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Deutsche Erstausgabe (ePub) November 2014

 

© 2014 by Raik Thorstad

 

Verlagsrechte © 2014 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-539-7

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


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Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Erfolg um jeden Preis?

Rockstar Steve ist auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere: Geld und Publicity im Überfluss. Doch wie lange kann er dabei noch in den Spiegel schauen? Denn Steve steht kurz davor, sich selbst und seine Ideale zu verkaufen. Hinzu kommt sein unverhofftes Aufeinandertreffen mit Bibliothekar Alex, dessen Welt so anders und gleichzeitig verführerisch normal ist. Steve wird immer bewusster, dass der schöne Schein seiner Karriere nicht nur trügerisch ist, sondern auch einen Abgrund birgt, an dem er sich selbst zugrunde richten könnte…


 

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And that goes for all you punks in the press

That want to start shit by printin' lies

instead of the things we said

 

Guns n Roses – Get in the ring

 

Für meine Jungs und für alle, für die ein

Zerrspiegel zum Brennglas wurde.


1

 

»Die USA feiern Steve Simon als Newcomer. Hoher Charteinstieg. Die ersten Konzerte sollen folgen. Lässt er seine alte Heimat im Stich?«

 

Schlagzeile aus dem »Stars and People«-Magazin vom 15.4.2007

 

 

Er war eins mit dem Publikum. Er war der Dirigent des kreischenden Orchesters, das vor der Bühne seine Anwesenheit feierte. Die Lightshow brannte ihm helle Flecken auf die Netzhaut. Seine Sinne reckten sich genüsslich unter dem Jaulen der Gitarren, strebten ihm entgegen und fingen mit ihm Feuer. Der E-Bass sandte Vibrationen durch seinen Magen. Die Luft war stickig und roch nach Kunstnebel.

Die Security ackerte im Fotograben, um die nach vorn drängende Menschenmenge unter Kontrolle zu halten. Steve konnte sie nur als geschäftige Schatten ausmachen; dahinter zwei oder drei Reihen Fans.

Alles, was tiefer im Raum lag, verschwand im Gegenlicht.

Seitdem er größere Hallen mit entsprechender Technik füllte, konnte er nur selten sehen, was im Publikum vor sich ging. Die Licht-Choreografie war aufwendig. Kein Song, der nicht von einem eigens darauf abgestimmten Farbspektakel untermalt wurde. Steve stolperte während seiner Auftritte von grünen Kreisen in grellblaue Laserkaskaden und von dort in ein Karmesinmeer, das den Eindruck erweckte, die Bühne stünde in Flammen.

Der Song – einer seiner Lieblingstitel – steigerte sich zu seinem furiosen Finale. Jeder Lauf, jedes Stampfen des Schlagzeugs war Teil von Steve. Die Harmonie aus Text und Musik bildete seine Essenz, den Kern seines Selbst. Diesen Kern mit der Welt zu teilen, war seine Berufung. Er ernährte sich von den Reaktionen, die seine Musik beim Publikum auslöste. Und in sich selbst.

Steve verneigte sich mit ausgebreiteten Armen, als Stalking myself mit einem letzten Trommelwirbel sein Ende fand. Applaus und begeisterte Pfiffe fegten über ihn hinweg.

Grinsend warf er die Haare zurück und deutete mit erhobenen Daumen in die Dunkelheit. Er spürte die Begeisterung, die Leidenschaft, die die unsichtbare Menge vor ihm erfasst hatte.

Es kümmerte ihn nicht, dass er seine Fans nicht sehen konnte. Er hörte sie. Immer. Er hörte, ob das Publikum Feuer gefangen hatte oder sich langweilte. Er hörte es, wenn es Schwierigkeiten in der Halle gab. Und er hörte, wie groß der Anteil der weiblichen Fans war.

Am heutigen Abend schien die Meute in Sache Geschlechter ausgeglichen zu sein. Wenn er während eines Songs das Mikrofon Richtung Publikum hielt und schwieg, fluteten Männer- und Frauenstimmen gleichermaßen über ihn hinweg. An manchen Abenden waren es fast nur junge Mädchen, die kreischten, wenn er nach der Hälfte der Show sein Hemd in die Ecke warf und das Tattoo auf seinem Rücken zeigte.

Das präzise gestochene Tribal, das sich über die gesamte Breite seiner Schultern zog, war eine Art Markenzeichen, seitdem es das Cover der ersten CD von Terrific geschmückt hatte. Es gab das Foto, das Steve mit ausgebreiteten Armen auf einem Steilhang zeigte, mittlerweile als Poster, Anhänger, T-Shirts und sogar auf Kaffeebecher gedruckt. Die Fans hielten es für hohe Kunst. Nur die Jungs und er wussten, dass das Schwarz-Weiß-Bild eine Notlösung gewesen war, weil ihre damalige Plattenfirma das ursprünglich geplante Cover abgelehnt hatte.

Unaufhaltsam näherten sie sich dem Höhepunkt der Show. Oder dem Tiefpunkt. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.

Steves heitere Miene wich einer Maske aufgesetzter Melancholie. Er rückte den Monitor in seinem Ohr zurecht und wandte sich zu Marcel um, der aussah, als wäre er ins Wasser gefallen. Der Drummer verlor während jeder Show literweise Flüssigkeit. Um Steve stand es nicht viel besser. Auch er klebte und schwitzte, obwohl er vor wenigen Stunden noch über den zu kalten Frühling und Brüssels mieses Wetter geschimpft hatte.

Das Publikum heulte auf, als Steve nah an den Rand der Bühne trat und ein Spotlight hinter ihm herhetzte, um ihn ins rechte Licht zu rücken.

»Den nächsten Song kennt ihr alle«, raunte er kehlig ins Mikrofon – auf Englisch natürlich. Deutschsprachige Ansagen hatte er sich vor geraumer Zeit abgewöhnt. Dafür war er zu viel unterwegs. Manchmal vergaß er während des Konzerts, ob sie in Frankreich, Ungarn oder Deutschland waren.

»Von mir... für euch...« Er seufzte innerlich, bevor er schrie: »My beloved nightmare!«

Kreischen schlug ihm entgegen. Lauter und länger als vor jedem anderen Titel, den er angekündigt hatte. Wie jeden Abend.

Die Bühne blieb bis auf Steves Scheinwerfer dunkel. Dafür konnte er im Publikum die ersten Feuerzeuge erkennen. Mit rasender Geschwindigkeit vermehrten sie sich, während der Synthesizer einen Klangteppich durch die Halle wob. Der schmeichelnde Gesang der Akustikgitarren gesellte sich hinzu.

Mit einer theatralischen Geste und einem Lächeln, das er sich mühsam aus den Rippen schnitzen musste, kauerte Steve sich hin und wartete auf seinen Einsatz. Er wusste, dass ein Gutteil des Publikums nur auf diesen einen Titel lauerte. Seine Fans verdienten die beste Performance, die er ihnen anbieten konnte. Dennoch, für ihn war es der Tiefpunkt des Konzerts.

Erst als die ersten Zeilen des Textes rau und traurig über seine Lippen rannen, vergaß Steve, dass er My beloved nightmare seit geraumer Zeit nicht mehr hören konnte, ohne gereizt die Augen zu verdrehen. Seine Fans sangen mit ihm. Jedes einzelne Wort. Jeden Schlenker in der Melodie. Das Publikum mutierte zum vielstimmigen Chor, dessen Stimme um ihn floss und ihn tief berührte.

Steve spürte den Zauber. Knapp fünftausend Menschen sangen seinen Song, seinen Text, hielten für ihn ihre Feuerzeuge in die Luft und umarmten sich bewegt. Ihre Hände streckten sich ihm entgegen. Er wusste, dass sie noch Tage später von diesem magischen Moment der Show erzählen würden. Dafür war er hier. Um sie zu unterhalten, um eine Erinnerung zu schaffen, die auch nach Jahren nicht verblasste.

Als Steve wieder lächelte – kurz bevor der Song zum ersten Mal in den schmeichelnden Refrain überging –, fiel es ihm leichter.


2

 

»Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele.«

 

Cicero

 

 

Die Bücher flüsterten. Man musste sie nicht öffnen und in ihnen schmökern, um einen ersten Eindruck von ihnen zu gewinnen. Viele ihrer Geheimnisse verrieten sie bereits, wenn man sie in der Hand wog und mit dem Daumen prüfend über den Einband fuhr.

Schlichte Taschenbücher sprachen davon, dass sie gemütlich in der Badewanne gelesen werden wollten. Oder am See im Schatten eines Baumes. Sie wollten ihren Besitzer begleiten und mit ihm auf Reisen gehen. Taschenbücher verziehen es einem, wenn man sie mit klebrigen Fingern berührte oder sich ein Löffel Kirschjoghurt über sie verteilte. Sie waren genügsam und freundlich wie Golden Retriever.

Gebundene Bücher spielten in einer anderen Liga. Sie strahlten eine Präsenz aus, die den Leser zur Ehrfurcht anhielt. Sorgfältig gestaltete Einbände mit geprägtem Schutzumschlag und Fadenbindung sprachen von Stolz und einem Inhalt, der gewürdigt werden sollte. Gebundene Ausgaben waren mit Fächern wedelnde Diven, die unleidlich wurden, wenn man ihnen keinen Respekt zollte.

Aber auch sie wirkten immer noch wie Waisenknaben gegenüber den prachtvollen Bänden mit Kunstdrucken, die sich nur in den Händen von Sammlern und Liebhabern wohlfühlten. Glänzende Seiten im Überformat, die einzelnen Ausgaben sorgfältig nummeriert.

Die Rentner unter den Büchern wiederum waren ganz anders; unabhängig davon, ob es sich um alte Lehrwerke oder seltene Gedichtbände handelte. Sie waren empfindlich, ihr vergilbtes Papier war porös. Sie verlangten nach der perfekten Lufttemperatur und wollten vor Sonne geschützt werden, damit die Zeit ihnen nicht noch mehr schaden konnte.

Alex hatte keine Favoriten. Er brachte jeder Form von Druckerzeugnis dieselbe Hingabe entgegen. Ob es sich nun um ein Exemplar der Zeitschrift Mare, ein Kinderbuch oder die Erstausgabe von Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln handelte, kümmerte ihn nicht. Gedrucktes war heilig und verdiente es, gehegt und gepflegt zu werden. Bei dieser Einstellung war es kaum verwunderlich, dass er in einer Bibliothek arbeitete und damit meistens zufrieden war.

Gerade ärgerte Alex sich allerdings eher, was daran liegen mochte, dass er auf einem winzigen Stuhl in der Kinderabteilung saß und Spiele sortierte, die eine Großfamilie einträchtig aus den Regalen gerissen hatte. Es war keine Freude, die einzelnen Figuren, Bauteile, Anleitungen und Spielkarten den richtigen Kästen zuzuordnen.

Heute war einer dieser Tage gewesen, an dem die Bibliothek vor Besuchern fast geplatzt war. Studenten, deren gesuchte Lehrwerke in der Universitätsbücherei ausgeliehen waren. Musikliebhaber, die in Biografien von Komponisten wühlten. Nicht zu vergessen die Schulklasse, die gegen Mittag eine Führung erhalten und hinter dem Rücken ihrer Lehrerin nur Unsinn gemacht hatte.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Alex seine Arbeit liebte. Manchmal wünschte er sich nur, dass er dabei mit den Büchern allein sein könnte. Nicht, dass er ein Einsiedler gewesen wäre, der sich hinter einem Stapel Romane vergrub, um vor anderen Menschen zu fliehen. Aber die Bücher in diesem Haus waren so etwas wie seine Kinder, die vor Übergriffen geschützt werden mussten.

Er wünschte sich wenigstens einen freien Tag pro Woche, an dem die Eingangstür des Steinbaus aus dem 19. Jahrhundert geschlossen blieb, sodass er in Ruhe aufräumen konnte. Es war schwierig, für Ordnung zu sorgen, wenn hinter einem ein aufgeregter Grundschullehrer hektisch die gerade sortierten Bastelanleitungen aus dem Regal rupfte.

Alex streckte sich, als die letzten Scheine des Spielgelds gezählt an ihrem Platz lagen. In seinem Rücken zuckte es Unheil verkündend und er ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Diese niedrigen Sitzgelegenheiten waren nichts für ihn. Dafür war er auf der einen Seite zu groß und auf der anderen seine Wirbelsäule zu schief.

Er rieb sich über die Lendenwirbel. Nichts, was man nicht mit einem ausgiebigen Spaziergang und einer heißen Dusche in den Griff bekommen konnte.

»Alex?« Carolas Stimme hallte über den Zwischenboden; wie üblich zu laut für eine Bücherei, in der man den Geräuschpegel bekanntlich auf einem Minimum halten sollte. Als Auszubildende im letzten Jahr sollte sie es besser wissen.

Kopfschüttelnd spähte Alex über die Glasbalustrade in Richtung Treppe, bevor er deutlich leiser zurückrief: »Hier.«

Als Carola ihn erspähte, stapfte sie ihm missmutig entgegen. Ihre schwarzen Augenbrauen bildeten einen Keil auf ihrer Stirn. Nur zwei Dinge konnten Carola Alvarez' sonniges Gemüt verfinstern: ihre Mutter und Bibliotheksbesucher, die sorglos mit den Büchern umgingen. Angesichts des Buchs, das Carola unter ihrem zierlichen Arm hielt, war Letzteres zu befürchten.

»Was gibt es?«, fragte er und umfasste das Geländer. Ihm schwante Übles.

Selbst in ihren hochhackigen Schuhen, die für die viele Lauferei in ihrem Beruf kaum geeignet schienen, reichte Carola ihm mit der Nase gerade mal bis zur Brust. Nicht, dass Alex ein Riese gewesen wäre, nach dem sich jeder Basketballtrainer die Finger leckte. Carola war nur sehr klein, selbst für eine Frau.

»Geben? Sagen wir lieber: es gab«, knurrte sie und drückte Alex ihr in rotes Leinen gebundenes Mitbringsel in die Hand. »Schlag auf und schrei.«

Es war kein Buch, wie Alex im ersten Augenblick gedacht hatte. Es war eine Partitur. Mozarts Zauberflöte. Eine Gesamtpartitur, wohlgemerkt. Alle Stimmen des Orchesters und der Sänger minutiös aufgeführt im schärfsten Druckbild, das man sich wünschen konnte. Diese Ausgabe kostete rund 200 Euro.

Entsprechend tief hingen Alex' Mundwinkel, als er das Werk aufschlug. Die Seiten, die die Arie der Königin der Nacht enthielten, fehlten. Jemand hatte sie herausgerissen. Der Anblick der verbliebenen Papierfetzen tat Alex fast körperlich weh.

»Das ist dann wohl ein Fall für den Mülleimer«, sagte er bitter.

Carola nickte traurig, als betrachtete sie den Körper einer überfahrenen Katze. »Leider. Die Chefin ist stocksauer. Ich habe den Auftrag, das gute Stück zu Grabe zu tragen.«

Alex lächelte schief. »Na, dann viel Spaß. Schade, dass wir den Idioten nicht erwischt haben. Dann hättest du es ihm um die Ohren hauen können.« Er gab ihr den Kadaver zurück.

»Gefüttert hätte ich ihn damit. Gefüttert!« Carola rauschte davon. Ihre Entrüstung über die Zerstörung der Partitur spiegelte sich in jedem ihrer Schritte wider.

Alex verstand sie nur zu gut. Er schüttelte die Enttäuschung über die Misshandlung der Partitur ab und machte sich auf den Weg nach unten. Es war an der Zeit, einen letzten Rundgang durch die Abteilungen zu machen und verbliebene Besucher höflich daran zu erinnern, dass sie in Kürze schlossen. Noch ein paar Stapel Bücher wegräumen, die über den Tag liegen geblieben waren, und er konnte sich auf den Weg nach Hause machen.

In seine leere Wohnung. Schönen Dank auch.

 

Eine halbe Stunde später verließ Alex die Bibliothek und trat durch den Hintereingang ins Freie. Eine Plastiktüte schützte die Taschenbücher, mit denen er sich das Wochenende versüßen wollte.

Abwesend schlenderte er in Richtung seines Wagens. Er ließ sich Zeit und genoss den Nieselregen, der auf ihn niederging.

Alex hatte noch nie etwas gegen Regen gehabt. Regen und Sonnenschein wurden in seiner Heimatstadt Aurich von den Launen der nahen Nordsee bestimmt, sodass mit Ebbe und Flut die Witterung wechselte. Man konnte nicht im hohen Norden Deutschlands aufwachsen, ohne sich ein dickes Fell in Sachen Wetter zuzulegen.

Einzig Alex' Vorliebe für Jeans stand im Widerspruch zu seiner freundschaftlichen Beziehung zum Regen. Nasser Denim war etwas Widerliches, aber er brachte es dennoch nicht über sich, sich davon zu trennen. Er liebte Jeans. Nicht nur an sich selbst, sondern auch besonders an anderen Männern.

Dieser Gedanke erinnerte Alex daran, dass er am Morgen sein Handy abgeschaltet hatte. Abgesehen von der Kleinigkeit, dass er zu arbeiten hatte, war er nicht bereit gewesen, sich mit den Anrufen auseinanderzusetzen, die ihn zweifelsohne erreicht hatten. Auch jetzt wollte er sich nicht damit beschäftigen, aber ihm blieb kaum eine Wahl, wenn er verhindern wollte, dass heute Abend sein Festnetz glühte.

Thomas konnte verflucht hartnäckig sein. Und wenn er der Meinung war, dass sie reden mussten, war er durch nichts davon abzubringen. Das war einer der Gründe, warum Alex sich von ihm getrennt hatte: Thomas' Unfähigkeit zu akzeptieren, dass seine Meinung nicht das Maß aller Dinge war. Jedes Gespräch endete in einer Grundsatzdiskussion, die man nur verlieren konnte. Alex' Maß in Sachen Du siehst das nicht richtig-Lektionen war voll bis zum Anschlag.

Entsprechend war er bei Ankunft im Parkhaus fast so weit, das Abhören der Mailbox zu verschieben. Er könnte sich mit einem leeren Akku herausreden. Und überhaupt, er war ein freier Mann. Er brauchte gar keine Ausrede.

Doch als er in seinem nachtblauen Passat saß und nachdenklich die Nummer vor sich an der Betonwand musterte, entschied er sich um. Alex wollte diesen Ballast nicht mit nach Hause nehmen. Er wollte sich nicht mehr mit Thomas beschäftigen, sobald er seine Türschwelle passiert hatte und offiziell im Wochenende war.

Seufzend erweckte er sein Handy zum Leben. Drei versäumte Anrufe und zwei SMS, teilte das Display ihm mit. Ein Anruf stammte von seinem Vater, alle anderen von Thomas. Wir müssen reden und Ich kann ja wohl erwarten, dass du mir wenigstens die Chance gibst, mich mit dir zu unterhalten verkündeten die Textnachrichten. Die Mailbox hörte Alex erst gar nicht ab.

Schicksalsergeben wählte er Thomas' Nummer.

Alex schwor während des Klingelns, sich ein herrliches, ruhiges Wochenende zu machen. Viel lesen, sich eine fettige Pizza gönnen, schwimmen gehen und wenn ihm danach war, fotografieren. Stundenlang ohne einen einzigen Blick auf die Uhr durch Stadt, Wald und Wiese pilgern, die Welt durch den Sucher betrachten und in Alltäglichkeiten die schönsten Motive finden. Eine schief hängende Hausnummer, an der sich eine Spinne abseilte. Eine von Efeu umarmte Bruchsteinmauer. Eine Spiegelung auf den Glasfassaden eines Geschäftsgebäudes zur Abendzeit. Das Leben ins Bild bannen.

Dieses Vergnügen hatte Alex sich verdient, nachdem er sich mit seinem Exfreund auseinandergesetzt hatte.

»Ich bin's«, sagte er, als Thomas sich meldete.


3

 

»Steve Simon – exklusiv enthüllt: die Liebesgeschichte hinter

My beloved nightmare! Die sanfte Seite des wilden Rockrebellen«

 

Schlagzeile des Online-Portals »Celebrities at home« vom 16.4.2007

 

 

Amsterdam. Zwei Stunden Show. Drei Zugaben. Ein Vorfall im Fotograben, als der zappelnde Fuß eines Fans einen Securitymann im Gesicht traf. Steve würde sich später nach ihm erkundigen. Wenn er wieder aufrecht stehen konnte.

Erschöpft stolperte er von der Bühne und verzog sich in den viel zu niedrigen Backstagebereich. Auf halbem Weg griff er nach dem ersten Handtuch, das sich ihm in den Weg warf, und trocknete sich das Gesicht ab. Er konnte die Musiker hinter sich lachen und reden hören, aber ihm war nicht danach, sich ihnen anzuschließen.

Marcel war der Einzige, den er nach der Show gern um sich hatte – und sein Schlagzeuger war zweifelsohne damit beschäftigt, mit Argusaugen den Abbau seines Drumkits zu überwachen. Er war eigen, was seine Spezialanfertigung anging, und hütete sie wie andere Leute ihre Kinder oder Haustiere.

Als Steve den Trakt mit den Garderoben erreichte, blieb er stehen. Zwei Türen, nebeneinander. Auf einer stand sein Name. Auf der anderen klebte ein Zettel mit der Aufschrift: Steve Simon, Band.

Diese harmlos wirkenden Worte ließen seine Schultern nach vorn sacken. Eine betäubende Mutlosigkeit breitete sich in seinem Bauch aus und zerfaserte die Überreste des Hochs, das ihn während des Auftritts gepackt hatte.

Steve Simon, Band.

Auch nach all der Zeit fühlte es sich falsch an. Es fühlte sich falsch an, dass es zwei Garderoben gab. Eine für ihn, eine für die Musiker der Band. Und an keiner der Türen prangte der Name Terrific.

Verflucht, er vermisste die Jungs.

Früher war Steve nie allein von der Bühne geschlichen, um sich der Stille seiner Garderobe zu stellen. Damals hatten sie es krachen lassen. In jeder Hinsicht.

Alkohol, Frauen, laute Musik, Zigaretten oder sogar Zigarren, wenn ihnen danach zumute war. Peperoni-Pizza um drei Uhr morgens, dazu der eine oder andere Joint. Manchmal verschwand einer von ihnen, um sich eins der Mädchen vorzunehmen, die die Band umschwärmten. Vorm Morgengrauen waren sie nicht zur Ruhe gekommen. Jeder einzelne Auftritt war für sie ein Weltereignis gewesen. Sie waren wie junge Hunde gewesen, die einen fremden Wald entdeckten und sich über jeden Käfer, jede frische Fährte, jeden Baum zu Tode freuten. Und sie hatten eine Menge Bäume markiert.

Sie. Terrific. Nicht Steve Simon und Band.

Ob die anderen ihm je verzeihen würden, dass er sie verraten hatte? Nein, nicht verraten. Verkauft. Er hatte die Idee von Terrific verkauft. Die Rückkehr des 80er Jahre Hair Metal, aufgepeppt durch moderne Industrial-Elemente. Davon hatten sie geträumt. Sie wollten die Mötley Crüe und Poison der 2000er Jahre werden. Eigenständig, unverkennbar. Frischer Wind in einer Musikindustrie, die von den Ergüssen dubioser Castingshows unterwandert wurde.

Und jetzt? Nur Marcel, die treue Seele, war ihm geblieben und hatte sich damit abgefunden, nicht länger auf dem Plattencover erwähnt zu werden, sondern nur für ihn zu trommeln. Marcel war egal, dass er in keiner Zeitschrift abgebildet wurde und niemand im Publikum seinen Namen kannte. Steve war ihm dafür dankbarer, als er je in Worte fassen könnte. Ohne Marcel als Anker hätte er vermutlich schon vor langer Zeit eine schwere Dummheit begangen.

Er hatte nichts Drastisches im Sinn. Steve mochte seine melodramatischen Momente haben, aber weder zog es ihn zu harten Drogen noch auf das Dach irgendwelcher Hochhäuser. Aber Zacharias sagen, dass er sich mit seinen Marketingstrategien zum Teufel scheren sollte. Der Plattenfirma den Mittelfinger zeigen und seinen Vertrag nicht verlängern. Alles hinschmeißen und verkünden, dass er nie wieder singen würde, weil er verdammt noch mal Gitarrist war und nur deshalb hinter dem Mikro gelandet, weil Sebastian damals abgesprungen war.

Ja, so etwas hätte er vermutlich längst getan, wenn Marcel ihn nicht auf dem Boden der Tatsachen fixieren würde. Das oder das Undenkbare: Zugeben, dass er die Mädchen, die ihn umkreisten wie die Motten das Licht, hübsch und sexy fand, aber sie nicht das Richtige für ihn waren.

Er konnte es sich jederzeit von einem Groupie besorgen lassen. Hose auf, Mädchen auf die Knie, zehn Minuten gepflegte Hand- und Mundarbeit und er fand seinen Frieden. Es gab Momente, in denen er die weichen Rundungen und zarte Haut der Mädchen zu schätzen wusste. Aber sie waren nicht das, was er jeden Tag haben wollte. Und schon gar nicht das, was er brauchte.

Steve senkte den Kopf und öffnete die Tür. Die Garderobe verschluckte ihn.

Sein Abendessen erwartete ihn auf dem groben Holztisch. Er warf einen Blick auf die Kopie der Liste, die den Veranstaltern vor jedem Gastspiel überreicht wurde. Mineralwasser, Bier, eine Flasche Wodka, zwei Päckchen Zigaretten, geröstete Erdnüsse, ein kleiner Salat ohne Oliven und eine Pizza, die bitte pünktlich nach der Show warm auf ihn zu warten hatte. Er war zahm geworden.

Als die Veranstalter nach der zweiten CD von Terrific begannen, sie nach ihren Wünschen zu fragen, hatten sie sich einen Spaß daraus gemacht, die unmöglichsten Dinge auf den Tour Rider zu setzen. Gummibärchen aus Apfelsaft, spezielle Biersorten, Meerrettich-Pralinen, Wildlachs-Sandwiches, 24er-Kondompackungen, die drei letzten Ausgaben des Playboy, ganze Stangen Zigaretten und eine spezielle Sorte Pudding, die es nur in einem von fünfzehn Supermärkten gab. Dazu ein ausgefallenes Buffet mit drei Sorten Fleisch, einem vegetarischen Grillmenü und bayrischem Kartoffelsalat. Rockstars konnten sich solche Querelen leisten.

Mit trockener Kehle griff Steve nach dem Wodka und begann zu trinken. Er erschrak, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Überreizt fuhr er herum und musste feststellen, dass er auf sein eigenes Spiegelbild hereingefallen war. Es beobachtete Steve aus stechenden, hellgrauen Augen.

Unangenehm berührt bemerkte er, wie hager er im Verlauf der Tour geworden war. Das Piercing in seiner rechten Braue schien zu groß für sein Gesicht, der von Natur aus schmale Mund zu üppig. Die Zeugen seiner Jugend in Form von Aknenarben auf seinem Kinn stachen mehr ins Auge.

»Wird Zeit für ein paar Wochen Nichtstun«, murmelte Steve und prostete seinem schonungslosen Spiegelbild zu.

Dass er sich nach dem verletzten Securitymann erkundigen wollte, hatte er längst vergessen.

 

Lange hielt es ihn nicht in der Stille seiner Garderobe. Er war froh, dass sie heute Nacht nicht weiterfahren mussten. Der Nightliner war recht bequem, aber nicht mit einem anständigen Bett zu vergleichen. Wenn er sich nicht irrte, war das Konzert morgen Abend in Hamburg oder Bremen. Diese Entfernung konnten sie locker innerhalb eines halben Tages bewältigen, sodass ihnen eine Nacht auf der Straße erspart blieb.

Zacharias stand parat, als er sich schwankend von dem schäbigen Sofa in seiner Garderobe erhob. Wann sich der resolute Mittfünfziger bei ihm eingefunden hatte, wusste er nicht. Steve nahm die Anwesenheit seines Managers in der letzten Zeit kaum noch wahr. Er hatte sich daran gewöhnt, dass der ihm wie ein Schatten folgte, dass er selten wirklich allein war. Es war Zacharias' Aufgabe, auf ihn aufzupassen, ihn zu beraten und von anderen Menschen abzuschirmen.

Steve hätte nicht gedacht, dass er einmal einen Begleiter brauchen würde, der ihm Fans vom Leib hielt. Oder der ihn im wahrsten Sinne des Wortes ins Bett brachte.

Dank des zu schnell getrunkenen Wodkas, begleitet einzig durch drei schmale Stücke mittelmäßiger Pizza, fühlte Steve sich nicht gut, als Zacharias ihn durch die Katakomben der Halle schob und in den Wagen verfrachtete. Er stolperte über seine eigenen Füße, was jedoch nicht nur dem Alkohol, sondern auch der Erschöpfung in seinen Knochen geschuldet war. Seine Auftritte kosteten ihn verdammt viel Kraft, viel mehr, als er durch ein kleines Abendessen kompensieren konnte.

Steve wollte schlafen. Zwölf Stunden ohne Unterbrechung, ohne Anrufe, ohne Störungen durch die plötzliche Erkenntnis, dass er einen Interviewtermin vergessen hatte. Er sehnte sich nach seinem Hotelzimmer.

Auf der Fahrt nickte er ein, sah nichts vom erleuchteten Amsterdam, das die Nachtschwärmer mit vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten lockte.

Als sie den Parkplatz des Okura erreichten, schreckte Steve aus überreizten Traumbildern hoch.

Dass sie erwartet wurden, wunderte Steve nicht. In jeder Stadt gab es Fans, die über ihm unbekannte Kanäle herausfanden, in welchem Hotel er abgestiegen war. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit auftauchten. In der Vergangenheit war es vorgekommen, dass sich ein paar besonders verrückte Bienen im selben Hotel einmieteten und nachts vor seiner Zimmertür standen. Damit musste man rechnen, wenn man an Popularität gewann. Sagte Zacharias.

Steve saß zusammengesunken auf seinem Platz und beobachtete durch die getönten Scheiben seine aufgeregten Fans. In der Spiegelung des Autofensters wirkten seine Augen glasig und es fiel ihm schwer zu erkennen, wie viele winkende Gestalten sich um die Einfahrt drängten.

Die Gruppe verfolgte sie zum Parkplatz und umzingelte den Wagen. Sie streckten die Hände nach ihm aus, als er ausstieg. Wie viele waren es? Zehn, zwölf?

Steve gab sich Mühe, halbwegs freundlich in die Fotoapparate und Handys zu grinsen, die auf ihn gerichtet waren. Er schüttelte Hände und ließ sich umarmen, legte einem Mädchen, das nicht weit von einer Ohnmacht entfernt schien, einen Arm um die Schultern.

Aus dem Nebel seiner Wahrnehmung schälten sich in einiger Entfernung zwei Fotografen mit professioneller Ausrüstung, die ihn in schneller Folge ablichteten. Der Gewittersturm aus Blitzlichtern tat seinen vom künstlichen Bühnennebel beleidigten Augen weh.

Und er war betrunken. Mit jeder Minute nahm der Rausch zu.

Noch während er sich zu einigen wenig eloquenten Sprüchen zwang und sich Mühe gab, die Frage nach einer Freundin zu überhören, spürte er Schwindel über seinen Nacken Richtung Gehirn kriechen. Zeit zu gehen. Nur noch ein, zwei, viele Autogramme, dann hatte er es geschafft.

Steve überließ es Zacharias, ihn von seinen protestierenden Fans fortzuschieben und durch den Seiteneingang ins Hotel zu bugsieren. Es sah immer besser aus, wenn der Manager ein Zusammentreffen zwischen Steve und seinen Anhängern beendete. Dann blieben die Feindbilder klar verteilt. Der Manager, dem die Zuneigung der Fans egal sein konnte, bekam den Schwarzen Peter zugeschoben und Steve konnte weiterhin glänzen.

»Gute Arbeit heute Abend«, murmelte Zacharias, während er seinem Schützling den Arm um die Hüfte legte und ihn mit sanftem Druck in die Eingeweide des Okura führte.

Ein Fahrstuhl, mit cremefarbenen Teppichen ausgelegte Flure. Wieder zu grelles Licht und die dumpfe Erkenntnis, dass er sich übergeben würde, wenn er sich nicht bald hinlegen konnte.

»Ist alles in Ordnung? Kann ich dich alleine lassen?«, wollte Zacharias wissen, als sie das für Steve reservierte Zimmer erreichten. »Soll ich mit reinkommen?«

Er schüttelte den Kopf. Die Anwesenheit seines Managers war ihm ebenso unangenehm wie die jedes anderen Menschen, der ihm in diesem Zustand zu nah kam. Er wollte Ruhe, mehr nicht.

Steve nahm Zacharias die Schlüsselkarte aus der Hand und ließ sich ein, schleppend eine Verabschiedung murmelnd. Als sich die Tür des gediegen eingerichteten Zimmers hinter ihm schloss, war ihm, als würde er in eine andere Welt gestoßen werden. An einen ruhigen Ort, der nur von den Straßenlaternen vor dem Haus schattenhaft ausgeleuchtet wurde. Keine Stimmen. Keine Fans. Keine geschäftigen Veranstalter, Presseleute, Bandmitglieder, Caterer, Techniker. Niemand. Nur er und das mit senfgelben Laken versehene Doppelbett, das ihm wie die Pforte zum Himmel erschien.

Hatte er sich von Zacharias verabschiedet? Er war sich nicht sicher.

Erschöpft streifte Steve die Schuhe ab und taumelte vorwärts. Im Vorbeigehen riss er das Telefon von der Anrichte und blickte verwirrt hinter sich, als es mit einem ächzenden Geräusch zu Boden ging. Abwesend begutachtete er den Schaden, bevor er sich rücklings aufs Bett fallen ließ.

Mit einer letzten Kraftanstrengung kroch Steve zum Kopfende, zerrte die Decke über sich und rollte sich auf die Seite. Die Berührung seines müden Schädels mit dem frisch duftenden Kissen war ein Hochgenuss. Er selbst roch nach dem Schweiß eines harten Broterwerbs, nach dem Parfüm fremder Menschen, nach Wodka und der Tomatensoße, die beim Essen auf seinem T-Shirt gelandet war. Er war zu müde, um sich auszuziehen, und zu betrunken, um sich darum zu scheren.

Als er einschlief, wurde aus Steve Simon, dem internationalen Chartstürmer, wieder Steffen. Und Steffen war in den kurzen Nächten auf Tour trotz der vielen Menschen, die sein Bühnen-Ich umgaben, ziemlich einsam.

 

 


4

 

»Nicht die Vollkommenen, die Unvollkommenen brauchen unsere Liebe.«

 

Oscar Wilde

 

 

»Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, aber die ständigen Vorwürfe zermürben mich. Er hat Stein und Bein geschworen, dass ich ihm seine Brieftasche geklaut habe. Er war doch früher nicht so«, weinte Corinna Mertens ihrem Sohn durchs Telefon ins Ohr.

Alex' Miene war betroffen, aber seine Stimme ruhig, als er erwiderte: »Du weißt, dass er es nicht böse meint. Es ist die Krankheit, die ihn Unsinn reden lässt. Das ist uns doch erklärt worden. Und du weißt darüber besser Bescheid als wir alle zusammen.«

»Ja, natürlich. Aber es... es tut weh. Er ist doch mein Vater! Und jetzt erkennt er mich nicht einmal mehr. Ich sehe, wie er verfällt, und ich kann nichts tun, um ihm zu helfen.«

Ein Taschenbuch – Albert Camus' Die Pest – lag aufgeschlagen auf seinem Bauch. Alex hatte es sich auf dem Sofa seines engen, aber gerade dadurch gemütlichen Wohnzimmers bequem gemacht. Seine nackten Zehen spielten mit dem champagnerfarbenen Bezug der Lehne, während er seiner Mutter mit geschlossenen Augen lauschte. Er konnte ihr Leid fast mit Händen greifen.

Sein Großvater war an Alzheimer erkrankt. Vor rund sechs Monaten hatte er das Stadium erreicht, in dem er sich nicht mehr allein versorgen konnte und es professionelle Hilfe brauchte, um mit den Auswirkungen der degenerativen Krankheit fertigzuwerden. Die Entscheidung für das Altersheim war der Familie schwergefallen. Die Gewissheit, dass man dem Vater und Großvater nicht helfen konnte, dass keine Operation, kein Medikament den Verfall langfristig zu stoppen vermochte, war zermürbend.

Sie sahen dabei zu, wie sein Geist mit jedem Tag ein bisschen mehr starb. Er verschwand vor ihren Augen und sie konnten ihn nicht halten.

»Hör mal, Corinna, mach dir einen schönen Tag. Fahr mit Karl an die Küste, spazieren gehen oder so. Dass du mal auf andere Gedanken kommst. Wir können nichts tun, aber Opa würde nicht wollen, dass du dich deswegen hängen lässt. Wirklich nicht.«

Alex sprach seine Eltern meistens mit ihren Vornamen an. Mutter und Vater fand er als Anrede grauenhaft. Für Mama und Papa fühlte er sich zu alt und sie Mom und Dad zu nennen, war auch nicht besser. Sein Vater hatte sich anfangs schwer getan, sich daran zu gewöhnen – Veränderungen waren nicht seine Stärke –, aber mittlerweile kam er gut damit zurecht.

Ein Schniefen in der Leitung gab Alex zu verstehen, dass er nicht die richtigen Worte gefunden hatte. »Du sprichst von ihm, als wäre er schon tot.«

»So war es nicht gemeint.«

»Ich weiß, aber... ach du, ich glaube, ich höre mal auf, dir die Ohren vollzuheulen. Du hast an deinem Samstag sicher Besseres zu tun.«

»Hey«, wollte er Corinna unterbrechen, doch da hatte sie sich schon verabschiedet. Er konnte hören, dass sie den Hörer vom Kopf löste, noch während sie sprach. Ihre Stimme entfernte sich.

Missmutig warf Alex das Telefon auf den nah stehenden Sessel. Seine Mutter hatte die Unart, Gespräche abrupt zu beenden, wenn sie sich nicht gut aufgehoben fühlte. Dann wechselte sie innerhalb kürzester Zeit von Ich muss dringend mit jemandem reden zu Ich will dir nicht deine Zeit stehlen. Und hinterließ dabei unbeabsichtigt ein schlechtes Gewissen bei ihren Mitmenschen.

Alex wusste nicht, wie er ihr die Erkrankung seines Großvaters erträglicher gestalten sollte. Er konnte ihr keine Hoffnungen machen, weil es keine Hoffnung gab. Es stand nicht zur Debatte, dass sein Großvater sich mit Ende siebzig – oder überhaupt – davon erholen würde. Die Frage war lediglich, wann er dem Verfall seines Gehirns erlag.

Es hatte auch keinen Sinn, Corinna etwas vorzumachen. Als Arzthelferin wusste sie besser um die Krankheit und ihre Symptome als Alex. Aber das änderte nichts daran, dass es wehtat.

Es war eine Sache, wenn jemand sagte, dass sie sich auf Wutanfälle und Beschuldigungen einstellen mussten. Es zu erleben, war eine andere Geschichte. Es kostete Nerven und machte einem sogar Angst.

Corinna hätte gut daran getan, jemand anderen anzurufen, um sich auszuweinen. Zurzeit war Alex dünnhäutig – und das machte ihn unsensibel. Er brauchte das Wochenende, um zu entspannen. Das war der Grund, warum er an einem Samstagnachmittag mit verlockendem Wetter wie eine faule Robbe auf dem Sofa lümmelte und seinen Dreitagebart pflegte, statt draußen unterwegs zu sein.

Er war müde. Auf der Arbeit gab es Engpässe, in der Familie Durcheinander – zum Beispiel bei seiner älteren Schwester Susanne – und auch Thomas spukte ihm durch den Kopf. Vier gemeinsame Jahre vergaß man nicht so einfach. Mittlerweile wollte Alex nur noch in Frieden gelassen werden. Er hatte sich entschieden. Auch, wenn sein Exfreund an ihrer toten Beziehung festhielt wie an einem sinkenden Aktienkurs, dem ein baldiger Aufschwung prophezeit wurde.

Gott, wie er Thomas' herrische Ader inzwischen hasste. Nur weil Thomas deutlich älter war als er, hatte er kein Recht, ihn in die Hausfrauenrolle zu drängen.

Denn Alex war alles, aber kein Mädchen. Nichts an ihm war feminin. Nicht seine Art zu sprechen oder sich zu kleiden, nicht sein Denken, nicht sein Fühlen. Und sein Äußeres schon gar nicht. Es sei denn, gepflegte 1,85 Meter Körpergröße, muskulöse Oberarme und ein ordentlich getrimmter Goatee, der je nach Laune Gesellschaft von Stoppeln auf den Wangen bekam, waren neuerdings weibliche Merkmale.

Alex war kein Bodybuilder, kein aus dem Stein gemeißelter Adonis, aber trotzdem ein normaler Kerl. Nichts anderes konnte und wollte er sein. Weder entsprach er dem gängigen Klischee des femininen Schwulen noch war er ein niedliches Boytoy. Er war ein Mann, der zufälligerweise andere Männer liebte. Wer keinen Radar dafür hatte, bemerkte nicht einmal, dass er schwul war. Schon zu oft hatte er den Spruch gehört: »Wirklich? Du siehst gar nicht danach aus.«

Er hasste Bemerkungen dieser Art. Nicht alle homosexuellen Männer waren schillernde Paradiesvögel oder androgyne Kreaturen, bei denen man das Geschlecht erst bestimmen konnte, wenn die Hose unten war. Alex hatte weder gegen die eine noch die andere Art etwas einzuwenden. Er war nur nicht so. Und er wollte von seinem Partner nicht so wahrgenommen werden.

Unwirsch schob Alex die unerfreulichen Gedankengänge beiseite und wandte sich wieder seinem Buch zu; ein Klassiker, aber nicht zwingend erheiternde Lektüre, wie der Titel ahnen ließ.

Nach drei Seiten wurden ihm die Lider schwer. Blind angelte er nach dem Kaffeebecher auf dem Beistelltisch. Daraus zu trinken, bereute er. Kalt. Pfui Teufel.

Thomas liebte kalten Kaffee. Er ließ ihn absichtlich stehen, bevor er ihn mit Unmengen Zucker süßte und mit sichtlichem Genuss trank.

Oh, gut gemacht, dachte Alex spöttisch. Ganze hundertzwanzig Sekunden lang hatte er es geschafft, nicht an Thomas zu denken. Ein neuer Rekord. Und schuld war die verteufelt leere Wohnung.

Alex gestand sich nicht einmal selbst gern ein, dass er anscheinend ein Beziehungsmensch war. Einen festen Partner an seiner Seite zu haben, empfand er als erfüllend. Hätte man ihm das mit achtzehn gesagt, hätte er sich vor Lachen über den Boden gerollt. Aber mit dem Alter kam die Weisheit – und so sehr er spontane Abenteuer liebte, umso verlockender erschien ihm die Vorstellung, sie mit jemandem zu teilen.

Auch das war etwas, was zwischen Thomas und ihm nie funktioniert hatte. Thomas hatte auf Exklusivrechte bestanden. Alex hingegen fand die Vorstellung, seinem Lebensgefährten dabei zuzusehen, wie er mit einem anderen Mann schlief, unwahrscheinlich erregend. Oder sich erzählen zu lassen, was Thomas nachts getrieben hatte, wenn er auf Geschäftsreise war. Oder von Zeit zu Zeit einen dritten Mann mit nach Hause zu bringen. Alles im gegenseitigen Einvernehmen selbstverständlich.

Abenteuer? Jederzeit. Aber hinterher mit dem eigenen Gefährten ins Bett fallen und mit ihm teilen, was kein anderer haben durfte, das war Alex' Vorstellung vom Garten Eden. Fragte sich nur, woher er den passenden Mann dafür bekam.

Die Pest konnte ihn nicht fesseln. Die Müdigkeit kam schleichend. In dem Gefühl, dass er guten Gewissens faul sein konnte, ließ er zu, dass seine Gedanken in den süßen Zustand des Schwebens glitten, der später im Schlaf zum Traum heranwuchs.

Er hatte sich gerade in eine Kneipe fantasiert, die ihm in jungen Jahren manch aufregenden Fang beschert hatte, als stürmisches Klingeln an der Tür ihn hochfahren ließ. Alex' Körper erschrak, bevor sein Geist Zeit hatte, das Geräusch zu analysieren. Sein Puls schnellte nach oben, als er sich ruckartig aufsetzte und sich für eine Sekunde fragte, warum ihn weder eine schummrige Beleuchtung noch der dumpfe Sound einer restaurierten Jukebox umgaben.

»Verdammte...«, fluchte er halblaut, als die viel zu laut eingestellte Schelle erneut ansprang. Kurz, kurz, lang, kurz, sehr lang.

Oh nein. Er wusste, wer auf diese Weise klingelte. Alex war versucht, sich das Sofakissen über das Gesicht zu ziehen. In diesem Moment schien ihm die Vorstellung, sich kindlich die Finger in die Ohren zu stecken und dabei zu summen, ausgesprochen verführerisch.

Aber er kannte Thomas. Er hatte Alex' Wagen unten gesehen, er wusste also, dass er zu Hause war, und er würde klingeln, bis die Nachbarn Amok liefen.

Fluchend rappelte Alex sich auf. Während er auf Socken in den geräumigen Flur rutschte, bedachte er Thomas mit kreativen Titeln wie Seuchenvogel, Kackspecht und Igelarsch.

Hatte er sich gestern so undeutlich ausgedrückt? Was war an Sieh es endlich ein, wir sind seit Wochen getrennt, bitte lass mich in Ruhe, ich liebe dich nicht mehr nicht zu verstehen? Alex hatte es selbst in der Seele wehgetan, so deutlich zu werden. Aber anscheinend verstand Thomas keine andere Sprache – offensichtlich nicht einmal diese.

Was lernte man daraus? Hartnäckigkeit konnte sexy sein, aber Ausnahmen bestätigten die Regel.

Als Thomas eilig die Treppen nach oben gehetzt kam, stand Alex in der Wohnungstür und trommelte mit den Fingern auf den Rahmen. In der Art, wie er sich aufbaute, war zu erkennen, dass er seinen Ex nicht in seiner Wohnung haben wollte.

»Sag mal«, begann er, als der ungebetene Gast seine Etage erreichte, »sollen wir zum Tätowierer fahren?«

»Was sollten wir da wollen?«, fragte Thomas zurück. Unter seiner künstlich wirkenden Sonnenbräune war er fahler als früher.

»Ich dachte, du möchtest es vielleicht auf der Stirn stehen haben, dass ich nicht mehr mit dir sprechen und dich auch nicht mehr sehen will. Vielleicht begreifst du es, wenn du es jeden Morgen im Spiegel lesen kannst. Herrgott, ich dachte, wir hätten gestern alles geklärt!«

»Können wir das bitte wie Erwachsene besprechen? Will heißen: drinnen?«

»Nein, können wir nicht.« Alex spürte, wie ihm der Kamm schwoll. »Es gibt nichts mehr zu besprechen.«

»Für mich schon.«

Und damit hatte er ihn. Mit diesen Worten und dem vage verzweifelten Blick, der besagte: »Ich bin ein gestandener Mann und ich werde dir keine Szene machen. Aber innerlich schreie und heule ich und klammere mich an dir fest.«

Alex konnte nicht drüber hinweggehen, wenn Thomas ihn so ansah. Denn dann war er zu sehr sein Thomas, der Mann, in den er sich vor einigen Jahren trotz des nicht zu verachtenden Altersunterschieds von elf Jahren verliebt hatte. Der Mann, mit dem er zusammen unter einem Dach gelebt und mit dem er ein Bett geteilt hatte. Der Mann, mit dem er eine Weile sehr glücklich gewesen war.

Geschlagen senkte Alex den Kopf und trat zur Seite. »Ein letztes Mal«, sagte er zu Thomas und gleichzeitig zu sich selbst.

Ein letztes Mal konnten sie diskutieren, streiten, argumentieren und überlegen, was schiefgegangen war. Denn darauf lief es für Alex hinaus, während der Mann, der zielstrebig in sein Wohnzimmer marschierte, anderes im Sinn hatte und auf eine Versöhnung hoffte.

Widerstrebend folgte er Thomas, der sich treffsicher auf den Fleck der Couch setzte, auf dem Alex' Rücken zuvor gelegen hatte. Sicherlich konnte er seine Körperwärme spüren.

Einladend deutete Thomas auf die freie Sitzfläche neben ihm.

Alex verneinte stumm und lehnte sich gegen den Sessel. Es war besser, Thomas nicht zu nahe zu kommen. Denn egal, was zwischen ihnen vorgefallen war, egal, wie heftig sie gestritten hatten und wie eingepfercht sich Alex am Ende gefühlt hatte, die körperliche Anziehung war noch vorhanden.

Thomas war ein verflucht gut aussehender Mann. Sein gebräunter Teint lenkte die Aufmerksamkeit des Betrachters auf seine hellen Augen und die grau melierten Schläfen unter fast schwarzen, sorgfältig frisierten Haaren. Alex konnte nicht seine Lippen ansehen, ohne daran zu denken, welche Wunder Thomas damit vollbringen konnte. Er war immer noch schlank und verbarg unter seiner Banker-Kleidung einen bildschön modellierten Bauch. Allerdings wussten die wenigsten, dass es Thomas in den letzten zwei Jahren schwerfiel, diese Form durch fleißiges Training zu erhalten. Häuslichkeit in Gestalt von gutem Essen und Pizzaschlachten hatte eben auch ihre Nachteile.

»Ich habe nachgedacht«, störte Thomas Alex' eine Spur zu versonnene Betrachtung seines Äußeren. »Über das, was du gestern gesagt hast.«

»Was davon?«

gestattest

»Am Altersunterschied?«, unterbrach Thomas ihn hart. Das Alter war sein wunder Punkt – und das Schlimmste war, dass die elf Jahre zwischen ihnen vielleicht wirklich die Ursache aller Probleme waren. Alex hatte das Gefühl, dass viel von Thomas' Bemühen, ihn nicht gehen zu lassen, mit einer Mischung aus Torschlusspanik und Midlife-Crisis zu tun hatte. Aber das konnte er ihm ja schlecht sagen. Nicht, wenn er keinen stundenlangen Streit vom Zaun brechen wollte.

»Das hatten wir doch alles schon. Wie oft willst du noch hören, dass ich von Anfang an wusste, dass du älter bist und dass es mir nichts ausgemacht hat?«, murmelte Alex. Die zwei Flecken an der Decke, wo sein Vormieter anscheinend Fliegen zerquetscht hatte, erschienen ihm ungemein faszinierend.

Thomas gab ein unartikuliertes Geräusch von sich, bevor er polterte: »Verdammt noch mal, Alex, schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede und...«

»Das!«, war es nun an Alex, seinen Exfreund zu unterbrechen. Wütend fuhr er hoch und deutete mit dem Finger auf Thomas. »Genau das meine ich. Du reitest dauernd auf deinem Alter herum – und siehst gleichzeitig nicht ein, dass du es bist, der sich alt macht. Du bist es, der mich dauernd wie ein Kind behandelt. Mal im Klartext: Ich schaue hin, wo ich will. Und wenn ich beim Autofahren meine Turnschuhe inspiziere, geht dich das immer noch nichts an. Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«

»Dein Lebensgefährte!«

»Nein, eben nicht«, rief Alex. »Bist du nicht mehr. Wir sind nicht mehr zusammen. Ich habe mit dir Schluss gemacht und es ist Zeit, dass du das endlich akzeptierst.«

»Das werde ich nicht«, brüllte Thomas. Er riss den Mund so weit auf, dass man das Inlay in einem seiner Backenzähne sehen konnte. »Ich weigere mich, das alles aufzugeben.«

Alex ließ sich davon nicht beeindrucken. »Du hast aber keine Wahl. Was du machst, ist deine Sache. Aber ich sage dir, dass es vorbei ist. Punkt. Und jetzt lass mich endlich allein. Ich habe eine superstressige Woche hinter mir. Also verschwinde, okay?«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah es aus, als würde Thomas sich weigern. In seinem charismatischen Gesicht arbeitete es, bis er aufgebracht den Platz auf dem Sofa räumte und aus dem Wohnzimmer verschwand.

Nicht viel später flog scheppernd die Wohnungstür ins Schloss. Alex konnte die Schuhe in ihrem Gestell im Flur hüpfen hören. Erschöpft vergrub er das Gesicht in den Händen und strich sich die Haare aus der Stirn.

Thomas vs. Alex, Klappe 142. Schnitt. Immer wieder schmerzlich, immer wieder zu emotional. Es tat ihm selbst weh, Thomas zu verletzen. Aber er sah keinen anderen Ausweg. Alex war elend zumute. Gut, dass er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte.