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HELMUT SCHMIDT

Was ich noch sagen wollte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.BECK

Zum Buch

Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken, hat Helmut Schmidt einmal gesagt. Weil er stets pragmatisch handelte, hat man ihm früh das Etikett des "Machers" angeheftet. Dass seiner Politik aber immer ein strenges sittliches Koordinatensystem zugrunde lag, ahnten die wenigsten. Und die Bezugsgrößen in Schmidts ethischer Grundorientierung sind unverrückbar geblieben. Die frühe Lektüre von Mark Aurel und Cicero, die Beschäftigung mit Kant und Weber, die Vertiefung in die Philosophie Karl Poppers sind entscheidende Wegmarken in der Entwicklung eines Politikers, der den Wählern nie nach dem Mund redete. Ob Schmidt berichtet, wie sich ihm in Gesprächen mit dem ägyptischen Präsidenten Sadat die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam erschlossen oder wie in den Begegnungen mit Deng Xiaoping das System des Konfuzianismus bestätigt wurde: Im Mittelpunkt steht stets die persönliche Faszination. In einem einleitenden Kapitel "Frühe Prägungen" schreibt Schmidt über seine Schulzeit; er erinnert sich an seine acht Jahre als Soldat der Wehrmacht, und er hält Rückschau auf 68 Jahre des gemeinsamen Lebens mit seiner Frau Loki.

Über den Autor

Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, wurde in Hamburg geboren, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler und ist seit 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT. Im Verlag C.H.Beck ist von ihm u.a. erschienen: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch (gemeinsam mit Fritz Stern; 62011)

Inhalt

Vorrede

Die Kunst der inneren Gelassenheit: Mark Aurel

Frühe Prägungen

Acht Jahre Soldat

Politische Leitbilder

Loki

Zur Rekreation des Gemüts

Von richtigen und falschen Vorbildern

Die goldene Regel

Ein Konfuzianer: Deng Xiaoping

Philosophische Unterweisung: Kant, Weber, Popper

Lehrer des Staates – Grundlagen der Demokratie

Europäische Patrioten: drei Franzosen

Amerikanische Freunde

Zum Schluss

Vorrede

Anfang 2014 erreichte mich eine Anfrage des Verlags C.H.Beck, ob ich mir vorstellen könnte, für einen geplanten Sammelband zum Thema «Vorbilder» als Herausgeber zu fungieren. Ich sollte ein Vorwort verfassen und wohl auch einen eigenen Aufsatz über eine für mich wichtige Persönlichkeit beisteuern. Der Brief des Verlags, dem eine vorläufige Liste mit denkbaren «Vorbildern» beilag, hat mich auf die Idee gebracht, selbst ein kleines Buch zu dem Thema zu schreiben.

Denn zum einen fehlten auf der Liste des Verlags Namen, die für mich von großer Bedeutung sind, zum anderen stieß ich auf Namen, die ich dort nicht vermutet hätte. Einige Namen waren mir gänzlich unbekannt; so hatte ich bis dahin zum Beispiel nie von Olympe de Gouges oder Igor Savitsky gehört. Beim Nachdenken darüber, wie diese Verlagsliste wohl zustande gekommen ist, wurde mir klar, dass es schwer, ja unmöglich ist, eine für alle Menschen verbindliche Auswahl festzulegen. Jeder hat seine eigenen, persönlichen Vorbilder. Eine Bestenliste mit den zehn wichtigsten Vorbildern ist noch weniger denkbar als eine Liste mit den zehn großartigsten Bauwerken oder den zehn schönsten Gemälden. Jede Auswahl ist subjektiv. Es kann keinen allgemein gültigen Kanon der Vorbilder geben.

Je länger ich mich mit der Idee eines eigenen Buches zum Thema «Vorbilder» beschäftigte, desto mehr Zweifel überkamen mich, was wir überhaupt unter einem «Vorbild» verstehen. Wer gilt in unseren Augen eigentlich als Vorbild? In entsprechenden Umfragen der letzten Jahre stößt man immer wieder auf dieselben Namen: Mahatma Gandhi und Nelson Mandela, Albert Schweitzer und Mutter Teresa, Martin Luther King oder den Dalai Lama. Dass sie in den entsprechenden Rankings weit oben stehen, hat weniger mit ihrer Leistung zu tun oder mit dem, was wir als ihre Leistung ansehen. Von Mahatma Gandhi verstehen wir Deutschen noch weniger, als wir von Mandela verstehen. Ich habe Mandela 1996 einmal in Berlin, den Dalai Lama einmal in Prag getroffen, aber ich würde mir kein Urteil über sie erlauben.

Wer die genannten Personen als aktuelle politische und moralische Vorbilder nennt, ist sich möglicherweise nicht der enormen Veränderungen bewusst, denen die Welt in den letzten Jahrzehnten des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts unterworfen war – und nach wie vor unterworfen ist. Ich will mich an dieser Stelle darauf beschränken, drei grundlegende Veränderungen kurz zu skizzieren.

Die wichtigste Veränderung ist die Vervierfachung der Weltbevölkerung innerhalb des letzten Jahrhunderts – von gut anderthalb auf sechs Milliarden; inzwischen haben wir sieben Milliarden überschritten. Dieser Bevölkerungszuwachs hat fast ausschließlich in den so genannten Entwicklungsländern stattgefunden – in Asien, in Afrika und in Südamerika. Die Bevölkerung Europas hingegen blieb statistisch einigermaßen konstant, sie wird aber immer älter; das führt zu gewaltigen Problemen – nicht nur bei der Finanzierung des Sozialstaats. Die Einwohnerzahl Chinas hat sich im Laufe der letzten fünfzig Jahre verdoppelt, von etwa 700 Millionen auf heute 1350 Millionen. Ähnlich ist die Entwicklung in Indien, stärker noch in Bangladesch, in Pakistan oder Indonesien. In den meisten muslimischen Gesellschaften bringen die Frauen nach wie vor vier Kinder und mehr zur Welt.

Die zweite grundlegende Veränderung der Welt kam durch die Globalisierung. Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gibt es zum ersten Mal so etwas wie Weltwirtschaft. In dieser Weltwirtschaft spielen die Chinesen und seit Beginn der neunziger Jahre die Russen ebenso eine Rolle wie Indien oder Brasilien oder zahlreiche muslimische Staaten – etwa Saudi-Arabien oder Indonesien. Die USA werden in der Mitte dieses Jahrhunderts ein zweisprachiges Land sein, dessen eine Hälfte Spanisch spricht – in Kalifornien ist das heute schon so. Die Masse der künftigen Wähler in den USA werden Hispanoamerikaner und Afroamerikaner sein, die wenig Interesse daran haben, Konflikte mit Chinesen oder Japanern auszutragen. Ihr Interesse wird sich darauf konzentrieren, dass ihre Kinder gute Schulen und erstklassige Universitäten besuchen können und dass es eine zuverlässige Sozialversicherung gibt, insbesondere eine Altersversicherung.

Die dritte wesentliche Veränderung der Welt lässt sich mit dem Stichwort Internet umschreiben. Die vollständige Vernetzung aller mit allen führt zu Konsequenzen, die wir einstweilen noch nicht erahnen. Was das für die Zivilisation bedeutet, weiß ich nicht, wohl aber sehe ich deutlich, dass wir durch die neuen Kommunikationsmittel in eine Krise der Demokratie hineinlaufen können. Das hängt auch mit der zunehmenden Verstädterung zusammen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Menschen in Dörfern, jeder hatte seine Hütte oder sein Häuschen. Heute lebt die Mehrheit in Städten und in Ballungsräumen von zehn oder zwanzig Millionen Menschen. Hier wächst, potenziert durch die sozialen Netzwerke, die Gefahr der Verführbarkeit. Je mehr Menschen auf einem Fleck zusammenwohnen, desto leichter sind sie massenpsychologisch zu beeinflussen – auch und gerade durch falsche Vorbilder.

Berufung auf Vorbilder bleibt wichtig. Deshalb kommt es darauf an, insbesondere jungen Menschen beispielgebende Vorbilder zu vermitteln. Allerdings bezweifle ich, dass Vorbilder wirklich dazu beitragen können, die hier skizzierten weltweiten Probleme zu lösen. Vielleicht wäre das auch zu viel verlangt. Es genügt ja, wenn Vorbilder uns durch ihr Beispiel Hoffnung geben und eine Richtung weisen. Wenn sie uns ermutigen, auf unserem Weg voranzugehen.

Als ich 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, war ich weitgehend orientierungslos. Damals habe ich das erste Mal von Mahatma Gandhi gehört und war fasziniert von seinem Ideal des passiven Widerstands. Das Spinnrad, mit dem die Inder ihre Baumwolle selber spannen, um sich von britischen Importen unabhängig zu machen, wurde zum Freiheitssymbol für viele Inder. Auch wenn ich den ethischen Grundsätzen Gandhis damals zustimmen konnte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, sein Prinzip der Gewaltlosigkeit auf die Verhältnisse in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu übertragen. Gandhi imponierte mir, aber es wäre mir nicht eingefallen, ihn ein Vorbild zu nennen.

Nicht nur Gandhi, auch die meisten anderen der bei uns in aktuellen Umfragen am häufigsten genannten «Vorbilder» verkörpern das Ideal der Gewaltlosigkeit. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Nachkriegsdeutschen Krieg und Gewalt abgeschworen haben. Sie nehmen sich gern Persönlichkeiten zum Vorbild, die durch Selbstlosigkeit hervorstechen und für ihre Ideen lieber ins Gefängnis gehen wollen, als zu den Waffen zu rufen. Ob dieser tiefgreifende pazifistische Zug, der viele Deutsche nach 1945 ergriffen hat, auch in Zukunft erhalten bleibt, ist ungewiss. Man darf gespannt sein, welche Vorbilder in der nächsten oder übernächsten Generation genannt werden.

Die Verschiedenartigkeit von Vorbildern und die Tatsache, dass im Grunde jeder Mensch jeden anderen zu seinem Vorbild erklären kann, verstärkten meine Zweifel an dem Buchvorhaben. Ist «Vorbild» überhaupt der umfassende und richtige Begriff für das, worum es mir geht? Jedenfalls gibt es über die Bedeutung des Wortes und seine Verwendung stark voneinander abweichende, unterschiedliche Auffassungen. Die einen sprechen von Idolen oder Idealen, andere nennen ihre Vorbilder Wegweiser oder gar Lebenslotsen. Das alles klingt mir sehr pathetisch.

Bezeichnenderweise gibt es im Englischen und Französischen kein wirkliches Äquivalent für das deutsche Wort «Vorbild». Vergleichbare Begriffe erscheinen deutlich weniger moralisch aufgeladen. Dem Sprachgebrauch des deutschen Wortes «Vorbild» am nächsten kommt das lateinische Exemplum. Der römische Geschichtsschreiber Livius beschrieb beispielhafte Taten guter Römer aus alten aristokratischen Familien, so genannte Exempla, denen seine Zeitgenossen nacheifern sollten. Ein solches Exempel im Sinne eines beispielgebenden Musters ist mir deutlich sympathischer als unser deutsches «Vorbild», auch weil es weniger wichtigtuerisch daherkommt.

Mein kürzlich verstorbener Freund Siegfried Lenz hat den schönen Satz geschrieben: «Vorbilder sind doch nur eine Art pädagogischer Lebertran.» Vorbilder würden einen jungen Menschen schnell erdrücken, ihn unsicher und reizbar machen. Da ist einiges dran. Mir jedenfalls hat kein Mensch ein Vorbild vor die Nase gehalten. Mein Vater hat mir das Schachspiel beigebracht, da war ich acht oder neun Jahre alt. Aber mein erstes ernsthaftes Gespräch mit meinem Vater habe ich 1942 geführt – da war ich inzwischen 23. Trotzdem gaben mir die Eltern durch Beispiel vor, was für mich gut und schlecht war. Zunächst durch praktische Hilfestellung. Wie jedes Kind habe ich meine ersten Prägungen durch das Elternhaus erfahren. In der Schulzeit traten neben die Eltern dann Lehrer als diejenigen, die Orientierung boten. Aber auch die schulische Erziehung beruhte vor allem auf Autorität. Sie wirkte durch Lob und Tadel und, nicht zu vergessen, durch Strafe. Die Erziehung hatte zum Ziel, den jungen Menschen an die Gesellschaft heranzuführen und ihn zu integrieren.

Je länger ich darüber nachdachte, welche Menschen mich auf meinem Lebensweg wie beeinflusst haben, desto mehr verschwamm der ursprüngliche Begriff des Vorbilds. Mit dem Wort ist die Vorstellung verbunden, die genannte Person sei als Gesamtpersönlichkeit ein Vorbild, das heißt mit jeder Faser und in jeder Hinsicht. Vorbildlich kann ein Mensch aber nur in einzelnen Bereichen sein, durch Eigenschaften und Tugenden, die ihn vor anderen auszeichnen. Nur diese Besonderheiten zählen; über menschliche Schwächen müssen wir dabei geflissentlich hinwegsehen. Manche, die von der Geschichte «groß» genannt werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als ziemlich unangenehme Charaktere.

Menschen wurden wichtig für mich, weil sie mir in einer bestimmten Situation halfen, mich selbst besser zu verstehen. Sie haben mich geprägt, indem sie mir Antworten und Anregungen gaben oder meine Neugier weckten. Dadurch trugen sie zur Bildung meiner Persönlichkeit bei. Erich Fromm nannte solche Personen, die im richtigen Moment in unserem Leben auftauchen, «magische Helfer». Alles hängt davon ab, ihnen in dem Augenblick zu begegnen, in dem wir sie nötig haben.

Vor zwanzig Jahren habe ich unter dem Titel «Weggefährten» ein viele Seiten umfassendes Buch veröffentlicht, in dem ich meinen Dank zum Ausdruck brachte. Dank gegenüber engen persönlichen Freunden ebenso wie Dank gegenüber denen, die mich auf meinem beruflichen und politischen Lebensweg begleitet haben. Über einige von ihnen schreibe ich auch auf den Seiten des vorliegenden Buches. Aber der Charakter dieses Buches ist ein anderer. Ich will die entscheidenden Begegnungen meines Lebens einmal zusammenfassen und zugleich kontrastieren mit Gestalten der Geschichte, die mich bestimmt, Kunstwerken, die mich fasziniert, Büchern, die mein Weltbild geprägt haben. Ich will mir, mit einem Wort, Klarheit darüber verschaffen, wie ich wurde, der ich bin.

Die Ausgangsfrage ist also eine andere als in dem damaligen Buch; viele der alten Weggefährten kommen auf den folgenden Seiten deshalb gar nicht oder nur am Rande vor. Ich habe sie nicht vergessen – wie könnte ich! Die meisten von ihnen sind zwar lange tot, aber sie haben genauso ein Anrecht darauf, hier genannt zu werden, wie die noch Lebenden. Zwischen meinem ältesten und engsten Freund Willi Berkhan und dem im Oktober 2014 verstorbenen Siegfried Lenz stehen die Namen meiner Freunde Hans-Jürgen Wischnewski, Hans-Jochen Vogel und Peter Schulz. Klaus Bölling und Manfred Schüler möchte ich an dieser Stelle erwähnen, desgleichen Horst Schulmann und Klaus-Dieter Leister. Dankbar erinnere ich mich an meinen Kriegskameraden Walter Plennis aus Cuxhaven sowie an den Film- und Fernsehproduzenten Gyula Trebitsch, in dessen Hamburger Studio wir 1953 meinen ersten Wahlkampf-Spot drehten. Die vielen Jahre des freundschaftlichen Austauschs mit den Kollegen bei der ZEIT sind für mich immer noch mit den Namen von Marion Dönhoff und Gerd Bucerius verbunden.

Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass Politiker auch über die Grenzen ihres Landes hinaus Freundschaften schließen können. Jedenfalls hatte ich das Glück, unter den Regierenden anderer Staaten eine Reihe von Freunden zu finden. Allerdings waren Sympathie und Zuneigung nicht immer auf Anhieb zu erkennen. Ich will ein kleines Beispiel geben.

Anfang der siebziger Jahre hatte ich mit dem französischen Verteidigungsminister Michel Debré zu tun; wir kamen gut miteinander aus. Einige Jahre nach meinem Ausscheiden aus allen Ämtern war ich mit dem Auto unterwegs in Frankreich. Plötzlich las ich auf einem Straßenschild Amboise. Der Name rief eine dunkle Erinnerung in mir wach, und ich beschloss, einen Abstecher zu machen. In einem Bistro erfuhr ich, dass Michel Debré Bürgermeister des Ortes war; ich ließ ihn grüßen. Noch bevor ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, war Debré am Telefon und bedrängte mich, ihn zu besuchen. Im Garten seines Hauses sprachen wir dann angeregt über alte Zeiten, aber ebenso offen über Mitterrand, Reagan und Deng Xiaoping. An diesem Nachmittag hatte ich das Gefühl, mit einem langjährigen Freund zu reden, obwohl weit mehr als zehn Jahre seit unserer letzten Begegnung vergangen waren. Freunde in diesem Sinn sind auch Henry Kissinger oder der Staatspräsident von Nigeria, Olusegun Obasanjo: Kommt man zusammen, so ist es, als wäre man erst gestern auseinandergegangen.

Unter den politischen Weggefährten, die mir wichtig waren, sind an erster Stelle Parteifreunde zu nennen: Willy Brandt, Herbert Wehner, mein «großer Bruder» Alex Möller, aber auch mein damaliger politischer Vorgesetzter Karl Schiller. Ich erinnere mich besonders gern an die Minister Hans Apel und Hans Matthöfer sowie an Jürgen Schmude. In den Reihen der Union habe ich Rainer Barzel, Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel vertraut, Richard von Weizsäcker für seine Gradlinigkeit respektiert und das vorzeitige Ende der Karriere von Volker Rühe bedauert. Nach der Wiedervereinigung entwickelte sich im Rahmen der Deutschen Nationalstiftung ein enges Verhältnis zu Kurt Biedenkopf. Bei der FDP galt der aufrechten Hildegard Hamm-Brücher meine Verehrung; auf Wolfgang Mischnick, den langjährigen Fraktionsvorsitzenden des Koalitionspartners, war ebenso Verlass wie auf Wirtschaftsminister Hans Friderichs, der 1977 zur Dresdner Bank wechselte.

«Wer zählt die Völker, nennt die Namen?» heißt es bei Friedrich Schiller, und je länger ich nachdenke, desto mehr Namen fallen mir ein, die auf diesen Seiten eigentlich genannt werden müssten. Karl Klasen zum Beispiel, mit dem ich seit den frühen fünfziger Jahren befreundet war. Als er 1969 vom Posten eines Vorstandssprechers der Deutschen Bank an die Spitze der Bundesbank rücken sollte, bat er mich um Rat. Ich sagte ihm, dass er diesen Ruf nicht ablehnen könne – man stelle sich einen solchen, mit erheblichen finanziellen Einbußen versehenen Wechsel heute vor! Ich will an Herbert Weichmann erinnern, der nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil nach Hamburg kam und 1965 Erster Bürgermeister wurde. Wenn ich diese beiden Hamburger Freunde erinnere, erinnere ich zugleich ihre Ehefrauen: Ilse Klasen und Elsbeth Weichmann.

Ich muss auch Eric Warburg nennen, der das Bankhaus der Familie nach dem Krieg wieder in Hamburg angesiedelt hat und mir in den sechziger Jahren zu einem wichtigen persönlichen Ratgeber wurde; W. Michael Blumenthal, Ende der siebziger Jahre amerikanischer Finanzminister und viele Jahre später Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Berlin; und den deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern, mit dem ich mich 2010 zu einem gemeinsamen Gesprächsband verabredete, in dem wir unsere transatlantischen Erfahrungen und Analysen austauschten. Ich möchte Wolfgang Vogel erwähnen, den zuverlässigen Go-between im geteilten Deutschland, jedenfalls aber auch Kurt Masur, der bei der friedlichen Revolution von 1989 eine so wichtige Rolle spielte. Sollte ich jemanden in dieser Aufzählung vergessen haben, kann ich es nur mit den Gedächtnislücken meines hohen Alters entschuldigen.

Die Erinnerung an persönliche Freunde und enge politische Weggefährten spielt in dem vorliegenden Buch eine wichtige Rolle. Es erzählt von Menschen, die mir wichtig waren, die in einer bestimmten Situation mein Denken und Handeln prägten. Gleichwohl handelt es sich nicht um ein autobiographisches Buch. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Frage nach den Vorbildern: Brauchen wir Vorbilder, und wenn ja, welche Personen eignen sich als Vorbild, zu welchen Personen fühlen wir uns hingezogen? Am Beispiel meiner eigenen Entwicklung lassen sich vielfache Wechselwirkungen deutlich machen. Weil ich früh die Tugenden der Pflichterfüllung und der Gelassenheit als erstrebenswert und mir angemessen empfand, suchte ich nach entsprechenden Vorbildern. Und weil ich diese Vorbilder im jeweils richtigen Moment fand, wurden Pflicht und Gelassenheit zu Eckpfeilern meines Lebens.

Selbst in aufregenden Situationen die innere Gelassenheit zu bewahren, ist mir als einem, der politische Verantwortung zu tragen hatte, nicht allzu schwer gefallen; denn ich war unbeschädigt aus Nazistaat und Krieg nach Hause gekommen. Wohl aber hat der Wille zur Pflichterfüllung mich häufig genug zur äußersten Anstrengung der Vernunft und letzten Endes des eigenen Gewissens gezwungen.

«Was ich noch sagen wollte» ist ein sehr persönliches Buch. Ich habe mich immer gescheut, in meinen Büchern dem Privaten allzu viel Raum zu geben, denn das Schreiben von Memoiren verführt zur Eitelkeit. Wer die eigene Person in den Mittelpunkt stellt, neigt dazu, sich so zu präsentieren, wie er gesehen werden möchte. Die Scheu vor dem Autobiographischen habe ich auch jetzt nicht ganz ablegen können. Aber wer in hohem Alter die wichtigen Begegnungen seines Lebens noch einmal Revue passieren lassen will, muss zwangsläufig von sich selber reden. Ich hoffe, die rechte Mitte gefunden zu haben.

Hamburg, im Dezember 2014

Die Kunst der inneren Gelassenheit: Mark Aurel

Auf meinem Schreibtisch steht eine Reiterfigur. Sie soll mich an den Vorsatz erinnern, den ich vor acht Jahrzehnten gefasst habe: an den Willen, meine Pflichten zu erfüllen. Zugleich mahnt mich diese Reiterfigur zur inneren Gelassenheit. Eine ähnliche Nachbildung hatte schon in meinem Bonner Büro auf dem Schreibtisch gestanden. Bei dem überlebensgroßen Original, das ursprünglich vollständig vergoldet war, handelt es sich um das eindrucksvolle Reiterstandbild des römischen Kaisers Marcus Aurelius; es stammt wohl aus dem Jahre 166 nach Christus und wurde vor knapp fünfhundert Jahren von Michelangelo auf dem Platz vor dem Kapitol aufgestellt.

Meine Verehrung für Mark Aurel geht auf das Jahr meiner Konfirmation zurück. Das kirchliche Ritual selbst habe ich nicht sehr ernst genommen, das meiste fand ich etwas seltsam. Was mir am Konfirmationsunterricht Spaß gemacht hat, war die Tatsache, dass ich das Harmonium spielen durfte. Am Tag der Konfirmation gab es eine kleine Familienfeier, und da bekam ich von meinem Onkel Heinz Koch ein Buch geschenkt, die «Selbstbetrachtungen» des Marcus Aurelius.

Ich habe noch am selben Abend angefangen, darin zu lesen, und was ich las, hat mir gewaltig imponiert. Die Reflexionen eines römischen Kaisers, der damals bereits seit 1750 Jahren tot war, waren ein prägender Leseeindruck. Ich hatte auch vorher schon viel und gern gelesen: Teile der europäischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts oder Geschichten von Mark Twain – was man mit vierzehn und fünfzehn Jahren damals eben gelesen hat – und etwas später die «Buddenbrooks». Bei der Lektüre der «Selbstbetrachtungen» des Mark Aurel hatte ich jedoch zum ersten Mal das Gefühl, dass dieses Buch ein für mein weiteres Leben richtungweisendes Buch werden würde. Meine unmittelbare Empfindung war: So will ich auch werden. Einige Jahre später habe ich das Buch mit in den Krieg genommen.

Bei dem Geschenk von Onkel Heinz handelte es sich um die alte Kröner-Ausgabe. Sie hat mich bis auf den heutigen Tag begleitet. Auch wenn ich den Text inzwischen in vielen Ausgaben besitze, muss ich gestehen, dass ich ihn immer nur abschnittsweise, mit vielen zeitlichen Unterbrechungen und nie systematisch gelesen habe. Obwohl das Buch nur gut zweihundert Seiten umfasst, fand ich es ziemlich dick; es war mir auch zu abstrakt, zu wenig unterhaltsam, und als besonders störend empfand ich die vielen Wiederholungen. Erschwerend kam hinzu, dass ich zuvor nie einen philosophischen Text gelesen und keine entsprechende Anleitung hatte. Gleichwohl hat mich Mark Aurel vom ersten Tag an fasziniert. Heute bin ich der Überzeugung, dass ich das, was mir aufgrund mangelnder philosophischer Schulung möglicherweise entging, durch lebenslange Beschäftigung und stete Vertiefung hinlänglich ausgleichen konnte.

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Mark Aurel, 121–180 n. Chr., römischer Kaiser 161–180

Vor allem die beiden Tugenden, die Mark Aurel in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt, sprachen mich auf der Stelle an: die innere Gelassenheit und die bedingungslose Pflichterfüllung. Wobei ich damals allerdings noch nicht so weit war, zwischen dem Prinzip der Pflichterfüllung und der Pflicht selbst zu unterscheiden. Die Forderung, seine Pflicht zu erfüllen, lässt offen, in welchem konkreten Handeln die Pflicht besteht, und ist deshalb, für sich genommen, keine wirkliche Hilfe. Wenn ich die «Selbstbetrachtungen» heute zur Hand nehme, entdecke ich weitere Forderungen, denen ich mich sofort anschließen kann – die Forderung nach Humanität und Menschlichkeit etwa oder die Forderung nach Gerechtigkeit. Was den Text wohltuend von vergleichbaren Schriften unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Kaiser seine Forderungen nur an sich selbst richtet.

Wenn ich Mark Aurel alles in allem mein erstes Vorbild nenne, so tue ich das unter den in der Vorrede gemachten Einschränkungen. Denn natürlich hatte auch Mark Aurel seine Schwächen und seine Schattenseiten. Wenn wir die «Selbstbetrachtungen» lesen und ihren Stoizismus bewundern, dürfen wir daraus nicht schließen, dass der Autor auch im wirklichen Leben ein Stoiker war. Im Gegenteil, der historische Kaiser hat ganz und gar nicht so gelassen und vorbildlich gehandelt, wie er es in seiner Schrift fordert. Er war im Jahre 161 Kaiser geworden – wie seine Amtsvorgänger durch Adoption. In den knapp zwanzig Jahren seiner Herrschaft hat er manches wieder eingeführt, was seine Vorgänger abgeschafft hatten, etwa die Sklavenfolter. Er nahm die Christenverfolgung wieder auf und begann nach fünfzig Friedensjahren, zur Festigung des Reiches erneut massiv Kriege zu führen. Seine wichtigste Aufgabe sah er in der Abwehr der Barbaren im Nordosten und in Kleinasien. Er starb 180 mit 58 Jahren an der Pest.

Mark Aurel ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Bild eines Menschen im Laufe der Geschichte sich vollkommen ablösen kann von der historischen Figur. Der römische Kaiser steht uns heute in erster Linie durch sein wunderbares Buch vor Augen, ein Buch, das die Menschen der Antike gar nicht kannten, denn er hatte es tatsächlich nur für sich geschrieben. Es war in der Antike unbekannt und tauchte erst im 10. Jahrhundert in einer Handschrift wieder auf. Weil er für sich selbst schrieb und beim Schreiben oft unterbrochen wurde, sind dem Autor die den Leser störenden Wiederholungen vielleicht gar nicht aufgefallen. Vielleicht waren sie ihm aber auch als Stilmittel wichtig. Die «Selbstbetrachtungen» sind in Griechisch geschrieben; denn Griechisch war zur Zeit Mark Aurels immer noch die Sprache der Philosophie, der Rhetorik und der Literatur.

Marcus Aurelius verstand das Schreiben als eine ständige Selbstermahnung. Obwohl er fast während seiner gesamten Regierungszeit aktiv in Kriegsgeschehen verwickelt war, suchte er jenen Prinzipien treu zu bleiben, die er für sich festgelegt und dann gegen Ende seines Lebens nach und nach niedergeschrieben hat. Heute lesen wir die «Selbstbetrachtungen» als eine Art Idealkatalog für gerechtes und kluges Regieren und nehmen den Kaiser für das, was in seinem Buche steht.

Es begegnet uns in der Geschichte immer wieder, dass ein Vorbild sich von der historischen Figur löst und idealisiert wird. Manchmal kann eine historische Figur überhaupt nur als Vorbild in Erscheinung treten, wenn man bestimmte Charakterzüge bewusst ausblendet und Unangenehmes einfach wegschneidet. Friedrich II. von Preußen etwa, der für viele noch heute ein verehrungswürdiger Mann ist. Er hat für die Vergrößerung seines Besitzes einen Krieg nach dem anderen geführt – und zwar gegen das ebenfalls deutsche Haus der Wittelsbacher. Einen Alexander den Großen im Taschenformat habe ich ihn einmal genannt. Das Ideal hat sich in diesem Fall sehr weit von der historischen Wirklichkeit gelöst. Aber das sollen die Friedrich-Verehrer mit sich selber ausmachen.

Ich jedenfalls habe mich nicht für die Gesamtperson interessiert, sondern mir nur das herausgepickt, was mir exemplarisch, vorbildlich und nachahmenswert schien. Man kann es auch anders ausdrücken: Jemand muss kein Heiliger sein, um Vorbild für dieses oder jenes werden zu können. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um, wenn wir von einem Menschen, den wir als Vorbild empfinden, in anderen Zusammenhängen Negatives erfahren? Dass der Soldatenkaiser Marcus Aurelius die imperialen Interessen des Römischen Reiches mit großer Härte durchsetzte, habe ich irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt meines Lebens verstanden. Der Eindruck, den seine «Selbstbetrachtungen» auf mich als Fünfzehnjährigen gemacht hatten, wurde dadurch nicht im Geringsten getrübt.

Marcus Aurelius war für mich ein Vorbild. Seine Ermahnungen sind mir selbstverständlich geworden. Seine beiden für mich wichtigsten Gebote, innere Gelassenheit und Pflichterfüllung, standen mir immer vor Augen. Das Gegenteil von Gelassenheit ist Aufgeregtheit, Nervosität – ein Zustand, in dem man im äußersten Fall nicht mehr Herr seiner selbst ist. Gelassenheit bewahrt einen davor, zu schnell zu entscheiden und dabei Fehler zu begehen. Sie ist eine Hilfe, fast eine Voraussetzung für die Anwendung der Vernunft: Nur wer die innere Gelassenheit mitbringt, kann auf die Stimme der Vernunft hören.

Richtig ist, dass ich oft ungeduldig war. Insbesondere im Umgang mit meinen Mitarbeitern ging mir manches nicht schnell genug, manches war mir nicht sorgfältig genug vorbereitet. Hier liegt jedoch nur auf den ersten Blick ein Widerspruch vor, denn tatsächlich blieb ich innerlich immer gelassen – auch in den Tagen von Mogadischu. Um im Herbst 1977 die entführte Lufthansa-Maschine aus der Hand der Terroristen zu befreien, hatte ich meinen Freund Hans-Jürgen Wischnewski mit einem heiklen Kommando betraut. «Du hast jede Vollmacht», sagte ich zu ihm, «und wenn es dir notwendig scheint, reicht diese Vollmacht über das Grundgesetz hinaus.» Das heißt, ich habe mich ihm völlig ausgeliefert, und er hat mein Vertrauen in großartiger Weise gerechtfertigt.

Das Ganze stand 50: 50. Entweder fliegen wir 90 Passagiere nach Hause, oder sie werden alle in die Luft gesprengt. Wischnewski konnte wunderbar mit den Arabern umgehen, deshalb auch sein Ehrenname Ben Wisch. Er hat dem Diktator in Somalia den Hof gemacht und ihn durch Schmeicheleien davon abgehalten, seine eigenen Soldaten zur Befreiung des Flugzeugs einzusetzen, was zweifellos schiefgegangen wäre. Als Wischnewski am 18. Oktober 1977 kurz nach Mitternacht in Bonn anrief, um mitzuteilen, dass der Auftrag «erledigt» sei, wusste niemand besser als ich, was wir ihm zu verdanken hatten. Ben Wisch war die Zuverlässigkeit in Person.

Zwei Tage vorher hatte ich mich im Kanzleramt mit den Schriftstellern Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Max Frisch zu einem ausgiebigen Meinungsaustausch getroffen. Der Termin war seit Monaten verabredet, und es gab in meinen Augen keinen Grund, ihn wegen der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF platzen zu lassen. Am Tag des Treffens mit den Schriftstellern versuchte die Bundesregierung vergeblich, die entführte Lufthansa-Maschine in Dubai festzuhalten, deshalb musste ich das Gespräch mehrfach unterbrechen. Der Verleger Siegfried Unseld, den ich ebenfalls eingeladen hatte, hielt hinterher fest, wie ruhig ich auf ihn gewirkt hätte – ganz anders als Böll, der sich über unverhältnismäßige Polizeieinsätze erregt habe. Es ging natürlich auch um politische und gesellschaftliche Verantwortung. 37 Jahre später fasste Siegfried Lenz die damalige Diskussion so zusammen: «Der Schriftsteller kann es auf dem Papier entscheiden, so oder so. Der Politiker muss es tragen.»