1

„Hier” gab Ümit dem bärtigen Penner Feuer.

Dann sah er sich um und schritt mit der Tüte über die Straße zum Parkplatz.

Der Parkplatz, der zum Theater gehörte, war groß und bestand aus mehreren dicht belegten Reihen.

Im Theater lief offenbar eine Abendveranstaltung.

Hinter den Hecken, an der ersten Parkreihe begann Ümit zu schlendern und holte das kleine schwarze Kästchen aus der Tüte.

Es dämmerte bereits.

Gemächlich versackte die Sonne als gelber Streifen zwischen den Häuserdächern. In der Luft hing wieder der bekannte und üble Geruch der abgelassenen Fabrikabgase der Chemiebetriebe.

Der Sommerabend war warm.

Trotzdem trug Ümit zu den kurzen Hosen eine weiße Bomberjacke und eine enge, weiße Häkelmütze.

Während sein Blick umherschweifte, ging er mit gesenktem Arm und unter kurzem Stocken die Autos entlang. Seine Hand streifte dabei fast die Stoßstangen.

Das rote Licht in dem kleinen schwarzen Kästchen flackerte gelegentlich auf, wobei leise und ratternde Geräusche entstanden.

Aber es zeigte keine Wirkung auf eins der Autos.

Langsam arbeitete Ümit sich zum Ende der Parkreihe vor, machte kehrt und probierte es mit der Parkreihe gegenüber. Sein Daumen presste fest auf dem Knopf des kleinen schwarzen Kästchens.

Angestrengt lauschte Ümit und behielt die Augen wachsam auf die Umgegend gerichtet.

Die ersten drei Autos reagierten nicht, aber -

Aus dem Augenwinkel sah Ümit jetzt das kurze Aufblitzen, hörte das Quietschen und blieb schlagartig stehen.

Nochmals sah er sich einen Moment um, sah nach dem Trottoir, nach der Straße, dem Parkplatz, dem Theater, sogar nach der Betoneinfassung der Hecken.

Abgekehrt von der Straße lagerten hier manchmal Leute, die soffen.

Gleich darauf saß Ümit in dem fremden Kleinwagen und kramte von Neuem in der Tüte.

Er packte das kleine schwarze Kästchen weg und holte ein andres heraus.

Das zweite Kästchen war lediglich flacher und besaß auf seinem Plastikgehäuse einen Schalter. Daran steckte ein dünnes Kabel mit länglichem Metallstift, den Ümit rasch ins Zündschloss schob.

Das eingeschaltete Kästchen ratterte einige Sekunden. Konzentriert starrte Ümit auf die Armaturen.

Dann erreichte das Funksignal im Kästchen die Maschine. Das Armaturenbrett leuchtete auf.

Ümit legte das eingeschaltete, verkabelte Kästchen auf den Beifahrersitz, fasste um die Kopfstütze, sah zurück und stieß aus der Parklücke. Darauf fuhr er durch die offene Ausfahrt und reihte sich in den spärlichen Abendverkehr der Innenstadt.

Im Vorbeifahren sah er in die Fußgängerzone.

Vor den Cafés saßen massenhaft Leute auf Korbstühlen und stimmten sich auf den Freitagabend ein.

Die Bogenlampen fingen zu leuchten an.

Ümit nahm die Uferstraße und holte sein Handy vor.

Über dem Rhein wurde es dunkel.

Das Kraftwerk am anderen Flussufer schickte den Widerschein seiner Lampen übers Wasser.

„Ja, isch bin’s, hab’ einen”, berichtete Ümit, fuhr und wartete auf die Antwort. Er redete laut, mit einer Aussprache zwischen pfälzischem Dialekt und türkischem Akzent.

„Ja, langt eine Stunde?” fragte er und sah auf seine dicke Armbanduhr. Dann legte er auf, steckte das Handy ein, griff hinüber zum Handschuhfach des fremden Wagens und begann darin zu wühlen.

Er fühlte Papier, darunter etwas rundes aus Plastik, eine Straßenkarte, ein Brillenetui. Sonst nichts.

Ümit warf das Fach zu, ließ er die Fahrerscheibe runter und hängte seinen Ellbogen über den Fensterrahmen.

Der Kleinwagen fuhr inzwischen auf die Kurt-Schuhmacher Brücke.

Ein paar Minuten später war Ümit aus der Stadt.

Aus dem Rückspiegel verschwanden die letzten Umrisse der Fabrikschornsteine und wurden bald zur Linie, die mit der untergegangenen Sonne abschloss.

Jetzt war es dunkel.

Mit eingeschalteten Scheinwerfern rauschte der Kleinwagen, vom Wind durchzogen, einige Kilometer über die Autobahn nach Südwesten, blinkte bei einer Abfahrt und wechselte auf eine ländliche, zweispurige Chaussee mit wenig Verkehr.

Der Vollmond kam nun raus - eine trübe Scheibe über den frisch bewässerten Feldern, auf denen, abwechselnd und scharf eingeteilt, wie bei einem völlig flach ausgebreiteten Flickenteppich, üppiges Korn und feuchter Mais standen.

Allein mit der Dunkelheit, dem trüben Mond und den Motorgeräuschen, sah Umit in der dunstigen Luft bald massenhaft Fliegen durch die Scheinwerfer huschen.

Der warme Geruch der bewässerten Felder erinnerte an lauwarmen Regen, der sich mit Erde vermischt.

Es roch jetzt ganz nach Humus, nicht mehr nach Abgasen.

Am Chausseerand strahlte ein Straßenschild mit den Namen der umliegenden Dörfer auf.

Ümit blickte über ein Kornfeld auf einige ferne Lichtpunkt - die einzige Andeutung eines Dorfes in der unbewohnten Gegend.

Der Kleinwagen wurde nun langsamer.

Unmittelbar hinter einem vollen Maisfeld bog der Wagen von der geteerten Chaussee auf einen ausgefahrenen Feldweg ein und fuhr in einem Haken über ein großes, unbebautes Ackerstück.

Unter seinen Reifen schoss soviel Staub auf, dass der brach liegende Boden, selbst im trüben Mondlicht, so knochentrocken wirkte, als hätte er seit Jahren keinen Tropfen Feuchtigkeit mehr abgekriegt.

Ümit wippte auf dem Sitz, schloss die Fensterscheibe des Wagens und sah vom dunkelgrauen Feldweg zur gemauerten Scheune.

Unbeleuchtet, ganz wie ausgeschnittenes schwarzes Tonpapier, auf einen helleren Hintergrund geklebt, tauchte die Scheune mitten aus dem Nirgendwo des Ackers auf - und verschob sich so jäh, dass plötzlich ein einzelnes, viereckiges Licht aufleuchtete.

Nur undeutlich sichtbar blieb das übrige Haus, weiterhin teilweise verdeckt durch die vorgelagerte Scheue.

Das einzelne Licht wurde rasch größer, wurde zum Licht, das aus einem einzelnes Fenster im Erdgeschoss drang.

Ümit hupte, schwenkte im Wagen am Haus vorbei und hielt aufs Scheunentor zu.

Kurz bevor das Rolltor von innen aufgestoßen wurde, sprang vom Dachvorsprung der Strahler an.

Der große Kerl mit der Baseballmütze, der das Tor aufzog, nickte, als Ümit hineinfuhr.

Ümit stellte den Motor ab, zog den Metallstift mitsamt Verkabelung aus dem Zündschloss und packte das Kästchen zurück in die Plastiktüte.

Vor der Kühlerhaube des Wagens stand jetzt Wutz, zog die Kapuze ab, den Mundschutz unters Kinn und sah zu wie Ümit ausstieg.

Das geräumige Innere der hohen Scheue, Werkstatt und Lackiererei in einem, gab einen ausufernden Einblick in die ganze Bandbreite des Autohandwerks.

Was sofort auffiel, waren die zeltartig an Stangen aufgespannten Plastikplanen. Darunter befanden sich ein fast fertiglackiertes Auto und ein Kompressor.

Leise dudelte ein Radio.

Ganz im hinteren Teil der Scheune stand ein kleiner Fuhrpark aus Autos. An ihren Seitenwänden ragten zusammengeschraubte niedrige Blechstellagen, wahllos vollgestopft mit verschiedene Stoßstangen, Kotflügeln, Ersatzteilen, Batterien, Reifen und Felgen, ein einziges Chaos, wie auf einem Wühltisch.

Und überall verteilt: beschriftete Benzin- und Ölkanister.

Rechts vom Tor stand ein fahrbares Gittergestell, etwa einen Meter hoch, gedacht für die Wühlware in Ramschläden. Nur war dieses Gestell hier halb angefüllt mit zusammengeworfenen Kindersitzen.

„Früh heute”, meinte Wutz lahm. Seine Hände steckten in einem farbverspritzten Overall.

„Ümüt, Ümüt!” freute Bleška sich und klatschte einmal trocken in die schmutzigen Hände, nachdem er das Rolltor zugezogen hatte.

Der Schirm der alten Baseballmütze über seinem rußigen und schmierigen Gesicht, zeigte durchgehend ölige Fingerflecke in jeder Stärke, Form und Alter. Seine ursprünglich rote Stofffarbe ließ sich nur noch erahnen.

Mit kantigen, affenartigen Bewegung strebte Bleška nun rasch in Richtung der Autos, verschwand unter der aufgeworfenen Folie. Die Folie lief über den Schirm seiner Kappe.

Kurz darauf wurde das Radiogedudel lauter.

„Is der Chef da?” fragte Ümit barsch und betatschte seine Häkelmütze.

„Ja, drüben”, verwies Wutz.

Sogar unter dem weiten Overall stand seine Wampe ab.

In schleppendem Gang umrundete er, zur ersten Besichtigung, den mitgebrachten Kleinwagen, ehe er kurz zu Ümit aufsah: „Wo soll er sonst sein?”

Ümit ging los.

„Hey”, rief Wutz, nahm eine Hand aus der Tasche und deutete auf die Tüte. Sein aufgetriebenes und pickliges Gesicht sah aus wie ein ausgeformter Klops aus rohem Nudelteig. „Und? Funktioniert das Neue?”

Aus seiner Miene, aus der zwei rattengelbe Schneidezahn vorstachen, sprach unverhohlener Stolz.

„Ja, geht”, erklärte Ümit, hob die Tüte und trat durch die seitliche Stahltür aus der Scheue.

Unterm Strahler zog sein verlängerter Schatten geradewegs hinüber zum Haus.

Die Fronttür war angelehnt, der Raum, der einzig beleuchtete des Hauses.

Ümit stand in der Küche und blinzelte in die kahle Glühbirne an der vergilbten Decke.

Mit dem Rücken zu ihm, kippte ein Glatzkopf in Latzhosen gerade zwei Büchsen Tomaten in einen Topf auf dem Gasherd. Seine nackten breiten Schultern, über denen die Träger spannten, waren stark behaart, der rechte Oberarm tätowiert mit einem verblassten Totenschädel.

„Hunger?” drehte sich der Glatzkopf, unter nachlässigem Entgegenkommen, halb zu Ümit um.

Der schwarze Schnurrbart in seinem leicht geröteten Gesicht hob sich gleichzeitig mit seinen Brauen zu einem dünnen Lächeln.

„Nein”, sagte Ümit fest.

Unverändert stand er mit seiner Tüte vor dem leeren ausziehbaren Holztisch, auf dem heiße Teller und Tassen einige milchweiße Ringe hinterlassen hatten.

Tonlos widmete Brödel sich wieder dem Topf.

Ümit sah wie seine Schulter beim Umrühren kreiste.

Außer dem schmuddeligen Gasherd und der alten Spüle an der rohen Wand, gab es noch den Tisch, über dem, in zwei Metern Höhe, die nackte Glühbirne hing.

Die vier kissenlosen, angelehnten Stühle ringsum, sahen so abgehalftert aus wie die übrige Einrichtung.

Von einem Stuhl war, direkt oberhalb der Sitzfläche, die Rücklehne abgesägt.

„Das neue Gerät hat funktioniert?” gähnte Brödel.

„Ja”

Brödel packte die leeren Büchsen, drückte die abstehenden Büchsendeckel ungestört ins Innere, quetschte die Büchsen nacheinander ein und warf sie in die Spüle.

Erst dann drehte er sich abrupt um.

Unter den Rändern seiner Latzhosen sahen die abgewetzten Spitzen von braunen Cowboystiefeln vor.

„Was ist?” ging Brödel widerwillig auf Ümits stumme Erwartung ein. Mit einer schlaffen Bewegung fuhr er sich dabei von der Stirn über die Glatze, schnaufte durch und betrachtete Ümit.

„Isch brauche Geld”, erklärte Ümit regungslos.

„Und woher soll ich das nehmen?” hob Brösel von Neuem die Brauen an. Aber sein Schnurrbart blieb diesmal einen Moment lang steif.

Allein Ümits beharrlicher Blick ließ Brödel einlenken. Er lächelte, kam näher. Im Näherkommen fasste er in die Hosentasche seiner Latzhosen.

Mechanisch nahm Ümit die fünfzig Euro.

Während Brödel sein Portemonnaie wieder wegpackte,

hielt Ümit das Geld noch immer in der Hand.

„Was?” fragte Brödel nun verständnislos und machte eine ungeduldige Geste.

„Isch hab gedacht, hundert” meinte Ümit.

Um seine Enttäuschung glaubhaft auszudrücken, sah er abwechselnd vom Geldschein zu Brödel.

„Hundert?” Jetzt lachte Brösel. „Du machst mir Spaß. Ich habe selber nicht mal hundert.”

„Isch brauche mehr als das.”

Ümit wirkte finster.

„Sicher”, stützte Brödel sich mit einem Arm auf die Tischplatte. Auf seiner Glatze brannte die Glühbirne. „Jeder braucht mehr, als er kriegen kann, Ümit. Ich weis, du hast Geschwister und eine kranke Mutter. Hast du mir alles schon erzählt.”

Er räusperte sich in die Faust, öffnete sie, drehte seine Hand in Ümits Richtung.

„Vorschlag von mir: Bring mir mehr und ich kann dir mehr geben. Ganz einfach”, schnippte Brödel und wies durch die Tür. „Du kannst gleich anfangen.”

Grüblerisch sah ihm Ümit ins Gesicht.

„Mensch, jetzt steck schon ein, bevor du gehst”, stieß Brödel nun die Hand mit dem Geld auffordernd an und entfernte sich zum Herd, während seine Stimme in ein achtloses und freundschaftliches Geplauder wechselte: „Wenn du schnell genug bist, mach ich dir nachher noch was warm. Aber wenn du’s bis eins nicht packst, rufst du an, ja?” packte Brödel den Kochlöffel.

Angestrengt sah Ümit vor sich hin, seine Stirn arbeitete.

„Is gut”, entgegnete er schließlich, schob das Geld lasch in seine Hosentasche und trat zur Tür. “Also mehr? Wie viel und wann?”

„Soviel du Freitag und Samstag Abend kannst, Ümit. Weist du doch”, gab Brödel laut zurück, ohne sich umzusehen. Aber er hörte, wie Ümit noch einmal herankam.

„Warum kann isch nicht bei dir arbeiten?” sprach er gegen Brödels Rücken.

Wieder kehrte sich Brödel um: „In der Werkstatt?”, worauf er Ümit kurz und eindringlich nicken sah.

„Und als was?” forderte die offene Haltung seiner Arme Ümits Einsicht, während er dabei sachte nickte: „Testfahrer? Scheibenputzer? Was willst du machen?”

„Du findest was für misch”, erwiderte Ümit überzeugt. „Ein Jahr, dann bin ich weg von der Berufsschule. Dann brauche isch Arbeit, ein Ausbildungsplatz”, fügte er selbstsicher hinzu.

„Jeder tut, was er kann. Und du tust, was du kannst. Hier!” zeigte Brödel auf den blanken Betonboden vor seinen Füßen. “Aber die Werkstatt muss sauber bleiben. Da kann ich dich im Moment nicht gebrauchen. Wenn du sagst, du hast noch ein Jahr - na, vielleicht nehm’ ich dich bis dahin - wenn du machst, was ich sage.”

Ümit stutzte. Seine Haltung bekam etwas Quengelndes und Erbittertes.

„Und Kasimir? Und Domme?” zeigte Ümit nach draußen.

„Die sind schon Jahre bei mir. Die wissen, wie es sein muss”, verteidigte Brödel unbeeindruckt.

Hinter ihm, in der roten Tomatenbrühe, blubberten nach und nach einige Bohnen hoch.

„Und isch nicht?”

Mit einem Raunzen, warf Ümit den Kopf zur Seite.

„Nein. Das dauert. Du musst warten”, meinte Brödel so entschieden, dass er keinen Zweifel daran ließ, die Sache damit abzuschließen.

Noch einmal bemaßen Ümit und Brödel sich mit einem Blick, bevor Brödel die Achseln zuckte. Teilnahmslos beobachtete er wie Ümit von ihm abrückte und zur Bekräftigung den Arm hob.

„Gut, isch warte. Ein Jahr.”

Ein Zischen auf den Lippen, öffnete Ümit die Tür und verließ das Haus.

Langsam nahm Brödel den Kochlöffel auf, tauchte ihn in den Topf und fischte eine einzelne Bohne raus.

Während er die Bohne mit der Oberlippen vom glänzenden Kochlöffel schabte, löste er sich vom Herd und ging zum Fenster.

Drüben an der Scheune war der Strahler angesprungen und schickte sein grelles Licht auf den festgestampften staubigen Boden mit seinen Reifenabdrücken.

Leise schlug die Scheunentür zu.

Die Bohnen waren noch nicht gar.

Und Brödel spuckte die angekaute Testbohne durchs offene Fenster.

Gleich darauf hörte er wie der anspringende Wagen das leise Radiogedudel in der Scheune übertönte.

Zweimal quietschte das Rolltor.

Eine ganze Weile sah er auf die schwirrenden Fliegen und Motten im grellen Strahler. Bis der Strahler ausging und der trübe Mond wieder alleine die Hoheit innehatte.

2

Am Balkongeländer steckten viereckige Kübel mit blühenden saftgrünen gepflegten Geranien.

Ein sonniger blauer Himmel kam durchs meterlange Fenster, gegenüber dem ausladenden, zum Mittagessen eingedeckten Esstisch.

Während seine Frau wieder nebenan in der Küche hantierte, saß der fette Kalkhoff noch am restlichen Hähnchen. Die Damastserviette, mittels Klemmen, an einer Kette ums dunkelrot ausrasierte Doppelkinn gebunden, biss er herzhaft in den Schlegel und schmatzte.

Seine hellbraune Gesichtsfarbe entsprach ungefähr der gegrillten Hühnerhaut und seine vollen weißen wolligen Haare wirkten wie ein passgenau angeklebtes Stück Schaffell.

Überhaupt hatten seine Gesichtszüge etwas von einem Schaf, nur mit listigen, taxierenden Augen, statt dem leeren Ausdruck der Schafe.

Unaufhörlich riss Kalkhoff mit den Fingern Fetzen vom weißen Hähnchenfleisch ab und stieß sich die Fetzen tief in den Mund.

Um, im Eifer der Mahlzeit, weiteren Flecken vorzubeugen, hatte er die Ärmel des dunkelblauen Blazers über die Ellbogen geschoben.

Nur die Rangabzeichen auf dem Blazer und eine Dienstmütze fehlten Kalkhoff, und er hätte ausgesehen wie ein waschechter Kapitän.

Seine fettigen Lippen spitzten sich jedes mal beim Kauen, begleitet vom Zucken seines fingerdicken festen Doppelkinns, unter dem der Hals verschwand.

Kalkhoff, bekannter Geschäftsmann der Stadt, sah aus wie eine Presswurst.

Fachkundig lutschte und saugte er nun den Hähnchenknochen blank und warf ihn zu dem abgeputzten Häufchen in der ovalen Porzellanschale.

Mehrmals fuhr die Zunge um seine Lippen.

Griffbereit und auf seine saubere Kleidung bedacht, hielt Kalkhoff die Hände vom Körper und suchte kurz den eigenen Teller und Tisch ab.

Da er aber nur die Kartoffelschüssel fand, brummelte er und beugte sich vor. Doch selbst dabei kam kein Hals zum Vorschein.

Kalkhoff war verbaut.

Sein Kopf saß, auf ganz natürliche Weise, so tief wie bei jemandem, der seinen Kopf absichtlich zwischen die Schultern duckt.

„Was ist mit dem andren?” rief er Richtung Küche.

„Braucht noch!” erwiderte eine Frauenstimme.

„Gut, dann ruf’ ich den jetzt an”, meinte Kalkhoff und leckte nacheinander seine fettigen Fingerkuppen über seine herausstehende Zungenspitze - ein Vorgang wie beim Umblättern vom Buchseiten.

„Was meinst du?”

Der Kopf seiner Frau reckte sich aus der Küche.

„Ich hab’ gesagt, ich ruf den jetzt an!” wiederholte Klakhoff unwirsch und griff nach der Papierserviette.

„Ja, tu das”, verzog seine Frau nachdrücklich ihre Brauen. “Da wird es auch langsam Zeit.”

Ihr Kopf verschwand.

Kalkhoff hantierte mit der Papierserviette.

Unter seinen fettigen Fingern riss die äußere Papierschicht der Serviette und klebte fest, dass an seinen Fingern Fasern hingen.

Kalkhoff maulte unverständlich und beschwerte sich: „Was ist das wieder!”

„Was meinst du?” kam seine Frau nun mit verschränkten Armen ins Esszimmer. Sie ging nicht, sie stolzierte regelrecht. Ihre Taille in dem grauen Kostüm war kaum dicker als ein Birkenstamm.

Die fünfzehn Jahre Altersunterschied, zwischen Kalkoff und seiner Frau, bemerkte selbst ein Blinder.

„Was? Das!” zeigte ihr Kalkhoff seine Finger. „Was ist das nur für ein billiger Mist. Können wir uns etwa nicht mal mehr gescheite Servietten mehr leisten!“

„Alles in der Wäsche, mein Herr, verwahrte sich seine Frau. „Und die ist noch nicht voll!.”

Womit sie zum Balkonfester schritt.

„Ah, so”, meinte Kalkhoff etwas ruhiger.

Umso energischer drehte er nun die Serviette in der Faust um die einzeln Finger.

Aber die Reste der Serviettenfasern waren hartnäckig.

Um sie abzupellen, hielt er die Hand über die Tischkante und rieb die Fingerkuppen gegeneinander.

Als er seine Kuppen hinterher betrachtete, wirkte er zufrieden.

Seine langen schmalen Finger hätten eher zu einer schlanken Person gepasst, als einem gedrungenen, fetten Mann seines Alters.

Diese Finger schienen unbeschadet von Alter, Lebenswandel und Gewohnheiten seines Besitzers.

Kalkhoff schloss kurz die Augen, schnaufte und sammelte sich. Dann nahm er das Handy von der oberen Ecke des fliederfarbenen Platzdeckchen. Schwerfällig sackte er zurück in die Eckbank, über dem ein ungerahmtes Ölbild seiner Tochter hing, die sich seit einiger Zeit als Künstlerin versuchte.

Seine Frau und er hatten, in ihren geteilten Ansichten über Kunst, die neue brotlose Tätigkeit ihrer Tochter, eine erbitterte Diskussion, bevor er endlich zuließ, dass das Bild, mit seinen bunten Kreisen aus Ölfarbe, an die Wand des Esszimmers kam.

Im Nachhinein erleichterte Kalkhoff der ausgewählte Platz über der Eckbank sogar. Außer beim Betreten des Esszimmers, fiel ihm das Bild nicht weiter auf. In der ersten Zeit verdrängte er seinen Anblick.

Er fand es abgrundtief scheußlich.

Wenn dort schon etwas hängen musste, warum dann kein ordentliches Landschaftsbild? Warum kein hübsches Bild mit Früchten? Warum nur so ein Geschmiere? So eine Scheiße?

Aber stillschweigend nahm er es hin.

Seiner Miene nach, widerte ihn das Bild nach wie vor an. Doch seinen eingefleischten Appetit konnte es nicht beeinflussen.

Im Nachfassen schlug Kalkhoff das Bein mit der hochgerutschten Hose über.

Der Gürtel seiner Hose war vorsorglich zwei Löcher geweitet.

„Ich bin’s” tönte er jetzt ins Handy. “Du pass auf, meine Tante hat wieder Kirschen eingemacht.”

Auf seinen fettigen Lippen und in seinen Mundwinkeln hingen ihm Brösel der gegrillten Hühnerhaut.

„Bist du durch den Wind? Oder was ist los?” unkte er und hörte zu. „Klar, will sie die verkaufen. Wenn du davon was abhaben willst, dann treffen wir uns nachher und bequatschen die Sache.”

Plötzlich runzelte er die Stirn.

„Bedient? Was? Du willst keine! Was soll das heißen?” dröhnte Kalkhoff aufgeregt und schob seinen fettglänzenden Teller ein paar Zentimeter fort, über das Platzdeckchen. Seine Zunge schnappte nach den verbackenen Bröseln im Mundwinkel.

Mit einem lauernden Blick, der Hintergedanken verriet, glitten seine Augen im Raum umher. Es wirkte, als versuchte er durchs Handy die weitere Reaktion seines Gesprächspartners abzuschätzen.

Zwischendurch wackelte er genervt mit dem Kopf.

Offenbar bekam Kalkhoff eine ausführliche Geschichte erzählt.

„Hast du dir denn schon mal den Bauch dran verdorben?” fragte er schließlich. „Jetzt fang’ ja nicht an… mach mir hier bloß kein Geschiss, Junge! Willst du mich jetzt ernsthaft abwimmeln?”

Sein fettiger Mund wurde eine humorlose Linie.

„Na, ich will dich verwöhnen, und du treibst mir quer” erklärte er gleich darauf.

„Was heißt hier Termine?”

Geräuschlos stieß Kalkhoff auf. Sein zurückgelehnter Körper erhielt dabei einen kurzen Impuls. Er beugte sich vor, stemmte den linken Ellbogen wie einen Pfeiler auf die Tischplatte und drückte seine rechte Faust in die Hüfte: „Scheiß drauf, auch ich hab’ Termine! Leg’ sie um oder erzähl’ dir ist schlecht. Sag denen, du hast Bauchweh.”

Zum Zuhören genötigt, sah er hoch zur Decke, ehe er unvermindert hartnäckig fortfuhr.

„Wir treffen uns um vier. Dann bequatschen wir alles Nötige, klar? Dass ich dich deshalb noch extra anrufen muss! Andre würden springen, um was abzukriegen. Und mach dich mal locker, Junge.”

Sichtlich verstimmt legte Kalkhoff das Handy zurück und sah ungeduldig auf seine Frau, die nun durchs Esszimmer schlenderte.

Trotz ihrer gelassenen Miene, hatte sich ihrem Gesicht, wie vom Erlebnis ständiger Risiken, ein bangen Grundzug eingefräst.

“Und?”

“Was und? Der kommt. Soll sich mal unterstehen nicht aufzukreuzen. Was meinst du wie ich dem Zunder geb’. Was sein muss, muss sein.”

„Was wird diesmal für uns dabei rauskommen?”

„Abwarten. - Aber mach’ dir keine so großen Hoffnungen. Der Kerl ist nicht grade der Fleißigste. Zuverlässig, hält unbedingt dicht, aber ein Faulenzer. Andrerseits”, lehnte Kalkhoff sich wieder zurück in die Eckbank und zog seinen Teller ran, „besser so als umgekehrt. Man kann ja nicht alles haben. Was mir im Moment mehr Sorgen macht, ist unser junger Freund von der Zulassungsstelle. Na, den Burschen werd’ ich schon zurechtbiegen”, schwang er den Zeigefinger.

“Was hat er gesagt?”

“Gesagt, gesagt!” maulte Kalkhoff wieder. “Fängt an, krumme Gedanken zu kriegen. Was-wäre-wenn und so weiter. Albernheiten, eben.”

Ungerührt, mit einer Ruhe, der jede plötzliche und heftige Gefühlsausbruch fremd schien, nahm seine Frau ihm gegenüber Platz.

Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen von Ärger über seinen rüden Ton ihres Mannes. Nur ein interessiertes Aufmerken.

Ihr Teller hatte vom ersten, bereits verzehrten Hähnchen nur ein paar winzige Fettflecken zurückbehalten.

„Das hat er gesagt?” fragte sie. In ihrer Betonung und ihrem Stirnrunzeln lag die Forderung einer sachliche Erklärung.

„Nein, er hat nur irgendwas erzählt - von seiner Frau. Sie wäre schon wieder schwanger und ihr Vater soll angeblich ins Heim. Lauter so Kram”, bemerkte er mit einem Ausdruck, der dem Gehörten keine andere Bedeutung beimaß, als dass es seinen Absichten zuwiderlief.

„Gewiss, jeder hat seine Probleme. Und was können wir da tun?” stellte sie das Kinn.

„Lass mich nachdenken.”

Den Blick konzentriert durchs Balkonfenster gerichtet, fummelte und saugte Kalkhoff mit der Zunge nach dem lästigen Fleischfetzen zwischen seinen Zähnen.

„Schwer genug, wenn einer erst mal anfängt sich selbst das Wasser abzugraben”, sah er zerknirscht zu seiner Frau. „So fängt ’s immer an. Das reinste Fieber.”

„Zur Not schickst du eben mich.”

Ihre Blicke begegneten sich in der Tischmitte, über der Kartoffelschüssel.

Kalkhoff grinste. Seine Nasenflügel blähten sich wie über einen völlig absurden Einfall.

„Seine Frau schmiert ihm morgens die Brote, Heike. Er hat eine Frühstücksbox. Jeden Mittag, Punkt zwölf, ruft sie ihn an”, zählte Kalkhoff auf.

„Tatsächlich? Nein, wie goldig”, ging Klkhoffs Grinsen, in abgemilderter Form, auf seine Frau über.

„Hat er selbst erzählt, und bestimmt nicht erfunden.”

„Was du alles weist.”

„Nicht halb so viel wie du von deinen Tanten.”

„Sonst hätten wir ja nicht mal einen Krümel geerbt”, versetzte seine Frau spröde. „Und wenn du ihm mehr Geld bietest?”

„Du hast vielleicht Ideen!” dröhnte Kalkhoff wieder vollmundig. „Da ist doch alles genau eingeteilt. Vierzig für uns, vierzig für Brödel und Co - und zwanzig für ihn. Weniger kann ich Brödel nicht geben. Und von uns abzwacken? Da hör’ ich lieber ganz auf.”

„Stimmt, besser auf Zeit gespielt, als auf Geld.”

Kalkhoffs Mund wurde zum argwöhnischen Spalt - argwöhnisch durch den Kommentar seiner Frau.

„Drück’ dich mal klarer aus.”

“Sag’ ihm doch, dass wir aufhören. Sag’ ihm irgendein Datum. Beamte lieben doch sowas.”

Kalkhoff sah seine Frau überrascht an.

Ihre Gedanken trafen sich wie die Nähnadel den Faden.

„Das wär’ gar nicht schlecht! Gewissermaßen als Notanker, wenn er sich weiter quer stellt. Ich mein’, erzählen kann man ja viel. Soll er sich’s im Kalender ruhig rot anstreichen. Hauptsache er hält dicht.”

„Und ändern kann sich in der Zwischenzeit immer noch was.”

„Unwahrscheinlich bei dem”, winkte Kalkhoff ab. „Aber fürs Erste wird’s langen. Da beruhigt er sich. Außerdem lässt’s sich bei dem rausschieben - das heißt, wenn’s nötig ist. Und bis dahin haben wir dreimal unsre Koffer gepackt.”

„Hoffentlich. Du hast ihn ja an Land gezogen.”

„Egal! Noch ‘n halbes Jahr dann sind wir eh weg. Dann ist es aus mit dieser Schufterei und alles wird verkloppt. Dann können die uns alle mal. Dieses scheiß Land mit seiner ständigen Bevormundung kotzt mich sowas von an! Da rennt man, bis einem die Luft ausgeht, macht und tut und kriegt dauernd eins drüber. Unternehmergeist! Das ich nicht lache. Wer keine Beziehungen hat, ist doch der Arsch!“ redete Kalthoff sich langsam in Wut. „Und dauernd haben sie einem am Wickel. Gerupft und geschröpft wird man, gegängelt. Bezahlt! Vorwärts, her mit eurem Geld! Die Straße sanieren lassen. Dafür zahlen, dass es einem aufs Dach regnet, Steuern auf dem Fressen, auf jedem Scheiß! Was für Missgeburten sind das eigentlich, die sich sowas Krankes ausdenken?!”

„Ludwig, beherrsch’ dich!”

„Schon gut, ich reg mich nicht auf. Aber wie soll man’s hier auch auf ehrliche Art zu was bringen! Auch wenn wir jetzt nicht mehr zu den einfachen Leuten gehören - diese Drecksäue, dieser scheiß Staat hat mir lange genug Knüppel zwischen die Beine geschmissen!”

„Hör doch auf. Ach, Argentinien, lenkte seine Frau ab, Argentinien wird schön. Ich glaub’, ich könnte mich dort schon einigermaßen verständigen.”

“Argentinisch lern’ ich erst, wenn wir dort am Pool liegen.”

“Spanisch!”

“Ach, meinetwegen Gotisch!“ winkte Kalkhoff ab, erinnerte sich. „Was ist eigentlich mit dem zweiten Hähnen? Los, her damit!”

Als seine Frau das Hähnchen brachte, hielt Kalkhoff schon die Geflügelzange parat, zwickte einen der Schlegel für seine Frau ab und verfrachtete das große Übrige auf seinen Teller.

Nach dem Mittagessen lag Kalthoff - bequem in den Schoß der Sonne gebettet, lag auf dem Balkon im Liegestuhl.

Von dort ließ sich das beträchtliche Anwesen aus Fischteich, Geräteschuppen und vernachlässigter Laube bestens überblicken.

Aber Kalkhoff blickte nicht aufs Anwesen, sondern vergrub seinen gleichgültigen Blick in die Sport-Bild.

Die mannshohen ausgefransten dunkelgrünen Zypressen an der Grundstücksmauer schickten Kalkhoff bald ihren knorrigen und würzigen Geruch zu, der sich, wie ein zweiter verdauungsfördernden Kräuterschnaps, mit den saftbitteren Geranien vermischte.

Der Blauregen, den Heike Kalkhoff an der Laube gepflanzt hatte, rankte um die Holzbalken und drückte allmählich das Dach ein.

Das Grundstück lag am Ortsrand. Dahinter Wiese, Feldwiese - hellbraune Gräser mit langen Rispen und Mohntupfen. Dahinter kilometerweite Kartoffelfelder, geteilt von einer Chaussee. Und ganz dahinter die Silhouette der niedrigen Berge.

Obwohl die Sonne den Balkon mit seiner zurückgekurbelten Markise ordentlich aufheizte, trug Kalkhoff, gewissermaßen stets einsatzbereit, weiterhin Blazer, Schlips und Straßenschuhe.

Wenig später bedeckte die aufgeklappte Sport-Bild sein Gesicht und er schnarchte sachte. Ein fetter Mann, der von einem unermesslichen Vermögen, von einem Berg aus Gold träumte.