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Zu Beginn des neuen Jahrtausends hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass der Nahe Osten derart durcheinandergeraten würde: Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi sind Geschichte; im Kampf gegen den »Islamischen Staat« kommt es zu einer Annäherung zwischen dem Westen und Iran; Syrien oder der Irak könnten von der Landkarte verschwinden. Und Länder, die aus geopolitischen Interessen immer wieder in der Region interveniert haben, vermitteln den Eindruck, als würden sie sich nun am liebsten heraushalten.

Auch jenseits der Tagespolitik zeichnet sich ab, dass die 1916 mit dem Sykes-Picot-Abkommen etablierte Ordnung an ihr Ende gelangt sein könnte – ein Umbruch, wie ihn die Welt seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr erlebt hat. In dieser Situation unternimmt Volker Perthes den Versuch, aktuelle Verschiebungen in längere historische Entwicklungen einzuordnen, die wesentlichen regionalen Mächte zu identifizieren und Szenarien für eine Post-Sykes-Picot-Ära zu skizzieren.

 

Volker Perthes, geboren 1958, leitet die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die SWP berät den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung zu außen- und sicherheitspolitischen Themen. Perthes ist ein viel gefragter Kommentator im Bereich der internationalen Politik und des Nahen Ostens. In der edition suhrkamp erschien zuletzt seine Studie Iran – Eine politische Herausforderung (es 2572).

 

 

Volker Perthes

Das Ende des Nahen Ostens,
wie wir ihn kennen

Ein Essay

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des es Sonderdrucks.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag: Johannes Erler, Mitja Schneehage,

ErlerSkibbeTönsmann

Umschlagabbildung: ErlerSkibbeTönsmann

 

eISBN 978-3-518-74277-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Zu diesem Essay

Zeitenwende und Zeitlinien

Triebkräfte

Geopolitische Entwicklungstrends

Der IS – kein Staat, aber ein jihadistisches Staatsbildungsprojekt

Zukunftsfragen, Zukunftsbilder

Eckpunkte für europäische Politik

Zu diesem Essay

Wenn wir nach der einen großen Überschrift suchen, die die Ereignisse und Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten seit 2011 und mehr noch seit 2013/2014 charakterisiert und welthistorisch einordnet, dann scheint das Wort »Ordnungszerfall« angemessen. Innerstaatliche Ordnungen zerbrechen, nicht überall, aber doch in mehreren Staaten der arabischen Welt. Am deutlichsten ist uns dies in Syrien, im Irak und in Libyen geworden. Die Menschen in der Levante, in den Ländern zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Persischen Golf also, erleben, wie die regionale Ordnung oder das regionale Staatensystem sich aufzulösen scheint, ohne dass klar wäre, wie eine neue Ordnung zustande kommen kann, wie sie aussehen wird, wer sie verhandelt oder errichtet. Und mancher wird sagen, dass auch die Werteordnung der eigenen Gesellschaften zerstört, mindestens aber beschädigt worden ist. Immerhin teilen die Menschen in Ländern wie Syrien und dem Irak, im Libanon oder in Iran trotz aller Erfahrung von Krieg, Konflikt, Repression und Gewalt auch eine Geschichte des Zusammenlebens über ethnische, konfessionelle und politische Trennlinien hinweg. Die Anerkennung dieser gesellschaftlichen und konfessionellen Vielgestaltigkeit als eines der Charaktermerkmale, ja vielleicht als die Raison d'être gerade des syrischen Staates aber und der damit verbundene Grundkonsens, dass man trotz aller Differenzen und Machtkämpfe irgendwie zusammenleben muss – all das gilt ganz offensichtlich nicht mehr, jedenfalls nicht für die kriegsführenden Parteien.

Das Ausmaß der Gewalt, die staatliche und nichtstaatliche Akteure in Syrien und anderen Ländern gegen die eigene Bevölkerung ausüben, und die konfessionelle Polarisierung – nicht nur, aber vor allem zwischen Sunniten und Schiiten –, die quer durch die Region zu spüren ist, fördern eine Spirale aus Hass und Angst und stellen die Hoffnung infrage, dass Staaten und Gesellschaften einfach wieder zusammenfinden werden, wenn nur die eine oder andere Terrororganisation besiegt oder das ein oder andere Regime gefallen ist.

Gewalt und konfessioneller Bürgerkrieg scheinen wenig mit den Forderungen nach Freiheit, Würde und Gerechtigkeit zu tun zu haben, die in den Protesten und Aufständen zum Ausdruck kamen, die die arabische Staatenwelt im Jahr 2011 erfassten. Zumindest zum Teil ist diese Gewalt als Reaktion bedrängter politischer Führungseliten auf die Forderung nach friedlicher Veränderung, auf den von vielen sogenannten »Arabischen Frühling« – oder die Furcht davor – zu verstehen. Und wo autoritäre Ordnungen zerfallen oder zu zerbrechen drohen, setzt dies alle möglichen Kräfte frei, die vordem »unter Kontrolle« waren oder zu sein schienen, extremistische politische Akteure und politisch oder wirtschaftlich motivierte Gewaltunternehmer eingeschlossen. Die Protestbewegungen haben aber auch gezeigt, dass es in allen Ländern der Region Menschen gibt, die sich dafür einsetzen oder (oftmals unter existenziellen Risiken) dafür eingesetzt haben, eine bessere Ordnung zu schaffen.

Gerade Europa, das den Beginn der Umbrüche in seiner südlichen Nachbarschaft begrüßt, dann aber – darüber lässt sich im Einzelnen streiten – wenig getan hat oder hat tun können, um friedliche politische Transformationsprozesse effektiv zu unterstützen, wäre gut beraten, seiner ursprünglichen Bewunderung für die »Generation Tahrir-Platz« nun keine angstgetriebene Politik der Abschottung gegen die Region und ihre Menschen folgen zu lassen.

Wie können wir, gerade wenn wir die Region von außen betrachten, verstehen, was seit dem Beginn der arabischen Proteste und Aufstände im Jahre 2011 im Nahen und Mittleren Osten vor sich geht? Stellen wir uns auf gescheiterte Staaten, regionale Kriege und Bürgerkriege, Terror und konfessionelle Gewalt als neuen Normalzustand ein? Auch das wäre kein guter Rat. Sicher scheint allerdings, dass die Region sich erst am Beginn einer langen Phase der Turbulenz befindet. In mancher Hinsicht ist der Nahe Osten schon heute nicht mehr der, den wir – europäische und andere ausländische Beobachter –, den aber auch ein Großteil der regionalen Akteure selbst kennen oder zu kennen geglaubt haben.

Natürlich ist es, gerade in Umbruchphasen, immer gut, nach dem geschichtlichen Hintergrund zu fragen. Nur ist Geschichte und der Umgang damit eben oft ein Politikum. Zudem ist nicht immer klar, welcher historische Hintergrund, welche Elemente von Geschichte und welche Geschichten aus der Vergangenheit heute von wem in Erinnerung gerufen und politisch relevant werden.

Ich werde in diesem Essay deshalb damit beginnen, über unterschiedliche historische Bezugsrahmen oder Zeitlinien zu sprechen, die heute dazu dienen, aktuelle Ereignisse einzuordnen. Ich werde dann etwas zu den Faktoren sagen, die zu beobachten sind, wenn man aktuelle politische Dynamiken verstehen will, mich mit den wichtigsten geopolitischen Veränderungen beschäftigen und am Ende über die Handlungsmöglichkeiten externer Akteure wie Deutschland oder der Europäischen Union reflektieren.

Meist spreche ich vom Nahen und Mittleren Osten oder einfacher vom Nahen Osten und meine damit das, was im angelsächsischen Sprachraum generell mit »Middle East« bezeichnet wird. Beides sind keine präzisen Begriffe. In jedem Fall umfassen sie die östlich des Mittelmeers gelegene Region einschließlich Irans und der Arabischen Halbinsel, ferner Ägypten, das größte arabische Land und das Bindeglied zwischen Nordafrika und Nahost. Die nordafrikanischen Staaten gehören zwar im allgemeinen Verständnis nicht zum Nahen Osten, wohl aber zur arabischen Welt. Die Türkei ist heute aktiver Teilnehmer der Dynamiken im Nahen und Mittleren Osten, ohne aber gleichzeitig Teil der Region zu sein. Der Fokus dieses Essays richtet sich eindeutig auf den östlich des Mittelmeers gelegenen Teil dieses Raums und damit immer wieder auf Syrien, dessen Entwicklung wohl auch über die Zukunft der regionalen Ordnung entscheiden dürfte.

Dabei ist dieser Essay genau das: keine umfassende Analyse, sondern ein Versuch, die gegenwärtigen Entwicklungen in einer Region, mit der ich mich in den vergangenen Jahrzehnten viel beschäftigt habe, gedanklich neu zu erfassen: gerade auch da, wo etwas, das wir kennen oder zu kennen meinen, zu Ende zu gehen scheint.