Inhaltsverzeichnis


Shakespeare - Dramatiker der Welt

Vorwort

Porträts

Das Weltphantom
Auf den Spuren von William Shakespeare
Der Komödiant des Hofes
Shakespeares politische Botschaften

Shakespeares Bedeutung

Hamlet und die Arabellion
Wie Shakespeares Dramen noch heute die Welt erklären

Wer war Shakespeare wirklich?

Schwan oder nicht Schwan
Stammen Shakespeares Werke wirklich von dem Schauspieler aus Stratford-upon-Avon?
Wurde Marlowe ermordet?
Der Autor der Shakespeare-Dramen soll Christopher Marlowe gewesen sein
Brüchige These
Rudolf Augstein gegen Walter Kliers Behauptung, Shakespeare sei nicht Verfasser der berühmten Werke
Der Dichter und sein Doppelgänger
In einer neuen Biografie vertritt Kurt Kreiler die These, Edward de Vere sei der wahre Verfasser von Shakespeares Werken

Shakespeare-Inszenierungen

König Jedermann
Peter Brooks Inszenierung von „König Lear“
Großer Angriff
Peter Zadek inszeniert „Maß für Maß“ in Bremen
Süßes Tun
Clifford Williams besetzt „Wie es euch gefällt“ ausschließlich von Männern
Ein Shylock wie aus Hitlers Zeiten
Peter Zadek inszeniert „Der Kaufmann von Venedig“
Othello oder So stirbt man nicht
Peter Zadeks „Othello“ in Hamburg
Weltflucht mit Shakespeare
Peter Steins „Wie es euch gefällt“ an der Berliner Schaubühne
„Der Mustopf ist sehr groß“
Deutsche „Hamlet“-Inszenierungen von Peter Zadek, George Tabori und Hans Neuenfels
Wer hat Angst vor William Shakespeare?
Peter Zadeks Inszenierungen „Othello“, „Hamlet“ und „Ein Wintermärchen“
In Shakespeares Frauenzwinger
Peter Zadeks „Der Widerspenstigen Zähmung“ in Berlin
Theater-Exotik mit Pomp und Tamtam
Ariane Mnouchkine inszeniert „Was ihr wollt“ am Théâtre du Soleil
Milde Sorte
Peter Zadek inszeniert „Wie es euch gefällt“ in Hamburg
Im Zeichen des Aasgeiers
Claus Peymanns „Richard III.“ in Wien
Der schwarze Bluff
George Tabori inszeniert „Othello“ in Wien
Requiem für einen Staat
Heiner Müllers „Hamletmaschine“ im Deutschen Theater
„Sechs Stühle, sonst nichts“
Peter Zadek über seinen „Kaufmann von Venedig“ am Burgtheater
Untergang im Wüstensand
Rudolf Augstein über Peter Zadeks „Antonius und Cleopatra“ in Wien
„Das Hirn ist ein Muskel“
Robert Wilson über seinen „Hamlet“-Monolog
Kleiner König Kalle Unwirsch
Peter Zadeks „Richard III.“ in Wien
Prinz der Traurigkeit
Peter Zadeks „Hamlet“ in Wien mit Angela Winkler in der Titelrolle
Der Meisterdieb
Luk Perceval über Shakespeare und sein Projekt „Schlachten!“
Die Welt ist eine Mördergrube
Luk Percevals „Schlachten!“
Des Zweifels wunderlicher Sohn
Rudolf Augstein über Peter Zadeks „Hamlet“ in Hamburg
Schmerzensmann als Retter
Claus Peymann und sein „Richard II.“ in Hamburg
Schwein oder nicht Schwein
Jan Bosse inszeniert „Hamlet“ in Zürich
Im Reich der bösen Onkels
Luc Bondys „König Lear“ in Wien

Shakespeare im Film

Sir Hamlet dänenblond
Laurence Oliviers „Hamlet“-Verfilmung
Der Tradition an die Gurgel
Orson Welles' „Macbeth“
Das edelste Requisit
Titelgeschichte über Helmut Käutners „Hamlet“-Film „Der Rest ist Schweigen“
Williams Welle
Orson Welles und Laurence Olivier verfilmen Shakespeare-Werke
Heißes Pflaster Verona Beach
Baz Luhrmann verfilmt „Romeo & Julia“
Prinz Narziß in Wind und Sturm
Kenneth Branaghs „Hamlet“-Verfilmung
Flausen im Kopf
Der Film „Shakespeare in Love“
Blutsfeinde
Roland Emmerichs Shakespeare-Film „Anonymus“

Shakespeares Sonette

Dein Will
Wer ist „W. H.“ in Shakespeares Sonetten?

Anhang

Impressum
Shakespeare - Dramatiker der Welt • Einleitung

Vorwort

Das Phantom 

Vielleicht ist das schon ein Teil seiner gigantischen, weltumspannenden Erfolgsgeschichte: dass wir fast nichts über ihn wissen. Dass das Leben des erfolgreichsten, wirkungsmächtigsten Dramatikers der Welt ein Geheimnis ist. William Shakespeare ist ein Phantom und seine Stücke, die jeder kennt, sind ein Kulturerbe der Welt. Von niemand geschaffen, niemand zugehörig, keinen Erben, keinem Land, keiner einzelnen Kultur. Er gehört uns allen, dieser William Shakespeare und seine Kunst ist Weltkunst, zeitlos, überzeitig, universal. 
Wir können alles in ihn hineindenken. Er, der sich in die unterschiedlichsten Menschen, in Könige, Bettler, Intriganten, reine Seelen, Frauen, Männer so unnachahmlich hineinfühlte, er ist für uns, die 400 Jahre nach seinem Tod heute leben, ein immer wieder neues Buch. Und jeder neuen Zeit steht er und stehen seine Stücke neu gegenüber. Wie eindrucksvoll lässt sich das in diesem Buch, das mehr als fünfzig Jahre Shakespeare-Rezeption, Shakespeare-Spurensuche und -Deutung umfasst, erkennen. 
Er ist ein Chamäleon auf der Bühne der Zeit. Es scheint, als habe er auf magische Weise alles schon vorausgewusst. Und warum? Weil er die Menschen so gut kannte. Ihre Abgründe, ihren Hass, ihre Selbstsucht, ihre Verführbarkeit, ihre Liebe. Er kannte die Essenz des Lebens. Er kannte uns. 
Volker Weidermann
Porträts
Abbildung
SPIEGEL 17/2016

Das Weltphantom

Vor 400 Jahren starb William Shakespeare. Dafür ist er immer noch erstaunlich lebendig. Eine Reise um den Globus auf den Spuren des wirkmächtigsten Dramatikers aller Zeiten. Von Volker Weidermann
Sie haben alle eine kleine Schriftrolle in den Flügeln, die bärtigen, kahlköpfigen gelben Gummientchen, die in der Grabbelkiste in einem Andenkenshop in Stratford-upon-Avon zusammengepfercht sind und unverkennbar Shakespeares Züge tragen. Auf der Rolle steht „To quack or not to quack“. Das ist genau die Frage.
Kurz vor dem 400. Todestag des größten Dramatikers aller Zeiten ist in seiner Heimatstadt in Mittelengland die Hölle los. „Och, die ist hier eigentlich immer los“, sagen die, die hier leben. Nur im Januar sei es ein bisschen ruhiger. Jetzt aber, in den ersten Frühlingstagen, ist die kleine Fachwerkstadt im Rausch. Shakespeare-Leser aus aller Welt, Verehrer des Dichters, leidende Schulklassen streifen durch diesen Geburtsort der britischen Weltpopkultur, der heute so eine Art Disneyland auf Europäisch und auf Uralt ist, und suchen Spuren, die nicht zu finden sind.
Natürlich gibt es da das Elternhaus in der Henley Street, es gibt den Garten von New Place, dem prächtigen Anwesen, das er sich von seinem Reichtum als Autor, Schauspieler, Anteilseigner eines Theaters erworben hatte. Es gibt die Farm seiner Mutter, das Elternhaus seiner Frau, Taufurkunde und Taufbecken, Testament und Grabstein. Aber dazwischen, aus der Zeit zwischen Taufbecken und Grabstein, gibt es fast nichts, außer seinen Stücken und Sonetten. Shakespeare ist ein Phantom, das wirkmächtigste aller Zeiten.
Auf dem Grabstein in Stratford stehen seine letzten Verse. Ein Flehen und ein Fluch: „O guter Freund, um Jesu willn lass ab / Stör nicht den Staub, der hier liegt in dem Grab / Gesegnet sei, wer schonet diesen Stein / Und Fluch dem Mann, der rührt an mein Gebein“. Sein letztes Bitten um Ruhe und um Einsamkeit für immer.
400 Jahre ist das nun her. Die Welt hat sich verändert seitdem. Wir fahren Autos, wir waren auf dem Mond, wir wählen alle paar Jahre eine neue Regierung, wir haben dieses seltsame Internet, in dem man mit nur wenig Mühe viel Wahres entdecken kann über den Meister aus Stratford und auch einiges, was überhaupt nicht stimmt. Seit 400 Jahren liegt er im Grab, aber sein Werk ist lebendiger als je zuvor.
Geboren wurde er im Jahr 1564, hinein in eine Welt des Umbruchs, in eine Welt, die so ganz anders war und der Welt von heute doch so ähnelt. Es war, es ist eine Welt, die aus den Fugen gerät.
Die Geschichte von William Shakespeare ist die Geschichte eines Mannes aus einer kleinen Stadt zwischen grünen Hügeln mitten in England, der nach London kam, als das britische Weltreich entstand. Francis Drake war von seiner ersten Weltumseglung zurückgekehrt. Die Erde war eine Kugel, die Gewissheit hatte man nun. Land um Land wurde entdeckt und zu Handelszwecken unterworfen, fremde Völker wurden gefunden. Kaufleute und Abenteurer brachten Gewürze, Waren und Menschen aus aller Welt mit nach London, Afrikaner mussten zur Belustigung der Menschen die Themse hinaufpaddeln. Willkommen, Welt, zu Hause in London. Es waren die Geburtsjahre der Globalisierung.

Shakespeare entdeckte die Seele des hadernden, modernen Menschen.

Das europäische Mittelalter war geprägt gewesen von der Religion, von der Vorstellung, dass der Allmächtige und nur er den Lauf der Welt und das Schicksal der Menschen bestimmte. Nun aber hatte Martin Luther, knapp fünfzig Jahre vor der Geburt Shakespeares, seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen und damit die Reformation begonnen. Kopernikus hatte erkannt und beschrieben, dass die Erde um die Sonne kreist, Galileo Galilei die exakten Naturwissenschaften begründet. Michelangelo, der Künstler der Hochrenaissance, starb im Jahr der Geburt des Dramatikers aus Stratford. Und kurz bevor Shakespeare seine ersten Stücke schrieb, veröffentlichte Michel de Montaigne seine „Essais“, geprägt von Humanismus und Reformation.
Das Zeitalter der Aufklärung begann, und Shakespeare beschrieb, was es heißt, wenn der Mensch den Hauch der Freiheit spürt, was aber auch heißt, dass nicht Gott uns führt, sondern nur wir uns selbst. Der Mensch, der die Freiheit sucht und gleichzeitig überfordert von ihr ist.
In Shakespeares 16. Jahrhundert entstand in Umrissen die moderne Welt von heute, und er entdeckte und beschrieb die Seele des modernen Menschen. Dessen Ringen um Gut und Böse, dessen Gier und seine Güte, die Kraft der Liebe und die dunkle Gefahr der Triebe, den Kampf um Macht und die Abgründe der Rache. Shakespeare war der Writer der Apokalypse, ein früher Terrorexperte, sein Werk ist erstaunlich aktuell.
Vom Feudalismus zum modernen Staat, alles war ins Rutschen geraten, die politische, kulturelle und soziale Ordnung. Enormer Reichtum wurde von einigen wenigen in Zeiten der Öffnung der Welt plötzlich angehäuft, alles war möglich, und viele scheiterten. Es war die Zeit der brutalen Unterdrückung des Katholizismus durch Elizabeth I. Die alten kirchlichen Rituale wurden verboten, Zierrat aus den Kirchen geklopft. Shakespeare selbst, so legt es der Harvard-Professor Stephen Greenblatt, einer seiner besten Biografen, dar, kam vermutlich aus einem stark katholisch geprägten Elternhaus. Der Vater war zu Shakespeares Kindheit ein angesehener Mann in Stratford gewesen, mit höchsten Ämtern ausgestattet. Als William zwölf war, ging es mit dem Vater bergab. Warum, wissen wir nicht.
In einer Epoche der Weltenwende erlebte auch der Junge aus Stratford den Sturz der eigenen Welt. Als er das erste Mal nach London kam, wann immer das genau auch gewesen sein mag, dürfte er über die prächtige London Bridge in die Stadt eingezogen sein. Auf den Pfeilern der Brücke staken die Köpfe von widerständigen Jesuiten, von Verbrechern und Verschwörern. Und etwa 15 Jahre nach Shakespeares vermuteter Ankunft in London gelang es dem katholischen Terroristen Guy Fawkes beinahe, König Jakob I. und das gesamte Parlament in die Luft zu sprengen. Der schwerste Terroranschlag der frühen Moderne konnte im letzten Moment verhindert werden. Stephen Greenblatt sagt: „In Zeiten wie unseren, in denen wir nicht nur die Kräfte lokaler Veränderungen spüren, sondern Kräfte seismischer Verschiebungen der politischen Tektonik, da sind die Texte Shakespeares besonders kraftvoll und stark.“
Auch der Intendant der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, der sich die erfolgreiche deutsche Shakespeare-Inszenierung mit Lars Eidinger als Hamlet ausgedacht hat, sagt: „Wir ähneln uns. Unsere Zeiten ähneln sich. Sie sind extrem prosperierend und gewaltsam. Es sind Zeiten extremer Dekadenz und großer Armut. Religionskriege, öffentliche Hinrichtungen, Terror-Angst.“ Und machtversessene, skrupellose Führerfiguren seien es, die die Erotik der Macht mittels bewusster Tabubrüche noch steigern. Politiker wie Donald Trump oder Wladimir Putin heute oder die extrem populäre Figur Frank Underwood in der amerikanischen Serie „House of Cards“, in der Kevin Spacey einen zutiefst amoralischen Präsidenten im Weißen Haus darstellt, der nichts anderes ist als eine perfekte Verkörperung von Shakespeares Richard III. in unserer Zeit.

Shakespeare war wohl 21 Jahre alt, als er der kleinen Welt von Stratford den Rücken kehrte. Er verließ das Haus in der Henley Street, die Frau, die Kinder, wahrscheinlich, um mit einer fahrenden Theatertruppe aufzubrechen. Man weiß es nicht. Es sind „die verlorenen Jahre“, die nun folgten, sieben Jahre, von denen in einem ohnehin schlecht dokumentierten Leben überhaupt keine Spuren geblieben sind. Kein Dokument, kein Brief, keine Erinnerung, nichts.
Hier setzen sie vor allem an, die Shakespeare-Bezweifler, die seit Langem eine Wissenschaft aus der Frage machen, ob dieses mäßig gebildete Handschuhmachersöhnchen im Ernst das alles erschaffen haben kann. Die amerikanische Lehrerin und Buchautorin Delia Bacon gehörte in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu diesen vehementen Zweiflern. Sie verbrachte Jahre zu Studienzwecken in England, war besessen von ihrer These, dass all die genialen Werke nur von einer ganzen Gruppe von Personen verfasst worden sein konnten, unter anderem von Francis Bacon und Walter Raleigh. Sie verlor darüber fast den Verstand und verließ England, psychisch zerrüttet. Ihr Buch erschien 1857.
Bacons These folgte seitdem eine Flut von Spekulationen. Man vermutete einen fintenreichen Agenten, eine Autorengruppe, den Shakespeare-Konkurrenten Christopher Marlowe, immer wieder Francis Bacon, den Earl of Oxford, sogar Königin Elizabeth I. wurde als die wahre Dramen-Queen ausgemacht. Zu den Ungläubigen gehörten auch Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, die davon überzeugt waren: So viel Welt, so viel Wissen über die Menschen, die Medizin, die Kunst, die Rechtswissenschaften, die Länder und die Macht, so viel Wissen und Weisheit kann aus diesem einen Phantomleben nicht erwachsen sein. Heute sind die meisten Zweifler still. Die Forschung ist sich weitgehend einig: Es ist total unwahrscheinlich, dass dieses Weltgenie aus einer unauffälligen, ungebildeten Handwerksfamilie im Nirgendwo entspross, aber es ist die einzige wirklich plausible Geschichte.
In jenen sieben Jahren von 1585 bis 1592, in denen dieser William Shakespeare überhaupt keine Spuren hinterließ, hat er sich in einen Schauspieler und Dramatiker verwandelt. In diesen verlorenen Jahren ist er so bedeutend geworden, dass ihn der Londoner Dichter Robert Greene in einem Pamphlet 1592 als Emporkömmling und Krähe verhöhnte, als jemanden, der glaube, mit den besten Dichtern konkurrieren zu können, obwohl er doch nur ein Schauspieler sei. Shakespeare komme sich wohl vor wie der größte Theater-Erschütterer im Lande. Lächerlich! Ein Anti-Shakespeare-Pamphlet ist also der erste Beleg seines öffentlichen Wirkens.
„Theater-Erschütterer“ heißt im Original „Shake-Scene“, ein Wortspiel und wohl auch der einzige Hinweis darauf, dass der Angriff Shakespeare galt. Im Zeichen einer Attacke tritt der Dramatiker also in die Welt, die alten Platzhirsche spüren als Erste die neue Kraft, die da in London angekommen ist. Sie wollen ihn abräumen, mit Hohn und Spott. Doch Greene stirbt, und der Herausgeber des Pamphlets hat große Eile, sich bei dem neuen Star zu entschuldigen und seine Verehrung für Shakespeares Kunst zu beteuern. Den ersten Kampf im Medienkrieg um seine Stellung in der Welt hat Shakespeare gleich gewonnen. Er wird noch viele Schlachten gewinnen. Und ein Bühnenerschütterer ist er geblieben, mehr als 400 Jahre lang.
Und während der ganze Globus erkundet und unterworfen wurde, baute eine Theatertruppe am Ufer der Themse eines der ersten Schauspielhäuser der Welt mit Platz für 3000 Zuschauer und nannte es The Globe, den Globus, die Welt als Modell und Bühne, auf der unser Mann aus Stratford den inneren Kosmos des Menschen entfaltete. Die hellsten und die dunkelsten Regionen der menschlichen Psyche, von Königen und Kaisern genauso wie von Bettlern, Anwälten, Totengräbern, Gärtnern, Kaufleuten aus aller Welt. Kontinent um Kontinent menschlicher Abgründe eroberte er, steckte Fähnchen um Fähnchen in nie zuvor beschriebene Regionen des Inneren, um sie der Welt zu präsentieren, den Zuschauern, auf seinem Planeten, im Globe.
Das Globe steht heute als Nachbau immer noch an der Themse. Direkt vor der Bühne standen die Armen im Matsch, tausend Menschen, die pöbelten und jubelten und kommentierten, während die Reichsten in den Logen über der Bühne saßen und das Mittelvolk auf den Sitzplätzen in den Galerien ringsum. Tag für Tag kämpften die Schauspieler in dieser Metropole von etwa 200 000 Einwohnern darum, 3000 Zuschauer in ihr Theater zu locken. Sie mussten um jeden Preis Theater für alle machen, für die Reichsten und die Ärmsten, die Klügsten und die Dümmsten, für Mächtige und fürs Volk. Und brauchten dafür immer wieder neue Stoffe: neue Länder, neue Menschen, neue Kontinente. Shakespeare war unter Druck. Und Shakespeare lieferte.
Heute werden seine Stücke in der ganzen Welt gespielt, die Menschen erkennen sich in seinen Stücken wieder. Vor allem in „Hamlet“, dem Dänenprinzen, der nach dem Tod des Vaters und der schnellen Neuvermählung seiner Mutter mit dem vermeintlichen Vatermörder und Vaterbruder Claudius zwischen Rachelust und Melancholie pendelt. Ein Tatmensch im Geiste, der im einzigen Moment des Handelns auf der Bühne den Falschen tötet. Ein Zauderer, ein Weltzerdenker, ein Geisterseher. Einer, der in Gedanken ständig die Welt verbessern will – und am Ende sind alle tot. Oder auch in seinem Stück „König Richard III.“, in dem er den Anti-Hamlet schuf. Den skrupellosen Meister der Macht. Der zu Beginn des Stücks verkündet, er wolle böse sein, Moral sei nur ein Mittel zum Zweck, der die Welt beinahe in Schutt und Asche legt. Am Ende würde er gern ein Pferd gegen sein Königreich eintauschen, um sich zu retten. Da will aber niemand mit ihm tauschen.
Shakespeare wusste alles über die Macht und wie sie die Menschen verwandelt, auch über die Machtlosigkeit. Er verstand die übelsten Monster. Verstand, wie sie zu Monstern wurden. Manchmal scheint es, er liebte sie beinahe dafür. Zumindest dafür, dass sie ihm so tolle Stoffe lieferten. Seine Texte scheinen auf magische Weise überzeitlich und global. Shakespeare war der Erfinder britischer Popkultur als Weltexportschlager, der erste Beatle.
Shakespeare, der die ganze Welt zu kennen schien, ohne je weiter als bis London gereist zu sein, wird heute immer noch von der Welt gekannt und geliebt. Wer eine Reise mit ihm macht und mit seinen Stücken, kann davon erzählen. Tom Bird zum Beispiel. Seit zwei Jahren tourt er mit seiner „Hamlet“-Produktion des Globe durch die Welt. „Globe to Globe“ heißt das Projekt, die Idee entstand, als 2012 zu den Olympischen Spielen Shakespeare-Inszenierungen aus aller Welt nach London ins Globe gekommen waren: Der Weltdichter kam nach Hause und sprach fast alle Sprachen.
2014 machten sich die Engländer auf, der Welt einen Gegenbesuch abzustatten. Inzwischen ist die Welttour fast vorbei, Tom Birds Truppe hat vor wenigen Tagen erst im pakistanischen Lahore und in Erbil im Nordirak gespielt. Und wenn sie am 23. April, an Shakespeares 400. Todestag, nach London zurückkehren, werden sie in 195 Ländern gastiert haben. Sie haben auch in Flüchtlingslagern in Jordanien gespielt oder im „Dschungel“ von Calais. „Natürlich weiß ich auch, dass Theater für die Flüchtlinge in den Lagern nicht gerade das Wichtigste ist“, sagt Bird. „Aber die Reaktionen waren so enthusiastisch, es war einfach großartig!“ Denn neben dem Hunger, dem Schmutz, der Angst und der Ungewissheit sei die Langeweile in den Lagern eines der größten Probleme. „Wir spielen nur Theater. Die Menschen sind so dankbar.“ Und auch das hat er gelernt: wie viele unterschiedliche Stücke in ein und demselben Stück, in „Hamlet“, stecken. „In Ruanda ist es ein Stück über Rache. Bei uns über zerbrochene Familien.“
Shakespeares Stücke werden in vielen Ländern adaptiert, längst schon sei der ganze Shakespeare Bestandteil anderer fremder Kulturen, sagt der englische Theaterforscher Andrew Dickson, der selbst um die Welt gereist ist, um sich den Weltdramatiker Shakespeare dort anzusehen, wo er inzwischen zu Hause ist: überall. Dicksons Reisen führten ihn nach Berlin, Mumbai, Johannesburg, Shanghai oder Nevada, und überall dort erlebte er diesen „einheimischen“ Shakespeare. In Johannesburg führte eine Theatertruppe von Obdachlosen Teile des „Titus Andronicus“ auf. Und in Berlin an der Schaubühne erlebte er Lars Eidinger als Hamlet, einen modernen deutschen Hamlet: „Gewalttätig, seelisch gepeinigt, unsympathisch, großartig!“
Es ist eine Eidinger-Show, immer ausverkauft, auf Gastspielen in zahlreichen Ländern unterwegs. Hamlet ist in dieser Version ein Berliner „rich kid“: irre, verzweifelt, Leute anfallend, in der Erde wühlend und sich vergrabend. Ende Januar gastierten sie bei einem Theaterfestival in Teheran, wo sich die Produktion den Prozeduren der Zensur unterwerfen musste. Die iranische Behörde hatte sich Videoaufzeichnungen der Berliner Inszenierung angesehen und klare Anweisungen nach Deutschland geschickt.
Die einzige Frau im Ensemble, Jenny König als Ophelia und Gertrud, musste ihre Haare mit doppeltem Kopftuch bedecken, die männlichen Ensemblemitglieder durften sie nicht berühren, ihre Stimme sollte nicht allein zu hören sein, musste beim Gesang von einer männlichen Stimme unterstützt werden. Eidinger sagt: „Ich stand der Idee, ein Gastspiel in Teheran zu geben, sehr skeptisch gegenüber. Ich hatte das Gefühl, mich Moral- und Wertmaßstäben beugen zu müssen, an die ich nicht glaube und die ich ablehne.“ Er fuhr trotzdem. Vielleicht auch, weil die komische Seite des Ganzen im Vorfeld schon zu erahnen war. Denn am Text, in der deutschen Übersetzung von Marius von Mayenburg – und für die Iraner in Übersetzung auf LED-Display – wurde nichts geändert. Obwohl es hieß, es dürfe keine sexuellen Anspielungen geben. Was ja ungefähr so ist, als verböte man vor einem Fußballspiel den Ball.
Und dennoch: Wie schon bei den Gastspielen der Berliner in Sarajevo, Zagreb, Ramallah oder Jerusalem hätten die Texte dort in Iran einen viel direkteren Bezug zur politischen Situation des Landes gehabt, als das hier in Deutschland der Fall sei, sagt Eidinger. „Vieles, was hier hypothetisch, theoretisch, rhetorisch und abstrakt klingt, wurde in Teheran ganz klar, direkt und greifbar. Wenn Hamlet zu Ophelia sagt: 'Ich weiß auch von eurer Schminkerei mehr als genug. Gott hat euch ein Gesicht gegeben, und ihr macht euch ein eigenes. Ihr tänzelt, schwenkt die Hüften, und ihr lispelt. Ihr verhunzt Gottes Geschöpfe und tut, als wäre eure Geilheit Naivität. Pack dich ins Kloster!' – dann kriegt das eine ganz andere Wucht.“
Was Eidinger meint: Diese eigentlich frauenfeindliche Textpassage werde, unter einem Kopftuch gesprochen, automatisch zu einem Protest gegen Schleier und Frauenfeindlichkeit. Aber was, wenn die Zensoren gar nicht so dumm sind, wie sie Eidinger erscheinen? Könnte es nicht sein, dass sich die Teheraner Kunstzensoren in dieser Rede Hamlets eher bestätigt fühlen?
Das ist das Wesen der Kunst, der Literatur, des Theaters: Jeder liest ein anderes Buch, jeder sieht ein anderes Stück auf der Bühne. Wir sehen uns selbst gespiegelt in den Werken. Unsere Gedanken, Träume, unsere Abgründe. Das Kunstwerk wächst, je stärker sich der Zuschauer mit dem Stoff, mit den Figuren des Dramas identifizieren kann. Und je offener und wandelbarer über Zeiten und Kontinente hinweg ein Kunstwerk ist, umso besser ist es. Shakespeares Stücke sind von größtmöglicher Offenheit und Anschlussfähigkeit.
Man kann Kunst nicht zielgerecht benutzen. Sie hilft uns, Situationen zu verstehen, uns auszudrücken, uns in andere Welten zu katapultieren, frei zu sein. Natürlich kann man Shakespeares Dramen, die Königsdramen wie „Richard III.“ oder „Heinrich VIII.“, politisch deuten. Man kann sie nutzen, um zu Protesten aufzurufen, Umstürze zu fordern. Aber man muss bei Shakespeare immer darauf gefasst sein, dass diejenigen, gegen die man die Worte werfen will, höhnisch lachen und sagen: Genauso sehen wir die Sache übrigens auch. „Pack dich ins Kloster!“ – ist das nun Aufforderung an die Ophelias von heute, sich zu verbergen oder dagegen zu protestieren?
Den deutschen Hamlet in Teheran wollten jedenfalls jede Menge Menschen sehen, am zweiten Abend seien es 300 Zuschauer mehr als erlaubt gewesen, erinnert sich Eidinger. Im Publikum wurde die ganze Zeit telefoniert und fotografiert, und Eidinger, der in Berlin Zuschauer, die vorzeitig die Vorstellung verlassen oder einfach nur aufs Klo wollen, anherrscht und zurück in den Zuschauerraum zerrt, spazierte auch in Teheran durch den Saal und setzte das von den Zensoren angeordnete Berührungsverbot hysterisch übertrieben um, indem er alle, die ein Selfie mit ihm machen wollten, anschrie: „Don't touch me 'cause I'm electric / And if you touch me you'll get shocked!“ Ein Zitat aus einem Beastie-Boys-Song. Zensorenforderung übererfüllt. Er wurde nicht berührt. Er war elektrisch.
Einer der anderen deutschen Schauspieler, die mit ihrer Hamlet-Darstellung brillierten, ist Joachim Meyerhoff. In einer Inszenierung von Jan Bosse in Zürich spielte er 2007 Hamlet als einen modernen Kreativen, in grauer Stoffhose und Designerpullover, mal als von der Verzweiflung Getriebenen, mal als Karikatur des modernen, verwöhnten Menschen. Inzwischen hat Meyerhoff drei Bestseller geschrieben, autobiografische Monologe. „Kein anderer Autor hat mich so geprägt wie Shakespeare“, sagt er. Bei Shakespeare gebe es keine Grenzen, alles durchmische sich mit allem. Das habe er beim Spielen als enorme Freiheit empfunden. „Das Denken wird ein physischer Prozess – ebenso das Poetische, der ganze Körper spricht und dichtet. Der ganze Mensch ist ungesichert, unangegurtet, unangeseilt. Und plötzlich gibt es Momente, da meint man dann tatsächlich zu begreifen, wie es ist, wenn aus der Welt als Scheibe eine Kugel wird. Das sind erhellende und berauschende Spielereignisse, wenn durch das Sprechen der Hamlet-Sätze sich die Zeit aufbiegt und Unmittelbarkeit entsteht.“
Der ukrainische Dichter Juri Andruchowytsch lebt in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Er war Teil der Maidan-Bewegung. Vor ein paar Jahren hat er „Hamlet“ ins Ukrainische übersetzt, mit riesigem Erfolg. Nun hat er mit „Romeo und Julia“ nachgelegt. „Ich nenne sie 'Shakespeares Blockbuster'“, sagt er. „Ich finde es interessant, wie er gerade mit diesen zwei Stücken zum globalen Popsymbol geworden ist. In meiner Übersetzung versuche ich, seinen Text und seine Sprache absolut gegenwärtig zu machen, zugänglich auch für das Publikum, das normalerweise nur die Popkultur verstehen kann.“ Und dabei doch dem Original, diesem großen Liebesdrama, dem populärsten Liebesstoff der Weltliteratur, wieder ein bisschen näherzukommen. Wahrscheinlich ist kein zweites Liebesdrama der Welt so oft adaptiert worden, und inzwischen haben sich die meisten Adaptionen sternenweit vom Original entfernt. Wer kennt noch den ursprünglichen Text? In dem kommt nicht mal ein Balkon vor: „Julia erscheint oben am Fenster“, lautet Shakespeares Anweisung.

Auch das ist das Verrückte an Shakespeares Texten: Man kann daran so viel heruminszenieren, weglassen, umschreiben, neu deuten, wie man will, aber der Kern bleibt intakt. „Das ist“, sagt Andruchowytsch, „eine mächtige Fusion von Leidenschaft, poetischer Schönheit, Fantasie, Ironie, Zynismus und absolut brillantem Humor. Ich muss sehr oft lachen, wenn ich seine Tragödien lese. Sie sind der Goldene Schnitt von Pathos und Ironie.“
Als der Globe-„Hamlet“ von Tom Bird aus London am Vorabend der ukrainischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2014 in Kiew gastierte, saßen Vitali Klitschko, einer der Reformer, und Petro Poroschenko, der kommende Präsident, in der ersten Reihe. „Es war an diesem Abend einfach der ,place to be'“, sagt Bird. Und jeder sah dort sein eigenes Stück.
Auch Shakespeares Truppe, die Chamberlain's Men, hatte oft am Hofe für Elizabeth gespielt. Die Monarchin mochte die Stücke, ließ sich gern von den Leuten vom Globe unterhalten. Unter ihrem Nachfolger, Jakob I., der die Truppe später unter seinen persönlichen Schutz stellte, die sich folglich King's Men nannte, spielten sie mitunter mehrmals im Monat im Palast vor dem Regenten. Sie waren dem Volk so nahe wie den Machthabern. Manchmal war der Grat, auf dem Shakespeare und seine Leute wandelten, sehr schmal.
Als der Earl of Essex, Freund von Shakespeares Förderer, dem Earl of Southampton, Anfang des Jahres 1601 einen Aufstand gegen die Königin plante, bat er die Chamberlain's Men, am Vortag der Rebellion Shakespeares Stück von der Absetzung und Ermordung König Richards II. zu spielen. Um die Bevölkerung auf den kommenden Umsturz einzustimmen, ihr Mut zu machen für den Sturm auf den Palast.
Die Truppe war wenig revolutionär gestimmt. Man hatte keine Lust, das Stück sei nicht neu, die Einnahmen würden sicher dürftig ausfallen. Da bot der Earl die beachtliche Summe von 40 Schilling, und im Globe lief am Nachmittag vor dem Aufruhr „Richard II.“. Der Umsturz scheiterte, der Earl von Essex wurde hingerichtet, und Elizabeth war außer sich und schäumte: „Ich bin Richard II.! Wisst ihr das nicht?“ Die Schauspieler gaben sich arglos, berichteten von den 40 Schilling, die sie vom Earl erhalten hatten, und durften ihre Köpfe behalten.
Die Königin hatte zwar sowohl die revolutionäre Kraft und Absicht des politischen Stücks als auch sich selbst darin erkannt. Sie glaubte aber auch an den Opportunismus und die unpolitische Geschäftstüchtigkeit der Unterhaltungskünstler vom Globe. Und welcher Alleinherrscher bringt schon seinen liebsten Geschichtenerfinder um?
Shakespeare lebte und schrieb in Zeiten tiefer Unsicherheit und Ungesichertheit – die Köpfe auf der Brücke, der Terror von Guy Fawkes, die Öffnung der Welt, der Zerfall ewiger Sicherheiten, die die Religion geboten hatte. Nichts ist mehr da in seinen Stücken vom Glauben an die Religion und das absolut Gute im Menschen. Wir alle tragen ein Monster in uns. Und blicken uns fassungslos ins eigene Gesicht: „Brutus, auch du?“, fragt Cäsar seinen Mörder und engsten Vertrauten im Angesicht des Mordes. Auch „Julius Cäsar“ ist ein Drama des Übergangs. Ein Drama der Transformation von einem Zeitalter in ein anderes. Und die Rede des Mark Anton, die er auf dem Forum hielt, kennt noch heute beinahe jedes Schulkind: „Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann.“
„Julius Cäsar“ war auch das Drama, das der afrikanische Freiheitskämpfer und erste Präsident Tansanias, Julius Nyerere, Anfang der Sechzigerjahre ins Suaheli übersetzte. Während der Kämpfe hatte er damit begonnen, in den ersten Monaten seiner Amtszeit schloss er die Arbeit ab. Er wollte beweisen, dass Suaheli für solch komplexe Dramen brauchbar ist. Und das Stück erschien ihm dafür ideal. Auch den „Kaufmann von Venedig“ hat er übersetzt.
Die Dramen Shakespeares sind in Afrika besonders populär, die Schulkinder wachsen mit seinen in Kindergeschichten verwandelten Stücken auf. Der in Kenia als Sohn von Naturschützern aufgewachsene Literaturwissenschaftler Edward Lee-Wilson, der heute in Cambridge lehrt, hat ein Reportagebuch über „Shakespeare in Swahililand“ geschrieben. Und erzählt darin von der mythenbildenden Kraft vor allem in Umbruchzeiten.
Er erzählt die Geschichte des Unabhängigkeitskampfs im Südsudan und die Rolle, die Shakespeare bei der Frage spielte, ob Englisch offizielle Amtssprache werden sollte. Er hat den Brigadegeneral Awur Malual während eines Militärmanövers im Westen des Südsudan getroffen, der ihm die Geschichte seiner Shakespeare-Lektüre im Kampf berichtete und wie die Kartons mit Shakespeares Werken eines Tages im Schlamm an der Grenze zu Äthiopien versanken. Das ist kein Kriegskitsch, sondern Lee-Wilson beschreibt Shakespeares Werke hier eher als eine Art unverzichtbaren Talisman in existenziell bedrohlichen Situationen des Lebens in Ostafrika.
Shakespeare sei ein Afrikaner, sagt Lee-Wilson. Seine Liebe zum Geschichtenerzählen, auch seine Gabe, Geschichten fortzuspinnen. Keines seiner Stücke entsprang ja allein Shakespeares Fantasie. Er war ein großer Transformator historischer und literarischer Vorlagen. Er war Kopist, Abschreiber, Kondensierer, Umschreiber. Er hielt Geschichte durch Neuerzählen lebendig.
Es gibt da die berühmte Geschichte der „Robben Island Bible“. Auf Robben Island hatte das südafrikanische Apartheidregime die Kämpfer des ANC inhaftiert. Einer von ihnen war Sonny Venkatrathnam. Die Inhaftierten durften sich während der Haft auf der Gefängnisinsel ein Buch aussuchen. Eigentlich wollte Venkatrathnam „Das Kapital“ von Karl Marx, das er aber nicht bekam. Stattdessen entschied er sich für Shakespeares gesammelte Werke. Kurz vor seiner Entlassung bat er seine Mithäftlinge, die ihnen wichtigste Stelle zu unterstreichen und ihren Namen dazuzuschreiben.
Am 16. Dezember 1977 markierte Nelson Mandela folgende Stelle in „Julius Cäsar“:
Cäsar: Der Feige stirbt schon vielmal, eh' er stirbt. / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. / Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das größte, dass sich Menschen fürchten, / da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll.
In wenigen Zeilen reist da der Leser durch die Jahrhunderte der Weltgeschichte: Sie beginnt bei Cäsar, führt über das 16. Jahrhundert Shakespeares bis ins 20. Jahrhundert zum Häftling Mandela, und sie führt den Leser auch zu dem, was noch alles geschehen sollte: Befreiung, Präsidentschaft, Weltstar der Unterdrückten und des Durchhaltens gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Diese Zeilen, die eine ganze Lebenshaltung der Tapferkeit und Lässigkeit und Klugheit aufs Schönste und Poetischste beschreiben, sie leuchten in noch hellerem Licht. Oder anders gesagt: Der Strich Mandelas auf dieser vergilbten Seite ist wie ein dünnes, starkes Seil, das die Vergangenheit mit einer Zeit kurz vor unserer Gegenwart verknüpft. Die alten Worte haben über die Jahrhunderte nichts von ihrer Kraft verloren.
Der südafrikanische Soziologe Ashwin Desai hat ein Buch über die „Robben Island Bible“ geschrieben. Darüber, wie man aus den einzelnen Charakteren Shakespeares Kampfwege und Hoffnungen für die Zukunft jedes Einzelnen herauslesen kann und wie Shakespeare die Kämpfer von einst in ihrem antikolonialen und antirassistischen Kampf inspiriert hat und sie außerdem mit der Schönheit der Worte und der Poesie beschenkte.
Spricht Desai aber über die Gegenwart seines seit inzwischen schon mehr als 20 Jahren vom ANC beherrschten Landes, werden seine Worte bitter. Es sei den Kämpfern von einst ja nicht nur um die Abschaffung des Apartheidregimes gegangen, sondern auch um Antirassismus, Umverteilung der Güter, Gleichheit, Entmachtung des absoluten Staatsapparats. „Sind diese Träume Wirklichkeit geworden? Haben diese fein geschliffenen weisen Worte Früchte getragen in der Freiheit? Nichts davon.“ Es gebe nicht einmal mehr politische Debatten. Der Staat und seine Bediensteten rafften immer mehr Macht an sich, zwischen einstigen Parteikameraden komme es zu shakespeareartigen Kämpfen, und das Land sei ein unerschöpflicher Futtertrog für die Reichen und Mächtigen geworden. Und, ja, Ashwin Desai weiß auch, dass damit zwar viele der unterstrichenen Weisheiten von der Gefangeneninsel von einst entwertet sind, dass einer dabei aber recht behält: der Dramatiker aus Stratford. Was Macht, Machtverlust und plötzlicher Machterwerb aus Menschen machen, das wusste er.

Man hat, nach so einer Reise mit Shakespeare um die Welt, den Eindruck, dass er einer der wenigen Dichter ist, deren Texte beim Übersetzen nicht verlieren. Weil mit jeder neuen Übersetzung auch etwas Neues entsteht. Die Möglichkeit hat die englischsprachige Welt ja nicht. Der Text ist der Text.
Vielleicht ist Shakespeare auch darum in der Welt lebendiger und heutiger als in England selbst. Der Autor, Regisseur und Übersetzer Roland Schimmelpfennig hat vor einiger Zeit den „Hamlet“ neu übersetzt. Er hat sogar „To be, or not to be“ neu übersetzt. Verrückt geworden? „To be“ heißt „sein“, was denn sonst? Schimmelpfennig aber sagt: „Sechs einsilbige Wörter, die einen kompletten Kreis um das Leben eines Menschen ziehen. Mein Vorschlag: 'Leben oder nicht leben.'“ Und damit ist eine Formel, vielleicht der stärkste „Brand“ der Weltkultur, ein ganz neuer Satz, den man neu denken und hören kann.
Und was würde Shakespeare sagen? „Natürlich würde man Shakespeare gern um Rat fragen“, sagt Schimmelpfennig. „Wahrscheinlich wäre er etwas ratlos. Vielleicht würde er denken, es aber aus Höflichkeit nicht aussprechen: Wo ist das Problem? Sind doch nur sechs Wörter, kann nicht sein, dass das so kompliziert ist.“ „To quack or not to quack“, sagt das Entchen mit dem Schnauzbart.
Ein einziges bisschen echte Handschrift von ihm ist uns geblieben. Möglicherweise. „Handschrift D“ wird sie von Shakespeare-Forschern genannt. Seit mehr als hundert Jahren streiten sie, ob es wirklich seine Handschrift, sein Text ist. Die Tendenz geht in den vergangenen Jahren zu einem deutlichen Ja. Aufbewahrt wird sie in der British Library in London. Es ist nur ein kurzer Text, Teil einer Gemeinschaftsarbeit mehrerer Dramatiker. Das Stück heißt „Sir Thomas More“. Von Shakespeare stammt die Passage, in der er schildert, wie Thomas More als Sheriff von London fremdenfeindliche Randalierer mit Erfolg dazu überredet, von ihren Gewalttätigkeiten gegen Flüchtlinge abzulassen. Shakespeare lässt More sagen:
Nun stellt euch vor, ihr seht die armen Fremden, / Wie sie mit Kindern und mit dürft'ger Habe / den Häfen zu sich schleppen, um zu flüchten, / Und ihr sitzt da gleich Königen befriedigt, / die Richtschnur weggefegt durch euer Schrei'n / Gehüllt in eures Dünkels Prunkgewand".
Und die Passage endet:
"Nach solchem Muster / Würd' nicht ein Einz'ger von euch jemals alt, / Denn andre Meuchler würden nach Belieben, / Mit gleichen Gründen und mit gleichem Recht / euch überfallen, und nach Raubfischart / Fräß einer dann den andern.
Sonderbar, dass diese Sätze des Weltphantoms aus Stratford das sind, was uns geblieben ist. Ein Aufruf zu tätigem Mitgefühl angesichts der umherirrenden Opfer jener Zeiten des Umbruchs, in denen er lebte und in denen wir wieder leben. „Und ihr sitzt da gleich Königen befriedigt.“
Er selbst, vielleicht ist das das Wunderlichste an diesem wunderlichen Leben, hat mit dem Schreiben einfach irgendwann aufgehört. Er ging zurück nach Stratford, kaufte Immobilien, Ländereien, verklagte Nachbarn, wenn sie ihm kleine Summen schuldeten. Er war ein paar Jahre lang ein Genie gewesen. Irgendwann beschloss er wohl, keines mehr zu sein.
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