Cover

Bettina Winterfeld

LISSABON

Eine Stadt in Biographien

Herausgegeben von Norbert Lewandowski
Nach einer Idee von Marina Bohlmann-Modersohn

TRAVEL HOUSE MEDIA GmbH

INHALTSVERZEICHNIS

IMPRESSUM

Liebe Leserinnen und Leser,

vielen Dank, dass Sie sich für einen Titel aus unserer Reihe MERIAN porträts entschieden haben. Wir freuen uns, Ihre Meinung zu diesem Buch zu erfahren. Bitte schreiben Sie uns an merian-portraets@travel-house-media.de.

 

© 2014 TRAVEL HOUSE MEDIA GmbH, München

MERIAN ist eine eingetragene Marke der GANSKE VERLAGSGRUPPE.

 

ISBN 978-3-8342-1741-7

1. Auflage

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeglicher Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

 

TRAVEL HOUSE MEDIA

Postfach 86 03 66

81630 München

www.merian.de

VERLAGSLEITUNG

Dr. Malva Kemnitz

PROJEKTLEITUNG

Susanne Kronester

REDAKTION

Juliane Helf

BILDREDAKTION

Kathrin Schäfer, Tobias Schärtl

SCHLUSSREDAKTION

Heidemarie Herzog

REIHENGESTALTUNG

independent Medien-Design, Horst Moser, München

SATZ

h3a GmbH, München

REDAKTION E-BOOK

Juliane Helf, Katrin Uplegger

PRODUKTION E-BOOK

pagina GmbH, Tübingen

 

ABBILDUNGSNACHWEIS

Auf einen Blick (v.l.n.r.): dpa Picture-Alliance: U. Poss, Shutterstock.com: brandonht, Fotolia: S. Horta, dpa Picture-Alliance: Atlantico Press, Fotolia: Jessmine

Orientierung: Gecko Publishing GmbH

 

EXTERNE LINKS

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

THM 8-1741 04_2017_02

ISBN 978-3-8342-1741-7

Die Autorin

Bettina Winterfeld schreibt Reportagen für renommierte Blätter wie »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Süddeutsche Zeitung« und »Vogue«. Sie hat zahlreiche Reisebücher und die MERIAN porträts-Bände New York und San Francisco verfasst und lehrt als Dozentin Biographisches Schreiben. Die Liebe zu Portugal und seiner Hauptstadt entdeckte sie bei den Recherchen zu einem Portugal-Buch. Seitdem hat sie Lissabon nie mehr losgelassen. Mindestens einmal im Jahr besucht sie die Stadt an der Tejomündung.

»Quem não viu Lisboa, não viu coisa boa! – Wer Lissabon nicht gesehen hat, hat nichts Schönes gesehen«, sagt ein portugiesisches Sprichwort. Das ist übertrieben, aber es klingt betörend wie die Musik der Stadt: der Fado.

Im Sonnenlicht kann Lissabon die Augen blenden, dass es schmerzt: das Weiß der Gebäude, das Rot der Ziegeldächer, das Blau des Tejos. Wie Rom eine Stadt auf sieben Hügeln und mit vielen reizvollen Kontrasten: imperiale Fassaden, enge, verwinkelte Gassen, großzügige Plätze und Boulevards, der verwirrende und nie ermüdende Takt einer Hafenstadt. Doch wie jede Metropole wird auch Lissabon nicht nur von Bauwerken und Straßenzügen geprägt, sondern in erster Linie von den Menschen, die hier geboren und gestorben sind oder wichtige Jahre verbracht haben. In MERIAN porträts begleiten 20 Persönlichkeiten die Leser wie Reiseführer und führen sie direkt ins Innenleben der Stadt.

Wir spüren im mittelalterlichen Viertel Alfama noch den Einfluss der Mauren, die einst über die Stadt herrschten und begegnen Santo António. Wir nehmen mit den Geschichten von Henrique de Avis, König Manuel I und Vasco da Gama das Restlicht einer glanzvollen Epoche Portugals als erste europäische Seemacht wahr.

Natürlich ist es schwer, die »richtigen« 20 Personen auszuwählen, vermutlich ist es sogar unmöglich, schließlich wurde Lissabon von weit mehr als 20 Menschen geprägt. Doch in der Summe soll die subjektive Auswahl ein unverwechselbares Kaleidoskop ergeben.

Dann erschließt sich uns mit den Politikern Sebastião José de Carvalho e Mello und Salazar das schwere Schicksal der Stadt, mit den Literaten Camões, Pessoa, Saramago und Antunes ihre melancholische Poesie. Und mit dem Fado von Amália Rodrigues offenbart sich die wahre Seele Lissabons: der Weltschmerz und die Lust auf den nächsten Morgen.

AUF EINEN BLICK

Ohne ihre Bewohner wäre die Stadt eine andere. Ohne Vasco da Gama, Amália Rodrigues, Eusébio … wäre Lissabon nicht Lissabon.

ORIENTIERUNG

SANTO ANTÓNIO

11951231

In der Altstadt Alfama wird ein gewisser Fernando Martim de Bulhões geboren, der später zum Stadtheiligen avanciert. Die Lissabonner verehren ihn noch heute mit rührender Inbrunst.

Ein Geruch von frisch gegrillten Sardinen, der portugiesischen Leibspeise, weht durch die Alfama. Über den Gassen flattern Girlanden und Fähnchen im Wind. Überall, an allen Ecken und Enden stehen die Menschen im Freien, essen und trinken, lachen, tanzen und feiern bis in die Morgenstunden. Viele Hauseingänge sind mit Basilikumtöpfen geschmückt.

Jedes Jahr am 13. Juni feiern die Lissabonner den Gedenktag des heiligen Antonius und verwandeln die Altstadt in eine Partyzone. Sie schmücken ihre Bairros, die Stadtviertel, grillen auf der Straße Sardinen, trinken Bier, Bowle und Wein. Besonders liebevoll werden die Gassen, Treppchen und winzigen Plätze in der Alfama geschmückt. Das Viertel, in dem der Franziskanermönch geboren wurde, verwandelt sich dann in ein einziges, verwinkeltes Wohnzimmer. Es ist die Nacht der Nächte.

Im Lissabonner Rathaus findet an diesem Tag eine große Hochzeitszeremonie statt. Dutzende von Brautpaaren lassen sich in einem prachtvollen Festakt in der alten Catedral Sé Patriarcal 8 ( H 5) gemeinsam trauen. Die Stadt Lissabon kommt für die Kosten auf und finanziert den glücklich Auserwählten Brautkleid, Kränze und Festessen.

Santo António gilt nicht nur als der Schutzheilige der Liebenden, sondern auch als Glücksbringer für alle Schusseligen und Vergesslichen. Wer also an diesem Tag den Bund fürs Leben schließt, kann sich darauf verlassen, dass der oder die Liebste den Jubiläumstag in Erinnerung behält und rechtzeitig für Blumen und andere kleine Aufmerksamkeiten sorgt. Santo António zaubert verlorene Gegenstände ebenso nonchalant zurück wie liebende Ehepartner herbei. Deshalb tragen viele Lissabonner ein Foto des Heiligen in ihrem Portemonnaie.

Die schönste Art, sich Lissabons Lieblingsheiligem zu nähern, ist kein Kirchenbesuch, sondern eine Fahrt mit der wunderbar altmodischen Straßenbahnlinie 28. Die gelbe Eléctrico rattert einmal quer durch die Altstadt.

Der beliebte Franziskaner wurde 1195 als Fernando Martim de Bulhões e Taveira Azevedo in der Alfama geboren. Das alte Maurenviertel mit seinem Labyrinth aus verschachtelten, schmalen Gassen, den weißgekalkten Häusern ist eines der interessantesten Bairros von Lissabon. Hier ist schon eine Vorahnung von Afrika zu spüren, von jenem Kontinent, den der Heilige so gern missioniert hätte. Noch vor ein paar Jahren drohten hier viele Häuser zusammenzufallen. Schließlich ist es der älteste Teil der Stadt und das einzige Gebiet, das 1755 vom Erdbeben verschont blieb. Inzwischen sind viele alte Häuser renoviert.

Als Antonius zur Welt kam, waren die Mauren vor nicht einmal 50 Jahren nach Nordafrika zurückgetrieben worden. Auf die Grundmauern ihrer einstigen Moschee wurde die mächtige romanische Catedral Sé Patriarcal gebaut. Und das Castelo de São Jorge 7 ( H 4), das 1147 König Alfonso I erobert hat, war zuvor eine arabische Festung. Von ihren Zinnen bietet sich ein grandioser Blick auf die Stadt am Tejo. Außerdem verweisen archäologische Ausgrabungen aus phönizischer, römischer und maurischer Zeit auf die 3000-jährige Geschichte Lissabons.

LISSABON IST 3000 JAHRE ALT

Laut Plinius dem Älteren soll die Stadt bereits von Odysseus gegründet worden sein, es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Phönizier um 1000 vor Christus die Siedlung aufgebaut und ihr den Namen Alis Ubbo (fröhliche Meeresbucht) gegeben haben. Ab 205 vor Christus herrschten die Römer über »Olisibo«, später soll Cäsar von hier aus seinen Keltiberischen Krieg, den er natürlich gewonnen hat, organisiert haben.

Den Römern folgten die Sueben, Vandalen, Westgoten und schließlich 719 nach Christus die Araber. Lissabon wurde für gut 400 Jahre eine Hafenstadt des Emirats von Cordoba, bis Alfonso 1147 die Mauren endgültig vertrieben hat. Das ist die historische und politische Situation, in die der spätere heilige Antonius hineingeboren wird. Und sie ist nicht besonders angenehm.

Lissabon, das unter den Mauren eine erste wirtschaftliche Hochblüte erlebt hat, ist unter christlicher Herrschaft zunächst nur ein Schatten seiner selbst. Die Kanalisation, eine Errungenschaft der Araber, verfällt; nicht nur die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Dafür wird jetzt mehr gebetet, denn die Stadt wird ständig von Seuchen bedroht, von Dieben übervölkert und der adligen Willkür ausgesetzt.

Fernando Martims stammt aus einem angesehenen Lissabonner Adelsgeschlecht. Einer seiner Vorfahren war der französische Ritter Godofredo de Bulhão, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts den ersten christlichen Kreuzzug nach Jerusalem anführt und später auch dort begraben wird.

Das Haus der Familie befindet sich direkt neben der großen Kathedralenbaustelle. So liegt es nahe, dass der Vater den kleinen wissbegierigen Fernando in die Klosterschule zu den Kanonikern des Doms steckt. Eigentlich wünscht sich das Familienhaupt, dass der Sohn eine Karriere als Kaufmann, Politiker oder Kriegsherr macht, doch Fernando will Priester werden, aus zweierlei Gründen: Zum einen lässt die unübersehbare Mittelmäßigkeit und Bestechlichkeit der damaligen Gesellschaft diesen Entschluss reifen, zum anderen drängen die meisten seiner Schulkameraden in den geistlichen Stand.

Wie dem auch sei: 1210 tritt Fernando im Alter von 15 Jahren in das Kloster São Vicente de Fora ein: Er wird Augustiner-Chorherr. Die Abtei liegt auf einem Hügel über dem Tejo, damals noch außerhalb der Stadtmauer. Nur hier kann er, so glaubt er, seine Vorstellung vom Leben nach dem Evangelium ohne Einschränkungen verwirklichen.

Etwa zwei Jahre bleibt er im Vinzenz-Konvent, dann wird er in das Kloster Santo Antonio Olivares berufen. Die Abtei befindet sich in der damaligen portugiesischen Hauptstadt Coimbra, etwa 230 Kilometer nördlich von Lissabon. Das sind im Mittelalter mindestens sieben Tagesreisen über schlechte und keineswegs sichere Straßen, im Sommer in glühender Hitze.

Aber Coimbra hat auch große Vorteile: Fernando findet unter den etwa 70 Brüdern die besten Lehrer Portugals vor sowie eine bedeutende Bibliothek. Er kann den Dingen auf den Grund gehen und studiert Humanwissenschaften und Theologie. »Doctor Evangelicus« nennen ihn seine Kommilitonen, weil er so eifrig lernt.

Der junge Mann gibt sich ganz seinen Studien hin, für ihn zählt nur die Arbeit und ihr Sinn: das Evangelium. Selbstdarstellung und jegliche Oberflächlichkeit sind ihm zuwider. Mit 25 sehen auch die Kirchenväter, dass er soweit ist: Er wird zum Priester geweiht, was eigentlich nicht der Kirchennorm entspricht, denn nach der muss der Kandidat mindestens 30 Jahre alt sein.

Dann passiert etwas Einschneidendes, was seinem Leben eine neue Wendung gibt. Fernando lernt einige Franzikanerbrüder aus Italien kennen, die auf dem Weg nach Marokko sind, um dort das Evangelium zu predigen. Er ist beeindruckt von ihrem Mut. Später erfährt er, dass seine Glaubensbrüder vom Sultan enthauptet wurden. Das festigt seinen Entschluss. Nun tritt auch er dem Franziskanerorden bei und aus Fernando wird Bruder Antonius. Auch er möchte jetzt nach Afrika, um die Menschen dort zum christlichen Glauben zu bekehren.

In Marokko wird er so schwer krank, dass er monatelang sein Lager nicht verlassen kann. Danach ist er so schwach, dass er sich in Portugal wieder erholen soll. Aber es kommt alles anders. Das Schiff gerät in einen Sturm, der es an die Küste Siziliens treibt. Und so landet Antonius 1221 in Italien und bleibt dort.

In Assisi trifft er den legendären Franziskus, der ihn – beeindruckt von seiner großen Begabung und Sprachgewandtheit – zum Lehrer der Theologie an die Universität von Bologna beruft. Später lehrt er auch in Montpellier, Toulouse, Arles, Le Puy und Limoges. Die Menschen berichten Wundersames von seinen Predigten, sogar die Fische sollen der Legende nach dem portugiesischen Heiligen andächtig gelauscht haben.

Doch seine Gesundheit ist von den Reisen angegriffen. Am Ende einer langen Predigt bricht Antonius in Padua tot zusammen. Er ist kaum 40 Jahre alt geworden. Elf Monate nach seinem Tod wird er von Papst Gregor IX. im Dom von Spoleto heilig gesprochen. Die Italiener errichten ihm zu Ehren eine Basilika in Padua und erklären ihn ebenfalls zu ihrem Stadtheiligen.

DAS ERDBEBEN ZERSTÖRT SEINE KIRCHE

Auch die Lissabonner errichten für »ihren« Stadtheiligen später eine Kirche. Allerdings erst Jahrhunderte später, nachdem Vasco da Gama den Seeweg nach Indien entdeckt hat. Damals schwelgt die Stadt im Reichtum, der säckeweise in Form des kostbaren Pfeffers aus Indien herbei geschippert wird. Jeden Tag legen im Hafen von Santa Maria de Belém, portugiesisch für Bethlehem, schwer beladene Schiffe aus dem Fernen Osten und später auch aus Brasilien an. Es ist ein »Goldenes Zeitalter«, in dem gebaut und gefeiert wird wie nie zuvor.

Die Lissabonner haben ihrem Stadtheiligen auch ein prächtiges Gotteshaus gebaut, im manuelinisch verschnörkelten Baustil. Es wird am 1. November 1755 von dem großen Erdbeben zerstört. Eine einzige Statue aus der alten Kirche überlebt die Katastrophe. Sie zeigt den Heiligen mit dem Jesuskind auf dem Arm und steht heute in der kleinen Kirche 18 ( H 5) über der Krypta. Genau dort, wo Antonius alias Fernando einst geboren wurde.

In vielen Kirchen und Kapellen Lissabons ist Antonius seither mit einem Kind auf dem Arm zu sehen. In der Rua das Janelas Verdes ( D 6) gibt es ein Restaurant, das in einer ehemaligen Kapelle zu Ehren des Heiligen eingerichtet worden ist. Und auch Antonius ist auf einem blau-weißen Azulejo-Tableau mit einem Kind auf dem Arm dargestellt.

Denn Lissabons Lieblingsheiliger ist ausgesprochen vielseitig und nicht nur der himmlische Ansprechpartner für notorische Schussel und bindungsfreudige Singles, sondern auch für Paare, die auf Nachwuchs warten.

CASTELO DE SÃO JORGE 7 H 4

Rua de Santa Cruz do Castelo, Alfama

www.castelodesaojorge.pt

Tram: Castelo

CATEDRAL SÉ PATRIARCAL 8 H 5

Largo Santo António da Sé, Alfama

Metro: Rossio, Tram: Largo da Madalena

IGREJA DE SANTO ANTÓNIO DA SÉ 18 H 5

Rua das Pedras Negras 1, Alfama

Metro: Rossio, Tram: Largo da Madalena

HENRIQUE DE AVIS

13941460

Er wurde als Prinz geboren, der nie Monarch werden konnte. Aber er wurde zum König der Meere. Er wurde der legendäre Heinrich der Seefahrer – und sein Portugal die erste Seemacht in Europa.

Wer verstehen will, was die Lissabonner zur Zeit von Henrique de Avis, den alle Welt als Heinrich den Seefahrer kennt, vom Meer hielten, sollte sich einen stürmischen Tag aussuchen und mit der S-Bahn nach Cascais fahren. Kurz hinter dem ehemaligen Fischerdorf liegt die Boca do Inferno, ein von Atlantikwellen zerfressener Felsen. Hier tost die Brandung schon bei normalem Wetter mit bemerkenswertem Groll, doch an windigen Tagen wüten die Wellen so infernalisch, dass man sich vorstellen kann, welche Höllenschrecken das Meer den Menschen im Mittelalter eingejagt haben muss.

Abgesehen davon, dass den Segelschiffen bei Unwettern auf hoher See ganz reale Gefahren drohten, bot der unerforschte Ozean auch eine ideale Projektionsfläche für den Aberglauben. In seinen Tiefen wurden Dämonen und Meeresungeheuer vermutet. Wer wusste schon, was hinter dem Horizont lag? Vielleicht fiel man am Ende in einen furchtbaren Schlund, wenn man unterwegs nicht von Riesenwellen, Monsterkraken oder Seeschlangen in die Tiefe gerissen wurde? Noch war die Erde in der ptolemäischen Vorstellung der Menschen eine Scheibe.

Durch seine lange Küste im Vergleich zum relativ schmalen Hinterland ist Portugal dem Meer stärker als andere Länder ausgeliefert. Hier ist Europa zu Ende. Von Portugals Küste aus gibt es keinen Halt mehr für das Auge, keine Insel, kein Land, nur den Wind, die heranrollenden Brecher und das große Rätsel der Ferne. Was blieb den Portugiesen anderes übrig, als früher oder später dieses Geheimnis zu erkunden?

Henrique sammelt systematisch das Wissen seiner Zeit über alles, was mit dem Meer, der Seefahrt und der Geografie zusammenhängt. Der junge Prinz aus dem Hause de Avis, der am 4. März 1394 in Porto als vierter Sohn von König João I und seiner englischen Frau Philippa of Lancaster zur Welt kommt, kann nicht damit rechnen, jemals den Thron zu besteigen. Also konzentriert er seinen Tatendrang auf die Erforschung des Ozeans, hat ihm doch der königliche Astrologe Großrabbiner Abraham Guedelha schon bei der Geburt vorausgesagt: »Saturn und der im elften Haus stehende Mars bestimmen den Prinzen zu großen und edlen Eroberungen, zur Entdeckung des Unbekannten.«

In seiner systematischen Vorgehensweise und seinem Wissensdrang ist er bereits ein Renaissancemensch. Obwohl er als strenggläubiger Katholik aufwächst und bei seinen Unternehmungen auch von missionarischem Eifer beflügelt wird, verlässt sich der junge Kronprinz nicht allein auf die Kraft des Glaubens.

Im Alter von 21 Jahren begleitet er seinen Vater auf einen Feldzug nach Nordafrika, um dort die arabische Festungsstadt Ceuta einzunehmen. Sie soll den Portugiesen, die zuvor vier Jahrhunderte unter der Herrschaft der Mauren standen, als Brückenkopf gegen ein erneutes Vordringen der Muslime und gleichzeitig als Handelsstation dienen. Für seine kriegerischen Erfolge wird Heinrich zum Herzog von Viseu ernannt.

ER LERNT VON DEN ARABERN

Zunächst interessiert sich Heinrich vor allem für Afrika. Er sammelt alle Informationen über Bodenschätze und Handelsgüter, informiert sich über den Gold-, Elfenbein- und Salzhandel der Karawanen und das geheimnisvolle Königreich Mali. In dessen reicher Metropole Timbuktu haben die Araber mitten in der Wüste eine Bibliothek zusammengetragen, in der damals mehr Wissen über die Welt lagert als in Lissabon. Heinrich kauft alle Karten und nautischen Instrumente, die er finden kann und studiert die Berichte der arabischen Wissenschaftler, die den Europäern damals weit überlegen sind.

Auch die Reisebeschreibungen des Venezianers Marco Polo faszinieren den Prinzen und lassen in ihm den Wunsch keimen, einen eigenen Beitrag zur Erforschung der Welt zu leisten. Wenn es gelänge, einen Wasserweg nach Indien zu finden, könnte Portugal den Venezianern das Handelsmonopol für die Gewürze aus dem Fernen Osten streitig machen. Eine kühne Vision, die allerdings erst nach seinem Tod wahr werden soll.

Doch Henrique ist derjenige, der die Voraussetzungen dafür schafft, dass Portugal als erste europäische Seemacht Geschichte schreiben wird. Sein eiserner Wille treibt das ganze Land an. Er setzt eine Entwicklung in Gang, an deren Ende Europa die ganze Welt als legitime Beute betrachtet und unter sich aufteilen wird.

An der Algarve, deren Gouverneur er ist, schart Dom Henrique im 15. Jahrhundert die besten Astronomen, Astrologen, Kartografen, Mathematiker, Nautiker und Schiffsbauer um sich, unter ihnen auch viele Araber. Sie entwerfen neue und größere Segeltypen und Takelagen, zeichnen Seekarten und studieren die Notizen des muslimischen Forschungsreisenden Ibn Battuta. Sie entwickeln die alten Messinstrumente weiter und erfinden den Sextanten, der ihnen zur Bestimmung der geografischen Breite auf hoher See die Orientierung erleichtern wird.

Inzwischen haben die Portugiesen mit Hilfe der Araber und ihrer Dhaus einen neuen Schiffstyp entwickelt, die Karavelle. Sie ist schneller und manövrierfähiger als andere klobige Boote. Heute staunen die Besucher des Museu de Marinha (Marinemuseum)in Belém darüber, wie klein die Karavellen waren, mit denen sich die Seefahrer auf den stürmischen Atlantik wagten.

Wenn Henrique in Lissabon weilt, dann wohnt er in einem der Paläste seiner Verwandten. Der Prinz lebt sehr zurückgezogen, er scheint auch weder geheiratet noch offiziell Kinder gezeugt zu haben. Auf zeitgenössischen Bildern ähnelt er eher einem Asketen als einem Hochadligen. Auf dem Altar von Nuno Gonçalves im Museu Nacional de Arte Antiga (Museum für alte Kunst) 29 ( D 6) sieht man ihn inmitten einer Menschengruppe: Mit seinem breitrandigen, schwarzen Hut, die Hände zum Gebet gefaltet.