehört die Hörtenbergstraße im Norden der Stadt. Am besten geht man zu Fuß dorthin, die Gasse ist schmal, die Parkplätze sind rar. Das Haus mit der Nummer 5, ein schönes, altes Bozner Handelshaus mit großzügigem Eingang, liegt fast am Ende der Gasse, dort, wo langsam das Rittner Hochplateau ansteigt. Unter dem Klingelknopf ein großes, blank poliertes Messingschild mit dem Namen Erich Abram. Einen Moment verweile ich, fast ein wenig eingeschüchtert, bevor ich auf den Klingelknopf drücke. Hier hat Erich Abram also gewohnt. In einer Woche werde ich verreisen; in eine lange Wintersaison, so wie jedes Jahr. Vor meiner Abreise wollte ich noch mit Carla sprechen, Erichs Witwe, die mit ihm 35 Jahre lang verheiratet war.

Im zweiten Stock eine schöne große Tür, nochmals ein Schild mit seinem Namen. Es fühlt sich so an, als ob mir Erich die Türe öffnen würde, aber es ist Carla, die mich mit großer Herzlichkeit empfängt. „Wir haben uns nie kennengelernt?“, meint sie fragend, während sie mich in die Wohnung bittet. Ich bejahe und erzähle, wie ich vor fast 30 Jahren mit Erich von Bozen nach Trient geflogen sei und sie uns vom Flugplatz abgeholt und mich dann zum Bahnhof gebracht hätte. Carla lächelt in Gedanken versunken, während sie mich in die heimelige Zirbenstube begleitet. Überall gibt es Bilder von Erich. Erich beim Klettern, Erich auf Expedition, mit Eispickel und Kletterausrüstung. Mir scheint, als sei er gerade eben kurz weggegangen. Etwas verlegen bleibe ich inmitten der Stube stehen, schaue mich um, ohne zu wissen, was ich sagen soll. Carla steht am Eingang zur Stube, es ist beinahe schon ein Flüstern, als sie sagt: „Er fehlt mir so sehr …“

Das Messingschild mit seinem Namen an der Eingangstür

Erich Abram mit seiner Frau Carla in Ischia, 1984

Wie, denke ich mir, werde ich imstande sein, diese Biografie zu schreiben, die, wie ich soeben verstanden habe, keine Biografie sein wird, sondern eine Erzählung, ein Zusammenfügen von Fragmenten, Erlebnissen und tiefen Gefühlen.

In diesen Gemäuern also beginnt die Geschichte eines Menschen, der ein sehr außergewöhnliches Dasein gelebt hat. Ein Leben, das im Jahre 1922 beginnt und 94 Jahre später endet. Die Zeitspanne, der diese Erzählung folgt, umfasst die zwei Weltkriege, die Zeit des Faschismus und der Option in Südtirol und die goldenen Jahre, die dieses winzige Land in den Bergen die letzten Jahrzehnte erlebt hat. Gerade darum ist diese Lebensgeschichte bemerkenswert.

Ich habe zusammen mit Carla Setti, der Ehefrau von Erich Abram, die ihn bis zu seinem Abschied von dieser Welt am 16. Januar 2017 begleitet hat, versucht, dieses Dasein nachzuzeichnen. Es gestaltete sich oft aufwendig und schwierig, Zeitzeugen zu finden, die von Erich erzählen konnten. Kein Wunder, denn er hat viele seiner Freunde, seiner Seilgefährten und Fluggäste ganz einfach überlebt. Carla hingegen ist ein offenes Buch mit unendlich vielen Einträgen, die weit zurückreichen bis in seine Kindheit. Manchmal bin ich kopfschüttelnd nach Hause gegangen, nachdem sie mir Details schilderte, die aus einer fremden, weit entfernten Welt zu kommen schienen. Begebenheiten, Daten und Namen von Menschen, wie kann sie sich nur an all diese Dinge erinnern? Oft habe ich zusätzlich recherchiert, um mich zu vergewissern, und immer wieder wurden ihre Erzählungen bestätigt. Darum glaube ich, dem Leser eine Sammlung von Erinnerungen, Geschichten und Fragmenten vorlegen zu können, die sich am Ende zu einem Ganzen zusammenfügen, zum Leben von Erich Abram, einem Bergsteiger, Piloten und Entrepreneur aus Südtirol.

Als ich Carla danach fragte, wie sie Erich kennengelernt hatte, hielt sie kurz inne, sagte dann: „Im Hubschrauber.“ Es folgte ein Moment tiefer Stille. Hätte ich vielleicht doch nicht fragen sollen? Mehr als 35 Jahre ihres Lebens hat sie mit diesem außergewöhnlichen Menschen geteilt, fast ein Drittel seines Lebens. Nun sitzen wir uns in Bozen im Stadtcafé am Waltherplatz gegenüber; wortlos. Ganz plötzlich beginnt Carla zu erzählen.

„Meine Eltern waren aus beruflichen Gründen von Rovereto nach Trient übersiedelt, als ich zwei Jahre alt war. Dort befand sich auch der Sitz der Hubschrauberfirma Elitalia, für die Erich damals flog. Auf der Paganella, einem Bergmassiv westlich der Stadt, stand eine Schutzhütte, daneben gab es einen Umsetzer des Fernsehens. Diese Anlage wurde öfters mit dem Helikopter angeflogen, wobei ein Freund von mir für die Instandhaltung verantwortlich war. Dieser nahm mich einmal mit auf einen Kontrollflug. Ich war 25 Jahre alt, es war mitten im Winter, kalt und die Paganella tiefverschneit. Die Antenne musste dringend gewartet werden. Die in der kalten Jahreszeit geschlossene Schutzhütte direkt neben dem Umsetzer war zu Fuß unerreichbar und so fand ich mich in einer orangefarbenen Hochgebirgsmaschine des Typs Lama wieder, die von Erich geflogen wurde. Wir landeten vor der Hütte, in der es weitaus kälter war, als in der Mittagssonne hoch oben auf der Paganella. Mein Freund hatte den Wirt gebeten, die Hütte für uns aufzusperren. Während die unaufschiebbaren Arbeiten in Angriff genommen wurden, öffneten wir die Fenster, um etwas Wärme ins kalte Gemäuer zu lassen. Nebenbei bereiteten wir das Mittagessen zu. Der Hubschrauberflug, die warme Wintersonne, trotz geschlossener Hütte ein gestandenes Trentiner Mittagessen; der Rest interessierte mich wenig. Später sollte ein Bestandteil in der Ortschaft Fai della Paganella abgeholt werden. Da ich ortskundig war, zudem den Lieferanten des benötigten Gegenstandes kannte, wurde ich sozusagen zur Flugbegleiterin von Erich. Nach der Landung in Fai mussten wir auf das benötigte Ersatzteil warten, wir saßen im Hubschrauber und Erich begann auf seine unbekümmerte Art und Weise sein bisheriges Dasein zusammenzufassen. Verdutzt schaute ich ihn an, als er vom Krieg und der Gefangenschaft erzählte und meinte, ob ich mich erinnern könnte. Woran, dachte ich, denn zu dieser Zeit gab es mich noch gar nicht! Er erzählte mir auch, dass seine Schulter ganz schrecklich schmerzen würde, es ginge gerade so mit dem Fliegen. Letzte Woche bei der Einweihung eines neuen Eisstadions in Auer, für die die Firma Frigotherm – Erich war Teilhaber am Unternehmen – die Kühlungsanlagen geliefert und installiert hatte, war die komplette Firmenmannschaft auf Schlittschuhen anwesend gewesen. Erich, an und für sich ein guter Eisläufer, kam mit seinen geborgten Schlittschuhen nicht zurecht und legte unter dem tosenden Applaus der Zuschauer einen gekonnten Sturz hin. Mit schmerzender Schulter, ein wenig schmunzelnd, denn so leicht konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, schon gar nicht ein Sturz vor einem mit Zuschauern gefüllten Eisstadion, klopfte er sich das Eis von den Hosen und drehte weiterhin seine Runden.

Warum ich dir das erzähle? Wir waren lange schon verheiratet, es war in Erichs späteren Jahren, die achtziger Grenze hatte er schon überschritten, wollte ich während einer gemeinsamen Wanderung Holunderblüten pflücken. Erich, immer noch ein Gentleman, ließ es sich nicht nehmen, die Blüten für mich zu pflücken. Dabei kam die große Felsplatte, auf der Erich stand, ins Rutschen. Ich konnte nichts tun, als entsetzt zuzusehen. Die Talfahrt endete mit einem bösen Sturz. Dieses Mal war ich die einzige Zuschauerin, ein schimpfender Erich klagte über starke Schmerzen in der Schulter. Helfen wollte er sich nicht lassen, auf keinen Fall wollte er ins Krankenhaus. Ich fuhr ihn direkt dorthin, begleitete den immer noch Schimpfenden in die Erste Hilfe, von wo er sofort in den Röntgenraum verfrachtet wurde. Alles bestens, meinte der Arzt, als Erich wieder auftauchte. Es sehe aber ganz so aus, als ob es schon vor vielen Jahrzehnten einmal einen bösen Sturz gegeben hätte, die Schulter wäre gebrochen gewesen, sei alleine wieder verheilt, meinte der Arzt. Wenn der Patient die komplette Mobilität in seiner Schulter wiederhaben möchte, müsste man operieren. In dem Moment erinnerte ich mich an meinen ersten Flug mit Erich, an die Landung in Fai della Paganella und an seine Erzählung vom Sturz im Eisstadion. In den Jahrzehnten dazwischen kletterte Erich immer noch viel, auch schwierige Routen, darum dachte ich mir, dass wir die Operation vielleicht auf später verschieben sollten …

Nachdem wir an besagtem Tage wieder in Trient gelandet waren, bat mich Erich um meine Telefonnummer. Festnetz versteht sich, alles war viel komplizierter, gleichzeitig aber auch viel einfacher. Ich würde am Telefon ja nicht antworten, da ich in Levico arbeitete und nur am Wochenende nach Hause kam. Ein gewisser Erich hätte telefoniert, richtete mir meine Mutter aus. Ich bedankte mich, den Anruf vergessend, während ich anderen Dingen nachging. Die Worte „Erich hat telefoniert“ hörte ich immer öfter aus dem Mund meiner Mutter. Sie schien nichts dagegen zu haben, während mich die Anrufe nicht besonders interessierten. So ein sympathischer Kerl, meinte Mutter. Erich hatte spontan Olivenöl aus Süditalien, wo er im Sommer mit dem Helikopter bei der Brandbekämpfung eingesetzt war, mitgebracht.

Einmal lud er mich zu einer Kletterpartie ein. Mit Halstuch und schönen Straßenschuhen, ich war schließlich ein junges Fräulein und an anderen Dingen interessiert als an der Begehung des Mori-Klettersteiges, folgte ich Erich über die schmale, steile Straße nach oben bis zu einer kleinen Wallfahrtskirche. Dort war der Ausflug für mich zu Ende. Erich ließ sich von einer jungen, gut gekleideten Dame nicht aus der Ruhe bringen, meinte, er würde gleich wieder da sein. Den Klettersteig machte er alleine. Ich unterhielt mich inzwischen mit dem anwesenden Mesner, der mich fast schon ehrfurchtsvoll darauf hinwies, dass mein Begleiter Erich Abram wäre, ein allseits bekannter, ja, man könnte fast sagen, berühmter Bergsteiger. Die Besteigung des K2 und viele schwierige Kletterrouten in den Dolomiten ließen sich mit seinem Namen in Verbindung bringen! Mein Interesse hielt sich in Grenzen …

Als mich Erich das nächste Mal einlud, hatte ich die Grippe. Nicht wirklich, aber mir waren allerlei Erzählungen zu Ohren gekommen. Die Hubschrauberfirma Elitalia war damals eine reine Männerdomäne, ich störte mich an diesen Geschichten, meine Laune war nicht die beste. Erich ließ es sich nicht nehmen, mich zu besuchen, ich habe ihm aber ordentlich den Kopf gewaschen. Unvoreingenommen wie er war, entschuldigte er sich und sagte, – ich konnte es nicht glauben, denn ich hatte ihm gerade eben ordentlich die Meinung gesagt – dass wir in einem Jahr eh verheiratet wären.

Ich kann es nicht so genau sagen, aber vielleicht hatte ich darauf gewartet, dass mir irgendwann einmal ein Mann einen Heiratsantrag machen würde. Ich wollte für jemanden da sein, mein junges Leben mit jemanden teilen. Vielleicht war Erich, dem man sein Alter nicht ansah, der sich ausgezeichnet in Form hielt, gut erzählen konnte und – wie man heute sagen würde – „smart“ war, dazu auch noch gut aussah, mit seiner Bemerkung zum richtigen Zeitpunkt in mein Leben gerumpelt. Wir haben dann zwei Jahre zusammengelebt, ich bin irgendwann nach Bozen übersiedelt, am 29. März 1984 haben wir geheiratet. Mut hat er gehabt, denke ich mir heute. Es war seine zweite Ehe. Ja, Mut hat er gehabt, ein junges Mädchen wie mich zu heiraten, sein Dasein mit mir zu teilen. Immer nach vorne schaute er, die Erinnerungen waren seine Erinnerungen, sehr schöne oder weniger schöne. Er hat oft und gerne von seinen Erlebnissen erzählt, aber ein Nachtrauern, das kannte Erich nicht. Die Zukunft, auch mit uns beiden, hielt so viel für ihn bereit. Gleich schon übertrug er mir die Aufsicht über das Haus in der Hörtenbergstraße, ich übernahm auch Schreibarbeiten und sonstige Dinge für ihn. Oft war ich dabei, wenn er mit dem Hubschrauber im Süden Italiens zur Waldbrandbekämpfung eingesetzt wurde. Mut hat er schon gehabt“, meint Carla nochmals, ein wenig in Gedanken versunken, während ich darüber nachdenke, wer wohl den größeren Mut gehabt hat.

Erich Abram kam aus gutem Hause. Er erblickte am 13. Juni 1922 im kleinen, unterhalb des Brennerpasses gelegenen Städtchen Sterzing das Licht der Welt. Die Familie wohnte in der mitten im Wald gelegenen Villa der Großmutter, die einer wohlhabenden Bozner Familie entstammte. Eines Tages, Erich war schon sehr alt, fuhr ihn Carla nach Sterzing, um das Haus zu finden, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Es war sozusagen ein Geschenk an ihn, denn die Beziehung der beiden lebte von kleinen, für andere Menschen oft bedeutungslosen Dingen. Mit einem Auszug aus dem Gebäudekataster zogen sie durch die nähere Umgebung des Städtchens; erfolglos. Trotz großer Anstrengung konnte sich Erich nicht mehr an die wunderbare Villa erinnern. Wohl aber erinnerte er sich an seine Schulzeit und an den Unterricht, der während der Zeit des Faschismus ausschließlich in italienischer Sprache abgehalten wurde. Ein Umstand aus der dunklen Zeit Südtirols, der ihm als offenen und weitblickenden Menschen, der er wurde, wahrscheinlich sehr viele Türen geöffnet hat.

Seine Mutter, eine wohlerzogene, gebildete Frau, hatte einen hart arbeitenden, temperamentvollen Fuhrunternehmer geheiratet. Obwohl sie viel las, gerne Klavier spielte und Sport betrieb – eine für die damalige Zeit recht außergewöhnliche Freizeitbeschäftigung für eine Frau –, blieb sie bescheiden und war ihren Kindern eine fürsorgliche Mutter, die sich im Umfeld ihres Mannes gut zurechtfand. Erichs Vater transportierte mit seinen Pferden Material für die neuen Stromleitungen, die nach dem Ersten Weltkrieg vielerorts errichtet wurden. Unter anderem zogen die großen, starken Rösser die mit hölzernen Strommasten beladenen Fuhrwerke hinauf Richtung Brennerpass. Eine kleine Laune des Schicksals vielleicht, dass Erich irgendwann einmal als Hubschrauberpilot fast zwei Sommer lang am Brennerpass stationiert war und dort, wo sein Vater mithalf die Leitungen zu errichten, Hunderte von Lastenflügen durchführte. Mit dem Material, das er weit hinauf auf die steilen Hänge oberhalb des Passes flog, wurden im Auftrag des Staatsbauamtes Lawinenschutzbauten zur Sicherung der Brennerautobahn errichtet.

Der Auszug aus dem Gebäudekataster von Sterzing, mit dem Carla versuchte, Erichs Geburtshaus wiederzufinden

Die Pferde, die nach einem langen Tag zurück in die Stallungen geführt wurden, waren für Erich ein Magnet. Sein Vater, dessen Tage nie zu enden schienen, da er nach getaner Arbeit auch noch die Tiere zu versorgen hatte, erlaubte ihm und seinen beiden Schwestern Erna und Trude den Zugang zu den Ställen, wo sie sich den Tieren nähern und sie auch streicheln konnten. Seine Zuneigung zu Tieren blieb ihm ein Leben lang erhalten; wäre die Welt nach seinem Maturaabschluss nicht wiederum in einen Weltkrieg gestürzt, hätte sich Erich höchstwahrscheinlich für ein Studium der Veterinärmedizin entschieden.

Die Eltern von Erich (vorne im Bild) zusammen mit Freunden bei der Brotzeit

Carla erzählt mir, dass er während der oben erwähnten Bauarbeiten am Brennerpass ins Pflerscher Tal gerufen wurde. Weit oben auf einer Alm war ein kolossaler Stier gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Der Besitzer wollte das wertvolle Tier nicht auf der Alm schlachten – das hätte für ihn zum schon geschehenen Unglück auch noch eine große finanzielle Einbuße bedeutet –, sondern es dem Metzger im Tal übergeben. Er wusste, dass Erich mit seinem Hubschrauber am Brenner arbeitete. Almzufahrten gab es damals noch keine und die Idee, ein Rindviech mit dem Hubschrauber zu transportieren, war sehr neu. Nachdem Erich sein Fluggerät neben der Almhütte geparkt hatte, um auf die Vorbereitungen für den Abtransport zu warten, näherte er sich dem verstörten, am Boden liegenden Tier und begann es zu kraulen. Der Stier nahm Erichs Arm in sein Maul, gerade so, als ob er die Geste erwidern wollte und begann sanft daran zu zupfen. Ein nagelneuer Bergpullover der Marke „Think Pink“ überstand die zärtliche Zuwendung nicht besonders gut. „Wasser“, meinte Erich zum Senner, „er braucht Wasser!“ Nachdem er das Tier versorgt hatte, flog er es ins Tal, wo schon der Schlachter auf den Stier wartete. Erich klinkte das Transportnetz aus und flog, wahrscheinlich ohne sich umzusehen, weiter Richtung Brenner.

Die Kindheit in Sterzing war, abgesehen vom italienischen Unterricht – zu Hause und mit seinen Schwestern sprach Erich den Südtiroler Dialekt – sorglos und unbeschwert.

Erich war ein großer Tierliebhaber – hier mit seinem Hund Susi.

1930 übersiedelte die Familie nach Bozen in die Hörtenbergstraße 5. Seit 1908 betrieben dort die Großeltern eine Dampfwäscherei, die später ein Onkel mütterlicherseits führte, bis Erichs Eltern den Betrieb übernahmen. Der Onkel fuhr eines der wenigen Autos in Bozen. Für Erichs Mutter eine Unverständlichkeit, ein geradezu übertriebener Luxus, wo man doch überallhin zu Fuß oder eventuell auch mit der Eisenbahn kam. Eine Ironie, denn hätte man damals den Zeiger der Zeit nach vorne schieben können, als Erich mit seinem Hubschrauber durch die Berge flog, was hätte sie wohl dazu gesagt?

Erich – er sitzt in der ersten Reihe in der Mitte – besuchte die Grundschule zuerst in Sterzing und dann in Bozen.

Für die damalige Zeit wurden in der Dampfwäscherei schon sehr moderne Maschinen eingesetzt; gewaschen wurde für Hotels, Krankenhäuser und Kasernen. Ich kann mir gut vorstellen, dass in dieser sehr eigenen Welt – um mit Dampfkesseln arbeiten zu können, musste man schon damals eine Prüfung ablegen, die es dann dem Betreiber ermöglichte, eine Lizenz zum Betreiben der Anlagen zu erwerben – Erichs Interesse an technisch komplexen Dingen geweckt wurde. Das Wissen, das er sich in dieser zischenden, immer heißen und nicht ungefährlichen Welt aneignete, wurde während seiner Gefangenschaft in Russland zum entscheidenden Überlebensfaktor.

Das Leben in der Stadt war für Erich neu und voller Geheimnisse. Wie die meisten Kinder seiner Zeit spielte er auf der Straße. Verkehr gab es damals kaum, abgesehen vom lärmenden Gefährt seines Onkels, das im Hinterhof abgestellt wurde. Das Auto war für den technisch interessierten Jungen ein Magnet. Was lag näher, als dem Onkel in seiner Abwesenheit einen Dienst zu erweisen und das staubige Fahrzeug auf Hochglanz zu bringen. Und zwar mit einem in Petroleum getauchten Putzlappen, der das Gegenteil von Hochglanz bewirkte. Großzügig sah der Onkel über die matte Karosserie hinweg und ließ Erichs guten Willen im Vordergrund stehen.

Wenn dieser nicht gerade Autos putzte, mit dem Fahrrad fuhr oder mit seinen Freunden mit bunten Glaskugeln, den sogenannten „Specker“, spielte, besuchte er die nahe gelegene Volksschule „Filippo Neri“. Ab 1923 wurde in der ersten Klasse Volksschule der Unterricht nur mehr auf Italienisch abgehalten; jedes Jahr kam eine weitere Klasse dazu, so dass in fünf Jahren in allen Klassen der Unterricht ausschließlich in italienischer Sprache erfolgte. Davon ausgenommen war das Fach Religion. Dialekt sprach man zu Hause oder auch mit den Freunden. Die deutsche Sprache wurde in sogenannten Katakombenschulen gelehrt. Wie so viele andere Kinder besuchte auch Erich diesen illegalen Hausunterricht, der während der Zeit des Faschismus ins Leben gerufen worden war, um einen planmäßigen Unterricht der Schüler in ihrer deutschen Muttersprache zu gewährleisten. Nach der Volksschule wechselte Erich in die Handelsoberschule „Cesare Battisti“ in der Leonardo-da-Vinci-Straße in Bozen. Das Leben war immer noch einfach für den Jungen; die Sommermonate verbrachte er in Jenesien oder in St. Konstantin bei Völs. Urlaub auf dem Bauernhof gab es schon damals; der bessergestellte Städter konnte bei den Bauern preisgünstig ein einfaches Zimmer mieten.

Nach Jenesien ging man zu Fuß von der Hörtenbergstraße über Schloss Rafenstein; kein allzu großes Unternehmen für die damalige Zeit. Am Wochenende kamen die Eltern auf Besuch, wobei sie heißbegehrte Dinge wie Schokolade oder „Zuckerlen“1 aus der Stadt mitbrachten.

1936 hat sich Erich dazu entschieden, das Gymnasium „Torricelli“ in Meran zu besuchen, denn in Bozen gab es kein wissenschaftliches Gymnasium. Die „Littorina“2 (Eisenbahn) war eine recht bequeme Verbindung zwischen den beiden Städten, was es Erich ermöglichte, weiterhin zu Hause zu wohnen. Dann und wann schwänzte er zusammen mit einigen seiner Kameraden die Schule. Gerne stiegen sie in Gargazon aus dem Zug, um Sport zu betreiben, eine von Erichs Vorlieben, die ihm wohl seine Mutter vermacht hatte. 1913 gehörten Mutter und Onkel zu einer Viererbob-Mannschaft, die sich an der 3. österreichischen Meisterschaft beteiligte. Als Rennstrecke diente die verschneite und gewalzte Straße über den Jaufenpass. Der Pokal, den seine Verwandten damals gewonnen haben, steht immer noch in Erichs und Carlas Wohnung.

Manchmal wurde auch gegrillt und die Burschen vertrödelten ganz einfach den Tag. Besonderes gibt es aus dieser Zeit nicht zu berichten. Erich lebte ein recht sorgloses Dasein und schlug kaum einmal über die Stränge. Doch die Zukunft, in der sich dieses angenehme Leben bald schon in eine Hölle verwandeln wird, lag in greifbarer Nähe.

Die 1939 erzwungene Wahlmöglichkeit für deutschsprachige Südtiroler und Ladiner, die sogenannte Option,3 brachte die große Wende in Erichs Dasein. Die Familie musste sich entscheiden, entweder Südtirol zu verlassen und ins deutsche Reich abzuwandern oder im Land zu bleiben, wo sie jedoch einer kompletten Italianisierung ausgesetzt gewesen wäre. Diese Entscheidung zu treffen, war für seine Familie genauso hart und schwierig wie für den Rest der Südtiroler. Vorausschauend wurde Erich nach Hall in Tirol in ein Franziskanerinternat geschickt, um dort sein Studium zu beenden. Der Lehrer, der dort Geschichte und Geografie unterrichtete, war ein athletischer junger Mann und ging mit den Studenten vor dem Unterricht zum Laufen. Ganz nach Erichs Geschmack, der zu einem sportlichen jungen Mann herangewachsen war und inzwischen auch das Klettern für sich entdeckt hatte. In Hall lernte er den zwei Jahre jüngeren Hermann Buhl4 kennen, der später mit seiner Alleinbegehung des Nanga Parbat ohne künstlichen Sauerstoff in die Geschichte des Bergsteigens eingehen wird.

Bis in sein spätes Alter blieb Erich seinem Hobby, dem Fotografieren, treu.

Die zu Erichs Jugend zeit äußerst beliebte Kodak Retina 117

Während dieser Zeit kaufte sich Erich einen Fotoapparat, eine Kodak Retina, wahrscheinlich den Typ 117. Sie war die erste Kamera, die ohne großen Aufwand mit einer Kleinbild-Filmpatrone geladen werden konnte und somit der Fotografie eine neue Wende gab. Das Fotografieren blieb Erichs große Leidenschaft. Eine Unzahl von Schwarz-Weiß-Aufnahmen lässt auch sein gutes Auge für den in der Fotografie so wichtigen Moment erkennen.

Im Jahre 1941, kurz nach dem Abitur, kam dann die erste große Wende im Leben des jungen Abram. Er wurde von den Deutschen eingezogen und der U-Boot-Waffe in Hamburg zugeteilt. Wäre er dort verblieben, so würde ich heute wohl kaum über Erich schreiben können. Die U-Boote wurden bald schon als „eiserne Särge“ bezeichnet. Bei U-Boot-Einsätzen war die Verlustquote so hoch wie bei keiner anderen Waffengattung während des Zweiten Weltkrieges. Die Härte der Grundausbildung überraschte den Rekruten, ständig wurde er angebrüllt, immer wieder riss ein Unteroffizier die Spinde auf und warf den ganzen Inhalt auf den Boden. Die Südtiroler wurden als „Beutedeutsche“ bezeichnet, denen man noch ordentlich die Ohren langziehen würde. Zurückblickend meinte Erich: „Dieses unerbittliche Training und der physische Terror stärkte mich irgendwie. Ich glaube, dass ich dadurch imstande war, alles Nachfolgende irgendwie zu überstehen.“

Da Erich schon damals über eine solide bergsteigerische Erfahrung verfügte und auch eine große Redegewandtheit besaß, konnte er seinen Vorgesetzten irgendwie klarmachen, dass er bei der Gebirgstruppe5 weitaus besser aufgehoben wäre. Er wurde in die Klosterkaserne nach Innsbruck verlegt. Dort verbrachte er einen letzten kriegsfreien, wunderbaren Winter in den Stubaier Alpen, wo Soldaten mit umgehängter Waffe Ski fuhren oder Kanonen ins Gebirge zogen. Nach beendeter Ausbildung im Frühjahr 1942 wurden die Gebirgsjäger zuerst mit dem Zug ans Asowsche Meer und auf die Halbinsel Krim verlegt. Der Weitertransport in den Kaukasus erfolgte zuerst mit dem Schiff, dann mit dem Bus und am Ende zu Fuß. Ungefähr 16.000 Kilometer wird Erich während der Kriegsjahre zu Fuß zurücklegen. Die meisten davon mit denselben Bergschuhen, wie er im späteren Leben immer wieder betonte. Dazu meinte er trocken: „Die Geherei hat uns bald schon nichts mehr ausgemacht. Ob wir einen Tag lang oder eine ganze Woche durch die Berge marschieren mussten, machte keinen Unterschied.“ Die ersten und nicht wenigen dieser Kilometer brachten den jungen Abram auf den 2748 Meter hohen Marukha-Pass6, der von den Russen gehalten wurde.

Ich konnte bei meiner Recherche den Pass nirgendwo finden. Erich erzählte oft vom Pass, doch nannte er ihn fälschlicherweise „Maruschkoje-Pass“. Carla kam wieder einmal zu Hilfe, sie fand die richtige Bezeichnung in einer Aufzeichnung eines ehemaligen Kollegen. Der Pass liegt gottverlassen im Großen Kaukasus inmitten einer endlosen Bergwelt, eingerahmt von Gletschern. Seine Koordinaten lauten 43° 22‘ N, 41° 23' O. Die nächste Straße liegt mehr als 20 Kilometer Luftlinie entfernt. Erich war 20 Jahre alt, als er mit den Gebirgsjägern den Pass stürmte und urplötzlich die schreckliche Wirklichkeit des Krieges kennenlernte. Kameraden, mit denen er Zeit bei der Ausbildung und sorglose Stunden in den Stubaier Alpen verbracht hatte, fielen bei der Einnahme des Überganges. Es war ein Kampf Mann gegen Mann in einer zerklüfteten, unübersichtlichen Felslandschaft. In seinem späteren Leben hat Erich oft vom Krieg erzählt; irgendwie ist er imstande gewesen, diese Zeit kompromisslos in sein Dasein einzufügen.

Erich während der Ausbildung zum Gebirgsjäger – höchstwahrscheinlich
bei einem Kletterkurs im Wilden Kaiser mit modernen Kletterpatschen

Zeltlager der Gebirgsjäger am Marukha-Pass