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Peter Ash ist fertig mit der Welt: Seit seiner Rückkehr aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan erleidet er Panikattacken, sobald er bloß einen Raum betritt. Das »Weiße Rauschen«, wie er es nennt, zwingt ihn, in der Wildnis zu bleiben und bei jedem Wetter unter freiem Himmel zu schlafen. Doch als ein Freund aus der Army Selbstmord begeht, spürt Ash, dass mehr hinter der Geschichte steckt, und wagt sich wieder unter Menschen.

Er hilft der Witwe des Mannes, ihr baufälliges Haus zu renovieren. Unter der ramponierten Veranda entdeckt er mehr als nur morsches Holz: Hier bewacht ein verdammt großer und verdammt hässlicher Hund einen explosiven Fund – einen Koffer voller Geld und Sprengstoff. Der Koffer ist aber lediglich ein Puzzleteil in einem wahnsinnigen Anschlagsplan, der Tausende das Leben kosten soll. Ash bleibt nicht viel Zeit, um die Täter ausfindig zu machen …

Nicholas Petrie studierte an der University of Washington. Bereits während des Studiums wurde er für seine Texte vielfach ausgezeichnet. Petrie lebt mit seiner Familie in Milwaukee. Drifter ist sein erster Roman.

Thomas Stegers, 1954 in Hagen geboren, übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Megan Bergman, Bill Bryson, Alan Hollinghurst, Howard Jacobson, Alexander McCall Smith, Lewis Nordan, Paul Torday. Er lebt in Berlin.

NICHOLAS

PETRIE

DRIFTER

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch

von Thomas Stegers

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4679.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© 2015 by Nicholas Petrie

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Umschlaggestaltung: Werbeagentur ZERO, München

eISBN 978-3-518-74489-5

www.suhrkamp.de

Drifter

Caminante, no hay camino.

Se hace el camino por andar.

Wanderer, da ist kein Weg,

Ein Weg entsteht, wenn man geht.

Antonio Machado

Prolog

Der Mann in der schwarzen Canvas-Jacke

Eine kleine verchromte Glocke am Türpfosten kündigte ihn an. In der verblichenen, schwarzen Leinenjacke wirkte er unförmig, die John-Deere-Basecap hatte er tief ins Gesicht gezogen. Dabei gab es hier keine Überwachungskameras. Harder’s Grange war ein Geschäft für landwirtschaftlichen Bedarf, irgendwo am Ende der Welt.

Sein Blick fiel auf eine Resopaltheke, eine Kanne mit angebranntem Kaffee und einige Stühle für wartende Kunden oder für Stammgäste, die Gesellschaft suchten. Bekanntlich dienten solche Orte häufig als Treffpunkt ortsansässiger Farmer, die meist ein einsames Leben führten. Er war selbst auf einer Farm aufgewachsen, allerdings nicht in diesem Bundesstaat.

Hinter der Theke stand ein wettergegerbter Mann, Anfang sechzig, in einem rotkarierten Hemd. Er blickte von seinem Vampirroman zu seinem einzigen Kunden auf und steckte eine Broschüre des Landwirtschaftsministeriums als Lesezeichen zwischen die Seiten.

Der Mann in der Jacke setzte eine freundliche Miene auf. »Guten Morgen«, sagte er.

»Könnte nicht besser sein«, erwiderte der Mann hinter der Theke, und sein breites gutgelauntes Lächeln schob die Falten in seinem Gesicht zu einer neuen Landschaft zusammen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Meine Mutter hat ein Grundstück in der Nähe von Monroe gekauft«, antwortete der Mann in der Jacke. »Sie braucht Dünger für ihren Garten.«

»Da sind Sie hier genau richtig. Wir haben alle möglichen Sorten. Was für Dünger brauchen Sie?«

»Ich habe versucht, sie zu überreden, Mist zu nehmen, aber sie kann den Geruch nicht ausstehen. Sie will zweitausend Quadratmeter bepflanzen.«

Der Mann hinter der Theke pfiff anerkennend. »Zweitausend Quadratmeter? Ganz schön großer Garten.«

»Meine Eltern hatten zweihundertfünfzig Hektar mit Sojabohnen und Weizen in Princeton County, Illinois. Zweitausend Quadratmeter sind für meine Mutter ein Klacks.« Er zuckte mit den Schultern. »Seit mein Vater tot ist, braucht sie eine Beschäftigung.«

Der Mann hinter der Theke nickte mitfühlend.

»Jedenfalls hat sie auf der Farm immer Prairie King verwendet, die Sorte vierundsechzig null null. Zwei Beutel reichen doch für zweitausend Quadratmeter, oder?«

Der Mann hinter der Theke musterte ihn. Er war wohl eher Ende sechzig, doch seine braunen Augen leuchteten klar und blickten konzentriert.

Das ist immer der Moment, dachte der Mann in der Jacke.

Er hatte eine gute Geschichte erzählt.

Er sah überzeugend aus. Er hörte sich überzeugend an.

Doch Landwirtschaft und Handel mit Agrarbedarf waren eine Angelegenheit zwischen Einheimischen, und der Mann hinter der Theke kannte sein Gesicht nicht, was hier viel zählte.

Besonders seit 1995. Mehr noch seit 2001.

Schließlich sagte der Verkäufer: »Das ist Ammoniumnitrat, junger Mann. Das kann ich nicht jedem x-Beliebigen verkaufen, und wenn es nur hundert Pfund sind. Es gibt Regeln für das Zeug. Haben Sie Ihre gelbe Karte dabei?«

»Oh ja, natürlich«, sagte der Mann in der Jacke und blickte verlegen. »Einen Moment, hier müsste sie sein.« Er zog eine Brieftasche hervor, ein Mäppchen aus abgegriffenem Ballistic-Nylon mit Camouflage-Muster. Selbst die Brieftasche war sorgfältig zusammengestellt worden, um glaubwürdig zu wirken.

Er holte seinen Führerschein heraus sowie eine laminierte gelbe Karte, die staatliche Genehmigung für den Erwerb bestimmter Düngemittel und Pestizide. Die Anmeldegebühr hatte 44 Dollar betragen, der gefälschte Führerschein erheblich mehr gekostet.

Eingehend prüfte der Mann hinter der Theke beide Ausweise, sah vom einen zum anderen, hin und her.

»Scheint in Ordnung«, sagte er schließlich. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Und Sie bekommen nur hundert Pfund – ja, ich weiß, aber dem Staat ist es todernst damit.« Er schob dem Mann in der Jacke die beiden Ausweise über die Verkaufstheke zu und grinste ihn breit an. »Man möchte schließlich nicht, dass irgend so ein scheiß Sozi das Zeug in die Hände kriegt.«

Der Mann in der Jacke erwiderte das Grinsen.

»Nein, Sir«, sagte er. »Auf keinen Fall.«

Der Mann hinter der Theke tippte die Bestellung in einen uralten Computer und kassierte das Geld. Er wies seinem Kunden den Weg nach hinten zur Laderampe, wo er sich den Dünger abholen konnte.

Zehn Minuten später bog der Mann in der schwarzen Canvas-Jacke mit dem alten blauen Ford Pickup auf die Landstraße und fuhr in nordöstliche Richtung weiter.

Es war sein zweiter Halt an diesem Tag.

Noch drei weitere bis Einbruch der Nacht.

Genau im Zeitplan.

Fast fertig.

1. Teil

1

Unter der Veranda lag ein Pitbull, der nicht hervorkommen wollte.

»Der Köter ist seit Wochen hier, Sir«, sagte der junge Charlie Johnson. »Er hat schon alle Katzen und Hunde in der Gegend gefressen. Ich kann nicht mal mehr meinen blöden kleinen Bruder nach draußen lassen.«

Das über hundert Jahre alte Haus stand auf einem schmalen Grundstück und hatte, wie dieses ganze heruntergekommene Viertel in Milwaukee, schon bessere Tage erlebt. Es war Anfang November, nicht warm, nicht mal für diese Breitengrade. Die Blätter waren bereits abgefallen, die Bäume, die das Haus überragten, kahl.

Dafür schien die Sonne, immerhin, und der Himmel schimmerte in einem blassen morgendlichen Blau. Kein Morgen für statisches Rauschen. Absolut nicht.

»Wie groß ist der Hund denn?«, fragte Peter Ash.

Charlie schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn noch nie aus der Nähe gesehen, Sir. Und nie bei Tageslicht. Aber er ist verdammt groß, das kann ich Ihnen verraten.«

»Habt ihr nicht das Tierheim angerufen?«

»Doch. Mama hat angerufen«, sagte Charlie. »Zwei Männer waren hier. Sie haben einen Blick unter die Veranda geworfen und sind sofort wieder in ihren Truck gestiegen und weggefahren.«

Charlie trug eine Schuluniform: hellblaues Hemd, dunkelblaue Polyesterhose, blank geputzte schwarze Schuhe an den übergroßen Füßen – ein typischer schmächtiger Zwölfjähriger, der sechs Mahlzeiten am Tag verdrückte und immer noch Hunger hatte.

Nur seine Augen waren älter als er. Ihnen entging nichts.

Gerade waren sie auf Peter Ash gerichtet.

Peter hockte auf einer Werkzeugkiste aus Holz, die knochigen Hände auf den durchgescheuerten Knien seiner Arbeitsjeans, und spähte durch die schmale Luke, die in die verrottete Verandaverkleidung aus Kiefernlatten geschnitten war. Der Hund hörte sich tatsächlich an, als wäre er sehr groß. Peter vernahm ein Knurren aus der Finsternis. Wie ein Panzer im Leerlauf, nur lauter.

Unter dem Fahrersitz seines Pickups lag eine .45er, aber er wollte sie nicht benutzen. Der Hund konnte ja nichts dafür. Er war hungrig, ängstlich und allein, und er hatte nur seine Zähne.

Andererseits hatte Peter Charlies Mutter Dinah versprochen, die verfaulten Stützpfeiler der alten Veranda zu reparieren.

Den Pitbull hatte sie nicht erwähnt.

Peter konnte es ihr nicht vorwerfen.

Ihr Mann hatte sich umgebracht.

Und es war Peters Schuld gewesen.

Peter war schlank und langgliedrig, nur Muskeln und Knochen, kein überflüssiges Fett. Schmales kantiges Gesicht, spitze Ohren, dunkles Haar, die widerspenstigen Strähnen eines wuchernden Igelschnitts. Er hatte die nachdenklichen Augen eines Werwolfs eine Woche vor der Verwandlung.

Irgendetwas an ihm war immer in Bewegung; selbst jetzt, als er auf der Werkzeugkiste saß.

In acht Jahren hatte er in zwei Kriegen gekämpft, an mehr Einsätzen teilgenommen, als ihm lieb war. Die Speerspitze. Im Januar würde er einunddreißig.

Als er sich vorbeugte, um durch die Luke unter die Veranda zu gucken, spürte er an der Schädelbasis zischend das Weiße Rauschen aufschlagen. So nannte er diesen feinkörnigen Effekt, mit dem er jetzt leben musste. Ein vages knisterndes Unwohlsein, ein dissonantes Geräusch am Rand der Hörbarkeit. Gar nicht mal unangenehm. Noch nicht. Das Rauschen erinnerte ihn bloß daran, dass er nicht hineingehen sollte.

Es würde sowieso nur schlimmer werden, warum sich also nicht gleich an die Arbeit machen.

Der Kriechkeller unter der Veranda war knapp einen Meter hoch und etwa vier mal vier Meter groß, der Boden bestand aus loser Erde. Ungefähr die Ausmaße von vier frisch ausgehobenen Gräbern. Der Gestank war widerlich, schlimmer als Soldatenfüße nach zwei Monaten auf einem Gefechtsposten. Aber nicht so schlimm wie eine zwei Wochen alte Leiche.

Seitlich sickerte Licht zwischen den Latten hindurch, doch die hinterste Ecke lag im Schatten, irgendwelches ausrangiertes Zeug sammelte sich dort. Und dann das Knurren des Hundes, er spürte es förmlich durch die Schuhsohlen hindurch.

Es wäre schön, die Sache ohne allzu viele Bisswunden hinter sich zu bringen.

Er holte eine kabellose Arbeitsleuchte, ein robustes Seil und ein Rundholz aus seinem Pickup. Das Rundholz war ein Stück eines alten Handlaufs, Weißeiche, fünf Zentimeter Durchmesser, knapp einen halben Meter lang. Es lag gut und fest in der Hand. Ein Vorteil, wenn man etwas so unsäglich Dämliches vorhatte wie er.

Begleitet vom Knurren aus dem Kriechkeller, setzte er sich wieder auf die Werkzeugkiste und zog sein Taschenmesser hervor. Der junge Charlie Johnson schaute ihm zu.

Peter war nicht scharf auf Publikum. Es konnte hier nämlich noch sehr unangenehm werden.

»Hast du nichts zu tun, Charlie? Musst du nicht zur Schule oder so?«

Charlie sah auf die billige Digitaluhr an seinem schmalen Handgelenk. »Nein, Sir«, sagte er. »Noch nicht.«

Peter schüttelte den Kopf. Es war ihm nicht recht, aber er konnte es verstehen. Er benahm sich ja beinahe selbst wie ein Zwölfjähriger.

Er schnitt drei kurze Stricke von dem Seil ab. Dann knotete er je einen Strick an die Enden des Handlaufs und zog den dritten Strick und den verbliebenen, etwa drei Meter langen Rest durch eine Gürtelschlaufe an seiner Hose, um sie bei Bedarf griffbereit zu haben.

Er sah wieder auf zu Charlie. »Es ist besser, du gehst, mein Junge. Ich möchte dich nicht dabeihaben, falls etwas schiefläuft.«

»Ich bin kein dummer Junge, Sir!«, sagte Charlie. »Ich bin der Mann im Haus.« Er griff hinter die offenstehende Haustür, holte einen Baseballschläger aus Aluminium hervor und demonstrierte seinen Schwung. »Das ist meine Veranda. Und die von meinem kleinen Bruder. Ich gehe nirgendwohin.«

Genau den gleichen Gesichtsausdruck hatte Charlies Dad hinter dem Kaliber-50-Geschütz des Humvees gehabt. Weit geöffnete Augen, bereit, es mit jedem Scheißkerl aufzunehmen, der sich ihm mit einem Granatwerfer, einer Kalaschnikow oder sonst was in den Weg stellte. Doch wenn seine Frau Dinah ihm Cookies schickte, dachte Big Jimmy Johnson – von den Witzbolden seiner Einheit unweigerlich Big Johnson oder einfach nur Big genannt – an sich zuletzt.

Peter vermisste ihn.

Er vermisste sie alle. Die Toten und die Lebenden.

»Okay, Charlie«, sagte er. »Das respektiere ich.« Er richtete seine Augen auf den Jungen. Fixierte ihn. »Aber wenn der Hund sich losreißt, machst du, dass du ins Haus kommst, ist das klar? Und wenn du mich mit dem Knüppel da schlägst, werde ich sehr ungemütlich.«

»Yessir.« Charlie nickte. »Ich kann nichts versprechen, Sir. Aber ich gebe mir Mühe.«

Peter musste innerlich lachen. Wenigstens war der Junge ehrlich.

Jetzt brauchte er sich nur noch zurückzulehnen und die Holzlatten an einer Seite einzutreten, damit mehr Tageslicht in den Kriechkeller fiel. Der Raum war immer noch eng, der Panzer hinten im Dunkeln wurde lauter. Aber der Hund war nicht zu sehen. Er musste sich hinter den Müllhaufen in der Ecke zurückgezogen haben.

Nicht, dass es etwas geändert hätte. Er wollte sich nicht vor der Aufgabe drücken. Nur so vorgehen, dass er sie erfolgreich bewältigen würde.

Ein metallischer Geschmack wie Blut füllte seinen Mund. Er spürte, wie das Adrenalin ihm Auftrieb gab, ihn beflügelte. Die Vorbereitung des Körpers auf Kampf oder Flucht. Es war hilfreich.

Als er unter die Veranda spähte, stieg das Rauschen noch stärker an. Es lag nicht an dem knurrenden Hund, vielmehr an dem geschlossenen Raum. Das Rauschen zehrte an seinen Nerven, brachte sein Herz zum Rasen, verengte ihm die Brust, schrie nach Beachtung. Es wollte, dass er draußen blieb, im Freien, im Tageslicht.

Peter atmete tief durch, nahm den Knüppel und schlug damit gegen den Holzrahmen der Veranda. Es klang wie ein primitives Musikinstrument.

Er lächelte, trotz allem.

»He, Hund«, rief er in die Finsternis. »Pass auf, ich komme!«

Mit dem Kopf zuerst, auf Ellbogen und Knie gestützt, den Stock in der einen, die Arbeitsleuchte in der anderen Hand, robbte er sich vor.

Was ist? Willst du ewig leben?

Es war dunkel unter der Veranda, der Muff von Unkraut und Gerümpel schlug ihm entgegen, und über allem schwebte ein animalischer Gestank. Nicht nach Hund, sondern nach Wilderem, Verwildertem. Es war der Geruch der Ungeheuer aus uralten Märchen, Märchen, in denen die Ungeheuer manchmal gewannen.

Die Novembersonne fiel schräg durch die Schlitze zwischen den Verandadielen in den Kriechkeller, was den Überblick erschwerte. Die von seiner Arbeitsleuchte erzeugte Lichtpfütze stellte keine große Hilfe dar. Der Haufen in der hinteren Ecke gewann von diesem Blickwinkel aus an Konturen. Abfall lag da herum, Teppichfetzen, Kisten, altes Holz. Knochensplitter vermisster Postboten.

Das Knurren konnte von überall her kommen. Es erschien ihm wie eine durch den Erdboden aufsteigende Vibration. Mit einem kleinen Stück Handlauf und ein paar Stricken konnte er da nicht viel ausrichten. Ein taktischer Rückzug wäre klüger. Nichts wie raus hier und mit einem Jagdgewehr wiederkommen. Oder gleich einem Granatwerfer.

Aber nein.

Er kroch weiter auf Ellbogen und Knien, Knüppel in der einen, Leuchte in der anderen Hand. Im Schädel loderten weiße Funken auf. Leben. Ich bin am Leben.

»Na komm, Hündchen. Braves Hündchen!«

Das Tier wartete, bis Peter fast ganz hineingekrochen war.

Dann kam es aus seinem Versteck, knurrte, fletschte die Zähne, die weiß in der Dunkelheit aufblitzten. Der Hund war groß.

Er war riesig und schnell und schoss direkt auf Peter zu.

Als der Hund das Maul aufsperrte, um ihm das Gesicht zu zerfleischen, holte Peter aus und rammte ihm den Eichenknüppel quer zwischen die Kiefer. Die Stricke baumelten seitlich herunter. Das Maul konnte nicht zuschnappen und sich auch nicht weiter öffnen.

Der Hund wich verwirrt zurück und versuchte, den Stock loszuwerden. Jeden Moment würde er seine Pfoten einsetzen. Peter drehte sich rasch auf die Seite, bewegte sich krebsartig, ließ den Stock für Sekunden los, schlang einen Arm um den dicken Hals des Hundes, packte beide Enden des Stocks und zog, so dass das Maul vollständig blockierte. Mit dem Stock als Hebel und seinem Arm als Drehpunkt wirbelte er das Tier herum, auf den Rücken, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Brust und drückte es gegen den Boden.

Du hast recht, Charlie, ein verdammtes Riesenvieh.

Siebzig, achtzig Kilo. Locker.

Der Hund verstummte. Sammelte Energie, um das Gewicht abzuwerfen und zu entkommen. Hatte die Augen nach hinten gerollt, strampelte, wehrte sich mit seiner beträchtlichen Muskelkraft und seinem ganzen Willen.

Doch Peter wog auch seine gut neunzig Kilo, und er war klüger als der Hund. Hoffte er wenigstens.

Ursprünglich hatte er vorgehabt, während er das Tier mit seinem Körpergewicht am Boden hielt, die beiden Stricke an dem Knüppel um den Hals des Hundes zu binden, damit das Holz nicht verrutschen konnte.

Kein guter Plan, wie er sich jetzt eingestehen musste. Der Hund hatte dafür anscheinend auch nicht viel übrig, warf den kugelförmigen Kopf hin und her, spannte die Lefzen, schleuderte Sabber durch die Luft.

Er roch höllisch. Nach Angst und Wut und Scheiße und Tod, alles vereint in einem Gestank, der Peter das Wasser in die Augen trieb und die Nebenhöhlen durchpustete.

Wenigstens würde der Gestank ihm nicht das Gesicht zerfetzen.

Peter brauchte eine dritte Hand.

Charlie war erst zwölf. Er trug eine Schuluniform. Und er war Jimmys ältester Sohn. Die Familie hatte genug Verluste erlitten.

Peter war auf sich allein gestellt unter der Veranda.

Behutsam zog er ein Bein an, bis das Knie auf der Schulter des Hundes ruhte, dann dem Hals. Er drückte zu, wollte das Tier nicht verletzen, aber das Gebiss, das Knochen zertrümmern konnte, auch nicht entsperren. Der Hund scharrte mit den Hinterläufen im Dreck, versuchte, sich aus der Klammer zu befreien, doch Peter war zu schwer.

»Na, Hund«, sagte er ruhig. »Wie heißt du?«

Der Hund scharrte mit den langen Krallen, doch sein wuchtiger Schädel war jetzt eingezwängt zwischen dem Stock und Peters Knie.

»Wahrscheinlich hat man dich Fang oder Spike oder so ähnlich genannt«, sagte Peter leise. Erinnerte sich daran, wie sein Vater mit den Pferden gesprochen hatte. Ein sanfter, ruhiger Gesprächston. Der Ton, in dem Jimmy mit jedem Einheimischen gesprochen hatte, der kein Englisch konnte. »Du bist kein böser Hund. Nein. Du bist ein liebes Hundchen. Ein gutes Hundchen. Du solltest Daisy heißen. Oder Cupcake.«

Die Augäpfel rollten nach hinten, das Weiß trat im Halbdunkel des Kriechkellers hervor, der Hund fing an zu japsen, der Brustkorb hob und senkte sich. Die Hinterläufe scharrten immer langsamer im Dreck, je stärker die tiefe Stimme des Mannes auf die Wut und die Panik des Tiers einwirkte. Schließlich gab der Hund seinen Widerstand auf, die fette Zunge hing schlaff zwischen den mörderischen Zähnen. Mensch und Tier lagen gemeinsam im Dreck und verschnauften.

»Sir? Alles okay bei Ihnen?«, schwebte Charlies Stimme in den Kriechkeller.

»Alles bestens.« Peter bemühte sich, leise und unaufgeregt zu sprechen. Der Hund japste, richtete seine Augen jedoch stur auf Peters Gesicht.

»Und …?«, sagte Charlie.

»Lass mir noch etwas Zeit, okay?«

Peter hielt noch immer beide Enden des Stocks fest in der Hand. Konzentriert, trotz des Rauschens. Er hatte nur wenige Minuten, mehr nicht. Er tastete sich zu den Stricken vor und schob die Schlingen um den Stock bis dicht an die Kieferknochen des Hundes heran.

Der Hund fing wieder an zu knurren.

Peter spürte die Schwingungen in seiner eigenen Brust, der Panzermotor kam auf Touren. Als läge er auf einer Vibrationsmatratze in einem billigen Motel.

Die Augen starrten ihn an, abwartend.

Warteten darauf, dass der Mann einen Fehler machte.

Peter nahm die Stricke und zog sie nach oben, kreuzte sie vorsichtig über dem Knochenbrecherkiefer, schlang sie unten herum und wieder nach oben, und noch einmal. So dass sie fest anlagen, aber nicht zu stramm. Den Knüppel einklemmten. Als wäre das Ganze ein schräges Kunstprojekt. Dann knüpfte er die Enden in einer Serie aus Halbschlägen zusammen und schloss mit einem Kreuzknoten. Doppelt gesichert.

Der dritte Strick und das lange Seil steckten noch immer in seinem Gürtel. Er wickelte das Seil um den Hals des Hundes, als Halsband und Hundeleine in einem. Dann verlagerte er sein Gewicht, wandte sich vom Kopf des Hundes ab und band mit dem dritten Strick die Hinterläufe zusammen.

Ohne groß zu überlegen, wälzte er sich vom Körper des Tiers hinunter, packte den Strick an den Hinterläufen, kroch rückwärts aus dem Keller und zog den scharrenden Hund hinter sich her.

»Scheiße, verdammte«, sagte Charlie und wich trippelnd in seinen blanken Schuhen zurück, als Peter und das gefesselte Tier aus dem Kriechkeller auftauchten. »Das ist ja ein Riesenvieh.«

Wieder draußen im Freien zu sein, die Luft, der hohe blaue Himmel, es war Balsam für Peter.

Es brauchte einige Minuten, um Charlie dazu zu bewegen, den Baseballschläger wegzulegen, doch beruhigt hatte sich der Junge erst, nachdem Peter die Leine um einen Baum gewickelt, festgezurrt und den Knoten zweimal überprüft hatte. Zu guter Letzt löste er den Strick von den Hinterläufen und trat ein paar Schritte zurück, während der Hund zitternd auf die Beine kam und an der gut drei Meter langen Leine zerrte, sich dann umwandte und sie anknurrte.

»Ist der hässlich«, sagte Charlie. »Und stinken tut er auch.«

Peter musste ihm recht geben.

Eigentlich war er gar kein Pitbull. Reinrassige Pitbulls waren wunderschöne Tiere, auf ihre Art. So wie Cruise-Missiles, oder Kampfmesser, die waren auch schön, sah man einmal davon ab, wofür sie gedacht waren.

Dieser Hund dagegen war eine Mischung aus so vielen Rassen, dass man bis in die Steinzeit hätte zurückgehen müssen, um sie alle zu ermitteln.

Das Ergebnis jedenfalls war ein Tier von einmaliger Scheußlichkeit.

Es hatte den kugelförmigen Kopf eines Pitbulls, aber den muskulösen Körper und die langen Beine eines Jagdhunds, gebaut für die Verfolgung seiner Beute über weite Strecken. Große, aufrecht stehende Ohren, eine lange wolfartige Schnauze, das Fell überwiegend orange, mit braunen Punkten.

Und das Tier war riesig.

Ein Timberwolf, der zusammen mit einem Pitbull, einer dänischen Dogge und einem flauschigen, orangefarbenen Sweatshirt durch die Waschmaschine gejagt worden war.

Bei Tageslicht betrachtet, selbst mit seinen siebzig, achtzig Kilo Körpergewicht und diesen mörderischen Zähnen, konnte man es kaum ernst nehmen.

Welchen Namen würde man so einem Tier geben? Daisy? Cupcake?

Bei dem Gedanken musste Peter lachen.

Er holte seine Wasserflasche und lockte damit den knurrenden Hund, bis die Leine spannte. Dann hielt er den Stock fest und goss etwas Wasser in den tödlichen Schlund. Der Hund funkelte ihn an, Intelligenz blitzte aus den hellblauen Augen. Nach kurzer Zeit fing die Kehle an zu arbeiten, und er schluckte. Peter goss so lange, bis die Flasche leer war.

»Was machen Sie da, Sir?«, fragte Charlie.

»Der Hund hat Durst«, sagte Peter achselzuckend.

Charlie sah ihn an. Es war ein prüfender Blick. Ein Blick, der besagte, dass er bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, allen Irrsinn der Welt bereits gesehen zu haben, aber da habe er sich wohl geirrt, grundlegend geirrt.

»Ich muss los, Sir«, sagte er nur. »Wenn ich die erste Stunde verpasse, schimpft Father Lehane mit mir und ich muss Freitag nachsitzen.«

Mit dem knurrenden Hund im Rücken ging Peter zu seinem Pickup, um das Werkzeug auszupacken und sich an die Arbeit zu machen.

2

Die Veranda versank im Erdboden. Die Kieferpfosten verrotteten allmählich, und sie ruhten nicht auf soliden Betonsockeln, sondern lediglich auf Ziegelsteinen, die auf den nackten Boden gelegt worden waren. Typisch für die damalige Zeit. Das Bauwerk hielt nur noch aus Gewohnheit zusammen. Die Veranda war schon immer da gewesen, und nur deswegen war sie noch nicht eingestürzt.

Von so einer Tätigkeit hatte er während des Studiums der Wirtschaftswissenschaften an der Northwestern University nicht geträumt. Oder als er ein Jobangebot von Goldman Sachs zugunsten einer Ausbildung an der Offiziersschule der Marines ausschlug. Die erschien ihm damals wie eine höhere Berufung, und das galt immer noch.

Aber er renovierte gerne alte Häuser. Das hatte er schon zusammen mit seinem Vater in Wisconsin gemacht, seit er acht war. Die Arbeit heute war leicht, eine Schlacht, die er gewinnen konnte, nur mit Hilfe seines Verstands, seiner Muskelkraft und ein paar einfacher Werkzeuge. Niemand würde dabei zu Tode kommen. Er konnte sich in der Arbeit verlieren und die letzten zehn Jahre hinter sich lassen. Und sich am Ende des Tages anschauen, was er geschaffen hatte, ein Gebilde aus Holz und Beton, etwas zum Anfassen.

Er stützte den Hauptbalken mit ein paar Kanthölzern ab, entfernte die verfaulten Pfosten und machte sich daran, Löcher für neue Fundamente zu graben. Die Löcher mussten mindestens einen Meter tief sein, unter die Frosttiefe kommen, damit sich die Statik nicht jeden Winter verschob. In der harten Tonerde von Milwaukee erschien einem ein Meter tiefer als nötig, doch Peter scheute die Anstrengung nicht. Er liebte den Kampf, und die Schaufel wurde zu einer Verlängerung der Hände. Sofort verblasste das Weiße Rauschen zu einem gedämpften Hauch.

Er schnitt den Bewehrungsstab zurecht, steckte ihn in das Loch, rührte in einer Schubkarre den Zement an und goss damit die Form aus. Der Hund lag die ganze Zeit mit gespitzten Ohren neben dem Baum und schaute zu; er sah grotesk aus mit dem Knüppel im Maul. Als Peter an ihm vorbeiging, zerrte er an der Leine und knurrte ihn an; der röhrende Panzer, da war er wieder. Und als Peter zurück an die Arbeit ging, legte sich der Hund hin und beobachtete ihn weiter.

Wie ein Vorarbeiter, der keine Worte verlor.

Nur gemeiner als jeder Vorarbeiter, dem Peter je begegnet war.

Allerdings nicht so gemein wie manche Sergeants. Sergeants übertrafen den Hund locker an Gemeinheit.

Zu Mittag gab es den Rindereintopf vom Vorabend, den er auf seinem kleinen Campingkocher warmmachte, dazu knuspriges Weizenbrot und den Rest kalten Frühstückskaffee. Er setzte sich mit seinem Campingstuhl auf den Bürgersteig, das Knie hüpfte unbewusst zu dem unaufhörlichen Takt des inneren Metronoms, und er fragte sich, wie er den Hund füttern sollte, ohne selbst gebissen zu werden. Auf keinen Fall würde er den Knüppel aus dem Maul entfernen.

Das Tier musste einen Riesenhunger haben. Peter ließ etwas Eintopf zum Abkühlen in der Pfanne. In einer Stunde oder so würde er ihn dem Hund einflößen.

Nach der Mittagspause, als der Zement schon fest, aber noch nicht ganz ausgehärtet war, fing er an, die schadhaften Stellen der Verandadielen herauszusägen. Danach war fast nichts mehr von ihnen übrig. Die unterliegenden Querbalken hingen durch, die Hälfte war morsch oder rissig, und alle ausnahmslos zu kurz. Es wäre viel einfacher, sämtliche Balken auszutauschen. Das einzige wiederverwendbare Holz waren der Hauptbalken und das Verandadach. Und wenn er schon dabei war, konnte er den Hauptbalken auch gegen einen witterungsbeständigeren austauschen.

Es war nie einfach.

Aber machte das nicht gerade den Spaß an der Sache aus?

Als es Zeit wurde, zum Holzlager zu fahren, verstaute Peter die Werkzeuge in seinem Wagen. Wertsachen hatten die Angewohnheit zu verschwinden, wenn man nicht in der Nähe war, nicht nur in Arbeitervierteln.

Für einen Moment überlegte er, was er mit dem Hund machen sollte. Er beschloss, ihn dazulassen.

Wer würde schon so ein hässliches Tier klauen?

Vielleicht hatte er Glück, und der Hund würde während seiner Abwesenheit entkommen.

Als Peter eine Stunde später mit seinem Pickup zurückkehrte, war der Hund jedoch immer noch da, hässlich wie eh, und er stank so schlimm wie zuvor. Er scheuchte das Tier herum, bis sich die Leine spannte, überprüfte die Knoten und stellte fest, dass das Seil auf einer Seite etwas ausgefranst war. Er fand auch die Stelle an dem Baum, wo die Rinde schwache blaue Streifen aufwies, und er lachte.

»Viel Glück, Hund«, sagte er. »Das ist ein Kletterseil. Mit Kevlar-Kern.«

Er streckte die Hand aus, um dem Hund den Kopf zu tätscheln, doch das Tier wich zurück. Achselzuckend machte sich Peter wieder an die Arbeit.

Er stabilisierte das Verandadach mit langen Stützbalken, zerlegte dann mit seiner Multisäge die restliche Unterkonstruktion und schleppte das Zeug an die Straße. Der Hund war dazu übergegangen, das mit dem Seil umwickelte Maul an den Steinplatten vorm Haus zu reiben. Eine ziemlich geniale Strategie. Die ganze Zeit über behielt er Peter im Auge, und Peter spürte das Gewicht des starren Blicks, die siebzig, achtzig Kilo Hund, der ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre.

Besser als all die irakischen Freiheitskämpfer. Scheiße, das hier war doch nur ein einzelner Hund.

Peter wollte es sich nicht eingestehen, aber es war fast ein angenehmes Gefühl.

Es hielt ihn auf Trab. Ganz wie in alten Zeiten.

Als wäre das Weiße Rauschen nicht ohne Grund da.

Er lud das Holz aus dem Baumarkt ab und legte es auf Sägeböcken ab. Doch bevor er die Veranda neu aufbaute, musste er noch den Abfall entsorgen, der sich unter den Dielen angesammelt hatte. Die aufgeweichten Pappkartons und den anderen Müll stopfte er in Schwergutsäcke, die kaputten Ziegelsteine und das Altholz legte er an die Straße. Ganz hinten an der Hauswand, versteckt hinter einem versifften Hundekörbchen, lehnte ein schwarzer Schalenkoffer. Er war sehr schwer.

Weißer Schimmel hatte sich an der Seite gebildet, aber nicht schlimm, vielleicht konnte man den Koffer noch gebrauchen. Peter hielt nichts davon, Sachen wegzuwerfen, nur weil sie etwas abgenutzt waren.

Er stellte den Koffer vor den Seiteneingang des Hauses und machte kehrt, um weiter aufzuräumen. Die oberste Stufe der Eingangstreppe war gebrochen, der Koffer kippte um, fiel die vier Stufen hinab und landete auf dem Betonboden. Beim Aufprall sprang der Deckel auf.

Geld fiel heraus.

Frische Hundertdollarscheine. In Bündeln zu je zehntausend Dollar. Vierzig Bündel.

Vierhunderttausend Dollar.

Unter Jimmys kaputter Veranda.

Peter ging zurück zu dem Koffer.

Es war ein Samsonite, Handgepäckgröße, wahrscheinlich teuer, wenn man ihn neu kaufte. Der hier war nicht neu, ganz bestimmt nicht. Koffer wie diese wurden gar nicht mehr hergestellt.

Sein Zustand war einwandfrei, obwohl er einige Zeit unter der Veranda gelegen haben musste. Schwer zu sagen, ob seit dreißig Jahren oder ob er vor vier Wochen in einem Goodwill-Laden gebraucht gekauft worden war. Peter nahm eins der Bündel in die Hand und blätterte durch die Scheine. Überwiegend neue, mit dem wuchtigen Kopf Ben Franklins drauf.

So wahnsinnig lange hatte der Koffer hier also nicht gelegen.

Auf der Außenhülle des Samsonite waren keine eindeutigen Erkennungsmerkmale auszumachen, auch innen verriet nichts seine Herkunft. Allerdings waren innen am Deckel vier elastische, taschenförmige Fächer angebracht.

In jedem Fach steckte eine kleine braune Papiertüte, durch häufiges Befingern zerknittert und abgegriffen. Peter öffnete eine Tüte und schüttete den Inhalt in die hohle Hand. Eine rechteckige Platte, etwas kleiner als ein Taschenbuch, weich und geschmeidig wie Modelliermasse, roch irgendwie chemisch, beide Seiten mit durchsichtiger Plastikfolie bedeckt.

Interessant.

Es war keine Modelliermasse, so viel stand fest.

3

Peter saß auf den Stufen zum Hintereingang und wartete darauf, dass Dinah Johnson von der Arbeit nach Hause kam. Den geschlossenen Koffer hatte er in den Schatten der Treppe gestellt. Er trommelte mit den Fingern im Takt auf seinem Bein. Charlie und sein kleiner Bruder waren im Haus und machten, was Jungs in diesen entrückten einsamen Stunden so machen, ehe ihre Mütter von der Arbeit kommen.

Ein kräftiger Wind wehte, wieder so ein schwerer Herbststurm, der über den Kontinent hinwegzog. Kein Regen, noch nicht. Anfang November in Wisconsin, nächste Woche war Veterans Day. Es wurde dunkel vorm Abendessen, und kälter. Nachts bildete sich Frost auf der Windschutzscheibe.

Charlie hatte Peter bereits zweimal heißen Kakao angeboten. Ein guter Junge. Besorgt um ihn und gleichzeitig auch ein bisschen erleichtert, dass Lieutenant Ash, dieser verrückte Hundebändiger, nicht ins Haus kommen wollte.

Peter hielt sich lieber im Freien auf.

Nach seiner Ausmusterung in Pendleton vor sechzehn Monaten war er nach Washington gefahren, wo Manny Martinez, ebenfalls ein ehemaliger Sergeant von ihm, außerhalb von Seattle Dächer neu deckte. Er stellte seinen Pickup in Mannys Einfahrt ab, warf den Schlüssel in den Briefkasten und trampte über Marblemount zum North-Cascades-Nationalpark. Schulterte einen schweren Rucksack und stapfte alleine los, ins Freie. Hielt sich abseits der Hauptwanderwege, oberhalb der Baumgrenze, fern von Menschen, fern von allem. Zwölf Monate hatte er dafür eingeplant.

Es war ein Experiment.

Im Ausland ging es ihm gut. Das heißt, nein, nicht gut. Der Krieg war Scheiße, besonders für die Infanterie. Viele Leute hatten versucht, ihn zu töten oder seine Freunde zu töten. Andererseits wirkte das auch belebend, wie eine Serie von Herausforderungen, denen man sich stellen musste. Das konnte Peter gut. Er machte seine Arbeit, kümmerte sich um seine Leute, auch wenn er einen Preis dafür zahlen musste. Und der Preis war hoch.

Mal abgesehen von den Toten, den Verletzten. Davon gab es viele. Darunter Peters Freunde.

Doch auch für die Männer, die noch lebten, die noch kämpften, war es nicht leicht. Einige hatten Schlafstörungen oder Albträume. Gefühlsausbrüche, Weinkrämpfe, Wutanfälle. Ein paar Männer wurden richtig verrückt, wollten alle umbringen. Auch Peter hatte seine Ups und Downs, hielt sich aber im Ganzen stabil. Sein Captain hatte ihn eine natürliche Kämpfernatur genannt. Acht Jahre war er dabeigeblieben, zwei Kampfeinsätze, wenig Zeit zwischen den Stationierungen. Seine Einheit verfüge über unentbehrliche Fähigkeiten, hatte die Militärführung gesagt.

Also abgesehen vom Krieg war es ihm gut gegangen, bis er in Camp Pendleton zum letzten Mal aus dem Flugzeug gestiegen war.

Er ging auf die Offiziersunterkünfte zu, lief die Treppe zum Kaserneneingang hoch, und da hatte er es zum ersten Mal gespürt. Ein feines, perlendes Sprudeln. Ein diffuses Unwohlsein, irgendwo im Stammhirn, eine Dissonanz am Rande der Wahrnehmung.

Er ging den Flur entlang, öffnete die Tür zu seinem Zimmer, trat ein, und das Unwohlsein steigerte sich zu großer Unruhe und Panik, als hätte er auf leeren Magen einen vierfachen Espresso getrunken. Beim Auspacken seines Rucksacks spürte er, wie sich Schulter- und Rückenmuskeln verspannten. Er dachte, eine Grippe sei im Anzug.

Er duschte, zog sich um, setzte sich an den kleinen Schreibtisch, um Papierkram zu erledigen, doch in seinem Kopf loderten Funken auf. Unmöglich sie zu ignorieren. Er konnte sich nicht auf dem Stuhl halten und sich auch nicht mehr auf das Blatt Papier vor ihm konzentrieren. Der Hemdkragen schnürte ihm die Kehle zu.

Dann zog sich die Brust zusammen. Er hatte Atemnot. Die Wände rückten immer näher, die Decke senkte sich. Sein Herz, ein Vorschlaghammer.

Strümpfe und Schuhe zog er gar nicht mehr an, nahm sie mit, als er das Zimmer verließ und nach draußen eilte, wo er freier atmen konnte. Ein bisschen Sport würde ihm guttun, sagte er sich und umrundete einige Male den Stützpunkt. Es half.

Beim Abendessen in der Offiziersmesse passierte es wieder. Die Kantine war zu laut, zu voll, und das Neonlicht flackerte wie in einem alten Horrorfilm. Er drängelte sich in der Schlange vor, schnappte sich einen Burger und ergriff die Flucht. Er aß draußen, ging umher und fragte sich, was nur mit ihm los war.

Auf dem Weg zurück zum Quartier stieg der Druck in seinem Kopf rasend schnell an. Nach fünf Minuten war ihm klar, dass er niemals in seinem Zimmer würde schlafen können. Er nahm sich die Bettdecke und suchte sich einen Hügel draußen in dem Buschland, aus dem der Stützpunkt hauptsächlich bestand.

Wie er die letzten Tage der Ausmusterung durchgestanden hatte, wusste er nicht. Trinken half, doch das war auf Dauer keine Lösung.

Er nannte es das Weiße Rauschen. Sein persönliches Kriegsandenken.

Daher das Experiment.

Die Theorie war einfach. Das Weiße Rauschen stellte sich ein, sobald er ein Gebäude betrat oder sich in einer Menschenmenge aufhielt. Warum also nicht versuchsweise ein Jahr im Freien verbringen? Allein. Aus dem Rucksack leben, möglichst oberhalb der Baumgrenze, nur die Berge und er selbst.

Dem Weißen Rauschen eine Chance geben, sich an das zivile Leben zu gewöhnen, um dann endgültig abzuklingen.

Die ersten Tage waren gut, es ging steil hinauf durch den uralten, immergrünen Wald. Als er es leid war, immer nur seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, wurde es anstrengender. Kein Telefon, keine Musik. Doch nach zwei Wochen war sein Kopf durchlässig geworden für die Welt. Das Weiße Rauschen wich dem Rauschen des Windes, als hätte der alle Gedanken fortgeweht. Schon überlegte er, ob er je wieder in die sogenannte zivilisierte Welt zurückkehren sollte.

Nach allem, was er gesehen hatte, beeindruckte ihn die Menschheit ohnehin nicht besonders.

Im Hochland ernährte er sich hauptsächlich von Linsen und Reis, Wildgemüse und Forellen, die er mit seiner Fliegenrute fing. Feinschmeckerkost. Kaffee und heißer Kakao waren Luxus. Er hängte bärensichere Lebensmittelbehälter in Bäume. Er blühte auf in der Berg- und Heidelandschaft, vier Monate lang brauchte er die Vorräte nicht aufzufüllen. Er ging in einer großen Schlaufe durch die North Cascades, abseits der markierten Wanderwege. Abseits überhaupt irgendwelcher Wege. Er fühlte sich wild und rein und sauber. Er dachte, es könnte ihn heilen.

Er schöpfte so lange wie möglich aus den Vorräten, bevor er sich wieder in die bewohnte Welt begab, die Welt aus Straßen und Häusern, Wirtschaft und Verwaltung. Er fuhr auf der Ladefläche eines Pickups mit Holzfällern Richtung Stadt, ließ sich aber vorher absetzen und fand einen kleinen Lebensmittelladen.

Es war die erste Überprüfung seiner Theorie.

Schon beim Gang über den Parkplatz ahnte er es. Je näher er der Tür kam, desto stärker schwoll das Rauschen im Hinterkopf an. Trotzdem, er brauchte neue Vorräte. Mit zusammengebissenen Zähnen lief er im Neonlicht durch die Gänge und suchte sich aus den vollen Regalen, was er brauchte; dann rasch zurück nach draußen ins Freie, bevor das Weiße Rauschen in Funken überging und ihn überwältigte.

Er zog wieder hinauf in die Berge, wo der Wind ihn reinwusch. Der Süden war für den Winter reserviert, der Norden für den Sommer. Jedes Mal, wenn er zur Auffüllung der Vorräte ins Tal wanderte, kehrte das Rauschen zurück. Nach einem Jahr verlängerte er das Experiment. Wollte es vier weitere Monate durchführen. Oder für immer.

Dann brachte Jimmy sich um.

Peter hielt sich gerade in den Klamath Mountains im nördlichen Kalifornien auf, als Manny Martinez von Jimmys Selbstmord erfuhr und sich ans Telefon klemmte. Das informelle Netzwerk der Sergeants war weit verzweigt. Vier Tage später ging ein Feuerwehrmann aus Klamath Falls, der dienstfrei hatte, hinauf zu Peters Lager und überbrachte die traurige Nachricht, und damit war das Experiment vorbei.

Von seinem Sitz auf Dinahs Hintertreppe aus sah er Scheinwerfer in der Einfahrt, dann hörte er, wie sich das automatische Garagentor öffnete. Er stand auf, als sie über den rissigen Betonweg von der Garage kam. Der Bewegungsmelder sprang an, erleuchtete den Garten aber nur schwach.

»Oh«, sagte sie und hielt inne. Sie musterte ihn von oben bis unten und sah einen schlanken, schlaksigen Mann in Arbeitsjeans und Springerstiefeln. Große nervöse Hände an langen knochigen Gelenken, die aus den Ärmeln seiner braunen Arbeitsjacke baumelten. Ihr Blick ruhte auf seinem gleichmäßigen Gesicht, es war wölfisch und unrasiert.

Ihre Miene war ausdruckslos. Vielleicht entsprach er nicht ihrem Bild von einem Marine Officer.

»Sie müssen Lieutenant Ash sein«, sagte sie.

»Ja, Ma’am«, sagte er. »Danke, dass Sie mir erlaubt haben, mit der Arbeit zu beginnen, ohne dass wir uns vorher persönlich kennengelernt haben. Sie sagten, die Veranda hätte es am dringendsten nötig. Sie hatten recht.« Er lächelte. Er war den Umgang mit Menschen noch nicht wieder gewohnt. »Bitte, sagen Sie Peter zu mir«, bat er sie. »Jimmy hat so viel von Ihnen gesprochen. Ich habe das Gefühl, dass ich Sie kenne.«

Sie antwortete nicht darauf. Sie war groß, fast so groß wie Peter, und in einen wadenlangen Wollmantel gehüllt. Aus der geschlossenen Faust ragte wie ein Dorn der Bart des Autoschlüssels – etwas, das Jimmy ihr wahrscheinlich zur Selbstverteidigung beigebracht hatte. Es sah ganz selbstverständlich aus.

Sie taxierte ihn mit kühlem Blick, hielt ihr Urteil zurück. Freundlich. »Bitte, kommen Sie doch herein«, sagte sie. »Sie haben sicher Hunger. Ich mache Abendessen. Falls Sie bleiben möchten.«

»Ich warte hier draußen«, sagte er. »Es ist ein schöner Abend.«

»Seien Sie nicht albern«, sagte sie. »Es ist kalt. Bitte, kommen Sie herein.«

Peter zeigte auf die Hintertür, deren untere Kassette mit Sperrholz vernagelt war. »Was ist denn hier passiert?«, fragte er. Es sah aus wie ein Provisorium, nachdem jemand die Tür eingetreten hatte.

»Es wurde eingebrochen«, sagte sie. »Kurz nachdem James …«, sie blinzelte, »… gestorben ist.«

»Das tut mir leid«, sagte Peter. »Das kann ich reparieren, wenn ich mit der Veranda fertig bin.«

Sie schloss die Tür auf. »Kommen Sie«, sagte sie. »Raus aus der Kälte.«

Er zögerte, dann griff er den Koffer und folgte ihr ins Haus.

Er hatte Fragen.