Einleitung

Eine Kampfkunst für jedermann

Ich wurde im Jahre 1918 geboren und hatte das Glück, mein ganzes Leben mit Karate verbringen zu können. Mein Vater, Mabuni Kenwa (1889-1952), der das Shitō-Karate gründete, vertrat den Standpunkt: »Alte und Junge, Männer und Frauen, jeder kann Karate üben.« Karate kann Menschen für verschiedenartigste Zwecke dienlich sein. Es kräftigt die Gesundheit und erhält das gute Aussehen. Zudem kann Karate zur Selbstverteidigung oder im realen Kampf genutzt werden. Aber Karate vermag noch mehr. Vor allem das Budō-Karate2 ist nicht nur ein System von Körpertechniken (taijutsu), sondern es ist auch reich an psychischen Techniken (shinjutsu). Einmal habe ich während der Katavorführung eines erfahrenen Karateka gehört, wie ein Zuschauer beeindruckt bemerkte: »Schon wegen dieser geistigen Energie ist Karate etwas sehr Kostbares.«

Andere lieben Karate als Mittel des künstlerischen Ausdrucks. So erregte die österreichische Mannschaft im Synchronschwimmen während der Olympischen Spiele 2000 in Sydney einiges Aufsehen, weil sie eine Karate-Kata, die Heian yondan, in ihre Darbietung integriert hatte. Als im August 2001 im Nihon Budōkan das 3. Welttreffen des Shitō-Karate eröffnet wurde, begrüßte mich ein bekannter japanischer Tänzer mit der Bemerkung: »Ich erkenne im Karate einen Bezug zum Tanz.«

Man kann sich Karate als ein gigantisches Bergmassiv vorstellen, das einem immer anders erscheint, je nachdem, wo man sich befindet oder welche Jahreszeit gerade herrscht. Weder die Ziele noch die Wege sind festgelegt. Manche werden langsam emporsteigen und in den Bergen wandern, um ihre physische Kraft zu stärken. Andere wiederum, ehrgeizige Bergsteiger, werden um jeden Preis versuchen, die höchsten und steilsten Gipfel zu erklimmen.

Karate für die physische, kämpferische und geistige Entwicklung

Karate wirkt auf Körper und Geist des Menschen. Es verhilft dem Praktizierenden zu einer besseren Gesundheit und sichert ein langes und gesundes Leben. Durch seine Praxis bilden sich Kampffähigkeiten aus. Darüber hinaus kann Karate die Vitalität und die psychische Energie entwickeln und festigen. All diese Aspekte lassen sich jedoch kaum voneinander trennen, sie bedingen und fördern einander. Welche dieser Funktionen in den Vordergrund tritt, hängt von den Motiven und Zielen des Praktizierenden ab.

Hinsichtlich der Ausbildung kämpferischer Fähigkeiten gibt es häufig Mißverständnisse. Mancher bekommt sicher etwas Angst, wenn er Begriffe hört wie »Realkampf-Karate« oder »Straßenkampf-Karate«. In Situationen realen Kampfes gerät man im normalen Alltagsleben allerdings relativ selten, es sei denn, man provoziert oder sucht sie. Dennoch, die Gewalttätigkeit hat in jüngerer Vergangenheit wieder zugenommen. Selbst in Japan, einer der sichersten und diszipliniertesten Gesellschaften der Welt, kam es in den letzten Jahren zunehmend in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf Straßen zu völlig unprovozierten Angriffen oder zur Eskalation von Konflikten. Man sollte sich demzufolge darauf einstellen, daß man selbst in gewaltsame Auseinandersetzungen einbezogen oder zum Kämpfen gezwungen wird, um Familienmitglieder oder Freunde zu schützen. Der beste Weg, mit solchen Situationen fertig zu werden, war schon immer, dem Angriff des Gegners auszuweichen und ihn daraufhin an empfindlichen Stellen zu treffen, um damit Zeit zu gewinnen und weglaufen zu können.

Normale Leute werden heutzutage mit realem Kampf nur dann konfrontiert, wenn sie sich verteidigen müssen. Für die Samurai in den Zeiten der Feudalkriege oder für die Soldaten in den Weltkriegen bedeutete realer Kampf hingegen, sich gegenseitig zu töten. An dieser Stelle muß ich einräumen, daß Meister des Karate, wie ich sich selbst einer bin, sich Tag für Tag in einem Bujutsu-Karate3 schulen, das die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Und Kampftechniken, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreiten sind, geradeheraus gesagt, Techniken zum Töten von Menschen (satsuhō). Es mag gewagt klingen, das zu sagen, aber genau dies ist der Ausgangspunkt des Karate als Budō, als Weg des Kampfes oder des Kriegers. Aber man möge dabei bedenken, daß man, wenn man solche Techniken übt, grundsätzlich nichts anderes tut als Soldaten, die sich Tötungstechniken zur Verteidigung ihres Vaterlandes, des Landes ihrer Vorfahren, aneignen.

Die Techniken zur »minimalen« Selbstverteidigung, also jene Techniken, die nicht den Tod des Gegners bezwecken, wurden demzufolge aus Techniken zum Töten von Menschen entwickelt.

Die Herausbildung des modernen Karate

Der Mann, den man später den »Ahnherren der Erneuerung des Karate« nannte, war Itosu Ankō (1830-1916), auch Yasutsune genannt. Er war der größte Meister des Shuri-te, das die ursprünglichen okinawanischen Kampftechniken mit der bloßen Hand, die te, repräsentiert.4 Meister Itosu reorganisierte das Karate, als es in der Meiji-Zeit offiziell Eingang in die reguläre Mittelschulbildung fand.

Meister Itosu wählte traditionelle Techniken aus und gestaltete sie um. Orientiert an den Idealen der modernen Körpererziehung wurden lebensgefährliche Techniken ersetzt durch technische Abläufe, die bewegungsreich und hinsichtlich der Körpererziehung effektiv waren. So war die Sequenz vom Querfeger (yoko barai) zum Tritt (keri) in der Kata Passai dai ursprünglich eine Bewegungsfolge von einem Stich in die Augen mit den Fingern der offenen Hand (kaishu metsubishi) zu einem Tritt in die Genitalien (kinteki). Von Itosu Ankō stammt beispielsweise die Gruppe der fünf Kata Heian, die noch heute sehr beliebt sind. Entsprechend der Bedeutung des Begriffs Heian (Frieden und Ruhe) enthalten diese Kata keine Angriffe auf sogenannte »goldene Ziele«, d. h., auf Genitalien oder auf andere Vitalpunkte, oder gefährliche Techniken wie den »Augenzerquetscher« (metsubishi).

Auf ähnliche Weise ist Kanō Jigorō (1860-1938) vorgegangen, als er aus dem überlieferten Jūjutsu alle Würfe (nage waza) und Schläge (atemi) eliminierte, mit denen man töten konnte, und so das Kōdōkan-Jūdō entwickelte. Dies waren Ergebnisse, wie sie die Bewegung zur kulturellen Reform (bunmei kaika) im Prozeß der Modernisierung Japans angestrebt hatte.

Allerdings blieben im Shitō-Karate viele alte Kata erhalten. Und auch in den von Meister Itosu reformierten Kata waren etliche Techniken verborgen, die nur mündlich als Geheimwissen überliefert worden waren, darunter einige recht grausame Tötungstechniken. Einer meiner engagiertesten Schüler, Terada, leitete manchmal das Training im Schul-Karateverein, dem auch sein Sohn angehörte. Er erzählte mir einmal lachend, daß sein Sohn sich beschwert habe: »Papa, dein Karate ist immer gegen die Regeln!« Das berührt die Frage, ob man solche gefährlichen Techniken wirklich lernen muß, ob also eine kampftechnische Ausbildung sinnvoll ist, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Wie bereits erwähnt, gehört der Angriff im Rahmen der Verteidigung zum Wesen des Karate. Tatsächlich gibt es einen Grenzbereich beim Studium des Karate, in dem es darum geht, Kampftechniken beherrschen zu lernen, mit denen man auf sehr effektive Weise töten kann. Damit begibt man sich in die Welt des Budō. Dieses Problem ist der wichtigste Gegenstand dieses Buches. Zunächst möchte ich mich aber zu heutigen Werten und zur allgemeinen Funktion des Karate äußern.

Die gesundheitsfördernde Wirkung des Karate

Bereits vor meiner Geburt hatte mein Vater sein Leben der Entwicklung des Karate als Methode der Körpererziehung verschrieben. In der Öffentlichkeit nannte man ihn »Mabuni, der Techniker«. Als Erbe der authentischen okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand (te) galt er allgemein als außerordentlicher Experte. Sein Ziel bestand darin, Karate als Methode der Gesundheitsförderung zu verbreiten und damit zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation der breiten Bevölkerung beizutragen.

Im Unterschied zu anderen Kampfkünsten kann man im Karate seine körperlichen Fähigkeiten auf der Basis von Kata trainieren. Insgesamt gibt es etwa 50 klassische Kata. So viele muß man natürlich nicht lernen, es sei denn, man will selbst Karate lehren. Kata bestehen aus Folgen von Angriffs- und Abwehrbewegungen mit Bezug auf einen imaginären Gegner. Um sie auszuführen, braucht man keinerlei Gerätschaften. Außerdem kann man Kata leicht üben, auch in großen Gruppen und verbunden mit viel Freude. Manche Anfänger haben Angst vor Kataübungen mit einem realen Gegenüber, d. h., vor dem Training mit Partner (kumite). Aber wenn man Karate nur betreibt, um seine Gesundheit zu fördern, ist es gar nicht erforderlich, sich mit dem kumite auseinanderzusetzen. Man benötigt auch nicht viel Platz, um eine Kata auszuführen. Eine Fläche von 3½ bis 4 Tatami-Matten, d. h., etwa 7-8 m², ist ausreichend.

Das von meinem Vater entwickelte Shitō-Karate enthält die traditionellen Kata des Shuri-te und des Naha-te, der beiden wichtigsten Stilrichtungen der okinawanischen Kampfkünste mit der bloßen Hand. Was die einzelnen Techniken angeht, so sind die Unterschiede zwischen beiden nicht allzu groß. Es ist jedoch für die Kata des Shuri-te charakteristisch, daß sie viele effektive und schnelle Angriffs- und Abwehrbewegungen für einen Kampf auf lange Distanz enthalten. Typisch für das Naha-te sind dagegen der Nahkampf mit »schweren« Bewegungen und spezielle Atemtechniken, die aus dem chinesischen Fukien-Kempō5 stammen. Diese große Spannweite ermöglicht es, daß man ohne weiteres für jedes Alter, jeden Körperbau und jeden physischen Zustand geeignete Kata finden kann. Das ist der große Vorzug des Shitō-Karate.

Lange Kata enthalten etwa 70 Techniken, kurze Kata etwa 20. Eine kurze Kata dauert nicht länger als eine Minute. Es gibt keinen Teil des Körpers, der beim Üben von Kata nicht bewegt wird, und die Resultate lassen sich schon sehr bald erkennen. Männer bekommen einen ausgewogenen, starken Körper, und für Frauen ist es ein ideales Schönheitstraining. Da man weder einen besonderen Raum noch Gerätschaften oder spezielle Kleidung braucht, gibt es keine einfachere Methode, einen guten Gesundheitszustand zu schaffen. Selbst sehr beschäftigte Leute sollten die wenigen Minuten erübrigen können, die nötig sind, um sich mit dieser Methode fit zu halten. Manch einer mag nun einwenden, daß er hierfür zu alt sei. Tatsächlich jedoch kann man prinzipiell in jedem Alter mit dem Training beginnen. Ein paar Minuten Katatraining jeden Tag können ein langes Dasein garantieren. Nahezu alle Karate-Meister, ob aus Okinawa oder von den japanischen Hauptinseln, erfreuten sich eines langen Lebens.

Die Wirkung des Karate-Trainings auf den Körper

Mich selbst könnte man als lebendiges Beispiel nehmen. Ich bin jetzt 83 und war niemals ernsthaft krank. Mehrmals im Jahr fahre ich als Trainingsleiter ins Ausland. Die Zeitverschiebung spüre ich nie und trainiere immer gleich am folgenden Tag zusammen mit den jungen Leuten.6

1938 publizierte mein Vater das Buch »Einführung in die Angriffs- und Abwehrtechniken im Karate«.7 Das Werk enthält verschiedene Aussagen über die Auswirkungen des Trainings, wie z. B.: »Durch das Karate bereiten auch alle anderen Aktivitäten mehr Freude«, »Physisch schwache Personen können zu Hause trainieren und dadurch stark werden«, »Kranke und dicke Personen bekommen kräftige Muskeln und werden gesund«, »Man trinkt abends immer weniger Alkohol und arbeitet tagsüber effektiver« und »Nervenschmerzen und Nervenschwäche werden kuriert«.

Es lag meinem Vater am Herzen, Karate als hervorragende Methode der Gesundheitsförderung zu propagieren. In Zusammenarbeit mit einer medizinischen Universität gelang es ihm, die positiven medizinischen Wirkungen nachzuweisen, u. a. anhand von Blut- und Urintests. Sein Buch enthält auch Auszüge aus einem Forschungsbericht von Marineärzten, die die physiologischen Wirkungen des Karate beschrieben. Diesem zufolge fördert Karate den Stoffwechsel und die Nervenreflexe. Gleichgewichtswahrnehmung und Muskelkraft werden verbessert, und es kommt zu einer Harmonisierung des gesamten körperlichen Zustands. Damit war der positive Einfluß des Karatetrainings auf den Körper hinreichend belegt.8

Das Buch erschien, nachdem mein Vater zehn Jahre auf der japanischen Hauptinsel gelebt und dort für die Verbreitung des Karate gewirkt hatte. Das Karate, das mein Vater von Okinawa mitgebracht hatte, war sehr spirituell und religiös. Leider ist das heutige Karate in diesem Punkt weit von dem entfernt, was mein Vater damals verbreiten wollte. Die spirituell-seelische Erziehung sollte der auf Selbstverteidigung orientierten kampftechnischen Ausbildung nutzen. Am Ende des Buches schrieb er: »Wenn Sie wirklich einmal in eine Situation kommen, in der dies nötig ist, dann werden Sie handeln können.«

Karate in gefährlichen Situationen

Ich machte in meinem Leben mehrfach die Erfahrung einer spontanen Reaktion des Körpers auf eine plötzliche Gefahr. Als ich 16 oder 17 war, fuhr ich mit einem Freund an den Shirahama-Strand in der Präfektur Wakayama. Wir wollten die Aussicht von Senjōjiki genießen. Ich stand mit dem Rücken zum Meer und war gerade dabei, den Gürtel meiner Badebekleidung straffzuziehen, als plötzlich eine riesige Woge über mich hereinbrach und mich gegen einen Felsen schleuderte. Mein Freund, der die Welle kommen gesehen hatte, war weggerannt. In dem Moment, als ich begriff, daß eine Welle mich verschlungen hatte und mein Körper ein Spielball des Wassers geworden war, krallte ich mich instinktiv an den Felsen, gegen den die Brandung mich geworfen hatte. Hätte mich die Welle wieder ins Meer gesogen, wäre ich wohl nicht mehr lebend herausgekommen. Nicht wenige haben auf diese Weise ihr Leben verloren.

Später, gegen Ende des Großen Ostasiatischen Krieges9 war ich auf der philippinischen Insel Cebu stationiert. Die amerikanischen Truppen waren bereits mit großer Angriffswucht gelandet. Deshalb mußten wir zusammen mit den hier lebenden Japanern ins zentrale Hochland der Insel flüchten. Wir konnten nur nachts marschieren, denn tagsüber kreisten amerikanische Hubschrauber über der Gegend. Wir marschierten also in absoluter Dunkelheit, eine Hand am Gürtel oder auf der Schulter des Vordermannes. Plötzlich rutschte ich ab und stürzte einen Abhang hinunter. Als ich wieder zu mir kam, saß ich vier oder fünf Meter tiefer und hielt meinen Tornister umklammert. Ich war erstaunlicherweise unverletzt. Ich sagte zu mir selbst: »Ist vielleicht nicht so gut, zurückzubleiben«, kletterte den Hang schnell wieder hinauf und schloß mich den anderen an. Auch damals dachte ich, wie gut es doch sei, Karate zu trainieren. Denn auch diesmal hatte mein Körper offensichtlich spontan auf die plötzliche Gefahr reagiert und es vollbracht, daß ich den tiefen Sturz unbeschadet überstand.

Auch in vielen anderen weniger dramatischen Situationen wurde mir zutiefst bewußt, daß ich ohne Karate vielleicht mein Leben verloren hätte oder zumindest schwer verletzt worden wäre. Vielleicht wird manch einer einwenden, daß ich das gewiß nur mit einem speziellen Training erreicht habe. Das stimmt aber nicht. Jeder, der Karate ernsthaft und kontinuierlich trainiert, kann das erreichen.

Karate als spirituelle Kampfkunst

Da Karate immer mehr als Wettkampfsport betrieben wird, hat die Zahl der Frauen, die Karate vor allem zur Selbstverteidigung trainieren wollen, stark abgenommen. Aber neben der Gesundheitsförderung ist die Selbstverteidigung das ursprüngliche Ziel und nach wie vor eine wichtige Funktion des Karate.

Als mein Vater an der Meijō-Mädchenschule Karate unterrichtete, entwickelte er eigens zwei Kata für die Selbstverteidigung von Mädchen, die Meijō, »heller Stern«, benannt nach der Schule, und die Aoyagi, »grüne Weide«, Ausdruck von Eleganz und Sanftheit. Diese Kata sind sehr auf den realen Kampf ausgerichtet. Sie enthalten Techniken gegen typische Angriffe, wie z. B. plötzliche Umklammerung von vorn oder hinten, oder auch Techniken, die die Energie des gegnerischen Angriffs nutzen. Aber solche kurzen, kampforientierten Kata sind für Wettkämpfe nicht besonders geeignet und deshalb heute leider nicht mehr so beliebt.

Vor kurzem las ich einen Artikel in der Zeitung Asahi Shimbun, in dem darüber berichtet wurde, daß ein Mittelschüler in Ōsaka, der in seinem Haus von einem Einbrecher mit einem Messer angegriffen wurde, dem Angriff auswich und so die Chance bekam, wegzurennen. Dem Reporter sagte er danach: »Als ich das Messer sah, reagierte mein Körper ganz spontan. Ohne mein Karate-Training wäre ich sicher vor Angst erstarrt.«

Um Karate zur Selbstverteidigung zu nutzen, reicht es nicht, die einzelnen Techniken zu erlernen. Man muß auch eine bestimmte seelische Energie, ki,10 entwickeln, um seine Fähigkeiten genau in dem Moment zu mobilisieren, in dem sie gebraucht werden, nämlich, wenn man einer plötzlichen Gefahr begegnet. Ohne diese Energie kann man die Techniken nicht einsetzen, wie oft man sie auch geübt haben mag. Deshalb ist die psychische Entwicklung so wichtig.

Unter den Kampfkünsten wird gerade das Karate als Kampfkunst der Seele (ki no Budō) bezeichnet. Natürlich ist das ki nicht nur im Karate wichtig. Auch im Jūdō, Kendō oder Iaidō wird die seelische Energie entwickelt. Denn damit bereinigt man jede Art seelischer Unruhe und erlangt die Fähigkeit, die gesamte psychische Kraft auf einen Punkt zu konzentrieren. Da Karate darauf zielt, seinen eigenen Körper mit leeren Händen zu verteidigen, ist flexible seelische Energie, mit der man auf plötzliche Gefahren spontan reagieren kann, das wichtigste.

Selbstverständlich hat auch die physische Kraft Einfluß auf die Entwicklung. Grundsätzlich kann man sagen, daß Menschen, denen es an körperlichem Selbstvertrauen fehlt, anfällig sind für psychische Schwäche. Karate-Training beansprucht den ganzen Körper. Deshalb können auch Menschen, die anfangs physisch schwach sind, rasch körperliches Selbstvertrauen gewinnen.

Die Atemtechniken im Karate

Wie schüchtern und körperlich schwach man auch gewesen sein mag: Wer Karate ernsthaft betreibt, regelmäßig übt, auch wenn es immer nur ein bißchen ist, wird schnell wahrnehmen, wie sich der Körper mit Energie füllt, wie sich vom Bauchgrund her ein Gefühl des Selbstbewußtseins entwickelt und wie auf natürliche Weise Ruhe im gesamten Körper einkehrt. Das ist das Besondere am Karate.

Besonders die Atemtechniken des Naha-te (kisoku hō) zeigen, wie das Karate die seelische Einheit fördert.11 Die Atmung ist für alle Kampfkünste wichtig. Aber das bewußte Training der Atmung ist spezifisch für das Karate. Das Atmen, vor allem das Einatmen (iki o suru) ist aufs engste verbunden mit dem Leben. Das japanische Wort für »leben« (iki-ru) soll sogar abgeleitet sein von dem Wort für Einatmen. Menschen können einen Monat ohne Essen überleben. Aber ohne zu atmen lebt man bekanntlich nicht allzu lange.

Wird man in einer gewalttätigen Auseinandersetzung nervös, hat man schon verloren. Solch eine Nervosität kommt von Puls- und Blutdruckstörungen, die wiederum von Störungen der Atmung hervorgerufen werden. Aus diesem Grund sind manche Menschen auch aufgeregt, wenn sie vor einer Menschenmenge stehen. Laufen die Dinge nicht so, wie man es sich vorgestellt hat, fühlt man sich meist niedergeschlagen, deprimiert. Ohne daß man es merkt, wird auch die Atmung kurz und flach und geht kaum tiefer als bis zum Hals. Im schlimmsten Fall atmet man sozusagen nur noch mit der Nasenspitze. Wird solch eine Atmung zur Gewohnheit, braucht man nicht zu erwarten, mit einem langen Leben gesegnet zu werden.

Um die Seele zu harmonisieren, muß man die Atmung harmonisieren. Durch eine Atmung, die tief in den Bauch hineingeht, ordnen sich die Energien im Unterbauch. Wenn dort alles »ruhig sitzt«, kann man sich Hoffnung auf ein langes Leben machen. Die Wirkung richtigen Atmens erhöht sich natürlich, je besser die Atemregeln verstanden und bewußt befolgt werden. Bekanntlich gibt es mehrere Atemlehren, wie z. B. im Yoga oder im Qi Gong, die ich auch studiert habe. In diesen Lehren gilt das Anhalten des Atems (taisoku) als schädlich. Nach der Atemlehre des Karate ist es aber sehr sinnvoll. Es stärkt das Herz und fördert die Flexibilität der Atmung. Ich bin schon über 80, habe aber keinerlei Probleme beim Treppensteigen und komme nie in Atemnot.

Der Zustand der vollkommenen inneren Ruhe

Beim Karate-Training entwickelt man sich physisch, kampftechnisch und psychisch. Da diese drei Aspekte der Ausbildung in den Kata miteinander verknüpft sind, entwickelt man sich mit dem Katatraining selbstverständlich auch in dieser dreifachen Hinsicht. Solch eine Entwicklung ist ein Vergnügen, und zwar eines, das niemals enden muß.

In der Edo-Zeit (17.-19. Jh.) wurden die Samurai des Fürstentums Nabeshima im heutigen Saga auf der Insel Kyūshū auf der Grundlage des Hagakure12 ausgebildet, eines berühmt gewordenen Moral- oder Verhaltenscodex. Das erste, was ein Samurai zu beherzigen hatte, bezog sich auf seine Einstellung zum Älterwerden. Diese erste Lehre besagte, daß das Üben niemals endet. Wie gut man auch sein mag, es gibt keinen Grund zum Dünkel. Wie hoch man auch in der Hierarchie steigen mag, das Lernen hat kein Ende. Ein wirklicher Meister folgt seinem Weg ohne Ende und versucht Tag für Tag, sein ganzes Leben lang, sich zu verbessern.13

Wer nur übt, um gegen andere zu gewinnen oder besser zu sein als andere, der übt sozusagen auch für andere. Das ist nicht der wahre Weg. Wenn man jedoch Freude daran empfindet, Karate r sich selbst zu meistern, wenn man gar nicht mehr damit aufhören kann, was auch immer die anderen dazu sagen mögen, dann kann man Karate als Weg ohne Ende erleben.

Über einen solchen Zustand der Versenkung, der vollkommenen Konzentration und inneren Ruhe, zanmai,14 hat mein Vater einmal folgende Zeile geschrieben: »Ich genieße es, wenn der Geist sich leert beim Rudern zur Insel des bu«.15

Im Japanischen gibt es das Wort gunshū, das in etwa bedeutet: »Lernen durch Geruch annehmen«. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß sich der Geruch eines Gegenstands auf die Person überträgt, die ständig mit ihm umgeht. Wenn man regelmäßig mit Holz arbeitet, nimmt man nach und nach dessen Geruch an. Was jemand immerfort tut und denkt, wird schließlich Teil von ihm selbst, prägt seinen Charakter und im übertragenen Sinne seinen »Geruch«. Wenn mein Vater als Polizist auf Okinawa die hier und da zurückgezogen lebenden Karate-Meister besuchte, oder wenn er an der Fischereischule Karate unterrichtete oder zu Karatevorführungen ging, nahm er mich immer mit und ließ mich auf seinem Schoß sitzen. Auf diese Weise habe ich zweifelsohne seinen »Geruch« angenommen.

Immer wieder sehe ich in der Erinnerung meinen Vater vor Augen, wie er mit seinen Kameraden im Licht einer nackten Glühbirne mit freiem Oberkörper trainierte, und wie sie einander dabei anfeuerten und die Welt ringsum vergaßen. Nachdem er nach Ōsaka gezogen war, wußte er nie, was der nächste Tag bringen würde. Trotzdem widmete er sich weiter ganz dem Studium des Karate, immer in Gemeinschaft mit einigen Freunden, denen er häufig auch Essen und Unterkunft bot. Seine Sorge galt auch der Pflege der tatami-Matten, die im Training schnell verschlissen. Kehrte einer seiner Schüler unversehrt aus dem Krieg zurück, war er darüber genauso glücklich, wie er es bei meiner Heimkehr aus dem Kriege war. Dieser Art ist der Geruch meines Vaters, der sich unauslöschlich an meinen Körper geheftet hat und den ich nie verlieren werde. Auch ich werde wie mein Vater den Weg des Karate gehen, der kein Ende kennt. Ich werde mein Leben lang üben, solange, wie mein Körper sich bewegt, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Ich weiß nicht, wie weit ich dabei komme, ich weiß nur, daß ich gehen werde, solange ich kann. Tag für Tag besser zu werden, immer weiter voranzukommen, nur das hat Sinn und bringt Freude. Das ist es, wodurch sich das Budō-Karate auszeichnet, welches ich verbreiten möchte und das der Gegenstand dieses Buches ist.

1 Entstehung und Entwicklung des Karate

1.1 Karate als Kampftechnik

Formen des waffenlosen Kampfes in alter Zeit

Von allen Völkern sind Formen des waffenlosen Kampfes überliefert, so daß man davon ausgehen kann, daß es sich hierbei um ein gemeinsames Erbe der Menschheit handelt. In der ältesten japanischen Schrift, dem Kojiki16 wird von einem Kräftemessen der Götter Takemigazuchi no kami und Takeminakata no kami am Inasa-Strand von Izumo berichtet. Die Annalen des Nihonshoki erwähnen einen Kampf zwischen Nomi no Sukune und Taima no Kehaya. Dieser Kampf zwischen Sukune und Kehaya gilt als Geburtsstunde des Sumō.17 Anders als im heutigen Sumō muß es ein Wettkampf auf Leben und Tod gewesen sein, der zwar waffenlos, aber ansonsten ohne Verbote geführt wurde. Denn Sukune brach Kehaya mit Tritten die Hüfte und trat ihn dann zu Tode.

Solche Techniken des waffenlosen Kampfes gab es seit alter Zeit überall auf der Welt. Selbst aus dem alten Indien wird berichtet, daß Buddha mit seinem jüngeren Bruder gekämpft haben soll, um als Sieger ein schönes Mädchen zur Frau nehmen zu können. Ich selbst habe in Indien Kämpfe gesehen, die dem Sumō ähneln. Auch in China gab es von alters her Kempō-Faustkampftechniken.18 In der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (722-481 v. Chr.) hießen sie »Tapfere Faust« (kenyū) oder »Kampfkunst« (bugei), in der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) »Schlagtechnik« (gigeki) und in der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) einfach »Technik« (gikō) oder »Rundschlagen« (shubaku).

Der Shaolin-Faustkampf als Kampftechnik der Mönche

Das Shaolin-Kempō entstand im chinesischen Shaolinkloster, das im Jahr 495 (späte Wei-Zeit) von Kaiser Xiào Wén (471-499) für den aus Indien kommenden Zen-Meister Ba Tuo errichtet wurde. Es liegt in der Provinz Henan südlich vom Gelben Fluß (Huanghe) am Fuße des Songshan-Gebirges (japanisch: Sūzan) und wird deshalb auch Kloster Songshan Shaolin genannt. Das Shaolinkloster wurde berühmt durch den Aufenthalt von Bodhidharma19 (jpn. Daruma), der zum Begründer des Zen-Buddhismus in China wurde und die zazen-Meditation20 einführte. Er wurde deshalb auch – wahrscheinlich fälschlicherweise – als Gründer des Shaolintempels oder Ahnherr des Kempō bezeichnet.

In den chinesischen Klöstern gab es viele Kunstschätze und anderes Vermögen. Die Notwendigkeit, diese in dem ständig von Unruhen geplagten Land verteidigen zu müssen, hat dazu geführt, daß sich die Kampftechniken in China vorrangig in den Klöstern entwickelten. Unter dem Begriff Shaolin-Kempō sind Techniken zusammengefaßt, die aus dem Shaolinkloster bzw. aus der Region, in der es sich befand, stammen. Einige davon sind im Laufe der Zeit verlorengegangen, wie z. B. die Techniken »Durchschlagende Faust« (tsūhai ken), »Beseelte Faust« (shin i ken) oder »Kosmische Faust« (rikugō ken).

Im Shaolinkloster unterschied man zwischen Gebetsmönchen, die sich auf die religiösen Studien spezialisierten, und Kampfmönchen, die vor allem die Kriegskünste studierten. Die Kampfmönche wurden gleich bei ihrem Eintritt ins Kloster kahlgeschoren und als Mönche gekleidet. Ihre Zeit verbrachten sie in der Folge eher mit dem Training der Kampfkünste als mit dem Studium des Buddhismus. Als religiöse Übung praktiziertes japanisches Shaolin-Kempō gibt es erst seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurde von Meister Sō Dōshin (1911-1980) begründet.

Seit der Ming-Zeit war das Shaolinkloster im übrigen weniger für seine Fausttechniken, als vielmehr für seine Stocktechniken, Kompō21 bzw. Bōjutsu, bekannt. Andererseits wurde auch ein Fukien-Kempō überliefert, das sich in den südchinesischen Provinzen Fukien und Kanton herausgebildet hat. Auch das Fukien-Kempō soll aus einem Shaolinkloster stammen. Dabei handelt es sich aber wohl nicht um das ursprüngliche Songshan-Shaolinkloster, sondern um ein später in der Provinz Fukien errichtetes Tochterkloster.

Das Shaolinkloster von Fukien existiert heute nicht mehr. Es ist auch nicht mehr genau feststellbar, wo es sich befand. Überreste, die auf ein solches Kloster hindeuten könnten, hat man an verschiedenen Stellen gefunden. Da das Songshan-Shaolinkloster nördlich des Yangtse-Flusses lag und sich das Fukien-Shaolinkloster südlich davon befand, spricht man auch von einem Nord-Shaolin und einem Süd-Shaolin bzw. von einem nördlichen und einem südlichen Kempō.

Wie auch in anderen Ländern gab es Zeiten, in denen die Staatsmacht bestimmte Religionen förderte und Zeiten, in denen sie sie unterdrückte. Das Shaolinkloster war davon nicht ausgenommen. Es erlebte sowohl Förderung und Prosperität, als auch Unterdrückung und Brandschatzung. Sicher gab es auch Mönche, die in beiden Klöstern praktizierten und andere, die in Zeiten der Verfolgung in anderen Klöstern Zuflucht fanden und ihr Wissen über die Kampftechniken weitergaben. Es ist auch anzunehmen, daß sie die Verbreitung und das Niveau von Kampftechniken im einfachen Volk beeinflußten. In China unterscheidet man zwischen dem Kempō der Mönche, dem »zum Haus gehörenden« oder Klosterkempō, und dem »nicht zum Haus gehörenden« oder Volkskempō. Repräsentativ für letzteres ist das Taijiquan.

So entstand das heutige chinesische Kempō aus verschiedenen Formen und Stilen des waffenlosen Kampfes, die einen langen Entwicklungsprozeß durchliefen und sich gegenseitig beeinflußten. Aber zweifellos waren es die beiden Shaolinklöster, die in ganz China den Heldenmut entfachten. Wie im japanischen Hieizan-Kloster im ausgehenden Mittelalter bewaffneten sich die Mönche und griffen in das weltliche Geschehen ein.

Ähnlich verhielt es sich in Japan mit Minamoto no Yoshitsune und Musashi Bō Benkei zum Ende der Heian-Zeit (794-1185). Yoshitsune, als Kind Ushiwaka-maru genannt, lebte im Kurama-Kloster im Norden der japanischen Hauptstadt. Er praktizierte dort buddhistische Geheimlehren (Mikkyō)22, begann aber vor allem auch, sich mit Kampftechniken zu beschäftigen. Der Überlieferung nach wurde er vom großen langnasigen Berggeist (Dai Tengu)23 von Kurama in den Kriegskünsten unterrichtet. Um sich abzuhärten, ging Yoshitsune jeden Tag den Weg aus den Kurama-Bergen ins Zentrum der Hauptstadt zu Fuß. Dabei traf er einmal auf der Brücke von Gojō auf Benkei und besiegte ihn.24 Diese Geschichte ist in Japan vor allem durch ein Kabuki-Stück25 gut bekannt.

Der Einfluß des chinesischen Kempō auf die japanischen und okinawanischen Kampftechniken

Nach alten Aufzeichnungen soll in der Edo-Zeit der Chinese Chin Gempin26 als erster das Kempō nach Japan gebracht haben. Es heißt, er habe Kempō im Songshan-Shaolinkloster gelernt und sei ein genialer Mensch gewesen, der im gesamten Wissen seiner Zeit bewandert war, d. h., nicht nur im Konfuzianismus, im Buddhismus und im Taoismus, sondern auch in der Kalligraphie und der Tuschemalerei, der Poesie, der Herstellung von Keramik, Süßigkeiten und Kräutermedizin und darüber hinaus auf dem Gebiet der Akupunktur und Moxibustion27. Nach seiner Ankunft in Nagasaki reiste er auf der Hauptinsel bis in die Region um das heutige Nagoya. Er soll dreimal vom Regenten Tokugawa Iemitsu empfangen worden sein und viele Fürsten getroffen haben, denen er seine Künste vermittelte. Der Kitō-Stil des japanischen Jūjutsu wurde von Fukuno Masakatsu Shichiroemon und Ibaragi Sensai entwickelt, nachdem sie von Chin Gempin unterrichtet worden waren.

Andere Stile hatten ebenfalls ihren Ursprung in China, so z. B. der bekannte Yōshin-Stil, der zu Beginn der Edo-Zeit in Nagasaki von dem Arzt Akiyama Shirōbei geschaffen wurde. Dieser beruhte auf Kempō-Studien, die der Mediziner während einer Chinareise betrieben hatte. Aus dem Tenshin-Shinyō-Stil, der aus dem Yōshin-Stil hervorgegangen war, sowie aus dem Kitō-Stil, entwickelte Kanō Jigorō später das Jūdō.

Daraus läßt sich allerdings nicht schließen, daß die ursprünglichen Stile des Jūjutsu direkt aus dem chinesischen Kempō stammen. Auch in Japan gab es seit alter Zeit Techniken des waffenlosen Kampfes. Der Takenouchi-Stil, der als der älteste im japanischen Jūjutsu gilt, hatte seinen Ursprung in Kurzschwerttechniken, die Takenouchi Hisamori angeblich in der Folge eines langen Gebets, in dem er den Geist des Berges Atago gebeten hatte, ihn zu einem Meister in den Kampfkünsten zu machen, von einem weißhaarigen Bergmönch vermittelt bekam. Dies ereignete sich einhundert Jahre vor dem Eintreffen von Chin Gempin (1587-1670), zu Beginn der Zeit der Feudalkriege im 16. Jahrhundert.

Selbstverständlich hat das chinesische Kempō das japanische Jūjutsu stark beeinflußt. Es war wohl nicht sein Ursprung, aber es nährte und förderte seine Entwicklung. Im Jūjutsu werden z. B. atemi, d. h., gegen bestimmte Körperteile gerichtete, lebensgefährliche K.-o.-Schläge, nicht eingesetzt und demzufolge auch kaum trainiert. Hingegen sind Würfe und Hebeltechniken sehr wichtig. Vor allem sollte das Jūjutsu den Kampf mit der Waffe unterstützen. Seit dem 12. Jahrhundert, der Kamakura-Zeit, als die Ära der Samurai begann, erlebte Japan eine Blütezeit der Schwerttechniken, so daß waffenlose Techniken nur eine sekundäre Rolle spielten.

Auch vom Karate wird oft behauptet, daß es seinen Ursprung im chinesischen Kempō habe. Wegen der technischen Ähnlichkeiten und der Bezeichnungen für die Kata ist das auch durchaus naheliegend. Aber es existieren darüber keine schriftlichen Aufzeichnungen. Also kann man diese Hypothese auch nicht als bewiesen betrachten. Auf Okinawa gab es seit alter Zeit eine Form des Kempō, die man einfach »Hand« (jpn. te bzw. de) nannte. Dagegen bezeichnet man das chinesische Kempō als »Chinesische Hand«, Tōde.

Seit Mitte des 14. Jahrhunderts war das Königreich Ryūkyū der Ming-Dynastie in China gegenüber tributpflichtig. Die Beziehungen zwischen den Ryūkyū-Inseln und China wurden in der Folge enger als die zwischen Japan und China. Bewohner der Ryūkyū-Inseln, die zu Studienzwecken oder als Gesandte China bereisten, wurden nicht nur durch die chinesische Kultur beeinflußt, sondern brachten auch Kenntnisse über die Kampfkünste in ihre Heimat. Natürlich kamen auch viele Chinesen vom Festland nach Okinawa und vermittelten den Insulanern ihr Wissen. Dabei spielten wahrscheinlich die Leibgarden der chinesischen Beamten, die als Gesandte – oder, um es mit einem modernen Wort auszudrücken, als Botschafter – nach Okinawa reisten, eine wichtige Rolle. In der Geschichte der Ryūkyū-Inseln gab es 23 solcher chinesischer Missionen, denen neben den Gesandten auch Wach- und anderes Begleitpersonal angehörte. Insgesamt waren es ca. 500 Chinesen, die auf diese Weise die Inseln bereisten. Schon wegen der Bedrohung durch Seeräuber mußten die Leibwächter zu der in den Kampfkünsten besonders geschulten militärischen Elite gehören. Während der Begrüßungsfeierlichkeiten für die Gesandtschaften aus China führten Leibwächter offenbar auch chinesische Kempō-Kata, sogenannte Tao, vor. Die Kata Wanshū und Kōsōkun des Shuri-te beispielsweise sollen nach den Leibwächtern benannt sein, durch die sie überliefert wurden.

Es gibt auch die Meinung, die Bezeichnung »Hand« (te) für die Ryūkyū-Techniken entspräche dem in Japan üblichen Sammelbegriff von den »18 Kampfkünsten« (Bugei jū happan).28 Denn ebenso wie die Samurai in Japan trainierten auch die Bushi29 auf den Ryūkyū-Inseln verschiedene spezielle Kampftechniken.

Die Herausbildung des originären okinawanischen Karate erfolgte insbesondere unter dem Einfluß von zwei Perioden des Waffenverbots auf der Insel. Nachdem es Fürst Oho (Shō) Hashi (1372-1439) gelungen war, das Land zu vereinigen, ließ König Oho (Shō) Shin (1465-1526) die lokale Oberschicht entwaffnen und zwang sie zur Ansiedlung in der Burgstadt Shuri. Er verbot das Tragen von Waffen, schuf eine Zentralgewalt und eine allgemeine Rechtsordnung.

Im Jahre 1609, nahezu anderthalb Jahrhunderte nach dem ersten Waffenverbot, eroberte der japanische Shimazu-Klan die Ryūkyū-Inseln. Diese Samurai hatten ihren Hauptsitz im Süden von Kyūshū, in der Region Satsuma. Erneut wurde allen Okinawanern das Tragen und der Besitz von Waffen verboten. Unter diesen Bedingungen mußte man sich bei der Entwicklung der te genannten Kampftechniken zwangsläufig auf den waffenlosen Kampf orientieren. So entstand unter dem Einfluß des chinesischen Kempō das Ryūkyū-Kempō, die Urform des heutigen Karate.

Wäre auch in Japan der Waffenbesitz verboten gewesen, hätten sich wahrscheinlich hier ebenfalls dem Karate ähnliche Formen des waffenlosen Kampfes entwickelt. Wären andererseits auf den Ryūkyū-Inseln Waffen erlaubt gewesen, hätten sich vermutlich dem japanischen Jūjutsu ähnliche Begleittechniken zum Schwertkampf herausgebildet. So aber entstand auf Okinawa eine einzigartig reine Form des waffenlosen Kampfes, über die mein Vater im Vorwort zu seinem 1934 erschienenen Buch »Angriffs- und Abwehrtechniken zur Selbstverteidigung im Karate Kempō«30 folgendes schrieb:

Am Südwestzipfel Japans gibt es eine Inselkette, die sich wie ein Tau (jpn. nawa) durchs offene Meer (jpn. oki) zieht. Deshalb heißt sie auch ›Tau im offenen Meer‹, also Okinawa. Seit alter Zeit sind diese Inseln berühmt als bewaffnetes Land ohne Waffen. Denn seine Waffen sind allein die Karate-Kampftechniken.

Karate als Grundlage aller Budō-Kampftechniken

Mein Vater pflegte zu sagen: »Karate ist der legitime Erbe der Bujutsu-Kampfkünste«.31 Ich denke, Karate ist tatsächlich die Grundlage aller Budō-Kampftechniken. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste besteht darin, daß der Kampf mit nichts als den eigenen Händen die primitivste, ursprünglichste Form des Kampfes darstellt. Darüber hinaus ist es gerechtfertigt zu sagen, daß die Waffen vom Stock über Schwert, Pfeil und Bogen und Gewehr, bis hin zur Rakete letztendlich nichts anderes sind als Verlängerungen der Hand.

Hat man keine Waffen oder verzichtet man auf ihren Einsatz, bleibt einem nichts, als mit den leeren Händen zu kämpfen. Wurde ein Samurai von einem Unbewaffneten zum Kampf herausgefordert, legte er ohne zu zögern seine Waffen zur Seite und stellte sich dem waffenlosen Kampf. Die Turniere der Heian- und Kamakura- Zeit begannen immer mit dem Bogenschießen. Danach folgten in kürzer werdenden Abständen Speer- und Schwertwettkämpfe. Wurden die Zweikämpfe zu hitzig, kam das Kommando: »Achtung! Auseinander!« Daraufhin wurden die Waffen abgelegt, und es begann der Kampf mit bloßen Händen.

Um den Kampf mit bloßen Händen zu unterstützen, nutzte man im übrigen grundsätzlich alle gerade verfügbaren geeigneten Dinge. Daraus entwickelten sich die verschiedenen Techniken zum Kampf mit Waffen. Im Unterschied zum Jūjutsu, welches ein technisches System zur Unterstützung von Schwert- und anderen Waffentechniken ist, hat das Karate zu seiner Unterstützung Waffentechniken integriert. So wurden auf den Ryūkyū-Inseln schon in alter Zeit verschiedene Alltagsgegenstände der Bauern und Fischer, unter anderem der Stock (), der Dreizack (sai), der Stock mit seitlichem Griff (tonfa) und der mehrgliedrige Stock (nunchaku) als Karate-Hilfsmittel eingesetzt.32

Der zweite Grund, Karate als Grundlage aller Budō-Kampftechniken zu bezeichnen, besteht darin, daß es im Karate keine verbotenen Schläge gibt. Schließlich besteht das Ziel ja darin, den Gegner tödlich zu verletzen und zwar nicht mit einer Waffe, sondern mit den bloßen Händen. Aus diesem Grund wird der gesamte Körper aufs äußerste für den Kampf vorbereitet, all seine Bestandteile und Funktionen werden dabei einbezogen. Während des Waffenverbots unter der Shimazu-Herrschaft wurde das aus alter Zeit stammende Wissen darüber, wie man ohne Waffen auf Leben und Tod kämpft, genau überliefert. Allerdings wurde das Wissen ausschließlich mündlich weitergegeben. Die Techniken waren in den Kata enthalten. Da man diese für sich allein übte, war es nicht notwendig, irgendwelche Schläge oder Tritte wegen ihrer Gefährlichkeit zu verbieten. Auf diese Weise ist Karate zu einer weltweit einzigartigen Kampfkunst geworden.

Dazu schrieb mein Vater im Jahre 1938 folgendes:

Wenn es Leute gibt, die glauben, man müsse, um mit der Zeit zu gehen, die Kata und das kumite des Karate in Sport verwandeln, sie unter dem Vorwand der Körperertüchtigung von ihrem Wesen als Bujutsu, als Kampfkunst ablösen, so muß man diesen Leuten sagen, daß sie offenbar nicht erkennen, daß sie damit den ersten Schritt machen zu einem unglaublich schwerwiegenden Fehler, nämlich zur Auflösung der Werte des Karate als Bujutsu, als Kampfkunst. Sicher muß man auch beim Kata- und kumite-Training die Bewegungen der Arme und Beine bis ins kleinste streng bewerten und korrigieren, aber vom Standpunkt der Kampfkunst aus gesehen. Physiologisch-rationale vorbereitende und unterstützende Übungen, die dazu dienen, die Funktionen des Bewegungsapparates und der inneren Organe zu optimieren, können in das Training einbezogen werden. Man darf aber nicht glauben, man könne den Kampfkunstgehalt des Kata- und des kumite-Trainings vervollkommnen, indem man beides in Sport oder Vergnügung verwandelt.

Mein Vater sah damit in gewisser Weise die heutige Form des Karate voraus und warnte vor dieser Entwicklung. Die Verwandlung des Karate in einen Wettkampfsport ist auch eines der großen Themen dieses Buches. Bevor ich mich dazu konkreter äußere, möchte ich noch etwas über die Geschichte des Karate sagen.

1.2 Das Karate von Okinawa

Das ursprüngliche Okinawa-te

Auf Okinawa entwickelten sich drei spezielle Stile des Karate, und zwar in Shuri, Naha und Tomari.33 Der Begriff Karate wurde in den Jahren 1911/1912 eingeführt, als das »Okinawa-Boxen« bzw. die »Okinawa-Hand« (Okinawa-te) zum Pflichtfach an den japanischen Mittelschulen wurde.

Man schrieb Karate zunächst mit den Zeichen für »Tang-China« (China in der Tang-Zeit) und »Hand«. Wie bereits erwähnt wurde, bezeichnete man die überlieferte heimische Kampfkunst auf Okinawa nur als »Hand« (te), das chinesische Kempō wurde hingegen tō-de genannt, also »tang-chinesische Hand«. Die lokalen Stile hießen entsprechend Shuri-, Naha- und Tomari-Stil bzw. Shuri-te, Naha-te und Tomari-te. Shuri-te ist die älteste dieser Stilrichtungen. Die aus Shuri stammende Kampfkunst ist die ursprüngliche okinawanische Technik des Kampfes mit der bloßen Hand, ein System von Kampftechniken, das sich, beeinflußt vom chinesischen Kempō, eigenständig entwickelt hat. Unter den alten Karatelehrern auf Okinawa war der stolze Spruch verbreitet: »Die einzig wahre Hand (te) ist das Shuri-te.«34 Der jüngste Stil ist das Naha-te. In diesem Stil sind die Formen des chinesischen Kempō am deutlichsten erhalten. Tomari-te liegt sowohl geographisch als auch technisch dazwischen.

Itosu anko
Foto 1: Itosu Ankō (1831-1915), in der zweiten Reihe der zweite von links (mit weißem Schnurrbart). Dieses erst 2006 im Archiv von Kinjo Hiroshi (geb. 1919, 9. Dan, Präsident der Internationalen Ryūkyū Karatejutsu Forschungsgesellschaft) entdeckte Foto ist das erste bekannt gewordene Foto von Meister Itosu. Es entstand 1909 oder 1910, als Itosu Ankō seinen Unterricht an der Mittelschule der Präfektur Okinawa in Shuri aufgenommen hatte. Auf dem Gruppenbild sind außerdem der Schulleiter und weitere Lehrer sowie Kendō- und Jūdō-Studenten zu sehen.

Mein Vater erhielt im Alter von 13 Jahren durch Vermittlung eines Bekannten die Erlaubnis, in eine der großen Kampfkunstschulen einzutreten. Der Leiter dieser Schule war Itosu Ankō. Aus dem Kreis der Schüler von Meister Itosu stammen viele der bekannten Persönlichkeiten, die zur Herausbildung des modernen Karate beigetragen haben. Von Itosu wird berichtet, er habe entsprechend seiner allmorgendlichen Tagesplanung jeden Tag mehrere hundert Mal gegen um Holzpflöcke gewickelte feste Strohbündel (makiwara), die man auch als Bogenziele verwendet, eingeschlagen. Seine Fäuste waren so abgehärtet, daß sie schwarzen Steinen geglichen haben sollen. Meister Itosu soll einen sehr muskulösen Körper gehabt haben. Darüber gibt es verschiedene Anekdoten. Schlug man beispielsweise mit einem Rundholz gegen seine dicken Oberarme, dann prallte der Knüttel zurück, ohne daß Itosus Arme auch nur zuckten. Ein dickes Bambusrohr konnte er ohne Mühe mit einer Hand zerquetschen, und er war so stark, daß er sich an den Deckenbalken durch den Raum hangeln konnte.

mabuni
Foto 2: Mabuni Kenwa (1889-1952).

Zu jener Zeit war Karate noch nicht so verbreitet wie heute, und die Trainingsräume (dōjō) waren meist recht einfach. Häufig wurde der eigene Garten zum dōjō, und es war üblich, im Freien zu trainieren. Als Kind sah ich meinem Vater oft beim Training zu. Im Garten, unter dem Licht einer nackten Glühbirne, schlug er mit freiem Oberkörper auf ein makiwara ein. Seine Muskeln stählte er mit Hilfe von Steingewichten.

Meister Itosus dōjō stand nicht jedem offen. Nur ein ausgewählter Kreis von Schülern wurde von ihm unterrichtet. Als mein Vater 19 war, erhielt er von Meister Itosu die Erlaubnis, auch bei Higaonna Kanryō (1853-1916), einem Meister des Naha-te, Unterricht zu nehmen. Dieser war als junger Mann in der chinesischen Provinz Fukien gewesen und hatte das dortige Kempō studiert. Nach seiner Heimkehr entwickelte er auf dieser Grundlage den Naha-Stil. Miyagi Chōjun, der spätere Begründer des Gōjū ryū, führte meinen Vater bei Higaonna Kanryō ein. Beide wurden Meisterschüler von Higaonna. Man nannte sie »Drachen und Tiger«, und beide sollte eine lebenslange Freundschaft verbinden.

Außer dem Shuri-te und dem Naha-te studierte mein Vater auch den Tomari-te und andere Techniken des alten Ryūkyū-Budō. Von Meister Aragaki Seichō (1840-1920) lernte er Techniken mit dem , von Tawada Shinkatsu (1851-1920) Messertechniken und von Meister Soeishi Yoshiyuki spezielle Stocktechniken.

Higaonna Kanryo

Foto 3: Higaonna (Higashionna) Kanryō (1853-1916). Er war der bedeutendste Vertreter des Naha-te.

Miyagi Chojun

Foto 4:Miyagi Chōjun (1888-1953). Schüler und Nachfolger Higaonnas, Gründer des Gōjū ryū.

Die Kata des Shuri-te

Karate ist eine Selbstverteidigungstechnik, die auf Okinawa seit dem 17. Jahrhundert, dem Anfang der Tokugawa-Ära, entwickelt und geheim überliefert wurde. Es diente dazu, sich mit bloßen Händen gegen mit Schwertern bewaffnete Gegner behaupten zu können. Das war, wie bereits erläutert wurde, vor allem während der Herrschaft der Satsuma-Fürsten wichtig, die den Okinawanern den Besitz von Waffen verboten hatten und jeden Widerstand unterdrückten. Die einzigen Waffen, die im Ryūkyū-Budō verwendet wurden, waren Ackergeräte.

Anders als bei den Schwerttechniken und beim Jūjutsu, welche von der Regierung in Edo und den Fürsten gefördert wurden, gab es zum Karate keine schriftliche Überlieferung. Die Meister des Karate formten die Techniken und Ideen, die auf ihren in gefährlichen Situationen erworbenen Erfahrungen beruhten, zu Kata, d. h., zu bestimmten Bewegungsabläufen, die sich allerdings von den Bewegungsmodellen anderer Kampfkünste unterschieden. Sie ähnelten den »Fausttanz« (genkotsu odori) genannten okinawanischen Tänzen. Während man sich den Gegner im Geiste vorstellte, führte man Schläge, Blöcke und Tritte als Abfolge von Angriffs- und Abwehrbewegungen aus. Das diente wahrscheinlich auch dazu, gegenüber den Behörden den wahren Charakter der Übungen zu verschleiern. Diese Kata sind die einzige Überlieferung des okinawanischen Karate. Indem der Schüler die Kata übt, eignet er sich Techniken und Geist des Karate an. Deshalb bedeutete früher die Aussage, daß jemand die »Hand«, te, erlernte, nichts anderes, als daß er die Kata übte. Die Kata wurden von den Lehrern entsprechend ihren eigenen Erfahrungen und ihren persönlichen Eigenheiten und Auffassungen arrangiert. Die Ishimine no Passai beispielsweise ist besonders für den Kampf mit kleinen Personen geeignet. Also kann man vermuten, daß Meister Ishimine selbst nicht klein war. Allein von der Kata Passai gibt es fünf Varianten, benannt nach Itosu, Matsumura, Matsumora, Tomari und Ishimine.

Chatan Yara noKōsōkunTomari no PassaiMatsumura no PassaiIshimine no Passai35Chatan Yara noKōsōkunKōsōkunKushankudiemawashi uke