Gertrud und Joachim Steiger
Hessen erlesen!
für Literaturfreunde und Bibliophile
Impressum
Südhessen
Historisches Rathaus Michelstadt
1 Das Käthchen von Rohrbach
Neckarsteinach: Eichendorff-Museum
2 An American goes Neckar
Hirschhorn/Neckar: Mark Twain im Langbein Museum
3 Sechs Wochen an der Bergstraße
Heppenheim: Gasthof Halber Mond
4 Und der erste Büchner-Preis geht an …
Wald-Michelbach: Adam Karrillon im Überwaldmuseum
5 »Wenn die alten Türme stürzen«
Erbach/Odenwald: Schloss der Grafen zu Erbach
6 Bücherschatzkammer im Medienzeitalter
Michelstadt: Nicolaus-Matz-Bibliothek
7 Der blitzgescheite »Gnom«
Ober-Ramstadt: Sudelbücher und Experimentalphysik im Museum
8 Das Monster wohnt nicht hier!
Mühltal: Burg Frankenstein
9 Georgs kleine Schwester
Darmstadt: Luise-Büchner-Bibliothek
10 »Lisettsche, noch enn Schoppe«
Darmstadt: Datterich-Brunnen
11 Eine bedeutende jüdische Familie
Darmstadt: Wolfskehl’scher Park
12 Unser hessischer Leftwing-Darling
Riedstadt: Georg-Büchner-Haus
13 Ein Tempel für die Poesie
Wiesbaden: Literaturhaus Villa Clementine
14 Willkommen in Roulettenburg
Wiesbaden: Dostojewski und das Spielcasino
15 Die pure Lebenslust
Eltville/Rhein: Thomas Mann an der Rheinpromenade
16 Der Herr der beweglichen Lettern
Eltville/Rhein: Johannes Gutenberg in der Kurfürstlichen Burg
17 Der Name der Rose
Eltville/Rhein: Kloster Eberbach
18 Die Sappho der Romantik
Oestrich-Winkel: Das Grab der Günderrode auf dem Friedhof St. Walburga
19 Die Leidenschaft der Rheinromantiker
Oestrich-Winkel: Brentanohaus
20 The Bells of Geisenheim
Geisenheim: Henry-Wadsworth-Longfellow-Brunnen
Frankfurt und Mittelhessen
Skyline Frankfurts
21 »Kämmen ließ er nicht sein Haar …«
Frankfurt/Main: Struwwelpeter-Museum
22 Das Wunder des Überlebens
Frankfurt/Main: Ehemaliges Wohnhaus Valentin Sengers
23 Kein Platz, wie jeder andere
Frankfurt/Main: Ludwig-Börne-Gedenkstätte
24 Cool ist die Schule, gern mit Bambule
Frankfurt/Main: Caricatura – Museum für Komische Kunst
25 Leben nach dem Holocaust
Frankfurt/Main: Fritz Bauer Institut mit Bibliothek und Archiv
26 »Es is kaa Stadt uff der weite Welt …«
Frankfurt/Main: Mundart am Stoltze-Brunnen
27 Rede an die Deutschen
Frankfurt/Main: Fritz von Unruhs Rententurm
28 Der Weg ins Ungewisse
Frankfurt/Main: Deutsche Nationalbibliothek mit Exilarchiv
29 Sehnsucht nach den Bergen
Frankfurt/Main: Die Gassen der Altstadt
30 Money, Money in der Bücherwelt
Frankfurt/Main: Internationale Buchmesse
31 Keine verzauberte ihn wie sie!
Offenbach: Lilipark
32 Von Altgotisch Breit zu Windisch Kursiv
Offenbach: Klingspor-Museum
33 Als die Welt noch voller Märchen war
Hanau: Mit den Brüdern Grimm nach Kassel
34 Ein Hauch Wellness für Anna Karenina
Bad Soden/Taunus: Lew Nikolajewitsch Tolstoi im Badehaus
35 Schrecklich schöne Schauergeschichte
Eppstein: Burg Eppstein
36 Es grüßt Sie, Madame Luzifer
Königstein/Taunus: Caroline Schlegel-Schelling auf Burg Königstein
37 »Wem sonst als Dir?«
Bad Homburg vor der Höhe: Museum Sinclair-Haus und Hölderlin
38 »Kall mei Drobbe!« wurde nie gesagt
Friedberg: Wolf-Schmidt-Platz
39 Simpl, Courasche und Springinsfeld
Gelnhausen: Die Grimmelshausen-Welt
40 Großer Manitu aus Gelnhausen
Gelnhausen: Friedrich August Strubberg im Stadtmuseum
41 Vom Außenseiter zum Kultautor
Bad Schwalbach: Jörg Fauser im Kurpark
42 Madame est mon Inspiration
Bad Camberg: Marie-Mallarmé-Stele
43 Er traf Werther und sah Lotte
Wetzlar: Lottehaus und Jerusalemhaus
44 Versinken in wunderlichen Welten
Wetzlar: Phantastische Bibliothek
45 Wanderjahre des jungen Johann Wolfgang
Wetzlar: Mit Goethe auf nach Darmstadt
46 Die Leidenschaft der Grafen
Laubach: Schlossbibliothek
47 Das Dorf seiner Kindheit
Staufenberg: Peter Kurzeck im Heimatmuseum Staufenberg
48 Große Gefühle an der Lahn
Marburg: Haus der Romantik
Nordhessen
Die GRIMMWELT in Kassel
49 Der Duden – die Dudin – das Duden?
Bad Hersfeld: Konrad-Duden-Museum
50 Als »Young Adult« Backfisch hieß
Alsfeld: Henny-Koch-Gedenkstein
51 Das Märchen vom Südseehäuptling
Bad Wildungen: Erich Scheurmann auf dem Friedhof Armsfeld
52 Der Nonsens im Dadaismus
Frankenau: Huelsenbeck-Museum
53 Frisch die Jugend – hoch der Meißner
Witzenhausen: Burg Ludwigstein
54 He loves Peggy Sinclair
Kassel: Samuel-Beckett-Anlage
55 Nirgendwo ist Poenichen
Kassel: Brückner-Kühner-Haus
56 Wie er ihr, so sie ihm!
Kassel: Archiv der deutschen Frauenbewegung
Adressen
Karte
Weitere Titel der Erlesen-Reihe :
Eichendorff-Museum im Geopark Infozentrum
Romantik – das Wort ist in Neckarsteinach nicht nur eine Buchstabenfolge für die Tourismusbranche. Ob hoch oben über der Stadt auf der Veste Dilsberg oder weit abseits der vielbefahrenen Durchgangsstraße im unteren Teil der Stadt am Neckarufer, dort flutet durch die alten Gässchen und Gemäuer die Romantik aus jeder Ritze und aus jedem Pflasterstein pur heraus. Eines der Zentren der romantischen Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Heidelberg, und die Neckarstadt wurde im Jahre 1807 der Studienort von Joseph Freiherr von Eichendorff (1788–1857). Der Student wird begleitet von seinem Bruder Wilhelm und beide finden an ihrer Alma Mater schnell geistesverwandte, gleichaltrige Mitstudenten der Jurisprudenz, die binnen Kurzem auch der Schönheit der Stadt und den Gestaden des Neckars verfallen sind. Auf ihren Wanderungen rund um Heidelberg kommen sie mehrmals nach Neckarsteinach, genießen dort die Sonnenuntergänge und Joseph beginnt diese Schönheit unter anderem im Gedicht Sehnsucht zu preisen: »Zwei junge Gesellen gingen / Vorüber am Bergeshang / Ich hörte im Wandern sie singen / Die stille Gegend entlang / Von schwindelnden Felsenschlüften / Wo die Wälder rauschen so sacht / Von Quellen, die von den Klüften / Sich stürzen in die Waldesnacht.« Mit Verlaub, romantischer geht es gar nicht. Auch Eichendorffs spätere Gedichte blieben so einfühlsam, so idyllisch, so schön.
Der Geist des Neckartales hat ihn niemals mehr verlassen. Davon kündet eindrucksvoll auch das kleine Eichendorff-Museum im Gebäude des UNESCO-Geopark-Museums Bergstraße-Odenwald in Neckarsteinach und macht Lust darauf, den Taugenichts wieder einmal in die Hand zu nehmen. Jene Erzählung um den Müllerbuben, der in der Welt sein Glück suchen will und in die Eichendorff einige seiner schönsten Gedichte (Wem Gott will rechte Gunst erweisen oder Heimweh) eingestreut hat.
Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff wurde auf Schloss Lubowitz bei Ratibor in Oberschlesien geboren. Nachdem er die katholische Schule in Breslau besucht hatte, war sein erster Studienort der Jurisprudenz ab 1805 Halle an der Saale. Seine Heidelberger-Zeit umfasste nur zwei Jahre von 1807 bis 1808 und Joseph wäre wohl gerne noch geblieben. Doch sein Vater verlangte von ihm die Rückkehr nach Lubowitz, damit ihn der nun 22-Jährige bei der Verwaltung der Güter unterstützte. Doch trotz aller Romantik und Liebe zu Heidelberg war ihm die Abreise willkommen, auch wenn sie tragische Züge annahm. Der Grund aller Tragik und der Auslöser aller Desaster des Mannes war auch im Falle Eichendorffs: eine Frau! Nachzulesen ist dies in den Tagebüchern des Dichters und die Verzweiflung des jungen Mannes hat auch einen Namen: das Käthchen von Rohrbach, bürgerlich Katharina Barbara Förster.
Die schöne Katharina war die Tochter des Küfermeisters Johann Georg Förster und seiner Ehefrau Maria Barbara, geborene Astor (aus dem Familienzweig der kurpfälzischen Walldorfer Astors, der es in New York zu unermesslichem Reichtum bringen sollte). Aus einer anfänglichen Sympathie wurde bald eine tiefe Vertrautheit. Auf langen Spaziergängen am Neckarufer kamen sich die jungen Leute schnell näher, doch die herrschenden gesellschaftlichen Konventionen und auch Missverständnisse belasteten die Beziehung. Am 7. Februar 1808 schrieb Eichendorff in sein Tagebuch über einen Ausflug mit Katharina (in den Tagebüchern immer nur als »K.« bezeichnet): »Verunglückter Spaziergang nach Rohrbach mit Isidorus. Wie wir zurückkehren, geht K. mit dem Bruder nach Rohrbach. Mein Nachrennen und Einholen. Großer Wind. Trauer eines fast gebrochenen Herzens. Sich selbst bedauern. Ich allein im Ochsen. Trüber Tag. Die Laden dunkel zu. Rauschen des Baches draußen.« Selbst diese im Grunde recht profanen Alltagseindrücke verwandeln sich bei Eichendorff beinahe in Poesie. Mit ein wenig Fantasie werden diese wenigen Worte lebendig und man fühlt den kalten und windigen Februartag. Die Eichendorff’sche Lebensstimmung in diesem besonderen Moment trifft einen ins Herz.
Am 3. April 1808 brechen Josephs Aufzeichnungen mit den Worten ab: »Als ich eben vom Spaziergange zurückkam, K. mit Schwester und Kameradin nach Rohrbach hinaus, unerwarteter Weise Heidelberg ganz verlassend … schöner warmer Abend. K. umschlungen u. sehr lieb. An der wohlbekannten Hecke am Bache langer herzlicher Abschied.« Dass keine weiteren Einträge zu Katharina in der Chronik zu finden sind, führte zu Spekulationen in der Eichendorff-Forschung. Hatte der Dichter die Aufzeichnungen aus Trauer über die Trennung von dem geliebten Käthchen aufgegeben oder bestehende Einträge selbst vernichtet? Darüber wird man wohl nie Gewissheit erlangen. Gewiss ist aber eines: Seine Katharina konnte Joseph von Eichendorff nie vergessen – sie schwebt in vielen seiner Gedichte, Romane, Novellen, Theaterstücke und Erzählungen durch den Text.
Die »romantischen Vier«, Neckargemünd, Neckarsteinach, Hirschhorn und Eberbach, oder kurz gesagt die ganze Neckarromantik, die Liebe Josephs zur Region, zum Fluss und speziell auch zu seiner Katharina, wird im kleinen, aber sehr feinen Eichendorff-Museum in Neckarsteinach lebendig. Aber Vorsicht! Dieses Museum verlangt Zeit und Konzentration von seinen Besuchern. Allein der Versuch, die Eichendorff’schen Handschriften zu entziffern, kann Stunden dauern – und sich zu einer kalligraphischen Sucht ausweiten. Auch die informativen Schautafeln, auf dem neusten Stand der Eichendorff-Forschung, benötigen ein gerüttelt Maß an Aufmerksamkeit und Muße. Alles in allem: dieser Genius Loci ist eine absolute Empfehlung für alle Romantiker und die, die es noch werden wollen.
Zu verdanken hat die Stadt diese Gedenkstätte der Unterstützung des Mäzens Dr. Walter Teltschik (1928–2015). Dieser hatte zum Lyriker Eichendorff eine besondere Beziehung. Wuchs er doch in Sedlnitz auf (heute: Sedlnice in Tschechien), jenem Ort, an dem vor über 100 Jahren Eichendorff seinen Feriensitz samt Dichterklause hatte. So schließt sich im romantischen Neckarsteinach ein Kreis, und auch wir kommen zum Ende mit dem wunderbaren Eichendorff-Satz aus dessen Roman Ahnung und Gegenwart: »Kein Dichter gibt einen fertigen Himmel, er stellt nur die Himmelsleiter auf.«
Eichendorff-Museum im Geopark Infozentrum
Mister Samuel Longhorn Clemens (1835–1910) aus Florida/Missouri (USA) war der Sohn einer Familie aus den Südstaaten, die ihr Glück an den Ufern des Mississippi suchte. Seinen Geburtsort, das Dörfchen Florida im Monroe County gelegen, bezeichnete Sam Clemens – den wir ab jetzt Mark Twain nennen dürfen – selbst einmal sinngemäß als ein unscheinbares Nest, das selbst in seinen Hochzeiten nie mehr als rund 100 Menschen ein zu Hause war. Familie Clemens kehrte dieser Heimstätte alsbald den Rücken und siedelte sich in der Kleinstadt Hannibal am Mississippi an, die Jahre später der Schauplatz in Mark Twains berühmtestem Werk Huckleberry Finn sein sollte.
Doch bevor er zum weltberühmten Autor rund um die Helden Huckleberry Finn und Tom Sawyer wurde, begann er seine schriftstellerische Karriere mit Reiseskizzen, die er für eine Zeitung seines Bruders verfasste. Nach diesen ersten publizistischen Fingerübungen schrieb Mark Twain im Jahre 1869 sein erstes Reisetagebuch The Innocents Abroad (Die Arglosen im Ausland), in dem er mit typischem, Twain’schen Humor eine halbjährige Schiffsexkursion nach Europa und in den Nahen Osten beschreibt. Nachdem die Arglosen im Ausland sich als veritabler Bestseller erwiesen hatte, unternahm Twain im Jahre 1878 einen zweiten Europaausflug. In A Tramp Abroad (Bummel durch Europa) besuchte der Erzähler Mark Twain zwar auch die Schweiz und Italien, doch seine schönsten und am humorvollsten dargestellten Reiserlebnisse hatte er in Deutschland, insbesondere in der Neckarregion und dem Städtchen Hirschhorn, ganz im Süden des Hessenlandes. Mark Twain liebte Deutschland und seine Menschen, das kann man fast jeder Zeile seines Bummels durch Europa entnehmen. Dieses Buch ist aber auf keinen Fall als Reiseführer misszuverstehen. Es ist ein liebenswerter Streifzug, eine Melange aus augenzwinkernder Satire und wohlmeinender, herzlicher Charakterbeschreibung von Land und Leuten.
Die legendäre Neckarfloßfahrt vom 9. August 1878 macht dies deutlich, denn diese umschreibt Twain sinngemäß mit den Worten, dass niemand, der nicht schon einmal ein solches Abenteuer auf dem Neckar im Sommer unternommen hat, die vollendete Schönheit Deutschlands begriffen oder ausgekostet hat. Doch auch eine noch so anregende Floßfahrt birgt ihre Tücken. Ein starkes Gewitter zwang die Neckarabenteurer gegen Abend das rettende Ufer anzusteuern und sich auf den fünf Kilometer langen Fußmarsch in Richtung Hirschhorn zu begeben. Mitternacht war nicht mehr weit, als die vollkommen durchnässte und übermüdete Reisegesellschaft an der Tür des Gasthauses Zum Naturalisten anklopfte. Der wenig begeisterte Wirt Carl Langbein ließ sich erst nach einer längeren Diskussion dazu überreden, den zu Unzeiten erschienenen Gästen ein Nachtmahl zu servieren und die Logis bereit zu machen. Diese erwies sich als außerordentlich bequem und gemütlich. Versöhnt waren nun die Reisenden mit der anfänglich etwas abweisenden und ruppigen Art des Wirtes. Es hätte eine ruhige Nacht werden können, doch – wie es der Teufel manchmal so will – kam es zu jener Episode, die Generationen von Journalisten und Twain-Kennern immer wieder mit Schlaflos in Hirschhorn überschrieben. Was war geschehen? Die Freunde betten ihr müdes Haupt, gesättigt, dazu nach einigen Schoppen Wein leicht angesäuselt, in die weichen Kissen des Naturalisten. Aber sie hatten die Rechnung ohne das außergewöhnliche Hobby des Carl Langbein gemacht. Dessen ausgestopfte Tiere, speziell eine Katze sowie eine glupschäugige Eule, waren auch in den Schlafräumen der Gäste untergebracht. Sie ließen die Männer am Neckargestade von Hirschhorn nicht zur Ruhe kommen. Sie fühlten sich die ganze Nacht angestiert von den mumifizierten Scheusalen und waren froh, als der Morgen graute. Ein Spaziergang durch die mittelalterlichen Gassen des Städtchens zu unternehmen war zu diesem Tageszeitpunkt nun genau das Richtige. Doch auch hier begegneten sie seltsamen Gestalten. Twain spricht von ungewaschenen, ungekämmten, ja sogar »schwachsinnig« blickenden, bettelnden Geschöpfen auf den Gassen. Aufklärung über diese bemerkenswerte Begegnung kann Dr. Irmtrud Wagner, die zweite Vorsitzende des Freundeskreises Langbein’sche Sammlung und Heimatmuseum Hirschhorn sowie einer der guten Geister des Langbein Museums in Hirschhorn geben, jenes Magazins, das den Mark-Twain-Besuch am Neckar eindrucksvoll dokumentiert. Um das Jahr 1878, erklärt Irmtrud Wagner, befand sich in einer der Altstadtgassen ein städtisches Verwahrheim für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. An diesem Heim, so wird vermutet, ist Mark Twain bei seinem Morgenspaziergang vorbeigekommen.
Der Amerikaner hatte eine besondere Affinität zu Deutschland – zweifellos. Allerdings hatte er auch einige anfängliche Probleme mit deutschen Sitten und Eigenarten. Er empfand Wagners Oper Lohengrin als außerordentliche Katzenmusik, die ihm, wie Ohrenzeugen glaubhaft berichteten, »Zahnschmerzen in der Magengegend« bescherte. Noch mehr entsetzte Twain die »schreckliche deutsche Sprache«, der er ein eigenes Kapitel am Ende von Bummel durch Europa widmete. Doch was macht denn die deutsche Sprache für einen Nichtmuttersprachler so schrecklich? Nach Mark Twain sind es zuallererst die zusammengesetzten Substantive, die eine ungeheure Länge erreichen können: »Waffenstillstandsverhandlungen« oder »Donaudampfschifffahrtskapitänsmütze«. Dann kommt noch die Sache mit dem Geschlecht und den Artikeln dazu. Warum heißt es »die Frau« aber »das Mädchen«? Warum »der Tisch« aber »das Bett«? Trotz all der Schwierigkeiten, die die deutsche Sprache Mark Twain bereitete, erlernte er sie, mühsam zwar, aber doch zu einem so hohen Grade, dass er ohne Probleme den Struwwelpeter ins Englische übersetzen konnte.
Mark Twain und Deutschland, Mark Twain und das Neckartal, Mark Twain und Hirschhorn: trotz aller Widrigkeiten, sei es durch zu laute Opern, kenternde Flöße und ausgestopfte Tiere, die die Nachtruhe rauben – Mark Twain war begeistert von Deutschland und seinen Menschen mit all ihren Eigenarten, und das sollte sich bis zu seinem Tode nicht ändern.
Die Menagerie des Carl Langbein
Sie bewunderte Jane Austen, war befreundet mit Charlotte Brontë und wurde selbst zu einer der meistgelesenen Autorinnen des 19. Jahrhunderts: Elizabeth Cleghorn Gaskell (1810–1865). Gaskells Romane und Erzählungen beschreiben das Bürgertum des 19. Jahrhunderts in einem meist leicht melancholischen, aber auch grotesken Stil. Charles Dickens fand Gefallen an der Ausdrucksweise, den Sujets und der Vraisemblance der Gaskell und veröffentlichte in den Jahren 1851 bis 1853 Texte von ihr in seiner literarischen Zeitschrift Household Words. Elizabeth Gaskells große Leidenschaft war das Reisen und so wie es ihr manchmal schmaler Geldbeutel zuließ, besuchte sie fremde Länder. Speziell Deutschland, dessen »schreckliche Sprache« sie gut beherrschte, war immer wieder ihr Ziel. Natürlich mussten es der Rhein und seine Burgenlandschaften sein, aber auch Heidelberg und das romantische Neckartal wurden gerne angesteuert.
Mehr zufällig entdeckte sie um 1859 das Städtchen Heppenheim und kehrte dort in den Gasthof Halber Mond ein. Der Aufenthalt inspirierte sie zu ihrer romantischen Kurzgeschichte Sechs Wochen in Heppenheim (Six weeks in Heppenheim). Darin spielt ein vielbesuchtes Wirtshaus ebenso eine wichtige Rolle wie die umliegenden Weinberge. In der Herberge selbst gesellen sich allerlei verschiedenartige Charaktere zusammen: der etwas verschrobene, zum Wandern angereiste Engländer, der zupackende Wirt des Typs »raue Schale, herzensguter Kern« und die junge, hübsche Saaltochter, mit einem Geheimnis umwoben, das ihr so manches Mal die Tränen in die Augen treibt. Die kleine Geschichte erschien erstmals 1862 im Cornhill Magazine und machte Heppenheim und die Bergstraße in England schlagartig bekannt.
Noch berühmter wurde in diesem Zuge natürlich auch der Gasthof Halber Mond, der schon 1847 durch die Heppenheimer Versammlung in den Schlagzeilen stand. Sechs Wochen in Heppenheim war in gedruckter Form jahrelang nicht lieferbar, doch Dank der Übersetzerin Christina Neth, die den Text neu übertragen hat, ist die kleine Erzählung wieder als Book on Demand erhältlich.
Hermann Hesse war begeistert. »Ein prächtiges Stück Volksgeschichte« sei der erste Roman Michael Hely von Adam Karrillon (1853–1938), »in allen Fasern echt und lebend«. Das war Labsal in den Ohren des Sohnes eines kaum begüterten Dorfschullehrers. Der Hely erschien im Jahre 1900, da war es noch ein weiter und steiniger Weg, bis die Kritiker den Schriftsteller Karrillon ernst nahmen. Erst nach seinem Hauptwerk Die Mühle zu Husterloh nannten die Rezensenten den Arzt aus Wald-Michelbach auch im Zusammenhang mit bekannten Namen wie Hermann Löns oder Gorch Fock. Denn im Übergang der literarischen Strömung des Naturalismus hin zum Expressionismus waren die dichterischen Heimatromane beim Publikum sehr beliebt und von der Literaturkritik blieben sie nicht unbeachtet. »Heimatroman« bedeutete noch nicht Heftchenschnulze, sondern ein Stück starke Volksliteratur, gelesen von der Arbeiterschaft der prosperierenden Industrie bis hin zur liberalen Mittelschicht. Schrieb Löns in männlich-vitalem Stil rund um das Lebenselement Natur, war es bei Gorch Fock die Seefahrt, die junge Menschen in die Welt hinauszieht und das Fernweh befriedigt.
Das prägende Umfeld bei Adam Karrillon war der Odenwald und die oftmals mehr als einfachen Lebensbedingungen der dortigen Bevölkerung. Nah am Menschen beschreibt er im Hely, wie der bettelarme Odenwaldbauer im Frühjahr seine Sense schärft, sich »das Wetzsteinfutteral zwischen die Hinterbacken klemmt« und für Wochen loszieht, um im fruchtbaren Rheintal Lohn und Brot zu suchen. Diese Armut kannte Karrillon aus Kindertagen nur zu gut, gerade deshalb gelangen ihm in seinen Romanen glaubhafte Schilderungen und lebensnahe Szenerien.
Diesen Eindruck teilten auch die Herren des Landtages des damaligen Volksstaates Hessen. 1923 stifteten sie, natürlich zu Ehren an Hessens großen Schriftstellersohn Georg Büchner, den Preis, der sich zu einer der renommiertesten Literaturauszeichnungen Deutschlands entwickeln sollte. Erster Preisträger wurde: Adam Karrillon, der ihn zusammen mit dem ebenfalls ausgezeichneten Komponisten Arnold Ludwig Mendelssohn, entgegennahm. Das Überwaldmuseum in Wald-Michelbach hat im oberen Stockwerk ein historisches Karrillon-Zimmer eingerichtet, genuin und sehr authentisch.
Zugegeben, der Nabel der hessischen Literaturgeschichte ist das gemütliche Erbach im Odenwald nicht. Dennoch gibt es erstaunliche Berührungspunkte zur großen und kleinen Dichtkunst. Freilich nicht belegbar, aber möglich, ist 1518 eine Begegnung des Erbacher Grafen Eberhard I. mit Martin Luther. Diese soll im markanten Gasthof Zum Riesen in Miltenberg am Main stattgefunden haben. Dort soll der Mönch Martin in den Nachtstunden so inbrünstig gebetet haben, dass der Graf kein Auge zumachen konnte. Luther hinterließ wohl einen nachhaltigen Eindruck auf den Adeligen, denn dieser lud ihn nach Schloss Erbach ein und bekannte sich schließlich öffentlich zu den Lehren Luthers.
Eine weitere, beeindruckende Persönlichkeit im südlichsten Teil Hessens war Amalia Katharina Gräfin von Erbach (1640–1697), eine geborene Hoheit von Waldeck-Eisenberg. Erzogen im Benediktinerinnen-Kloster Schaaken im heutigen Kreis Waldeck-Frankenberg, legte sie 1692 eine Sammlung von Kirchenliedern vor, in der speziell ein Danklied (Mein Herze soll nun loben, den Herren, seinen Gott) vom festen Glauben der Gräfin zeugt.
In neuerer Zeit machte der »literarische Kabarettist« Ernst von Wolzogen (1855–1934) in Erbach von sich reden. Der Gründer des Überbrettl, des ersten Kabaretts auf deutschem Boden, veröffentlichte 1925 den Roman Wenn die alten Türme stürzen, dem trotz seines recht flachen Niveaus umgehend die Rolle eines Schlüsselromans über das gräfliche Haus in Erbach zugesprochen wurde. Von Wolzogen, der während des Ersten Weltkrieges einige Zeit in Erbach stationiert war, schrieb in dem Buch von einer innigen Liebe eines Grafen zu einer Bürgerlichen. Die Erbacher Erlauchten waren not amused, kauften die gesamte Auflage auf und der Roman erschien erst wieder im Jahre 1996.
Zu Erbachs Literaten gehört auch Rudolf Hagelstange (*1912), der bis zu seinem Tod 1984 in Erbach lebte, sowie Christine Brückner (1921–1996), die mit ihrem Mann Otto Heinrich Kühner 1973 den Odenwald besuchte und darüber einen kleinen Aufsatz verfasste, zu finden im Band Erfahren und erwandert (1979). Der Schauplatz des Wolzogen-Romans, Schloss Erbach, beheimatet heute eines der außergewöhnlichsten Museen der Republik: das Deutsche Elfenbeinmuseum.
Die Liste ist lang und beeindruckend. Über Theologie zur Altphilologie, von Rhetorik bis hin zum Thema Recht – zu all diesen Sach- und Fachgebieten findet sich etwas in Michelstadts Nicolaus-Matz-Bibliothek. Für alle, »die da gelehrt seien«, solle die Büchersammlung von Nutzen sein, so die Verfügung des Stifters Nicolaus Matz (1443–1513). Matz, in Michelstadt geboren, lehrte jahrelang an der Freiburger Universität, der er dann auch ab 1475 als Rektor vorstand.
Die Grundsubstanz der Bücherschatzkammer ist die spätmittelalterliche Predigtliteratur der Dominikaner, gut 30 Bibelausgaben in verschiedenen Sprachen und sogenannte Erbauungsliteratur stehen in den einfachen Regalen. Die Sammlung spiegelt die Lehre der katholischen Kirche vor der Reformation wider, hier ist nachzulesen, wie man im 15. Jahrhundert Seelsorge in der Gemeinde praktizierte. Der Bestand der Matz’schen Bibliothek wurde bis ins 18. Jahrhundert durch diverse Schenkungen der Erbacher Grafen erweitert. Dabei wurde weniger auf religiöse Literatur Wert gelegt, eher kamen Bücher zu Themen wie »Humanismus« oder »Rechtswissenschaften« hinzu.
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Die Nicolaus-Matz-Bibliothek war ursprünglich eine Kettenbibliothek, eine bis ins 18. Jahrhundert verbreitete Form. Die Bezeichnung rührt von einer einfachen, aber effektiven Diebstahlsicherung der wertvollen Schriften her: Um sie vor Langfingern zu schützen, kettete man die Bücher an den Lesepulten an.