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Horst Groschopp

Der ganze Mensch

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Über den Autor

Dr. Horst Groschopp, Zwickau und Berlin, geb. 1949, habilitierter Kulturwissenschaftler; Mitherausgeber, Redakteur und Autor bei den Mitteilungen aus der Kulturwissenschaftlichen Forschung (1979–1997, 37 Bde.; Fortsetzung unter kulturation.de); an der Humboldt-Universität zu Berlin angestellt von 1971–1996, zuletzt als Hochschullehrer; bis 1988 Veröffentlichungen zur historischen Arbeiterkultur (u. a. Zwischen Bierabend und Bildungsverein; 1985, 2. Aufl. 1987); ab 1985 Arbeiten zur Kulturgeschichte der deutschen Freidenker (gerade in 2. verbesserter Aufl. bei Tectum erschienen: Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland; 1. Aufl. 1997); seit 1997 Direktor der Humanistischen Akademie Berlin; Veröffentlichungen zur Theorie und Geschichte des modernen Humanismus; Herausgeber der Reihen humanismus aktuell (Berlin 1997–2009), der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin (ab 2008, bisher fünf eigene Bände); gleichzeitig Direktor der Humanistischen Akademie Deutschland (ab 2009) und Herausgeber von deren Schriftenreihe (bisher vier eigene Bände); Redakteur der Online-Zeitschrift humanismus aktuell (ab 2010); Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (2003–09); im vorliegenden Buch greift der Autor Studien von 1989–1993 wieder auf zur Kulturgeschichte der DDR, deren Kultursystem und dessen Ende.

Horst Groschopp

Der ganze Mensch

Die DDR und der Humanismus – Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte

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Horst Groschopp

Der ganze Mensch

Die DDR und der Humanismus –

Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung: Humanismus und Herrschaft der SED

Ein Desiderat: Humanismus in der DDR

Eine Entdeckung 1932: Humanismus

Legitimation: Humanismus in den Verfassungen

Verständnis: Arbeitsbegriff von „Humanismus“

1. Kapitel: Weichenstellungen in Deutschland

Ausgangspunkt: Humanismus und Verfassungsdenken

Einstieg: „Wahre Humanität“ in der DDR-Verfassung 1949

Gegenläufiges: „Abendländischer Humanismus“ im Westen

2. Kapitel: Vorgeschichten

„Humanismus“ versus „Realismus“ – „realer Humanismus“: Karl Marx

Vertröstungen mit Kunst – Rückblick auf die Quelle 1921: Eugen Varga

Eines Kulturtheoretikers Prägung: Alfred Kurella I

Erste Annäherung 1934 in Moskau – „proletarischer Humanismus“: Maxim Gorki, Johannes R. Becher I, Viktor Šklovskij

Volksfrontdebatten 1935–1939 – gegen „abstrakten Humanismus“

Juni 1935 in Paris – „Kongreß im Zeichen des Humanismus“: Klaus Mann, Paul Nizan, Ludwig Marcuse I

Reaktionen in Moskau 1936 – „Humanismus“ und „Sowjethumanismus“: Nikolai Ardens, Kurella II, Marcuse II

„Geburt des sozialistischen Humanismus“ 1936: Kurella III

1937–1938: „Revolutionärer“ und „plebejischer Humanismus“: Georg Lukács, Kurella IV, Ernst Mühlestein

1936/1958 – Moskauer Erträge: Das „Selbst“ als Mensch und Gattung, Kurella V

Endzeit der Volksfront – „realistischer Humanismus“: Heinrich Mann

Andeutungen von Godesberg – „sozialistischer Neuhumanismus“: Siegfried Marck

Notiz – „hebräischer Humanismus“: Martin Buber

Christliches neues Denken – „integraler“ und „theonomer Humanismus“: Emmanuel Mounier, Jacques Maritain, Herbert Stourzh, Alfred Delp

Notiz – „Humanismus Gottes“: Karl Barth

„Universaler Humanismus“ – Arthur Liebert

3. Kapitel: Anfang Verfassungsdebatte und Humanismus-Diskurse in der SBZ

Menschenverachtung – „Humanismus und Terror“: Maurice Merleau-Ponty

Humanismus gegen die Naziideologie 1942–1945: Ernst Hadermann

1944 – Kommunisten und Christen: Friedrich Wilhelm Krummacher

Einsatzvorbereitung der KPD 1944/45 – „humanistischer Demokratismus“: Becher II

1945 – Die KPD wird eingeflogen: Humanismus in Gepäck?

„unsere humanistische Rote Armee“ – Deutsche und Russen 1945–1948: Rudolf Herrnstadt

Humanismus-Konzeption der KPD 1946: Anton Ackermann I

„gründliche Erziehung zu Humanität“: Vereinigungsparteitag KPD/SPD

Der „echte Humanismus“: Alexander Abusch I

„Wahrer Humanismus“ in „nationaler Form“ 1946: Ackermann II

Beginn der Verfassungsdebatte in der SBZ 1946: Karl Polak

1947 – Der Kulturbund und die „Krise des Humanismus“: Abusch II

„um den rechten Humanismus ... streiten“ – Kulturbund: Heinz-Werner Sabeis, Becher III

„Humanismus. Umstürzlerische Denkart“: Kurt Raab

1947/48 – „dass sie das Wort Humanismus anders anwenden wie wir“: Victor Klemperer I

4. Kapitel: Sozialistischer Umschlag der Humanismus-Debatte

Erziehung zur Menschlichkeit durch „neuen Humanismus“ 1947: Heinrich Deiters I

Verfassungsdiskussion bis Sommer 1949

„Neuer Humanismus“ als Marxismus 1948: Ackermann III

„Ausschuß für Kulturpolitik“ 1948/49: „Echte Humanität“ als „Kern des Erziehungszieles“ der Verfassung: Ackermann IV, Deiters II, Otto Meier

„Realer Humanismus“ als „Richter“ über die Zeit und „Sprache des Gewissens“ 1948: Deiters III

Goethes Humanismus und die Gewerkschaftsarbeit: Willi Bredel, Stefan Heymann, Wilhelm Girnus I, Walter Maschke

Wende in der Schulpolitik: Pädagogischer Kongress 1949

5. Kapitel: Humanismus und Begründung der DDR-Kulturpolitik

Gründung der DDR

Alter und neuer Humanismus 1953: Klemperer II

1953–1957 – „Tauwetter“-Ereignisse

1957 – kulturelle Konzeptionsbildung nach Stalin: Walter Ulbricht I, Kurella VI

„Tauwetter“-Ertrag – Kulturkommission: Kurella VII

1958 – Konjunktur für „Humanismus“

„Kulturrevolution“, „Gesellschaftsformation“ und „humanistisches Zeitalter der Menschheitsgeschichte“

„Sozialistischer Humanismus“: Abusch III, Kurella VIII und Ulbricht II

„ihr Humanismus ist veraltet“: Kurella IX

1960 – Offizieller Humanismus: sowjetische „Philosophische Enzyklopädie“

„Freiheit der Persönlichkeit“ – „wo sie produktiv wirkt“: Girnus II

Februar 1961 – „große humanistische Tradition“ Deutschlands: Girnus III

April 1961 – „bürgerliche Kultur als Fundament und Ausgangspunkt des Sozialismus“: Kurella X

6. Kapitel: Aufbau und Ende des „Kultursozialismus“

Konzept der „sozialistischen Nationalkultur“

13. August 1961 – eine „humanistische Tat“: Kurt Hager I

„Humanismus heute?“ – Ja: Girnus IV, , Hermann Ley, Erhard Scherner, Heinz Schmellenmeier, Leo Weismantel

Sperrige Frühschriften – versuchte Anpassung des „sozialistischen Humanismus“ an die gängige Ideologie: Rolf Bauermann, Kurella XI

Vor dem Kahlschlag 1965 – „wie wir den Humanismus weiterführen“: Abusch IV, Otto Gotsche I, Kurella XII, Ulbricht III

Kahlschlag 1965 – „Verteidigung des Humanismus“ und „keine Freiheit für Verrückte“: Ulbricht IV

Notiz: Sozialistischer Humanismus bei Herbert Marcuse – 1965

1966 – „Kommunismus ... humanste aller Ideologien“: Marija Isaakovna Petrosjan

1967/68 – Verfassungsdiskussion: Gesamtverlauf und Ergebnis

„Sozialistische Nationalkultur“ versus „Unkultur“ – Humanismus als Kampfruf

Das „große Hurra“ des Humanismus – „Kulturstaat“ DDR

„Das Eigene und das Fremde“: Kurella XIII

1969 – „Der ganze Mensch“: Kurella XIV

Der Humanismus erreicht die Philosophen – Wörterbuchdefinitionen ab 1964

„du Schwein fliehst die Humanitätsstudien?“ – die Jenaer Tagung 1971

1965–1984: „Sozialistischer Humanismus“ als „kulturelle Massenarbeit“ – Erhard John

1984: Finales „Hurra“ – Humanismus-Kongress der Philosophen

Unrealistischer Humanismus – der Alkohol und die „Mission“

7. Kapitel: Am Ende der Illusion – die Arbeiterklasse schläft nicht

Marx hatte keinen wissenschaftlichen Klassenbegriff

Keine Klasse ohne Kampf, ohne Kultur

Kultureller Klassenbegriff in den Frühschriften

Klassenlage und Arbeiterbewusstsein

These der verbürgerlichten Arbeiterkultur

Entdeckung des Arbeiterlebens

Schluss: Wie humanistisch war die DDR?

Eine „eigenartige“ Moderne

DDR-Humanismus – Befunde und Fragen

Weltanschauungs-, nicht Humanismuskritik: die SED – wie eine „Kirche“

Verlauf Verfassungsdebatten SBZ/DDR 1946–1949 und 1967/68

Danksagung

Einführung: Humanismus und Herrschaft der SED

Ein Desiderat: Humanismus in der DDR

Das Begriffspaar „ganzer Mensch“ (lat.: totus homo) meint die Einheit von Leib und Geist. Es handelt sich um eine der Zentralkategorien personaler Identität seit der Antike und in dieser Tradition bis heute.1 Die Überzeugung, der Mensch bestehe aus Körper und Seele führte im 18. Jahrhundert zu einer umfassenderen Anthropologie, bis hin zu einer neuen medizinischen Betrachtung des Menschen.2 Das leitete über zu einer Rezeption dieses Gedankenguts und dessen Überführung in das ideale Menschenbild der klassischen deutschen Literatur.3 Wiederum daran anknüpfend wurde der „ganze Mensch“ zu einem Programm humanistischer Bildung, besonders in der pädagogischen Konzeption von Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Er innovierte 1808 das Wort „Humanismus“.4

Niethammer hatte dabei entsprechende Übersetzungen griechischer Texte im Blick, etwa die Epikurs, in denen die Ganzheitlichkeit des Menschen eine zentrale Überlegung darstellt. „Die ‚Beschirmung Epycuri’ ist [in Johann Gottfried: Der gantze Mensch, 1490; HG] moralis philosophia; antike Tradition (‚unser Epycurus’) und die Natur (‚natürliche Philosophie’) sind Grundlage der Argumentation. Der ‚ganze Mensch’, die Einheit von Leib, Seele, Gemüt ist die zentrale Aussage. Das Wort ‚Mensch’ wird definiert und emphatisch gebraucht ...“.5

Wie selbstverständlich griff der kommunistische Funktionär und Schriftsteller Alfred Kurella (1895–1975), im Jahrzehnt um den Mauerbau 1961 der bestimmende Kulturtheoretiker und -politiker in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die antike Wortverbindung am Ende seiner Karriere 1969 noch einmal demonstrativ in seinem Buch Der ganze Mensch auf.6 Er wollte seine schwindende Anhängerschaft ermahnen, sie seien auf dem falschen Weg, wenn sie dieses hehre Ziel aufgäben.

Zu dieser Zeit war die Hochkonjunktur humanistischer Rhetorik in der DDR bereits vorbei. Auf diese Vergangenheit trifft der erste Satz einer Rezension zu, die Anfang des Jahres 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) stand: „Sein vorerst letztes Hurra feierte er in der DDR“7 – gemeint ist der Humanismus. Der besprochene Sammelband des renommierten Altphilologen Hubert Cancik (geb. 1937) behandelt Europa – Antike – Humanismus,8 sehr historisch, kein Wort darin über die DDR.

Woher also diese Assoziation? Es war wohl eine überlieferte Erinnerung westdeutscher Distanz zur DDR. Der Rezensent, der Bielefelder Althistoriker Uwe Walter (geb. 1962), führt seit 2009 für die FAZ den Blog Antike und Abendland. Als er 1983 sein Studium begann, stand zwar noch 1984 in der DDR der Philosophiekongress Sozialismus und Frieden – Humanismus in den Kämpfen unserer Zeit bevor.9 Doch da war die Humanismuseuphorie schon zwanzig Jahre vorbei. Humanismus war nun fein eingeordnet in die Schubladen des hochoffiziellen Gebäudes der marxistisch-leninistischen Theorie – also ziemlich tot. Die DDR hatte da nur noch ein Jahrfünft zu leben.

Das „große Hurra“ des Humanismus – dieses Entern eines bildungsbürgerlichen Refugiums – scheint bei denen, die diese Traditionen in der Bundesrepublik gegen die DDR demonstrativ hoch hielten – mehr Spuren hinterlassen zu haben als die aktuelle wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Desiderat der sonst höchst umfänglichen DDR-Forschung zeigt, die allein zwischen 1989 und 2008 etwa 8.000 Titel kennt – eine immense Sammlung von Fakten und Urteilen.10

Die DDR erschien zwischenzeitlich sogar als „überforscht“.11 Es fanden sich zwar stets neue Themen, jedoch – das erstaunt angesichts der DDR-Realgeschichte – nicht der Humanismus. Als Ursache dafür kann gelten, dass die DDR gerade auf kulturellen Feldern das „vierte, vergessene Deutschland“ darstellt, wie der Historiker Fritz Stern 2007 in seinen Erinnerungen schrieb. Liegt dies daran, dass diese Region „wie Westdeutschland, ein Staat mit sehr begrenzter Souveränität“ war? 12 Es ist aber wohl eher ein Problem der Erinnerungs- und Forschungskultur,13 in der „erst jetzt die DDR entsteht“.14 Zur Illustrierung dieser These soll ein Urteil von Günter Grass (geb. 1927) angeführt werden. Der Schriftsteller kritisierte 1982, dass der „ostdeutsche Humanismus“ zu wenig beachtet werde, weil der westliche Bilderkanon zu stark dominiere.15

Selbstredend wurde Humanismus in der DDR in einer speziellen Lesart gepflegt und von der SED seit ihrer Gründung 1946 politisch eingesetzt. Der Begriff wurde staatstragend, blieb lange strittig. Bis an ihr Ende diente ein besonderer „sozialistischer Humanismus“ der kulturellen Legitimation der DDR. Jüngere Forschungen wie die von Gunther Mai heben ausdrücklich hervor: „Aus dem Selbstverständnis als Erbe und Vollstrecker, aus dem überzeitlich definierten Humanismus-Begriff leitete die SED ihre historische Legitimität wie ihre staatspolitische Seins-Räson nach innen und außen ab.“16

Humanismus wurde dabei zwar ebenso umfassend wie zugleich kunstfixiert verstanden, aber keinesfalls – wie der gleiche Autor einschätzt und wie im Folgenden gezeigt wird – „überzeitlich“ und schon gar nicht als „Verheißung eines ‚totalen’ Humanismus“. Dafür war dieses Humanismus-Verständnis viel zu sehr in den Kanon des Marxismus-Leninismus eingebunden – jedenfalls so weit es die trotzige Kategorie überhaupt zuließ.

Drei Einstellungen sind bei den in der DDR handelnden Personen zu konstatieren, die sich tradierten, zumindest in der gesamten Ära Walter Ulbricht (1893–1973) vom 5. Dezember 1943 bis zum 3. Mai 1971, von der Bildung einer KPD-Arbeitsgruppe in Moskau für das künftig sowjetisch besetzte Deutschland und seinem Rücktritt von fast allen seinen Ämtern in Berlin. Diese kulturellen Überzeugungen bildeten objektive Voraussetzungen, dass die Hauptakteure trotz härtester politischer Kämpfe auch untereinander zur Zusammenarbeit (oder auch zu Trennungen) fanden:

Bei allen Beteiligten hielt sich erstens in irgendeiner Variante die Erinnerung an den gemeinsamen Antifaschismus, der sich nicht in erster Linie gegen Deutschland und Deutsches richtete, sondern gegen das – wie es bereits 1942 Johannes R. Becher (1891–1958) gegenüber dem Regimentskommandeur und späteren sowjetischen Kulturoffizier Sergej Iwanowitsch Tjulpanow (1901–1984) ausdrückte – „vom Faschismus versklavte Deutschland“. Das hielt nicht nur fest am Nationalen – auch gegenüber den Russen –, sondern bejahte in schwerer Bedrängnis die Frage, „ob man auf die demokratischen Traditionen des deutschen Volkes hoffen könne.“17

Eine zweite, dem Humanismus zuneigende Orientierung findet sich bei deutschen „Geistesarbeitern“ – die allgemeine Wertschätzung des Projektes Humanismus. Es behielt „eine anhaltende Faszination bei vielen Kultur-Intellektuellen ..., die selbst ein Stalin in den dreißiger Jahren nicht gebrochen hatte.“18 Dazu gehört die fortgesetzte Hochschätzung der Kategorie vom „ganzen Menschen“, besonders in der ungebrochenen Verehrung nicht nur der Bildungskonzeption von Wilhelm von Humboldt (1767–1835),19 sondern besonders von dessen Betonung, dass Menschen in objektive Lagen gebracht werden müssten, „ganze Menschen“ zu werden. Humboldt hatte sein Konzept während der Revolution in Frankreich formuliert. In der SBZ wurde diese Schrift 1948 in einer populären Ausgabe innerhalb von Reclams Universalbibliothek neu herausgegeben.20

„Freiheit“, bei Humboldt der Zentralbegriff, wurde in der DDR – solange die Bedingungen der „Diktatur des Proletariats“ herrschen müssten – als Schaffung sozialer Voraussetzungen interpretiert, den „ganzen Menschen“ entwickeln zu können. „Der wahre Zweck des Menschen“, so Humboldt, „ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. ... Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.“21

Daraus folgte bei kommunistischen wie sozialdemokratischen Linken, wie gezeigt wird, der Begriff des „realen Humanismus“22 und dann in der DDR die Konzentration auf dessen sofortige Verwirklichung. Für „den Ausbau konstanter und systematischer Bemühungen um die Vereinheitlichung aller unserer Maßnahmen in bezug auf den ‚ganzen Menschen’, der in Gestalt des Arbeiters vor uns steht“,23 nutzte dann der führende DDR-Kulturpolitiker Alfred Kurella alle ihm zur Verfügung stehende Macht.

Mit einer dritten Überzeugung wird sich dieses Buch beschäftigen. Sie findet sich bei den „Parteiarbeitern“ der SED, gerade bei der ersten Riege um Walter Ulbricht – die besondere Wertschätzung der Klassik. Sie „erklärt sich ... nicht nur daraus, daß ihr ‚Ideengehalt’ von breiten Schichten akzeptiert wurde. Die kommunistische Funktionärselite hatte selbst diese Kulturwerte verinnerlicht.“24

Beginnend 1932 in Berlin, fortgesetzt 1935 im Pariser und dann 1943/44 im Moskauer Exil, schließlich forciert unmittelbar nach dem Krieg, mit einem ersten Höhepunkt im Goethejahr 1949, das mit der Konstituierung der DDR zusammenfiel, wurde Humanismus, zunächst vor allem derjenige der „Weimarer Klassik“, Teil der Begründungslegitimation des ostdeutschen Staates.

Den Werktätigen in der DDR wurde faustisches Handeln bescheinigt. Am Ende der Ära Ulbricht hieß dies nach dessen eigenwilliger Interpretation von Goethes Faust, hundert Jahre nach des Dichters Tod habe die vom Kapitalismus befreite Arbeiterklasse als Teil eines freien Volkes auf freiem Grund damit „begonnen, diesen dritten Teil des ‚Faust’ mit ihrer Arbeit ... zu schreiben“.25 Wieso und wie wird mit Arbeit „geschrieben“? Auch dieser Interpretation wird nachgegangen.

Arbeiterklasse, Sozialismus und Humanismus zusammen zu denken war in den 1960ern in der DDR keine Sensation mehr. Ganz anders noch zu Zeiten der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945–1949. Der Kontrast zum deutschen Vorher und Nebenan, aber auch zur eigenen Geschichte des Sozialismus und Kommunismus konnte nicht größer sein. Das fiel den intellektuellen Zeitgenossen auf, verwunderte sie: „Die deutschen Humanisten im Dienste der kommunistischen Idee – das stieß noch lange bei Künstlern und wie bei großen Teilen des Publikums auf Skepsis.“26

Es ging der Parteiführung der SED seit ihrer Gründung 1946 darum, auch wenn an ein eigenes Land unmittelbar nach Kriegsende noch nicht zu denken war, „die DDR als idealisch vollstreckenden Kulturstaat nach außen zu präsentieren: Humanismus als Waffe im Klassenkampf“.27 „Humanismus“ hatte dabei verschiedene, historisch sich ändernde Funktionen. Unmittelbar nach dem Krieg verbreitete die sowjetische Besatzungsmacht, bevorzugt an Intellektuelle gerichtet, ein Humanismusverständnis, das sich als Gegenbegriff zum Faschismus verstand. Im folgenden Bericht der SED-Parteizeitung Neues Deutschland, 1. November 1946, sind künftige „Anwendungen“ der Kategorie „Humanismus“ angedeutet.

Die Wortwahl lässt den Schluss zu, mit Humanismus sei „menschliches Leben“ überhaupt gemeint. Diese Sicht belegt, wie ungeübt man im Gebrauch dieser Kategorie (russisch: Гуманизм) auf sowjetischer Seite damals noch war. Die SED-Parteizeitung zitiert aus einer Rede von Kulturoffizier Major Ilja M. Fradkin zum Thema Humanismus in der Kunst Ende Oktober 1946 in Dresden auf dem Sächsischen Künstlerkongreß. Er leitete von 1945 bis 1947 die Theaterabteilung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD).

„Humanismus in der Kunst sei ein wesentlicher Bestandteil im menschlichen Leben. Die ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Zeit haben sich auf die humanistische Entwicklung derart hemmend ausgewirkt, daß dadurch eine Krise des Humanismus entstanden sei, die zu dem egoistisch handelnden Individuum der neuen Gesellschaft geführt habe. Das philosophische Wort: ‚Alles fließt, doch nichts verändert sich’, das die Unveränderlichkeit der ewigen Gesetze der menschlichen Welt dokumentieren soll, habe zur Folge gehabt, daß die Menschen sich vielfach in einen passiven Individualismus verkapselt haben, der dem Faschismus den Weg erleichterte. Der sozialistische Humanismus in der Sowjetunion verbinde die Interessen des Privaten und des Allgemeinen harmonisch miteinander.“28

Die eigenwillige Konnotation von „Humanismus“ wird bei den deutschen Zuhörern einige Verwunderung ausgelöst haben. Erst später, in den Phasen des „Aufbaus des Sozialismus“, stellte sich eine größere Nähe zur Begriffsgeschichte her, auch in der Sowjetunion. In der DDR wandelten sich die Funktionen des Humanismus in dem Maße, wie der Begriff und das Programm präzisiert und instrumentalisiert wurden. So kam dann, dass „Humanismus“ in der DDR aus der Gedankenwelt einiger Gelehrter und Pädagogen in die Gesellschaft hinein sich ausbreitete. Wohl in keinem Land der Erde wurde darüber so lange, breit, intensiv und hochpolitisch diskutiert, die Bevölkerung, die Schulen, die Betriebe und die Freizeit erreichend. Der Begriff ging ein in wissenschaftliche Fachdisziplinen, gab Dissertationen das Thema, beschäftigte Philosophen und schließlich auch Altphilologen, Künstler und Funktionäre aller Parteien, die Gewerkschaften und das Gesundheitswesen.

Walter Ulbricht war der große Verfechter einer Verbindung von Sozialismus mit einem Humanismus, wie er ihn verstand und wie er ihn in den Zeiten der Volksfront vor dem Zweiten Weltkrieg in Paris und in besonderem Kontakt mit Heinrich Mann (1871–1950) lernte, wie er von ihm und anderen interpretiert und in die SED eingeführt wurde – durchaus zur Überraschung der älteren Kommunisten. Johannes R. Becher kolportiert in seiner Biographie Ulbrichts, dieser habe in den sozialdemokratischen Bildungszirkeln vor dem Ersten Weltkrieg die klassische deutsche humanistische Literatur, besonders Faust I, schätzen gelernt und selbst gern und mit großer Betonung Goethes Prometheus-Gedicht vorgetragen.29 Dieses Kunstverständnis hat ihn dann noch geleitet, als er Staatsratsvorsitzender war, wie noch vorzuführen ist.

Eine Entdeckung 1932: Humanismus

Humanismus und Arbeiterbewegung – das schloss sich aus, war bürgerliches, teils sogar bürgerlich-konservatives Reservoir. August Bebel (1840–1913), der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, hatte die „Humanitätsduselei“ strikt zurückgewiesen, sinngemäß auf dem Treffen mit Vertretern der „Humanistengemeinden“, führenden Mitgliedern des Internationalen Bundes für ethische Kultur und der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur im September 1896 in Zürich, darunter immerhin der Astronom Wilhelm Foerster (1832–1921) und der Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936), wörtlich in seiner Kritik am humanitären Konzept der französischen Fourieristen.30

Der Entdeckung des Humanismus wird noch ausführlich nachgegangen. Doch ist gleich zu Beginn dieser Erzählung der Moment festzuhalten, an dem die „Eroberung“ einsetzt, die dann schließlich dazu führt, dass ab Mitte/Ende 1942 Humanismus zu einem Bestanteil der politischen Konzeptionsbildung in Moskau für ein Deutschland nach dem Krieg wird, dann ab 1943 „eingesetzt“ wird in den Kriegsgefangenlagern für deutsche Offiziere und Militärseelsorger, aus denen sich das künftige Personal bildet, mit dem dann die Rote Armee unter Zuhilfenahme deutscher Kommunisten ab Ende April 1945 die Ostzone besetzt.

Der Ausgangspunkt dafür liegt in einer zeitlich kurzen und personell sehr begrenzten Humanismus-Debatte 1932/33. Den Anlass bildeten die humanistischen Frühschriften aus den Jahren 1843/44 von Karl Marx (1818–1883), damals nur Experten bekannt. Die Deutsche Ideologie erschien erstmals 1932 in Moskau und in einer davon abweichenden Fassung in Deutschland. Die Ökonomischphilosophischen Manuskripte wurden 1932 in Deutschland ediert. Die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857–1858, Anhang 1850–1859, eine Vorstufe zum Kapital, erschienen zuerst in zwei Bänden in Moskau 1939 und 1941 im Verlag für fremdsprachige Literatur.31 Die nationalsozialistische Diktatur ab Februar 1933 und der Zweite Weltkrieg verlegten die breitere Aneignung auf nach 1945, teilweise erst in die späten 1950er Jahre. Hier fallen sie dann zusammen mit Forderungen nach Entstalinisierung, Demokratisierung und „Humansozialismus“.32

Die 1932er Beschäftigung mit den Frühschriften ließ bei Herbert Marcuse (1898–1979) bereits Ideen der 1968er Neuen Linken im Westen erkennen. Sein Text verdeutlicht, wie überrascht Marcuse war – und wohl auch seine linken Zeitgenossen – dass Marx den Begriff Humanismus überhaupt verwendet. „Marx nennt mehrfach ... den positiven Kommunismus, der die Aufhebung der Entfremdung und Verdinglichung leistet ‚Humanismus’ –, ein terminologischer Hinweis darauf, daß für ihn eine bestimmte Verwirklichung des menschlichen Wesens die ‚Basis’ ist.“33

Ähnlich fortwirkend die zeitgleiche Sicht von Alfred Kurella auf „sozialistischen Humanismus“, dann 1936/39 in Moskau ausgearbeitet und schließlich nach 1957 in die DDR innoviert.34 Seine Grundthesen blieben, bei allen taktischen Korrekturen, konstant, verdrängten und unterdrückten Varianten eines breiter angelegten antifaschistischen Humanismus, ließen diese nicht wieder aufkommen, obwohl sie 1945–1948 alle präsent waren. Bei der Begründung der dann von ihm fast ein Jahrzehnt geführten DDR-Kulturpolitik, merkte Kurella an, er sei schon 1936 in der Sowjetunion „auf die Unbestimmtheit und Unsicherheit des Begriffes ‚Humanismus’, mit dem wir damals operierten“, gestoßen.35 Ihm wären damals seine Vorlesungen nützlich gewesen, die er im (letzten) Schuljahr 1932/33 in der Berliner Marxistischen Arbeiter-Schule (MASCH) gehalten habe über die gerade bekannt gewordenen Frühschriften von Marx.

Kurella unterrichtete vor 1933 gemeinsam mit Johann Lorenz Schmidt (1900–1978) an der schon erwähnten MASCH zwei „Fortgeschrittenenkurse“ (vor allem Arbeiter, Arbeiterinnen und „Hausfrauen mit nur wenigen Jahren Schulbildung“) „Philosophie des Marxismus“ und gab Rhetoriklehrgänge, schulte Kursleiter.36 Schmidt hieß ursprünglich László Radványi, war Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler und Schüler von Georg Lukács (1885–1971). 1923 promovierte er bei Karl Jaspers (1883–1969) über „Chiliasmus“. Schmidt heiratete 1925 Anna Seghers (1900–1983). Während der Volksfront-Zeit war er in Paris Leiter der Freien Deutschen Hochschule.

Ein weiterer Lehrer an der MASCH war Hans Günther (1899–1938). Er übernahm dann in Moskau die Diskussionsleitung in Sachen Humanismus. Alle drei rezipierten bis Mitte der 1930er Jahre die Frühschriften von Karl Marx, wobei sie den daraus abgeleiteten „proletarischen“, später dann „sozialistischen“ Humanismus als integralen Bestandteil des Marxismus-Leninismus betrachteten – eine Position, die dann in der DDR als verbindlich galt.37

Alles deutet auf eine Kontinuität bestimmter Auffassungen des sozialistischen Humanismus zwischen 1932 und 1958 hin – und auf Wandlungen, die hier noch Gegenstand sein werden, und auf Motive von Walter Ulbricht, den „Spätheimkehrer“ Kurella 1957 zum „Kulturbeauftragten“ der SED zu machen in der schwierigen Zeit nach dem Tod von Josef W. Stalin 1953, der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 und gegen die Reformergruppe in der SED 1957. Hatte Kurella nicht schon vor 1933 ein nun brauchbares Kulturprogramm zur Hand, als andre in der Partei Humanismus noch für etwas dekadent Bürgerliches hielten und er selbst, Walter Ulbricht, 1930/31 an der gleichen MASCH Kurse über „Sozialfaschismus“ gab?38 Doch der Einsatz Kurellas erwies sich für Ulbricht letztlich als Bumerang, da er „als lästiger Dogmatiker psychologisch ungeschickt agiert und nichts dafür tut, das gespannte Verhältnis zwischen der Ulbrichtschen Parteiführung und der Mehrheit der Intellektuellen zu entspannen.“39

Diese Vorgeschichte, die noch genauer betrachtet wird, wirft vier Fragen auf, denen diese Studie nachgehen wird: Erstens, welche Debatten fanden überhaupt statt; zweitens, welche Wirkungen hatten sie bei wem; was war drittens wann über Humanismus bei denen bekannt oder konnte bekannt sein, die 1943 im Moskauer Exil, zur gleichen Zeit in anderen Exilländern, dann 1945 in der SBZ und schließlich ab 1949 in der DDR das kulturpolitische Sagen hatten und „humanistisch“ argumentierten; viertens, wann und wo hatten die unmittelbaren Kerngedanken, die konzeptionell bestimmend wurden, ihre Geburtsstunde bzw. ihren Geburtsort und wer waren die Väter und Mütter. Es ist aber bereits hier anzumerken, dass es vorwiegend um „Väter“ geht, da auch der DDR-Humanismus, insofern er sich schriftlich präsentierte, eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit darstellte, was ihn von anderen – bis heute – nicht grundsätzlich unterscheidet.

Legitimation: Humanismus in den Verfassungen

Die Autorität des Begriffes Humanismus fand in den Verfassungen der DDR einen wörtlichen Niederschlag – als „wahre Humanität“ 1949 im Bildungsteil und als „Humanismus“ und „humanistische Werte“ 1968 im Kulturteil. Damit stellte sich die DDR in der Welt allein. „Humanität“ oder gar „Humanismus“ waren vorher keine Begriffe der Weimarer Reichsverfassung und keine politischen Losungen der historischen Arbeiterbewegung, schon gar nicht der KPD.

Beide Kategorien – „Humanität“ und „Humanismus“ – stehen nicht im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Auch die Verfassung der UdSSR von 1936, die sogenannte „Stalin-Verfassung“, enthielt keine entsprechende Passage. Anders in der DDR: „Humanität“ und „Humanismus“ waren staatspolitische Kategorien, die sich auch in Gesetzen und im Amtshandeln niederschlugen. Das politisierte „Humanismus“ zu einem offiziellen kulturellen Ziel, mit dem sich nicht nur der Staatsrat wiederholt beschäftigte,40 sondern von dem wiederholt angenommen wurde, er sei schon da.

Die DDR besaß in ihrer Geschichte zwei, faktisch vielleicht sogar drei Verfassungen, die von 1949, die von 1968 und die revidierte von 1974. Humanismus fand 1949 Eingang in Artikel 37 Satz 2 in Form des Begriffspaares „wahre Humanität“. „Als Mittlerin der Kultur hat die Schule die Aufgabe, die Jugend im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker und einer echten Demokratie zu wahrer Humanität zu erziehen.“41

Am 9. April 1968 trat die (zweite) „sozialistische Verfassung“ der DDR in Kraft. Sie war so etwas wie das politische Testament von Walter Ulbricht. Dessen Entmachtung durch Erich Honecker (1912–1994) begann ein Jahr nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 mit Auseinandersetzungen im Politbüro der SED zur weiteren Wirtschafts- und Außenpolitik der DDR. Die Verfassung der DDR von 1968 war stark ein Kulturprogramm, konzeptionell vorbereitet von Alexander Abusch (1902–1982) und Alfred Kurella. Sozialismus wird 1968 als Tradition und kommende Vollendung des Humanismus in den Farben der DDR beschrieben.

Hatte die Verfassung von 1949 im Artikel 37, dem Bildungsteil, die schon zitierte Passage über „wahre Humanität“,42 so enthielt der 1968er Text im Grundlagenteil den Artikel 18 Absatz 1. Darin stand eine viel grundsätzlichere Aussage als 1949: „Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft dient. Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegführung und der Herabwürdigung des Menschen dient. Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen, pflegt alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes.“43

Damit war ein Sinn von Humanismus in Verfassungstext gegossen, dem eine offizielle politische Auslegung vorangegangen war. In der Sowjetischen Enzyklopädie 1960 stand das definitorische Pendant. Es markierte – wie noch beschrieben wird – den Abschluss einer Debatte nach Stalins Tod 1953 und griff auf vorherige Diskussionen zurück. Die Humanismus-Definition in der Verfassung von 1968 wiederum stand in Beziehung zu Begriffen wie „Unkultur“ und „Kriegführung“. Das hatte schon etwas Seltsames, dem dieses Buch nachgeht, und wenig zu tun mit dem, was Humanismus historisch darstellt – eine Kulturauffassung von „Menschenbildung“, „Barmherzigkeit“ und „Menschenwürde“.

Die Verfassung von 1968 wurde am 27. September 1974 einer Revision an wesentlichen Stellen des Staatsaufbaus unterzogen, sodass manche Autoren von einer dritten Verfassung reden, was hier nicht weiter interessiert. Die geänderten Punkte betrafen nicht den hier zu behandelnden „Humanismus“, sondern die „unwiderrufliche“ Bindung an die Sowjetunion, verknüpft mit der endgültigen und nun auch offiziellen Aufgabe des Ziels einer einheitlichen deutschen Nation, und den Staatsmechanismus, der zu berücksichtigen hatte, dass die Volkswirtschaft seit Anfang der 1970er Jahre nahezu vollständig „volkseigen“ war.

Bis dahin, dem Anfang der Ära Honecker, dominierte in der DDR der „sozialistische Humanismus“ als Leitbild. Es begleitete eine damit begründete kulturelle Praxis, staatlich intensiv gefördert. Formal galt das Ulbricht-Programm fort. Es reagierte die ganze Zeit über auf ökonomische und freiheitspolitische Mangelsituationen, über die sich „Humanismus“ wölben sollte. Adressat dieses volkspädagogischen Programms war die gesamte Bevölkerung. Allen voran gehen sollten die Arbeiter als „herrschende Klasse“. Kämpferische Parolen verquickten sich mit Ideen der kulturellen Erziehung, die aus der Renaissance, der deutschen Klassik und – wie gezeigt wird – den bürgerlichen Vereinen Volkswohl hergeleitet wurden.

Ulbricht hatte kurz vor der zweiten DDR-Verfassung den Sozialismus als „relativ selbständige Gesellschaftsformation“ auf dem Weg zum Kommunismus charakterisiert und damit einen Bruch mit gültigen Dogmen vollzogen. Er verschob den Kommunismus in die fernere Geschichte und forderte, man müsse über die lange Strecke dahin nachdenken. Wie diese Strecke aussehen sollte, wurde in den 1960ern Gegenstand hitziger Theoriegefechte, die auch vom Humanismus handelten.

Erich Honecker, ohne eigene Theorieambitionen, verlegte den Kommunismus in noch weitere Ferne. Er wurde ein großes, zeitlich nicht bestimmbares Endziel. Bis dahin übliche Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“, „Volksstaat“ oder „Volksdemokratie“ kamen schon in der Ulbricht-Verfassung von 1968 nicht mehr vor. Seit den 1970ern findet man dann diese ehemaligen Kernbegriffe nur noch in ambitionierten Speziallektüren. Parallel dazu wird der Humanismus der Volksfront von der Literaturgeschichte entdeckt und dort fruchtbar. Überlegungen, was dies alles kulturell übergreifend bedeuten könnte, blieben unter Honecker weitgehend aus, je umfangreicher die Sozialismustheorie sich entfaltete. Wegweisende Forschungen zum antiken Humanismus, 1971 vorgestellt, blieben in ihren gravierenden begrifflichen Folgerungen unbeachtet.

Die 1974 geänderte Verfassung von 1968 besiegelte den historischen Bruch zwischen dem „Kultursozialismus“ Ulbrichts und dem „Konsumsozialismus“ Honeckers. Diese ebenso einsichtige wie eingängige Unterscheidung stammt von dem Historiker Gerd Dietrich (geb. 1945), der sie aber nicht näher ausführt.44 „Humanismus“ wurde dann in den letzten 15 Jahren der DDR weitgehend eine Worthülse. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – gab er einer praktischen Kulturarbeit weiter die Begründungsfigur. Hin und wieder wurde er Gegenstand einer ernsteren Beschäftigung.45 Ihn 1984 erneut groß in Dienst zu nehmen misslang.

Rückschauend stellt sich das Konzept des „sozialistischen Humanismus“, das nun in Entstehung und Entfaltung vorgestellt wird, als Versuch dar, das Bedürfnis nach Individualität in eine wohlgeordnete – wie es dann in der zweiten Verfassung hieß – „Menschengemeinschaft“ einzubinden,46 es gesellschaftskonzeptionell für die DDR zu nutzen und in Gegensatz zur kapitalistischen Bundesrepublik zu setzen. Artikel 2 Absatz 2 der Verfassung der DDR von 1968 unterschied in dieser „Menschengemeinschaft“ soziologisch vier Bevölkerungsgruppen: Arbeiterklasse, Klasse der Genossenschaftsbauern, Angehörige der Intelligenz und „andere Schichten des Volkes“.

Die Verfassung von 1968 regelte nicht das Verhältnis von Arbeiterklasse und SED – ein entscheidendes Manko. Beide führen nach Artikel 1 den Staat, der als politische Organisation aller Werktätigen gesehen wird. „Werktätige“ wiederum sind dem Prinzip nach alle Erwachsenen. Das schloss Jugendliche unter 18 Jahren (Volljährigkeit) ein, die schon berufstätig sind. Auch Rentner sind „werktätig“, wie auch „Hausfrauen“ und andere Angehörige der „nichtberufstätigen Bevölkerung“.

Als ein Jahr nach Verabschiedung der zweiten Verfassung der Staatsrat über Fragen der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft beriet, äußerte sich der Theaterwissenschaftler, Filmregisseur und Kulturfunktionär Hans Rodenberg (1895–1978), bereits im Einleitungsreferat grundsätzlich zum Humanismus. Rodenberg, eigentlich Hans Rudolph Rosenberg, wirkte seit 1958 als Professor an der Kunstakademie. In den 1920er Jahren Max-Reinhardt-Schüler, wurde er Schauspieler, Regisseur (unter anderem an der Berliner Volksbühne). 1932 emigrierte Rodenberg in die Sowjetunion, kam 1948 zurück und stieg vom einfachen Mitglied der SED bis ins Zentralkomitees auf (1954–1978).

Zunächst verkündete der Redner das Ende der Klassengesellschaft in der DDR und deren Ersatz durch eben diese „Menschengemeinschaft“. Basierend auf der sozialistischen Staatsmacht und den neuen Produktionsverhältnissen „entstand die politisch-moralische Einheit des werktätigen Volkes, wuchs die sozialistische Menschengemeinschaft, in der sich der große humanistische Gedanke von der Selbstverwirklichung des Menschen realisiert.“47 Weil „wir zwei siegreiche Revolutionen vollzogen“ – das verstand sich tatsächlich im Sinne von „planvoll durchgeführt“48 und „fest im Volke verankert“49 – sei nun der „Weg eröffnet, um dem sozialistischen Humanismus in unserem Staat für immer Heimatrecht zu geben.“50 „Diese großartige ideologische Erneuerung und Entwicklung des humanistischen Bewußtseins war vorauszusehen.“51

Der „sozialistische Humanismus“ sah die DDR logischerweise als das bessere Deutschland, das es zu beschützen galt. Eine Mauer war das Mindeste, was dafür zu dessen Schutz getan werden konnte, wie Walter Ulbricht nach deren tatsächlichem Bau formuliert hatte: „Für uns ist das Erbe der Väter der Humanismus von Goethe, Marx, Liebknecht und Thälmann. Für Herrn Lübke, den Vertreter der westdeutschen Reaktion ist das Erbe der Väter die Herrschaft irgendwelcher Karolingerkönige und der für zwei Weltkriege verantwortlichen Ostlandritter.“52

Die Verwendung des Begriff Humanismus in der DDR – auch das gehört zum „großen Hurra“ – diskreditierte ihn früh und zu großen Teilen dauerhaft in den Augen anderer, wohl vom Beginn des Kalten Krieges 1948 an. Mit Deutschland wurden auch die Debatten geteilt. In beiden Deutschländern waren die Reden über Humanismus verschiedene, ja konträre, wurde dieser fast gar nicht als gemeinsames Band gesehen. Während die DDR zunächst mit humanistischen Worten vehement für die Einheit der Kulturnation eintrat, die im Westen bedroht sei, etwa durch die „Französisierung der deutschen Kultur“ im Saarland,53 wollte sie zum Ende der Ulbricht-Ära eine eigene Kulturnation mit „sozialistischem Humanismus“ als Kernbestand sein. Unter Erich Honecker wurde dann versucht, die DDR sogar als eigene Nation zu begründen, was am realen Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung scheiterte.54

Dieses Buch handelt von den DDR-Debatten, zeigt ihre Hintergründe sowie Vor- und Begleitgeschichten und versucht vorsichtige Deutungen. Das Thema fokussiert um die Verfassungsdebatten. Obwohl diese Grundgesetze in der DDR keine politische oder gar juristisch einklagbare Bedeutung besaßen, zeigen sie, wie die herrschende Partei SED ihre Kultur- und Gesellschaftskonzeption zu einer offiziellen staatlichen machte. Die vorliegende Studie ist keine deutsch-deutsche.55 Sie beschränkt sich auf den Osten, obwohl die Humanismus-Debatten in der SBZ und dann in der DDR stets in gewolltem Kontrast zu denen in den Westzonen standen.

Verständnis: Arbeitsbegriff von „Humanismus“

Ein Buch, in dem es immerfort um Humanismus geht, benötigt ein Arbeitsverständnis von Humanismus, von dem aus im Fortlauf der Darstellung gedanklicher Rückbezug genommen werden kann, ohne mit einer – sowieso nicht zu liefernden – Kulturgeschichte des Humanismus einen Einstieg zu geben, aber um Ort und Zeit des DDR-Humanismus genauer zu bestimmen. Es soll hier pragmatisch verfahren werden. Ein umfängliches Zitat eines der wichtigsten Humanismusforscher in Deutschland, Hubert Cancik, dessen Buch eingangs Gegenstand der erwähnten Rezension war, soll einen Begriff vorgeben:

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