Cover-Bild von Im Reich der Königin von Saba

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© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1999

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Härtel, München

Innenteilfotos: Carmen Rohrbach

Karte: Margret Prietzsch, Gröbenzell

Satz der arabischen Schrift: Fremdsprachensetzerei Schönwald, Essen

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Covermotiv: Aglaja Stirn »Jemenitin im Bazar von Taizz«

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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Karte des Jemen

 

Vorwort

Ein wichtiges Ziel des Reisens war schon immer die Erforschung menschlicher Stätten, das Kennenlernen fremder Traditionen, Bräuche und Sitten. Das Reisen brachte verschiedene Kulturen, Literaturen, Künste und Lebensweisen ins Bewußtsein, zahlreiche Bilder von dieser oder jener Gesellschaft wurden zurechtgerückt, nachdem sie lange Zeit unklar oder gar verfälscht gewesen waren.

Carmen Rohrbach ist während ihrer Expedition in den Jemen von Ort zu Ort gezogen, durch Täler und Gebirge, Wüsten und Ebenen, immer auf dem Rücken ihres Kamels Al Wasim. Ihr Ziel war, die jemenitische Gesellschaft zu beschreiben, wie sie tatsächlich ist. Was Carmen Rohrbach mit eigenen Augen von den Lebensbedingungen im Jemen, der Kultur dieses Landes, der Mentalität der Leute und ihrer Lebensweise gesehen hat, ist in dieses Buch eingegangen – ein klarer Beweis dafür, welch wichtige Rolle das Reisen beim Auffinden von Fakten spielt.

Seit langem schon ist der Jemen ein beliebtes Ziel für Touristen und sonstige Besucher, und so kann dieses Buch den Reisenden eine offene und ehrliche Beschreibung bieten, die von Bewunderung und Achtung getragen ist. Wobei sich sein Inhalt sehr von den Bildern und Vorstellungen unterscheidet, die sich fälschlicherweise in den Köpfen einiger Westler festgesetzt haben.

Beim Lesen dieser inhaltsreichen Schilderung wird auch klar, wie stark der Bezug ist zwischen dem Reisen und dem Bedürfnis des Menschen, sich selbst zu erforschen und alle die Dinge, die um ihn herum geschehen. Es ist ein Bericht, aus dem der Leser viele Ideen und Gedanken für sein eigenes Leben schöpfen kann. Ich hoffe, daß dieses nützliche Buch möglichst viele Leser findet und so das angestrebte Ziel der Autorin erreicht wird.

Amat Al-Aleem Ali Asusowa

Ministerium für Information und Kultur, Jemen

 

Ich ging nicht in die arabische Wüste, um Pflanzen zu sammeln oder eine Karte zu zeichnen, all das ergab sich zufällig nebenher. In meinem tiefsten Inneren wußte ich, daß meine Leistung entwertet würde, wenn ich über meine Reisen schriebe.

Wilfred Thesiger »Die Brunnen der Wüste«

Vorgeschichte

 

Träume, die sich erfüllen, machen das Leben ärmer – heißt es. Für mich hingegen bedeutet jeder Traum, den ich in erlebte Gegenwart verwandeln konnte, die Öffnung neuer Räume. Es ist mir deshalb ein Vergnügen, fast schon eine Sucht, mein Dasein ganz der Wahrmachung von Träumen zu widmen. Allerdings – die Vorstellung, mit einem Kamel durch den Jemen zu wandern, blieb für lange Zeit wirklich nur ein Traum. Aber er hat mich immer wieder wachgerufen, und eines Tages füllte er sich mit Leben.

Meine erste Begegnung mit dem Jemen liegt weit zurück. Damals war ich noch ein Kind und nährte meine Sehnsucht nach der Ferne mit Büchern über abenteuerliche Entdeckungsreisen. Sie entzündeten in mir ein Feuer, dessen Glut nie mehr erlosch: In meiner Phantasie gab es mächtige Königreiche und blühende Gärten inmitten der Wüste, endlose Kamelkarawanen, schwer beladen mit den Kostbarkeiten des Orients, und vor allem das zauberhafte Bild der Königin von Saba.

Ich wollte es den mutigen Helden meiner Bücher gleichtun: ferne Länder erforschen, unbekannte Völker kennenlernen und allen Gefahren standhalten. Sie waren furchtlose Einzelgänger, denen das Entdecken ein höchst persönliches Abenteuer bedeutet hatte, und viele verloren ihr Leben bei Überfällen, Mordanschlägen und Krankheiten. Statt mich abzuschrecken, steigerte dies nur die Verlockungen am wilden Wagnis.

Sollte ich mich auch als Araber verkleiden wie der Italiener Ludovico di Varthema, der als erster Europäer 1503 in den Jemen eindrang? Er wurde allerdings schnell entlarvt und als Gefangener nach Sana’a verschleppt. Mit viel Glück kam er frei und konnte so ein Buch über sein Abenteuer schreiben.

Um sich ins Land zu schmuggeln, hatten sich fast alle getarnt, manche benutzten sogar dunkle Haftschalen, um ihre blauen Augen zu vertuschen. Vor dem Spiegel versuchte ich mich in einen ansehnlichen Araber zu verwandeln, aber zwecklos. Das Spiegelbild zeigte mir nur die lächerliche Faschingsfigur eines »Kleinen Muck«. Daher las ich vorerst weiter in meinen Büchern – vielleicht stieß ich doch noch auf eine nützliche Idee für mich.

1536 besetzten türkische Osmanen das Land und blieben 100 Jahre lang. Zwei portugiesische Missionare ließen sich von den Gefahren nicht abschrecken und versuchten im Jahr 1589 sogar ohne Verkleidung in den Jemen zu gelangen. Für mich waren sie zum Nachahmen ungeeignet, denn Missionarin würde ich ganz bestimmt nicht werden. Die Jesuiten mußten für ihren Mut bitter büßen. Fünf lange Jahre dauerte ihre Gefangenschaft, über die Pater Pero Pais später einen eindrucksvollen Bericht verfaßte.

Im Jahr 1616 war Pieter van den Broecke, ein holländischer Kapitän, einer der wenigen, dem während der osmanischen Herrschaft die Ehre zuteil wurde, willkommener Gast im Palast des Pascha zu sein. Von ihm erhoffte sich der Herrscher einträgliche Handelsgeschäfte. Doch auch dies war für mich kein erfolgversprechender Berufsweg. Zum Kapitän fehlten mir Statur und Seefestigkeit und zum erfolgreichen Händler das Rechentalent.

Nach Ende der osmanischen Besetzung übernahmen Imame die Herrschaft im nördlichen Teil des Jemen. Als weltliche und religiöse Oberhäupter vereinigten sie in sich die doppelte Macht. Auf das Abendland übertragen wären sie Papst und König in einer Person gewesen. Die Imame waren äußerst mißtrauisch und wollten ihr Land vor schädlichen Einflüssen aus der Fremde abriegeln. Ohne ihre Genehmigung durfte kein Ausländer den Jemen betreten, und die wenigen offiziellen Gäste wurden streng bewacht. Bis 1962 – so lange herrschte der letzte Imam – war freies Reisen im Nordjemen verboten. Doch die wahren Abenteurer ließen sich nicht beirren und schlichen sich selbst bei Lebensgefahr ins Land ihrer Träume.

Carsten Niebuhr war eine Ausnahme unter den frühen Forschungsreisenden. Sein Vorbild regte mich dazu an, Wissenschaftlerin zu werden, denn Niebuhr war Mitglied der ersten wissenschaftlichen Expedition im Auftrag des Königs von Dänemark. Im Jahr 1761 bestieg das fünf Mann zählende Forschungsteam wohlgemut ein Schiff in Kopenhagen, aber in Ägypten verpaßten sie den Anschluß – das vorgesehene Schiff fuhr ohne sie ab. Erst ein Jahr und zehn Monate später erreichten sie die Küste des Jemen. Nach langer Wartezeit im feuchtheißen Küstenklima hatten sie endlich Glück. Der damals herrschende Imam liebte Geschenke, vor allem Spieluhren und andere kleine Wunderwerke, und so ließ er die Forscher zu seinem Regierungssitz nach Sana’a geleiten.

Carsten Niebuhr verstand es, sich der fremden Umgebung und Lebensweise anzupassen. Er kleidete sich in arabische Gewänder, nicht um sich zu verstecken, sondern weil sie dem Klima angemessen und seinen Zwecken am dienlichsten waren. Er aß die landesübliche Kost und reiste auf dem Rücken eines Esels durch das Land. Erst nach sechs Jahren – als einziger Überlebender seines Teams – kehrte er mit wertvollen Informationen über den bis dahin unbekannten Jemen in seine norddeutsche Heimat zurück. Dort schrieb er Bücher, die später mein Leben beeinflussen sollten.

50 Jahre nach Carsten Niebuhr reiste ein tollkühner Wissenschaftler in den Jemen: der ostfriesische Arabist und Biologe Ulrich Jasper Seetzen. Ihn interessierten vor allem antike Inschriften. Eigentlich sollte mir der Wagemut von Seetzen imponieren, doch mir mißfiel der Fanatismus, mit dem er sich ausschließlich auf das Sammeln von Inschriften versteifte, ohne auf die Gefühle seiner Gastgeber Rücksicht zu nehmen. Später erfuhr ich, wie hilfsbereit Jemeniten sein können, und so nahm ich mir viel Zeit für Gespräche und Debatten, erklärte ihnen Ziel und Zweck meiner Reise, befolgte ihre Ratschläge und gehorchte ihren Anordnungen – allerdings mit einer Ausnahme.

Seetzen hatte sich anders verhalten, als er 1810 in den Jemen kam, denn er versuchte die Einheimischen mit der Tracht eines Derwischs zu täuschen. Derwische sind Angehörige eines asketischen und mystischen islamischen Ordens. Der Forscher wurde durchschaut, als er in aller Eile alte Inschriften in Moscheemauern kopierte. Von da an beobachteten ihn die Jemeniten argwöhnisch, ohne daß er dessen gewahr wurde. Als dann ausgerechnet die Brunnen versiegten, deren Inschriftensteine er freigelegt und mitgenommen hatte, war das Maß voll. Der Forscher wurde verhaftet und böswilliger Zauberei beschuldigt. Seine Aufzeichnungen in der für Araber unbegreiflichen Schrift verstärkten den Verdacht, und Reagenzgläser mit in Spiritus konservierten Schlangen und Eidechsen, getrocknete Blätter, Zweige und Blüten, außerdem kleine Tierskelette, lieferten den scheinbaren Beweis für Seetzens obskure Tätigkeit. Sein Hab und Gut, die gesamte wissenschaftliche Sammlung, die Tagebücher, alles wurde verbrannt. Seetzen starb bald darauf im Dezember 1811. Er sei vergiftet worden, wird behauptet. Aber die geheimnisvollen Inschriften, von denen er Kopien an seine Mäzene hatte schicken können, entzündeten in Europa ein Forschungsfieber unter den Gelehrten. Viele träumten davon, eine alte Sprache zu entdecken und zu entziffern.

Besonders erfolgreich war der Franzose Louis Arnaud, der als Apotheker und Arzt im Dienst des Imam stand. Er nutzte im Jahr 1843 seine privilegierte Stellung und reiste heimlich mit Gefährten und jemenitischen Führern nach Marib, der Ruinenstadt des ehemaligen Königreiches Saba. Die Fremden wurden von den Einheimischen mit großer Herzlichkeit begrüßt und als Gäste willkommen geheißen. Alles ging gut – bis Arnaud Inschriften auf alten Steinen entdeckte. Sie waren für den Hausbau des Dorfes verwendet worden und stammten aus der antiken Königsstadt. Arnaud brachte es fertig, zwei dieser Epigraphe inmitten der Dorfbewohner zu kopieren, die ihn unter lautem Geschrei und heftigen Verwünschungen umringten. Auf den Flachdächern standen die Frauen und schrien: »Jagt den Ungläubigen fort, diesen Zauberer, der Unglück über unser Dorf bringt.«

Was sollte ich von all diesen eifrigen Sammlern halten? Konnten sie mir ein Vorbild sein? Ich bewunderte ihre kühne Entschlossenheit und die leidenschaftliche Hingabe an die selbstgestellte Aufgabe. Ihnen verdanken wir die Kunde über die geheimnisvollen Königreiche Saba, Ma’in, Qataban, Aussan, Hadramaut und Himjar. Beflügelt vom Entdeckerdrang setzten sie sich über alle Hindernisse hinweg, und es war ihnen gleich, was die Jemeniten dachten und fühlten. Ich wollte es einmal besser machen. Nicht die Altertümer waren mir wichtig, sondern die Menschen. Sie wollte ich kennenlernen, bei ihnen leben und ihren Alltag mit ihnen teilen. Damals konnte ich noch nicht ahnen, in welche Bedrängnis auch ich dabei geraten würde.

 

Zu Beginn unseres Jahrhunderts erschienen die ersten fremden Frauen im Jemen, zunächst als Begleiterinnen ihrer Männer. Und endlich begegnete mir in ihren Büchern die Frau, die mir den Weg weisen sollte: Freya Stark. Im Jahr 1934 reiste sie allein, nur begleitet von ortskundigen Beduinen, entlang der Route, die in der Antike als Weihrauchstraße berühmt war. Nie zuvor hatte eine alleinstehende Frau ein solches Unternehmen gewagt, war in die archaische Welt der Nomaden und Feudalherren, der Beduinen und Stammesfürsten, der Sultane und Scheichs eingedrungen, hatte zusammen mit ihnen gelebt und herzliche Freundschaften geschlossen. Freya Stark, 1893 in Paris geboren, war eine außergewöhnliche Frau, die sich entschlossen über die Konventionen der Gesellschaft hinwegsetzte. Selbstbewußt entschied sie sich für ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit. Sie lernte Arabisch und reiste 1927 allein nach Bagdad, um dort ihre Studien fortzusetzen. Anders als die übrigen Europäer lebte sie im arabischen Viertel der Stadt, denn ein wichtiges Anliegen war für sie der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Mit Instinkt und Klugheit fand sie die richtige Balance im Umgang mit den Menschen. Sie organisierte Expeditionen in unerschlossene Gebiete, meist allein mit einheimischen Führern. Reisen war für Freya Stark ein Mittel, hinter den Schleier unseres Daseins zu blicken.

Die Reisenden, die mir den Weg in den Jemen wiesen und deren Berichte sich meinem Gedächtnis einprägten, leben alle nicht mehr. Auch Freya Stark starb 1994, sie wurde 101 Jahre alt. Aber ihre Spuren sind unvergänglich, solange andere ihnen folgen.

Trotz Freya Starks Vorbild war für mich der Weg besonders kompliziert. Zwar bereitete ich mich schon als Kind zielstrebig auf Expeditionen vor, härtete mich gegen Kälte, Hunger und Durst ab, lernte später Jagen, Reiten, Klettern und Tauchen, studierte Biologie, weil ich auf einen Forschungsauftrag im Ausland hoffte – aber alles vergeblich, denn mein Land war hermetisch abgeschlossen, ähnlich dem Jemen unter den Imamen. Niemals hätte ich meine Träume verwirklichen können. Aber ich konnte nicht auf sie verzichten, denn sie waren mein Lebenssinn. Es gab für mich keine andere Aufgabe im Leben als reisen, forschen, beobachten und berichten. Doch die geschlossenen Grenzen der DDR drohten mein Leben zu zerstören. Auf dem Weg in den Jemen mußte ich zuerst durch die Ostsee schwimmen. Nach nur einem halben Jahr in Freiheit war ich Mitglied einer Bergsteiger-Expedition im Himalaya. Aber das war nicht das Abenteuer, das ich suchte. In der Gruppe war ich geschützt und nicht der Natur ausgeliefert, wie ich es brauchte, um sie in ihrer Wahrheit, Schönheit und auch Gewalt zu erleben.

Ich kletterte auf den Mount Kenya, zeltete auf dem Kilimandscharo, fuhr mit dem Kajak die Wasserfälle in Mexiko hinunter, aber erst allein, in einer lebensfeindlichen Umwelt, sammle ich die für mich wichtigen Erfahrungen. Immer zu Fuß unterwegs, bemüht, wenig »Spuren« zu hinterlassen, wanderte ich durch die Anden von Ecuador, durch Feuerland und die Philippinen, lebte bei Indianern im Gebirge und bei Kopfjägern im Dschungel. Ein Jahr lang erforschte ich allein auf einer Insel das Leben der Meerechsen auf Galapagos und zog mit meinem Pferd Tuco durch Argentinien.

Als ich meine Art zu reisen in Asien, Afrika und Amerika erprobt hatte, glaubte ich, reif zu sein für meine Expedition nach Arabien. Prickelnd wie niemals zuvor empfand ich die Ungewißheit und den Reiz eines wahren Abenteuers. Ich würde ein Land kennenlernen, das mir nur schemenhaft in den Büchern erschienen war. Ich erwartete mir viel vom Jemen.

Würde es aber möglich sein, allein durch das Land zu wandern? Niemals zuvor war ein Fremder ohne einheimische Führer gereist, und ausgerechnet ein Kamel hatte ich als Lastenträger gewählt, ein Tier mit unbezähmbarem Eigensinn und Trotz. Ich aber hing diesem Plan an, gerade weil er schier unmöglich zu verwirklichen war.

Sana’a – Goldene Stadt im Morgenlicht

 

Das stolze Ghumdan steigt zur Höhe des Himmels, in zwanzig Stockwerken; die Wolken sind sein Turban.

Hamdani (10. Jh.) über den sagenhaften Palast in Sana’a

 

Wie in einem Kaleidoskop treten Gesichter und Gestalten hervor, wirbeln durcheinander. Aus der Erinnerung tauchen sie auf, für einen Moment sehe ich sie deutlich, höre jemanden lachen. Von überall strömt mir Herzlichkeit und Zuneigung entgegen, menschliche Wärme im Übermaß. Ich denke an den Aufenthalt im Lager der Beduinen und wie bestürzt sie waren, als ich kein Fleisch essen wollte. Die Alte, die nachts ihr kaltes Lager unter der dünnen Plane mit mir teilte. Ich erinnere mich an Hochzeitsfeiern und Tänze, an prachtvoll geschmückte Frauen oder an Frauen in dunklen, fensterlosen Küchen, wie sie mit glühendheißen Töpfen und Tiegeln hantierten und beim Abschmecken den Finger in brodelnde Brühen tauchten. Ich denke zurück an das Unglück, als mein Kamel entflohen war und wir im Landrover einen Tag lang hinter ihm herjagten, und an den ehrwürdigen Scheich, der in seinem blütenweißen Gewand auf die Kühlerhaube sprang. Ich sehe Zayd wieselflink auf einen Baum klettern und Holz für das Lagerfeuer schlagen, während Salem derweil den Brotteig auf einem flachen Stein knetet. Ich höre Nasser hoch vom Kamelrücken mit seiner Fistelstimme selbsterfundene Lieder trällern. Nasser, der mich wegen seiner Torheit zur Verzweiflung trieb und dann wieder mit seinen Späßen zum Lachen brachte. Oder meine Flucht, als die Polizei zwei Tage lang suchte, bis sie mich unter einem Baum beim Spaghettikochen fand und mich wunderbarerweise mit meinem Kamel allein weiterziehen ließ. Ich denke an Rechmar, die unermüdlich versuchte, mich zur Muslima zu bekehren, damit ich nicht in der Hölle braten müsse. Ich sehe die vielen beeindruckenden Frauen, vor allem Habiba, meine Freundin.

Begonnen aber hatte alles mit der Sprachenschule in Sana’a. Wie war das eigentlich gewesen, als ich noch kein Wort Arabisch konnte?

Gleich einer Festungsmauer trennte mich die schwierige Sprache von meinem Gastland. Die Zugbrücke war hochgezogen und das Tor geschlossen. Vergeblich die Jahre des Selbststudiums mit Tonkassetten und Büchern. Die Wörter klebten mir wie Fremdkörper im Mund und ließen sich nicht aussprechen. Die unsägliche Mühsal des Anfangs liegt weit zurück, aber an meine jemenitische Lehrerin Karima erinnere ich mich genau. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich Wort für Wort den gläsernen Berg hinauf. Sie hielt mich, wenn ich abrutschte, und plötzlich wurde es leicht, und die Wörter sprudelten hervor.

 

Ich erwache in einem wunderschönen Raum. Er ist ohne jeden Schmuck, und doch jubele ich innerlich vor Entzücken. Ich fühle mich wie in einem zauberhaften Glaspalast. Die Fenster reichen bis zum Fußboden, und ich erblicke das Panorama von Sana’a vergoldet im Morgenlicht. Es gibt Augenblicke im Leben, die vergißt man nie mehr. Sie prägen sich unauslöschlich dem Bewußtsein ein. Dieser erste Blick auf Sana’a, die Hauptstadt des Jemen, ist so ein Augenblick.

Tumult und Getöse, gellende Schreie haben mich aus dem Schlaf gerissen. Trunken vor Müdigkeit wehrte ich mich gegen das Aufwachen. Aber die dröhnenden Stimmen waren unerbittlich. Sie bohrten sich in meine Ohren, krallten sich in das Gehirn und rissen mich in den neuen Tag hinein, in den ersten Tag meines Abenteuers im Jemen. Aus allen Himmelsrichtungen, von zahlreichen Moscheen hallen die Rufe der Muezzins: »Allahu akbar!« Die Stimmen überlagern sich, ekstatische Weisen mischen sich mit schwermütigen Melodien, schrille Töne mit melodischen Gesängen zu einer mächtigen Symphonie. Die Muslime werden zum Gebet gerufen. Ich hebe den Kopf und sehe von meiner Matratze am Boden eine Stadt wie aus einem Traum. Die hohen, schlanken Häuser erscheinen mir wie Märchenschlösser. Die dunklen Steinfassaden und die braunen Ziegelwände sind verziert mit weißen Stukkaturen, die sich um jedes Fenster, um jeden Balkon ranken wie ein Gewebe aus feinem Spitzenwerk. Über den Fenstern wölben sich Rundbögen, ausgelegt mit Alabaster und farbigem Glas. Die schneeweißen Kuppeln der Moscheen, die schlanken Minarette und die grünen Gärten zwischen den Turmhäusern steigern den zauberhaften Anblick. Die Phantasien aus Tausendundeiner Nacht scheinen mir greifbar, fast unheimlich nah und gegenwärtig.

Gestern nacht bin ich in Sana’a gelandet. Ich war die einzige Europäerin, aber niemand schien sich an meiner fremdartigen Erscheinung zu stören. Als ich durch die Sperre trat, sah ich ihn sofort, den kleinen Zettel mit den drei Buchstaben YLC, und ergänzte sie zu Yemen Language Center, die Sprachenschule, bei der ich mich zum Arabischunterricht angemeldet hatte. Die drei Initialen waren auf eine herausgerissene Heftseite gekritzelt, die ein Jemenit zierlich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Der Mann hatte funkelnde schwarze Augen, trug ein Tuch lässig um den Kopf geschlungen, sein langes, weißes Gewand wurde von einem goldbestickten Gürtel gerafft, in dem ein Dolch steckte.

»Salam aleikum«, sagte ich beklommen.

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Wa aleikum as-salam!« erwiderte er und winkte mir, ihm zum Fahrzeug zu folgen. Wir rollten auf Sana’a zu. Die Hauptstadt war in Dunkel gehüllt, nur schemenhaft konnte ich im Licht der Scheinwerfer die Fassaden der Häuser erkennen. Der Fahrer erzählte allerlei auf arabisch, bis er einsah, daß ich ihn nicht verstand. Schließlich hielten wir in einer Gasse vor einem turmhohen Gebäude. Der Mann hatte drei Schlüssel. Mit dem ersten öffnete er das große Tor zum Innenhof, mit dem zweiten die schwere Holztür zum Haus, und nachdem wir über eine Wendeltreppe ins oberste Stockwerk gelangt waren, mit dem dritten eine Zimmertür. Er reichte mir den Ring mit den drei Schlüsseln und verabschiedete sich:

»Ma’a-salama!«

Ich war allein. Allein in einem fremden Land, einer fremden Stadt, einem fremden Zimmer. So spät in der Nacht schienen alle Bewohner längst zur Ruhe gegangen zu sein. Zu müde, mir weiter Gedanken zu machen, ließ ich mich auf die am Boden liegende Matratze fallen und schlief sofort ein.

Jetzt, am Morgen des neuen Tages, fühle ich mich ein wenig schwindelig. Wahrscheinlich ist es wegen der ungewohnten Höhe, denn Sana’a liegt auf einem 2 200 Meter hohen Gebirgsplateau. Ich sehe mich um in dem Raum, der für die nächsten zehn Wochen mein Studierzimmer und Zuhause sein wird. Er ist vier Meter lang, drei Meter breit und sparsam eingerichtet. An der Stirnseite steht ein kleiner Schreibtisch mit Leselampe, daneben ein Kleiderschrank aus Stoff, am Boden ein Kokosläufer, auf dem die Schlafmatratze liegt. An der etwa drei Meter hohen Decke fallen die mächtigen, querverlaufenden Balken auf. Sie sind weiß gekalkt, ebenso die Wände, in die Nischen, Konsolen und Simse eingearbeitet sind, die das Fehlen von Regalen und Schränken geschmackvoll ausgleichen. Das Schönste am Raum aber sind die bis zum Boden reichenden Fensterreihen mit dem Blick auf Sana’a. Darüber wölben sich bunte Oberlichter. Die Sonne scheint durch das farbige Glas, und ein zauberhaftes Licht huscht verspielt über die weißen Wände.

Es ist still in dem hohen Haus, und ich begebe mich auf die Suche nach den Bewohnern. Überall Türen mit arabischen Zahlen. Ich klopfe an, manche sind verschlossen, andere offen, aber nirgendwo ein Mensch. Inzwischen habe ich ziemlichen Hunger und vor allem Durst, denn zuletzt habe ich im Flugzeug etwas zu mir genommen. Ich werde also Geld umtauschen und dann einkaufen, denn hier im Wohnhaus hat zwar jeder Sprachschüler freie Unterkunft, muß sich aber selbst um alles kümmern. Niemand ist da, der den Ankömmling einführt, statt dessen liegt auf dem Tisch eine Info-Mappe in Englisch, der Leitfaden in der Fremde. Ich stecke meine drei Schlüssel in die Tasche und mache mich auf zum Erkundungsgang durch die Stadt bis zum weit entfernten Schulgebäude. Als Wegweiser dient ein handgezeichneter Straßenplan aus der Mappe.

Schwarze Milane kreisen am Himmel, irgendwo hinter den geschlossenen Fassaden meckern Ziegen, Hühner gackern und ein Hahn kräht. Eine Hauptstadt mit ländlichen Geräuschen. Mir ist seltsam, fast wie in einem Traum zumute, als ich durch die fremde, märchenhafte Stadt wandere mit ihren Minaretten, Kuppeln und Turmhäusern, deren Ziegelfassaden mit weißem Dekor wie eine Torte verziert sind. Die Straßen sind schmal, und doch zwängen sich Fahrzeuge hindurch, stauen sich und verpesten die Luft mit Abgasen. Diese zahlreichen Autos wollen gar nicht so recht in das Bild meiner Märchenstadt pas sen. Ich weiche aus in verwinkelte Nebenstraßen. Die Altstadt von Sana’a ist gebaut wie ein Labyrinth. Straßen und Häuser sind ineinander verschachtelt, manchmal endet eine Gasse vor einer Hauswand, und ich muß umkehren. Der Stadtplan ist mir hier keine Hilfe mehr. Dennoch fürchte ich nicht, mich zu verirren. Ich aktiviere einfach meinen Orientierungssinn, den ich bei Wanderungen in Urwäldern erprobt habe. Ich weiß die Richtung, aus der ich gekommen bin, und diejenige, in der die Schule liegen muß. Zwischen diesen beiden Fixpunkten lasse ich mich treiben. So kann ich mich mit wachen Sinnen auf die Gerüche und Geräusche, Farben und Formen meiner Umgebung konzentrieren. Mir fallen die Messingklopfer an jeder Tür auf, mit denen sich Besucher klappernd bemerkbar machen. Straßennamen und Hausnummern gibt es hier nicht. Die unteren Etagen haben keine Fenster, höchstens Luftlöcher. Erst in den oberen Stockwerken sind Fensterluken eingesetzt, oft verkleidet mit einem Holzgitter.

Weit hallt das Lachen der Kinder, die sich in den Gassen mit Hüpf- und Fangspielen vergnügen. Männer hocken vor ihren Haustüren, andere schlendern Hand in Hand umher. Sie wirken auf mich wie Darsteller aus einem exotischen Abenteuerfilm. Mit malerisch um den Kopf geschlungenen Tüchern, bunten Röcken oder weißen Gewändern, von einem bestickten Gürtel gerafft, in dem der Krummdolch steckt, und den schwarzen Augen in braunen, hageren Gesichtern mit wilden, schwarzen Haaren, scheinen sie Piraten oder orientalische Märchenprinzen zu sein. Niemand scheint mich besonders zu beachten. Ich empfinde es als angenehm, durch die fremde Stadt zu spazieren, so als wäre ich schon oft hier gewesen.

Frauen gehen selten durch die Gassen. Vom Scheitel bis zur Sohle in Schwarz gehüllt, sind sie gerade deswegen umso auffälliger. Es ist eigenartig, einem Menschen zu begegnen, den man nicht sehen kann; selbst die Schlitze für die Augen sind mit Schleiern verhängt.

Plötzlich versperrt mir eines dieser gesichtslosen Wesen den Weg. Aus dem schwarzen Umhang schnellt eine Hand im schwarzen Handschuh hervor, streckt sich mir zum Gruß entgegen. Und mit kessem Ton fragt eine fröhliche Mädchenstimme in bestem Schulenglisch: »What is your name?« Ich bin so verblüfft, daß mir die Antwort nicht einfällt. Eine zweite schwarze Figur tritt hinzu und sagt forsch: »How do you do?« Und die dritte will wissen: »Do you like Yemen?« Sie amüsieren sich köstlich über meine Verlegenheit, haken sich unter und ziehen kichernd weiter. Ich staune. Meine vorgefaßte Meinung über unterdrückte und ins Haus verbannte Jemenitinnen bekommt einen ersten Riß.

Meine Überlegungen werden abrupt unterbrochen. Ein gewaltiges Dröhnen wie ein Donnerschlag läßt mich zusammenzucken. Ich stehe gerade unter einem Minarett, und der Muezzin hat unvermittelt den Lautsprecher eingeschaltet. Der Gebetsruf wirft mich fast um. Die Stille danach ist köstlich. Das Gehör wird wieder empfänglich, und es ist, als würden die Alltagsgeräusche der Stadt zu neuem Leben erwachen.

Dann stehe ich vor einer hohen Lehmmauer. Ein Schild mit den bereits vertrauten Buchstaben YLC weist mir den Eingang zur Schule. Durch einen engen Durchschlupf gelange ich in den Innenhof. Eingehüllt in schwarze Gewänder sitzen drei Jemenitinnen im Schatten. Ihre Gesichter sind unverschleiert.

»Salam aleikum«, grüße ich verlegen. Die Frauen antworten und lächeln mir aufmunternd zu. Sie sind Lehrerinnen an der Schule. Eine gefällt mir besonders. Umrahmt von schwarzem Tuch scheint ihr Gesicht zu leuchten. Karima heißt sie, erfahre ich, als ich ihr die Hand reiche.

Allerlei Arabisch

 

Hier und da hockt ein bärtiger Patriarch wie aus dem Alten Testament auf einer Türschwelle in jener feierlichen Haltung, wie sie Arabern so oft eigen ist.

Fritz Kortler »Altarabische Träume«

 

Karima schaut mich an, zögert einen Moment, dann streift sie entschlossen ihre Schuhe von den Füßen und schleudert sie mit anmutiger Bewegung ihrer nackten Zehen schwungvoll unter den Tisch.

»Sehr heiß heute«, sagt sie.

Barfuß, aber mit schwarzem Mantel, dem baldu, der bis zu den Knöcheln reicht, und dem Tuch, das ihren Kopf fest umschließt, steht sie vor mir. Karima ist sehr schön. In ihrem ebenmäßigen Gesicht leuchten dunkle Augen. Die schwarze Kleidung beeinträchtigt nicht, sondern betont ihre Schönheit.

Karima unterrichtet mich in Arabisch. Wir sind allein im Klassenraum, da ich die einzige Sprachanfängerin bin. Als ich bei meiner Ankunft die junge Frau im Schulhof sah, wünschte ich sie mir insgeheim als Lehrerin. Wie staunte ich, als sich der Wunsch erfüllte, und ich betrachtete es als gutes Omen. Ach, wäre ich doch niemals so leichtsinnig gewesen, Arabisch lernen zu wollen! Ich bin verzweifelt. Die fremdartige Schrift ist noch das Beste an dieser schweren Sprache. In meinen Ohren klingen alle Wörter ähnlich: aktub, akul, afham, aftah, adfah, arif, aschrab, asaal … Und diese Verben soll ich in Vergangenheitsform und Gegenwart konjugieren können!

Karima lobt mich wegen meines guten Gedächtnisses, aber sie weiß nicht, wie viele Stunden ich Vokabeln lerne, nämlich von früh bis spät. Es zahlt sich aus, denn bald kenne ich die Bezeichnungen für alle Früchte von Ananas bis Zitrone, alle Gemüsesorten von Gurke über Knoblauch bis zur Zwiebel. Im Restaurant lese ich die Speisekarte auf arabisch und kann gefüllten Paprika, Reis und Rindfleisch, Lamm, Fisch und Huhn bestellen, auf der Post einen eingeschriebenen Brief aufgeben oder ein Postschließfach eröffnen. Ich weiß die Uhrzeit mit viertel, halb und zwanzig vor oder nach der vollen Stunde, vermag die arabischen Wochentage und Monate zu sagen und die Zahlen von 1 bis 1 000 in der männlichen und weiblichen Form. Aber – ich kann keinen einzigen Araber verstehen! Auf der Straße oder am Markt lausche ich angestrengt den Gesprächen. Die Leute reden rauh und derb. Es gelingt mir nicht, einzelne Wörter herauszufiltern. In meinen Ohren klingt die Sprache gewalttätig wie eine Kriegstrommel.

Die anderen Sprachschüler haben Jahre an Universitäten Arabisch studiert und wollen hier ihre Kenntnisse vervollkommnen. Es ist für mich kein Trost, daß sie zwar mühelos arabische Bücher lesen, sich aber kaum auf arabisch unterhalten können. Während diese Studenten, die in Gruppen angereist sind, in vier anderen Wohnhäusern untergebracht sind, wohnen in meinem Haus einzelne Studierende: Die Holländerin Anna Chris ist Architektin und hofft auf Anstellung in einem Bauprojekt. Elisabeth kommt aus Schweden und schreibt ihre Dissertation über arabische Frauen. Adele aus Italien studiert Völkerkunde und möchte am liebsten alle Sprachen der Welt lernen. Der Engländer Laurence beschäftigt sich mit dem Islam und ist sogar Muslim geworden. Doménic aus Kanada will sich für den auswärtigen Dienst in arabischen Ländern bewerben, und Nicolai aus Polen war einfach mal neugierig, ein arabisches Land kennenzulernen.

In den ersten Tagen verbringe ich viel Zeit mit den anderen. Wir gehen zum suq einkaufen, am Wochenende besichtigen wir die Umgebung von Sana’a, kochen in der Gemeinschaftsküche, trinken Kaffee im Garten und – unterhalten uns auf englisch! Mein Englisch wird merklich besser. Nur zu gerne vergesse ich dabei die Qualen des Arabischunterrichts. Es ist eine verführerische Gemeinschaft, eine Sprachinsel inmitten des unverständlichen Wortgewirrs.

Um dieser Sprachfalle zu entkommen, schwöre ich mir, kein Wort Englisch, nur noch Arabisch zu reden. Aber außer Salam aleikum weiß ich nicht viel zu sagen. Als Vorbedingung muß ich zuerst meine Hemmungen überwinden.

Ich beginne mit den Kindern. Sobald sie mich auf der Straße erblicken, rufen sie: »Sura! Sura! Galam! Galam! Sura!« Diese Wörter bedeuten: Foto und Kugelschreiber, weil manche Touristen jede Menge Kugelschreiber an Kinder verteilen und gerne fotografieren. Dieses Geschrei war mir lästig gewesen, nun aber warte ich, bis die Kinder mich umringen, stelle Fragen und erzähle, wie ich heiße, woher ich komme und was ich hier mache. Dabei passieren lustige Sprachfehler. Einmal will ich von einem kleinen Mädchen den Namen wissen. Doch statt dessen fragte ich: »Wieviel Kinder hast du?«

Auch der Einkauf von Lebensmitteln ist eine geeignete Bühne für Sprachübungen. Ich beginne mit: »Nuss kilu russ, min fadlack, ein halbes Kilo Reis, bitte.« Bald schon bereitet es mir großes Vergnügen, einzukaufen und zu handeln. Vormittags lerne ich bei Karima, und am Nachmittag probiere ich die neuen Wörter aus. Häufig bummle ich durch die Jamal-Straße. Dort reiht sich Laden an Laden. Die Geschäfte quellen über von Waren: Stoffe, Kleidung, Videos, Fernseher, Kameras, Brillen, Parfüm, Goldschmuck. Nach einer Klassifizierung der UNO gehört der Jemen zu den ärmsten Ländern der Welt – kaum zu glauben angesichts des reichhaltigen Warenangebots und der vielen Käufer.

Amüsiert beobachte ich Frauen beim Einkauf, bei dem sie keineswegs eine sanftmütige Rolle spielen: Die schwarz verschleierte Kundin betritt den Laden wie einen Kampfplatz. Den Verkäufer würdigt sie weder eines Blickes noch eines Grußes. Blitzschnell huschen ihre Augen über die Regale, und schon reißt sie etwas aus der Mitte des Stapels heraus. Als wolle sie sich nicht die Hände schmutzig machen, hält sie die Ware zwischen zwei Fingern weit von sich gestreckt und fragt in herrischem Ton: »Bikam?« Mit abgewandtem Kopf murmelt der Verkäufer den Preis. Entrüstet wirft sie die Ware zurück: »Rrali! Zu teuer!« Sie sucht weiter, reißt Stapel auseinander, befühlt und durchwühlt alles. Kann sie den von ihr gewünschten Preis nicht erzielen, stürmt sie ohne Verabschiedung aus dem Geschäft. Oder sie rafft einige Sachen zusammen und feilscht um einen Rabatt. Obwohl ihr Gesicht vom Schleier verdeckt ist, vermeidet der Verkäufer, die Kundin anzublicken. Er bleibt während des ganzen Theaters seltsam passiv. Will er auf ein günstiges Angebot aufmerksam machen, legt er die Ware wie zufällig auf den Ladentisch, als wäre sie kaum einer Beachtung wert.

 

Auf meinem Heimweg komme ich jeden Tag an einem Mann vorbei, der vor seiner Haustür hockt und freundlich meinen Gruß erwidert. Die Neugier plagt ihn, doch er möchte nicht unhöflich sein und die Ausländerin so einfach ansprechen. Schließlich hat er eine Idee. Er winkt mich heran und fragt: »Kam sa’a

Wie bin ich stolz, daß ich die Frage verstanden habe und antworten kann! Die Uhrzeit, nach der er gefragt hat, ist ihm aber gar nicht wichtig. Wohin ich denn jeden Tag gehe, will er wissen, und lobt mich, wie gut ich schon Arabisch gelernt habe. Es macht ihm Spaß, meine Aussprache zu korrigieren. Hassan, wie der Mann heißt, wird nicht müde, mir die schwierigen Laute seiner Sprache immer wieder vorzusprechen. Von nun an plaudern wir jedesmal, wenn ich vorbeikomme. Hassan läßt sich meine Schulbücher und Hefte zeigen, überprüft meine Kenntnisse und lehrt mich neue Wörter. Eines Tages kommt ein sayid des Weges, ein weißbärtiger Herr mit langem Gewand, prachtvoll besticktem Gürtel, einem Krummdolch in silberner Scheide und einem goldgelben Tuch um den Kopf. Wahrscheinlich will er zur Moschee. Als er uns sieht, bleibt er stehen und spricht mit wohlklingender Stimme, sehr ernst und würdevoll. Verlegen zupfe ich mein Kopftuch noch tiefer in die Stirn. Ich bin überzeugt, daß er uns eine Rüge erteilt, weil es sich nicht schickt, daß Mann und Frau auf der Straße miteinander sprechen. Da der sayid ein ungewöhnlich gewähltes Arabisch spricht, verstehe ich wenig. Wie staune ich, als Hassan mir den Inhalt mit einfachen Wörtern wiedergibt. Der sayid hatte uns gelobt und ermutigt: Eine Sprache könne man nicht allein aus Büchern lernen. Wichtiger sei, sich mit den Einheimischen zu unterhalten.

 

Eines Morgens sind die Straßen voll mit bewaffneten Männern. In der Hauptstadt darf man außer dem Dolch keine Waffen tragen, nun aber hat jeder eine Kalaschnikow geschultert, und in den Straßen stauen sich Panzerwagen mit Sturmgeschützen und Granatwerfern. Die Männer sehen wild aus, drahtig und abgehärtet, die Gesichter dunkel und hager mit feurigen Augen und schwarzen Bärten, die langen Haarmähnen von Stirnbändern und Tüchern gebändigt. Um die schlanken Hüften tragen sie bunte Röcke, die futah. Ich frage, wer sie seien. Stolz antworten sie:

»Wir sind qabili, Stammeskrieger der Beduinen.«

»Gibt es Krieg?«

Sie lachen. »Nein, diesmal nicht. Wir sind Gäste der hukuma.« Ihre Aussprache ist rauh, und mit Mühe verstehe ich, daß die Regierung sie nach Sana’a eingeladen hat, weil ein neues Parlament gewählt wird. Viele der Abgeordneten sind Scheichs, und diese Führer der Beduinenstämme lassen es sich nicht nehmen, alle ihre Stammeskrieger mitzubringen. Je größer und besser ausgerüstet diese Privatarmeen, um so mehr Ansehen genießen die Scheichs.

Die entspannten und freundlichen Mienen der Krieger zeigen mehr als Worte, daß sie mit friedlicher Absicht gekommen sind. Sie tragen ihre Maschinengewehre so natürlich, als seien sie ein selbstverständlicher Teil ihrer Kleidung. Es sieht lustig aus, wenn zwei Krieger, mit ihren Kalaschnikows über dem Rücken, händchenhaltend – wie es Sitte unter arabischen Männern ist – durch die Straßen spazieren. Gern würde ich sie fotografieren. Sie haben auch gar nichts dagegen, nur stellen sie sich dann in Positur und blicken starr in die Kamera.

Ich erzähle von meiner Absicht, mit einem Dromedar durch den Jemen zu wandern.

»Was? Mit einem djamel? Das dauert doch viel zu lange! Nimm lieber ein Auto«, ist die Antwort.

»Nein, nein! Ich will ja gerade langsam vorankommen, damit ich alles sehen und mich mit den Leuten unterhalten kann.«

»Ja, schon gut! Aber du kannst doch mit dem Auto fahren und unterwegs anhalten, sooft du willst.«

»Habt ihr denn keine Kamele mehr?« frage ich besorgt.

»Nein, die sind nutzlos geworden.«

»Erzähl nicht solchen Unsinn!« mischt sich ein Graubärtiger ins Gespräch. »Es gibt noch Stämme, die Kamele züchten. Du mußt in den Süden gehen, nach Al Bayda oder Hadramaut«, rät er mir.

 

»Wo warst du denn?« fragen die anderen Studenten mich später erstaunt. Elisabeth, die Schwedin, blickt mich vorwurfsvoll an und sagt:

»Ich bin heute nicht mal zum Unterricht gegangen wegen des Militärs, und du läufst in der Stadt herum!«

»Es wird doch nur ein neues Parlament gewählt«, erkläre ich.

»Hast du eine Ahnung, was da alles passieren kann!« mischt Nicolai sich ein.

Doménic ergänzt: »Bei der letzten Wahl gab es Tote, weil ein Scheich abgewählt wurde. Und bisher ist noch jeder Präsident des Jemen durch Militärputsch entmachtet oder gleich ermordet worden, wie Al Hamdi und Al Ghasmi.«

»Na, das ist aber lange her!« ruft Adele dazwischen. »Seit 1978

regiert Ali Abdallah Salih, und seitdem ist nichts mehr passiert.«

»Oho! Nichts passiert?« sagt Laurence empört. »Und was war 1994? Sana’a wurde bombardiert, und mehr als 7 000 Menschen starben in diesem Krieg zwischen Nord- und Südjemen.«

Das stimmt alles, dennoch habe ich mich unter den Stammeskriegern nicht einen Moment lang bedroht gefühlt.