Rohrbach, Carmen Die Neugier ist mein Kompass

PIPER

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97360-1

September 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Umschlaggestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Umschlag- und Innenteilfotos: Carmen Rohrbach

Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.A.

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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VORWORT

Seit vier Jahrzehnten widme ich mein Leben dem Reisen und Schreiben und habe dabei die unterschiedlichsten Landschaften kennengelernt: Wüsten, Gebirge, Vulkane, Flüsse. Es sind die wilden Gegenden, die mich anziehen. Gebiete, die von uns Menschen nicht oder kaum verändert wurden. In dieser eigentlich lebensfeindlichen Umwelt fühle ich mich sicher und geborgen. Die Einsamkeit in der Natur ist für mich beglückend, sie erfüllt mich mit Freude und bereichert mein Dasein. Umso schöner dann der Kontrast, wenn ich wieder auf Menschen treffe, die mich Anteil an ihrem Leben nehmen lassen. Während der Natur meine Liebe gehört, faszinieren mich die Begegnungen mit Menschen, sei es auf dem Land oder in der Stadt.

Dieses Reiseleben habe ich mir nicht ausgesucht, ich wurde wohl einfach mit dem Abenteuer-Gen geboren. Kaum konnte ich die ersten selbstständigen Schritte machen, nahm ich diese geheimnisvolle Linie zwischen Himmel und Erde wahr. Ich wusste nicht, dass man sie Horizont nennt – aber dorthin wollte ich, wollte sehen, was sich dahinter verbirgt. Diese Neugier, verbunden mit Mut und Abenteuerlust, scheint mir also angeboren. Doch nie wollte ich reisen nur um des Reisens willen, sondern stets mit einem Auftrag, einer Zielsetzung, um zu entdecken, zu beobachten, zu beschreiben und die Erlebnisse an andere Menschen weiterzugeben. Reisen und dabei Neues erkunden ist für mich eine Leidenschaft und als Autorin mein Beruf geworden.

Mit meinen Geschichten möchte ich bewusst machen, wie wunderbar unsere Erde ist, wie vielfältig, schön und voller Überraschungen. Sie ist es wert, erhalten und beschützt zu werden. Einige meiner Touren liegen länger zurück, andere habe ich erst vor Kurzem durchgeführt. Über manche meiner Erlebnisse habe ich bereits berichtet, doch der Großteil blieb bisher undokumentiert.

Meine abenteuerlichen Reisen unternehme ich stets allein und meist zu Fuß, ab und zu in Begleitung von Esel, Pferd oder Kamel. Alles ist mir bei meinen Wanderungen gleich wichtig, die Blumen und Gräser am Wegesrand, die Gesteine und Tiere, die Menschen und ihr traditionelles Leben; erzählenswert ist aber auch, welche geschichtlichen Ereignisse sich einst abgespielt haben. Über die Gegenwart hinaus fasziniert mich die Vergangenheit.

Auf meinen frühesten Unternehmungen konnte ich noch von Menschen unbeeinflusste Wildnis erleben, die uns inzwischen mehr und mehr verloren geht. Doch immer wieder erlebe ich auch, dass sie dort zurückkehrt, wo wir Menschen uns zurückziehen und der Natur Raum geben. Allerdings nicht so wie vor der Zerstörung, denn eine ausgestorbene Tier- oder Pflanzenart kann nicht wieder aus dem Nichts entstehen. Dafür entwickelt sich etwas anderes, Neues, und dies zu entdecken und zu bewahren, könnte eine unserer Aufgaben sein.

Die Geschichten sind nicht chronologisch, sondern nach Landschaftsformen geordnet. Jeder Erzählung habe ich eine Erläuterung vorangestellt, wann die Reise stattfand und warum ich dieses Gebiet auswählte. Am Ende des Buches folgt ein Anhang mit Informationen zu den einzelnen Reisen, zu Land und Leuten und mit Kommentaren, wie sich die Lage in den besuchten Gebieten heute darstellt.

WEGE

PHILIPPINEN

Der weite Weg nach El Nido

Der Anlass meiner Philippinenreise im Jahr 1984 war ein Dokumentarfilm, der auf Palawan gedreht werden sollte. Wir waren ein kleines Team von nur drei Personen und suchten den Kontakt zu Menschen, die zurückgezogen im Urwald unter steinzeitlichen Verhältnissen lebten. Als das Projekt abgeschlossen war, reiste ich allein weiter, um die Insel zu erkunden und die Bevölkerung kennenzulernen.

Palawan, eine der über 7000 Inseln der Philippinen, liegt lang gestreckt im Westen des Archipels. Die nördlichste Ortschaft El Nido sollte mein Ziel sein. Sie ist 250 Kilometer von der Inselhauptstadt Puerto Princesa entfernt, wo ich meine Wanderung begann.

»Where are you going?«, ruft plötzlich jemand.

Erschrocken zucke ich zusammen, aber niemand ist zu sehen. Hohe Maisstauden neben dem schmalen Pfad versperren mir die Sicht. Zögernd bleibe ich stehen. Da bewegt sich die Pflanzenmauer, und ein Mann tritt heraus. Er ist barfuß, in der Hand hält er eine Hacke. Ein rotes Stirnband bändigt seine langen Haare, das Hemd ist verschwitzt und staubig. Als ich ihm sage, dass ich nach El Nido gehe, schüttelt er staunend den Kopf. Höflich bittet er mich, sein Gast zu sein. Er meint, ich müsse mich ausruhen, weil ich einen so weiten Weg vor mir hätte.

Sein kleines Haus steht auf Stelzen, ist mit Palmwedeln bedeckt und hat Wände aus geflochtenen Matten. Innen begrüßt mich freundlich Clarita, die Frau von Tulduang, wie er sich mir vorgestellt hat. Auch sie beherrscht die englische Sprache. Vier Kinder schauen mich neugierig aus dunklen Augen an. Bald haben sie ihre Scheu verloren, probieren an mir ihr Schulenglisch aus und plaudern drauflos.

Tulduang ist mit seiner Familie erst vor zwei Jahren nach Palawan gekommen, zuvor lebten sie auf einer anderen philippinischen Insel.

»Dort war das Wetter furchtbar. Wirbelstürme haben immer wieder die Ernte vernichtet und unser Leben bedroht«, erzählt Clarita. Deshalb wollen sie sich hier eine neue Existenz aufbauen.

»Sechs Hektar Land habe ich schon gerodet«, berichtet Tulduang stolz.

Palawan ist die fünftgrößte Insel der Philippinen. 400 Kilometer lang, aber an keiner Stelle breiter als 40 Kilometer, liegt sie zwischen dem Südchinesischen Meer und der Sulusee, die zum Pazifik gehört. Ein Gebirge zieht sich wie ein Rückgrat längs durch die schmale Insel. Mit 2073 Meter ist der Mantalingajan der höchste Gipfel dieses Bergmassivs.

Palawan wurde erst spät dem philippinischen Hoheitsgebiet zugeordnet. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts regierten hier muslimische Sultane. Die Spanier hatten im 16. Jahrhundert die anderen philippinischen Inseln unterworfen, doch die Eroberung Palawans war ihnen nicht gelungen. Noch heute ist der islamische Einfluss im Süden der Insel spürbar. Immer wieder flammt Widerstand gegen die Regierung auf.

Palawan war lange Zeit ein ungestörtes Naturparadies, bis Zuwanderer aus übervölkerten Gebieten der Philippinen auf diese westliche Insel strömten. Als ich Palawan besuchte, wucherte noch unberührter Dschungel im Bergland, und auch an der Küste lebten nur wenige Menschen. Die Einwanderung von Neusiedlern, die für ihre Felder immer mehr Platz benötigen, hatte gerade erst begonnen. Mit Brandrodung verdrängten sie die ursprüngliche Vegetation, und später vollendete die Holzindustrie das Vernichtungswerk.

Als ich mich nach meiner Rast verabschieden will, wollen Clarita und Tulduang mich nicht gehen lassen. Das nächste Anwesen sei zu weit entfernt, vor der Dunkelheit könne ich es nicht erreichen. »Übernachte bei uns. Wir haben eine Schlafmatte für dich«, sagen sie.

Zum Abendessen gibt es Reis und gekochte Maniokwurzel, die auf den Philippinen cassava genannt wird. Zusammen mit den Eltern und Kindern hocke ich auf dem Holzboden, eine große Schüssel steht in der Mitte. Wir essen mit den Händen. Ein Glas mit Petroleum und einem Docht aus Pflanzenfasern spendet Licht. Als wir satt sind, kehrt Clarita die Essensreste durch die Lücken zwischen den Dielenbrettern. Lautes Grunzen ertönt. »Das sind unsere Schweine«, sagt sie lachend, als ich überrascht aufblicke, und ich erinnere mich, dass ich unter dem Pfahlbau eine schwarze Sau mit ihren Ferkeln gesehen hatte. Jetzt machen sie sich über die Reste unseres Mahls her.

Matten werden auf dem Boden ausgerollt, und ich lege mich inmitten der Familie zum Schlafen nieder. In der Nacht regnet es heftig. Tropfen fallen mir durchs Palmblätterdach mitten ins Gesicht. Im Dunkeln erkenne ich einen Schatten. Es ist Clarita, die geschickt innen an den Bambusstangen bis zum Dachfirst hochklettert und die Blätter zusammenzieht, sodass kein Regen mehr eindringen kann. Am nächsten Morgen besteht sie darauf, dass ich erst noch frühstücke. Sie kocht wieder Reis und freut sich über mein Abschiedsgeschenk, eine Tüte Bohnenkaffee sowie Kekse für die Kinder.

Reisfelder bedecken das Land so weit ich blicken kann. Wasserbüffel suhlen sich im Schlamm oder ziehen den Pflug durch morastigen Boden. Der Wasserbüffel oder carabao, wie er auf den Philippinen genannt wird, ist trotz seiner Furcht einflößenden Hörner und der imposanten Größe ein gutmütiges Tier. Ich sehe junge Mädchen auf Büffeln reiten, und es gehört zu den Aufgaben der Kinder, ihn nach der Arbeit zu seinem Wasserloch zu führen. Die Haut des Wasserbüffels ist empfindlich gegen Sonnenstrahlen, deswegen suhlt er sich gern in schlammigen Tümpeln und schützt seine Haut mit einer dicken Lehmschicht.

Schon nach weniger als einer Stunde, nachdem ich mich von meinen Gastgebern verabschiedet habe, erreiche ich wieder eine Siedlung aus Pfahlhäusern, dabei hatte Tulduang doch behauptet, weit und breit sei nur unbewohntes Land. Kinder haben mich entdeckt und laufen mir neugierig entgegen. Ich bin erstaunt, dass selbst die Kleinsten schon Englisch sprechen. »Meine Schwester geht in die Schule. Von ihr lerne ich Englisch«, erklärt ein vielleicht fünfjähriger Junge. Lächelnd kommt die Mutter hinzu. »Bitte, komm ins Haus. Ich rufe gleich meinen Mann, er pflügt gerade das Feld. Er wird sich freuen, dich kennenzulernen, denn bei uns kommt selten jemand vorbei.« Und schon beauftragt sie einen ihrer Söhne, den Vater zu holen.

Am Anfang meiner Wanderung glaube ich noch, diese freundlichen und liebenswürdigen Begegnungen seien eine Ausnahme, doch ähnliche Szenen wiederholen sich immer wieder. Ein Gefühl von Verlegenheit und Scham breitet sich in mir aus. Womit habe ich diese Herzlichkeit verdient?

Eines Morgens, als ich wieder durch eine Ortschaft komme, läutet gerade die Schulglocke. Kinder mit Ranzen auf dem Rücken, die Jungen mit blauen Hosen und weißen Hemden, die Mädchen in bunten Kleidern, schlendern mit fröhlichen Gesichtern lachend und scherzend zur Schule, was aber nicht bedeutet, dass sie das Lernen nicht ernst nehmen. Die Schule ist für sie wichtig, das scheint schon den Jüngsten bewusst zu sein. Von einer guten Schulbildung erhoffen sie sich ein besseres Leben, höre ich von Kindern und ihren Eltern. Selbst die ärmsten Familien bringen irgendwie das Geld auf, um ihren Nachwuchs möglichst auf höhere Schulen und Colleges zu schicken, wobei die Mädchen nicht benachteiligt werden. Wenn ihnen das Lernen Spaß macht, bekommen sie die gleiche Ausbildung wie die Jungen.

Als ich in der Fischersiedlung Abongan nach einer Unterkunft für die Nacht frage, schicken mich die Leute zum Barangay-Captain, wie der Dorfälteste hier heißt. Barangay ist die Bezeichnung für seetüchtige Auslegerboote, mit denen vor etwa 2000 Jahren malaiische Völker zu den Philippinen übersetzten. Die neuen Siedlungen benannten sie nach diesen Booten, und der Bootsführer wurde meist Anführer im Dorf. Erstaunlich, dass sich diese Bezeichnung über den langen Zeitraum bis heute erhalten hat.

Die Inseln waren damals schon bewohnt, denn während der Eiszeit gab es eine Landbrücke zum asiatischen Festland, sodass Menschen der Steinzeit leicht einwandern konnten. Später wich diese Urbevölkerung der Übermacht der Neuankömmlinge, zog sich in den unwegsamen Urwald der Berge zurück und ist heute durch Abholzung der Wälder besonders bedroht.

Der Dorfvorsteher bringt mich zum Haus seiner Schwester. Als am nächsten Tag im Dorf eine Hochzeit gefeiert wird, werde ich dazu eingeladen. Die junge Braut sieht aus wie eine Prinzessin. Sie trägt ein kostbares, mit Spitzen besetztes weißes Seidenkleid und einen hauchdünnen Schleier. Inmitten der einfachen ländlichen Umgebung wirkt diese teure Ausstattung unwirklich, eher wie eine Filmszene.

Der Hochzeitszug formiert sich. An der Spitze, allen voran, geht der Bräutigam in einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd, hinter ihm folgen in Zweierreihen die Verwandten. Am Ende kommt die Braut, neben ihr die Mutter. So ziehen sie durchs Dorf zu der kleinen, mit Palmblättern bedeckten Holzkirche. Das Paar wird von einem katholischen Pfarrer getraut. Er ist von Taytay, einer etwas größeren Ortschaft, mit dem Boot extra für die Hochzeit angereist.

Lange glaubten die Einheimischen an Naturgottheiten, bis sie von den Spaniern vor 400 Jahren unterworfen und missioniert wurden. Sie übernahmen den katholischen Glauben, und heute sind die Philippinen das einzige asiatische Land, in dem über 90 Prozent der Einwohner katholisch sind.

Nach der Trauung führt das junge Ehepaar die Gäste zum Dorfplatz, der mit Matten aus geflochtenen Palmblättern bedeckt ist. Das Paar nimmt auf Stühlen Platz und blickt hoheitsvoll in die Menge. Verwandte, Freunde und Bekannte treten einzeln heran, wünschen ihnen Glück und Segen und heften der Braut einen Geldschein ans Kleid. Bald ist sie über und über damit bedeckt.

Auf den Philippinen ist es Aufgabe der Frau, die Familie zu erhalten und zu bewahren, denn sie verwaltet das Familieneinkommen. Ein Relikt aus vorkolonialer Zeit, als es noch das Matriarchat gab. Damals hatten Frauen eine bevorzugte Stellung. Sie besaßen eigene Felder und Vieh, konnten Tausch betreiben und sogar einem Dorfverband vorstehen. Als Wahrsagerinnen und Heilerinnen nahmen sie eine hohe Stellung ein. Nach der Heirat zog der Mann an den Wohnort der Frau, und auch die Namensgebung der Kinder und das Erbrecht waren mütterrechtlich geregelt. Als die christliche Missionierung ab dem 16. Jahrhundert begann, verloren die Frauen fast alle ihre Rechte. Sie wurden entmündigt, auf die Hausfrauen- und Mutterrolle beschränkt und waren fortan den Männern untertan. Dennoch, trotz der jahrhundertelangen spanischen Herrschaft, blieben Reste früherer Normen erhalten. So ist es die Mutter und nicht, wie bei uns üblich, der Vater, die die Tochter zum Altar führt, und es ist die Braut, die die Geldgeschenke der Verwandtschaft erhält.

Auf Holzfeuern kochen riesige Töpfe mit Reis, fünf Schweine werden geschlachtet. Eine Dorfhochzeit ist teuer, alle müssen ihren Anteil bekommen. Keiner der 300 Einwohner darf übergangen werden, denn das würde lebenslange Feindschaft bedeuten.

Von Abongan sind es noch gut 50 Kilometer bis El Nido. Ich kann wählen, ob ich von hier mit einem Boot an der Küste entlangfahre oder quer durchs Land laufe. Man warnt mich, es sei ein einsamer, von Vegetation überwucherter Pfad und ich könnte mich leicht verirren. Ich müsse durch Wasser und Morast waten, zudem würden Krokodile in den Flüssen lauern. Aber gerade diese Schwierigkeiten fordern meine Abenteuerlust heraus. Das erste Mal in meinem Leben liegt vor mir ein Gebiet ursprünglicher Wildnis, nach der ich mich immer schon gesehnt habe. Ich will diese Erfahrung unbedingt machen.

Inzwischen hat der Monsun begonnen, und der Habágat, der Südwestwind, bläst jeden Tag dunkle Regenwolken heran. Es ist schwül und feucht, meine Kleidung trocknet kaum noch nach den täglichen Regengüssen. Der Pfad verwandelt sich in einen Bach, knietief wate ich durchs Wasser. Es wird immer mühsamer, voranzukommen. Aber das Wetter hat auch einen Vorteil, es ist weniger heiß, und die Moskitos können mich nicht piesacken. Der dichte Dschungel glänzt in seiner regennassen Schönheit. Die Blätter glitzern voll perlender Tropfen.

Dann erreiche ich den ersten Fluss, den ich durchqueren muss. Trübbraune Lehmfluten wälzen sich im Bett und überspülen bedrohlich das Ufer. Ob ich da durchkomme? Werden die Fluten mich nicht mitreißen? Vorsichtig taste ich mit den Füßen über den steinigen Grund. An der tiefsten Stelle reicht mir das Wasser bis zur Taille. Doch die Strömung ist nicht sehr stark. Gestützt auf einen Stock, den Rucksack auf dem Kopf balancierend, gelingt es mir, das andere Ufer zu erreichen. Dort atme ich erleichtert auf, bis mir einfällt, dass die Leute erzählten, in den Flüssen würden Krokodile leben. Mir fährt der Schreck in die Glieder. Schnell entferne ich mich vom Ufer. Nach etwa zwei Stunden liegt der nächste Fluss vor mir. Er ist wild und reißend. Mir ist klar, da komme ich nie und nimmer hindurch. Um in Ruhe überlegen zu können, packe ich den Proviant aus und koche mir eine Suppe. Gestärkt erkunde ich die Umgebung und entdecke einen kaum sichtbaren Pfad. Er führt am Fluss entlang durch alles überwuchernde Vegetation. Am Abend erreiche ich das Dorf Cataban, einsam mitten im Urwald gelegen. Ich hatte nicht erwartet, auf meinem Weg durch die Wildnis Menschen zu begegnen, denn auf meiner Karte war kein Dorf vermerkt. Der Dorfälteste schickt mich zu Cresilda Gonzales. Sie wohne allein und habe genug Platz, sagt er. Cresilda empfängt mich erfreut. Sie empfindet es als Auszeichnung, dass sie mich beherbergen darf. Sie ist 70 Jahre alt, doch ich hätte sie jünger geschätzt, denn ihr Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, ist noch rabenschwarz. In ihrem Gesicht mit den hohen Wangenknochen leuchten fröhliche Augen.

»Vor 20 Jahren kamen wir hierher. Wegen der Taifune mussten wir unsere Heimat auf einer anderen philippinischen Insel verlassen«, erzählt sie. »Damals war hier nichts als Urwald. Es war harte Arbeit, bis wir das Land für die Felder gerodet und die Häuser gebaut hatten, doch jetzt fühlen wir uns hier zu Hause.«

Wir sitzen zusammen auf dem Lattenboden ihres Häuschens, das, wie die anderen, auf Pfählen errichtet wurde, die beste Bauweise in dieser immer feuchten Umgebung.

Cresilda lebt allein. Schon seit vielen Jahren ist sie Witwe, und Kinder hat sie keine. Sie ist darüber traurig und empfindet ihre Kinderlosigkeit als Makel.

»Alle anderen Frauen im Dorf haben Nachwuchs«, klagt sie. »Nur mir hat Gott kein Glück geschenkt.« Als sie erfährt, dass auch ich keine Kinder habe, wirkt sie einen Moment erleichtert. Nun ist sie nicht mehr die einzige vom Schicksal geschlagene Frau. Doch gleich lächelt sie mir aufmunternd zu: »Du bist jung. Du kannst noch viele bekommen.«

Die Wege in der kleinen Ortschaft sind mit Gras bewachsen. Autos gibt es hier nicht, höchstens einmal einen von Wasserbüffeln gezogenen Karren. Die Dorfbewohner haben auch kein Fernsehen, keine Zeitung, keinen elektrischen Strom, aber sie sehen zufrieden aus. Es scheint, als würden sie nichts entbehren.

Am nächsten Tag bringt mich ein Nachbar Cresildas mit seinem Kahn ans andere Ufer des Flusses. Nebel liegt wie ein zarter Schleier über dem Bergwald. Ein Pfad führt weiter durch den Dschungel, doch dann lichtet sich das Dämmergrün, und ich erblicke die Weite des Meeres. Steil fallen schwarzgraue Klippen hinab in die tosende Brandung. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine wildere Küste gesehen zu haben. Beschwingt wandere ich oberhalb der Steilküste entlang, dann führt der Pfad mich wieder hinein in den Urwald. Dort kämpfe ich mich durch die tropfnasse Pflanzenwelt, eine Wildnis scheinbar ohne Tiere, nicht einmal Blutegel oder Moskitos machen sich bemerkbar. Ich verliere das Zeitgefühl, gehe und gehe. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit trete ich aus dem Wald. Vor mir breitet sich gerodetes Land aus, verbrannte Baumstümpfe ragen aus einem frisch angepflanzten Reisfeld.

Zuerst rieche ich es, das Meer, dann höre ich auch seinen Wellenschlag und weiß, ich habe mein Ziel erreicht. Umgeben von senkrechten Kalksteinfelsen liegt El Nido, spanisch für »Nest«, an einer flachen Meeresbucht. Vielleicht trägt der Ort wegen dieser geschützten Lage seinen Namen. Möglicherweise wurde die Siedlung aber auch nach den Vogelnestern benannt, die an den Felswänden kleben. Die Salanganen bauen ihre Nester aus Speichel, einem zähflüssigen Sekret, das sich an der Luft zu einer gummiartigen Masse verfestigt. Unter chinesischen Feinschmeckern gelten diese Nester als lukullische Spezialität, für die hohe Preise bezahlt werden. Deshalb riskieren manche Einwohner von El Nido immer wieder ihr Leben bei gefährlichen Klettertouren, um die Nester einzusammeln. Für die meisten aber ist das Meer die Existenzgrundlage. Wer kein Boot besitzt, fischt zu Fuß von der Küste aus. Das Netz wird in der flachen Bucht ausgeworfen und dann vom Strand aus eingeholt. Als ich neugierig zuschaue, werde ich von den Männern spontan aufgefordert, kräftig mitzuziehen. Groß ist der Fang nicht: ein paar Hornfische, ein Tintenfisch und sonstige Fischchen, klein wie Sardinen. Wieder und wieder wird das Netz ausgeworfen.

Am Abend sitze ich am Strand. Das gleichförmige Spiel der Wellen vermittelt den Eindruck von Ewigkeit. Ich nehme das friedliche Bild in mich auf. Die einfachen Hütten auf hohen Pfählen, umgeben von schlanken Palmen, im Hintergrund die bizarren dunklen Felsen. Freundliche Menschen sitzen im warmen Abendlicht plaudernd zusammen. Ein Mädchen in einem roten Kleid und mit flatternden schwarzen Haaren rennt vorbei, in der Hand schwenkt es einen silbern glänzenden Fisch. El Nido, im äußersten Winkel der kleinen Insel Palawan gelegen, wirkt auf mich, als wäre es unverändert immer so gewesen und als würde es immer so bleiben. Ein Leben in Gleichmaß und Zeitlosigkeit.

DEUTSCHLAND

Osterspaziergang in der Eifel

Im Jahr 1985 konnte ich es wieder einmal nicht erwarten, bis endlich der Frühling kam. Um das Warten unterhaltsamer zu gestalten, beschloss ich, dem Frühling entgegenzugehen. Die freien Tage zu Ostern kamen mir gerade recht. Mein Ziel war die Eifel. Als ehemaliges Vulkangebiet hat dieses Mittelgebirge eine spannende geologische Vergangenheit.

Über dem Bienenhaus trillern zitronengelbe Girlitze in den noch kahlen Baumkronen. Es ist Karfreitag am frühen Morgen. Die Luft duftet wie frische Wäsche.

Acht Tage will ich in der Eifel wandern. Gestern bin ich gestartet, bin mit dem Zug bis Koblenz und dann mit dem Bus nach Prüm gefahren. Bei meiner Ankunft am späten Nachmittag begrüßte mich Nieselregen. Tatendurstig trieb es mich dennoch hinaus in die Landschaft. Ich schulterte den Rucksack, schlüpfte unter den Regenponcho und schritt drauflos. Das leichte Tröpfeln verwandelte sich bald in einen heftigen Landregen, der Boden weichte auf, und die Wiesen wurden zu Seen. Die Abenddämmerung senkte sich über das Land, und ich hatte noch immer keinen trockenen Platz für mein Zelt gefunden. Im Dörfchen mit dem seltsamen Namen »Tafel« war kein Mensch auf den regennassen Straßen zu sehen, vergeblich suchte ich nach einem Gasthaus zum Übernachten. Es blieb mir nichts anderes übrig, als weiterzuwandern. Es regnete noch immer, als ich am Waldrand ein winziges Holzhäuschen entdeckte. Die Tür ließ sich öffnen. Innen reihten sich Bienenkästen aneinander. Vorsichtig legte ich mein Ohr an die Kästen. Stille, kein Laut, kein Summen. Dabei schlafen Bienen im Winter nicht, sondern regulieren durch Flügelschlagen die Temperatur im Kasten, ernähren sich vom gesammelten Vorrat und warten auf den Frühling.

Im Raum war es trocken und warm. Auf dem schmalen Gang zwischen den Kästen breitete ich Matte und Schlafsack aus. Ich war mir sicher, dass keine Biene und kein Imker und auch sonst niemand mich in dieser regnerischen Nacht stören würde. Und so schlief ich tief und fest.

Als das Morgenlicht durch ein Fensterchen scheint, wache ich auf. In Minutenschnelle packe ich meinen Rucksack, blicke mich noch einmal im Raum um. Keine Spur bleibt zurück, niemand wird feststellen können, dass mir das Bienenhaus für eine Nacht als Notquartier gedient hat. Sorgfältig schließe ich die Tür hinter mir.

Das Trillern der Girlitze aus den hohen Baumkronen begleitet meine Schritte. Ab und zu lugt die Sonne durch ein Wolkenfenster, und die Regenpfützen versickern langsam im Boden.

Der Wanderweg führt mich entlang einer Pappelallee nach Niedermehlen, das in einer von Wäldern umgebenen Talmulde liegt. Ein dünnes Bächlein, der Mehlenbach, plätschert durch den Talgrund. Eine Singdrossel schmettert ihre Strophen, sonst herrscht Feiertagsruhe. Inmitten geduckter Bauernhäuser hat sich jemand eine Villa mit viel Glas und herrschaftlichem Säuleneingang bauen lassen. Das protzige Haus wirkt fremd und störend in der bäuerlichen Umgebung.

Hinter dem Dorf führt der Wanderpfad eine Anhöhe hinauf. Oben erwartet mich eine Überraschung: Ein Wald aus Wacholderbäumen bedeckt die Hochfläche, ein Märchenwald! Die vom Wind zerzausten Bäume ähneln Tierfiguren, geduckte Wacholderbüsche sehen aus wie Hutzelweibchen, dazwischen umgestürzte uralte Stämme mit aufgeplatzter Rinde und von Moosen bewachsen. Dann wieder Bäume, die schmal und dünn wie Fontänen in den Himmel ragen.

Wacholder gehört als Zypressengewächs eigentlich zur mediterranen Flora, kann aber in klimatisch günstigen Gebieten auf trockenen Böden auch in Deutschland gedeihen, wobei der Baum äußerst langsam wächst. 50 Jahre kann es dauern, bis ein Stamm armdick geworden ist. Früher war die trockene und nährstoffarme Eifel vielerorts mit Wacholder und Heidekraut bewachsen. Schafhaltung begünstigte diese Pflanzen, denn die Tiere fraßen die ausgekeimten Laubbäume, die sonst dem langsam wachsenden Wacholder das Licht genommen hätten. Heute gibt es hier kaum noch Schafhaltung, Laubbäume überwucherten mit der Zeit den Wacholder, und Fichten wurden angepflanzt. Der Wacholderwald bei Niedermehlen würde nicht mehr existieren, wäre er nicht unter Schutz gestellt worden. Naturschutzmitarbeiter entfernen ständig Laubbäume, deren Samen vom Wind herangeweht wurden. Das hier ist also kein natürlicher Wald, sondern ein Biotop aus Menschenhand, doch vermittelt er mir eine Vorstellung von der melancholischen Schönheit der früheren Wacholder-Heidelandschaft der Eifel.

Als ich durch den sich anschließenden Hochwald mit säulenartigen Fichtenstämmen wandere, brechen Sonnenstrahlen durchs Geäst und zaubern Lichtbahnen in den düsteren Wald. Ringeltauben balzen. Wie lautes Händeklatschen klingt es, wenn sie aufsteigen und die Flügel zusammenschlagen. Tannenmeisen zwitschern mit ihren feinen Stimmen in den Wipfeln. Buchfinken und Rotkehlchen werben mit ihrem Gesang um Weibchen und zeigen den Rivalen an, dass dieser Platz bereits besetzt ist.

Der nächste Ort trägt den ungewöhnlichen Namen »Sellerich«. Ich begegne weder Mensch noch Tier, als wären alle Einwohner samt ihren Haustieren im Osterurlaub.

In der Ferne erblicke ich mein nächstes Ziel, einen blauschwarzen Höhenzug. Es ist die Schnee-Eifel, auch Schneifel genannt, mit dem 697 Meter hohen Schwarzen Mann, der höchsten Erhebung der Eifel. Ehemals gab es in dieser düsteren, geheimnisvollen Gegend ausgedehnte Hochmoore, um die sich zahlreiche Sagen und Legenden ranken. Doch im 19. Jahrhundert wurde die ursprüngliche Landschaft durch den Aufforstungseifer preußischer Forstwissenschaftler vernichtet. Mit der Parole: »Pflanzt Fichten – sie sind der zukünftige Reichtum!« wurden Moore entwässert und die Bäume in Reih und Glied gesetzt.

Der Wanderweg über den Kamm der Schnee-Eifel führt durch Wald und an Feldern vorbei, ohne Ortschaften zu berühren. Je länger ich unterwegs bin, umso wacher und aufnahmefähiger werden meine Sinne. Schritt für Schritt nehme ich die Umwelt deutlicher wahr. In einer Feldfurche entdecke ich einen Hasen. Tief duckt er sich auf den Boden, verharrt bewegungslos. Die langen Löffel schmiegen sich an das erdbraune Fell, und ohne zu zwinkern beobachtet er mich mit seinen runden Hasenaugen. Vorsichtig schleiche ich mich vorbei, damit er nicht aufspringen und flüchten muss.

Während die Dörfer, durch die ich wandere, wie verlassen wirken, sind Wiesen, Felder und Wälder voller Leben. Goldammern picken am Waldrand nach Nahrung, und das helle Lachen eines Grünspechtes hallt herüber. An den Haselsträuchern und den Weiden blühen silbern die Kätzchen, und der Seidelbast leuchtet lilaflammend. Die Stämme einiger Bäume sind dicht mit Flechten umrankt. Als ich genau hinschaue, entdecke ich winzige Fruchtkörper, die wie hellgrüne Trompetchen aus den Flechten herausragen. Die Rinde eines Baumes ist mit Schleimpilzen bedeckt. Sie haben eine ungewöhnliche Farbe, sind leuchtend orange. Es riecht nach Pilzen, nach feuchter Erde und moderndem Laub.

Graue Regenwolken hängen am nächsten Morgen über den Hügelkuppen, und es tröpfelt so gleichmäßig, als wolle es lange nicht aufhören. Der Regen ist warm und weich. Auch Regenwetter kann schön sein. Die Farben der Landschaft zerfließen wie bei einem Aquarell, und Geräusche dringen nur gedämpft durch den sanft rinnenden Wasservorhang.

Mittags suche ich Zuflucht auf einem Hochsitz, unter dessen Dach ich im Trockenen meinen Proviant auspacken und essen kann. Von hoch oben blicke ich auf einen Kahlschlag, der mit Jungfichten bepflanzt ist, aber noch genug Licht und Lebensraum bietet für Ginster, Heidekraut, Weidenröschen und Fingerhut. Dort, wo wieder der Wald beginnt, wachsen mannshohe Adlerfarne.

Im strömenden Regen gehe ich weiter und freue mich über die vielfältige Landschaft: Wälder, Wiesen und Äcker erstrecken sich sanft gewellt bis zum Horizont. Darin eingebettet erspähe ich die Dächer von Neuenstein. Ich weiche vom Wanderweg ab, will auf die Ortschaft zugehen und stehe plötzlich vor einer tiefen Kluft. Am steilen Abhang rutsche ich auf den feuchten vorjährigen Buchenblättern aus und lande unsanft im Talgrund neben einem Bach, den ich durchwaten muss. Das Wasser ist kälter, als ich erwartet hatte. Auf der anderen Seite geht es ebenso steil wieder hinauf. Dann folge ich einem Pfad, der zur Ortschaft führt. Auch Neuenstein wirkt wie verlassen, nur ein kläffender Schäferhund begleitet mich durchs Dorf.

Weiter wandere ich durch Wälder und Felder. Es beginnt zu dämmern, und ich schaue mich nach einem geeigneten Platz für mein Zelt um. Es regnet noch immer, der Boden ist mit Wasser vollgesogen, doch ich habe Glück. Für müde Wanderer ist im Wald ein überdeckter Rastplatz angelegt worden, gerade groß genug, dass ich zwischen den Sitzbänken mein Zelt im Trockenen aufstellen kann. Im Schlafsack liegend, schaue ich nach draußen. Das langsam schwindende Licht zaubert warme Farbtönungen hervor. Die Kronen der noch blätterlosen Buchen leuchten rosenholzfarben, die Zweige der Sträucher glänzen rostbraun, und der feuchte Erdboden schimmert hellbraun. Im Vordergrund des braun getönten Bildes murmelt ein Wiesenbach. Er ist von Büschen umrahmt, an denen perlende Regentropfen glitzern. Märchenhaft verwunschen erscheint mir die Natur. Vor dem Einschlafen denke ich darüber nach, wie eigenartig es doch ist, durch eine bewohnte Landschaft zu wandern und niemandem zu begegnen, als lägen die Menschen in tiefem Dornröschenschlaf. Na klar, wer wandert auch bei Schlechtwetter durch die Eifel? Jeder bleibt zu Hause und genießt die österlichen Feiertage in der warmen Stube bei gutem Essen.

Am nächsten Morgen, dem Ostersonntag, leuchtet der blaue Himmel über mir! Die Landschaft wirkt bei strahlendem Licht plastisch, modelliert wie ein Relief. Auf der Karte sehe ich, dass sich in der Nähe meines Übernachtungsplatzes ein ehemaliger Vulkan befindet, der Goldberg. Ich folge einem Wiesenpfad, der sich auf eine Anhöhe hinaufschlängelt. Oben bietet sich mir ein überraschender Anblick, als wäre ich in eine andere Zeit versetzt worden. Ich sehe ein Stoppelfeld, das seit der Ernte im letzten Sommer noch nicht umgepflügt wurde. Im Licht der Sonne glänzen die Halme leuchtend gelb, und mittendrin der Goldberg, ein braunschwarzer Lavakegel – der erloschene Vulkan! Deutlich sind die Asche- und Bimssteinschichten zu erkennen.

Stürmischer Wind fegt über seine Flanken, die von Baggern aufgerissen wurden. Die Vulkane der Eifel werden nach und nach von Baufirmen abgetragen und dienen als Material für den Straßen- und Häuserbau. Ich finde es schade, denn sie sind Denkmäler aus einer lange vergangenen Epoche, als die Eifel noch jung und eruptiv war. Es war die Zeit, als die afrikanische auf die europäische Platte traf und durch die Wucht des Aufpralls im Süden die Alpen von gewaltigen Erdkräften emporgedrückt wurden. Im Gebiet der heutigen Eifel, sowie der anderen heutigen Mittelgebirge, befand sich lange vor der Alpenauffaltung das Variskische Gebirge. Ursprünglich war es höher als heute der Himalaja, die Geologen vermuten eine Höhe von mindestens 12 000 Meter. Aber die Kräfte der Erosion hatten dieses mächtige Gebirge weitgehend abgetragen und ziemlich eingeebnet.

Als dann durch die Alpenbildung gewaltige Spannungen auftraten, riss die Erdkruste auf, und glühendes Magma aus dem Erdinneren drängte an die Oberfläche. Das war vor etwa 10 000 Jahren gegen Ende der letzten Eiszeit, als hier schon Menschen lebten und Zeugen der Vulkanausbrüche wurden. Als Beweis dienen steinzeitliche Siedlungen und zahlreiche Feuerstellen, die von Lava verschüttet wurden. Bei Ausgrabungen fanden die Archäologen allerdings keine Reste von Menschen. Vermutlich haben die Steinzeitmenschen, durch Erdbeben gewarnt, die Gebiete rechtzeitig verlassen. Auch Wildtiere brachten sich in Sicherheit, denn tierische Opfer wurden ebenfalls nicht gefunden.

Ich hebe einen Stein auf. Er ist leicht und porös wie Schlacke und hat eine warme rotbraune Farbe, als wäre das Vulkanfeuer in ihm eingeschlossen. Ein anderer Stein, tiefschwarz und mit dicken Wülsten überzogen, erinnert mich an ein Stück verbrannten Kuchenteig. Der von den Maschinen angeschnittene Goldberg ist etwa 50 Meter hoch und schwarz-rotbraun gebändert. Das Gestein sieht aus, als hätten die Eruptionen, die diesen Berg schufen, erst kürzlich stattgefunden.

Mich beeindruckt diese feuergebrannte, aus dem Erdinneren emporgeschleuderte Welt aus Asche, Schlacke, Lava und Gesteinsbrocken. Schräge Sonnenstrahlen treffen auf den verwüsteten Vulkankegel. Es ist ein eigenartiges Gefühl, so weit in die Jahrtausende zurückschauen zu können. Ich spüre inmitten dieser verwunschenen Einsamkeit ein tiefes Bedauern, dass die Vergangenheit als Straßenschotter missbraucht wird. Nicht mehr lange, dann wird der Goldberg restlos abgetragen und verschwunden sein.

Von Stadtkyll bis Gerolstein folge ich den mäandrierenden Windungen der Kyll. Eine bizarre Felswand, der Rest eines Korallenriffs, ragt über Gerolstein in die Höhe. Millionen Jahre bevor die Eifelvulkane rotglühende Lava spuckten, hatte sich hier ein Meer ausgebreitet. Versteinerungen künden von einer artenreichen Tierwelt.

In der Nähe des als Treffpunkt für Mineraliensammler bekannten Kur- und Urlaubsortes Gerolstein liegt die Kasselburg. Sie war noch im 18. Jahrhundert bewohnt, heute lockt ein Falkenhof mit Wolfsgehege die Besucher an. Europäische Greifvögel und Eulen kann man hier besichtigen und den Falknern bei der Abrichtung ihrer Vögel zuschauen. Mein Pech – es ist Ruhetag.

Von Gerolstein fahre ich mit dem Bus nach Daun. Da ein Wanderweg fehlt, folge ich der Landstraße Richtung Schalkenmehren, die ziemlich steil bergauf geht. Ich werde von Autoabgasen eingenebelt, doch am Scheitelpunkt der Straße belohnt mich der Blick auf das Schalkenmehrener Maar. Ein Regenbogen spannt sich über die kreisrunde Wasserfläche.

Maare sind keine Kraterseen, wie man vielleicht vermuten könnte. Sie sind entstanden, als die Vulkane bereits erloschen waren. Im Erdinneren bildeten sich riesige Gasblasen. Von Gestein umschlossen, konnten sie sich nicht ausdehnen. Der Druck wuchs, bis eine Blase nach der anderen explodierte. Gas, Asche, Steine wurden herausgeschleudert und rissen tiefe Löcher. So geschehen vor 9000 Jahren. Später füllten sich die Einsturztrichter mit Regen- und Grundwasser. Die Katastrophe, die damals die Erde erschütterte, schuf ein eindrucksvolles Szenarium.

Mitten im Wald steht auf dem Mäuseberg der elf Meter hohe Dronketurm, der nach dem Gründer des Eifelvereins benannt wurde. Der Aufstieg lohnt sich. Von oben blicke ich auf drei Maare. Durch die Zweige der Bäume schimmert das Gemündener Maar, links davon, von Buschwerk halb verdeckt, sehe ich das Weinfelder Maar, auch Totenmaar genannt, und weiter entfernt das größte von allen, das Schalkenmehrener Maar, auf das ich vorher schon einen Blick werfen konnte. Weit dehnt sich das Land unter mir aus, in dem die drei kreisrunden Seen ruhen. Bewaldete Kuppen wechseln ab mit geschwungenen Tälern, abgerundeten Hügeln, dazwischen ein vielgestaltiges Muster aus erdbraunen Feldern und grünen Wiesen. In der Ferne, in zartem Blau, begrenzt der Hunsrück den Horizont. Eine Amsel flötet ihr sehnsuchtsvolles Lied. Über den Feldern balzen Kiebitze, in der Luft tanzen sie auf und nieder.

Zwischen Ginsterbüschen baue ich mein Zelt auf. Als die Sonne untergeht, steige ich noch einmal auf die Plattform des Dronketurms, schaue zu, wie sich die Dunkelheit langsam über das Land legt und das Blau der Maare sich nachtschwarz färbt.

Die Nacht ist unruhig. Von Windböen und Regen wird mein Zelt gebeutelt. Ich höre fernes Donnergrollen, und Wetterleuchten erhellt das Zeltinnere. Am Morgen verhüllt Nebel das Land. Unsichtbare Lerchen jubilieren in der Luft; vermutlich fliegen sie über der Dunstschicht im Licht der Sonne. Erst langsam hebt sich der Nebel.

Zum Frühstücken setze ich mich an den Rand des Totenmaares. Das meerblaue Wasser, geschmückt von silbrig schimmernden Kräuselwellen, liegt etwa 30 Meter unter mir und wird von steilen Felswänden umschlossen. Das Totenmaar ist 51 Meter tief und nährstoffarm. In seinem sauberen Wasser können kaum Algen und Wasserpflanzen gedeihen, auch Fische finden keine Nahrung. Zwei Stockenten flattern auf und werfen dunkle Schatten.

In der Nähe des Ufers steht die restaurierte Weinfelder Kirche, blässlich ruht ihr Spiegelbild im Wasser. Die Kirche gehörte zu einem seit Langem verschwundenen Dorf. Es heißt, die Einwohner seien durch Krieg und Pest umgekommen. Die Weinfelder Kirche wurde auf den Grundmauern einer römischen Villa erbaut. Einer Legende nach soll der römische Statthalter Pilatus, der Jesus zum Tod am Kreuz verurteilt hat, während seiner letzten Lebensjahre in dieser Villa gewohnt haben.

In Richtung Süden folge ich dem Lauf der Lieser. Zunächst ein kleiner, sich schlängelnder Wiesenbach, schneidet er sich bald tiefer in das Terrain hinein. Ich wandere oberhalb der Steilhänge, dann senkt sich der Wanderpfad wieder zum Wasser hinab. Der Waldboden ist mit Frühlingsboten geschmückt: Buschwindröschen, Lungenkraut, Veilchen, Scharbockskraut, und an sonnigen Stellen leuchten die gelben Blüten des Huflattichs neben den violetten Blütenkelchen der Kuhschellen. Der Tag ist sonnenwarm. Mit einem Mal ist der Frühling da. Die Vögel, von Licht und Wärme angeregt, schmettern ihre Lieder.

Am nächsten Morgen liegt Nebel über dem Liesertal und zaubert eine geheimnisvolle Stimmung herbei. Auf einer Waldlichtung, ebenfalls von Nebelschleiern umspielt, entdecke ich zwei Rehe. Langsam ziehen sie äsend durch das taunasse Gras. Am Berghang ragen drei Burgruinen über die Baumwipfel hinaus: die Geißenburg, die Ober- und die Niederburg. Dann, auf einem Hügel liegend, taucht hinter dem Wald der Ort Manderscheid auf. Mein Weg führt mich südwestlich an Manderscheid vorbei zum Mosenberg und dem Windsborner Maar, das diesmal kein Maar, sondern ein echter Kratersee ist.

Der aus schwarzen Schlacken bestehende Vulkankegel des Mosenbergs erhebt sich 517 Meter über das Gelände. Früher beherrschte er mit seiner düsteren Kahlheit die Landschaft der Südeifel, heute sind seine markanten Formen von Wald verdeckt. Als der Mosenberg-Vulkan bereits erkaltet war, kam es vor 9000 Jahren nur 300 Meter entfernt zum Ausbruch des Windsborn-Vulkans. Die vulkanische Kraft war aber zu schwach, sodass nur ein kleiner Kegel entstanden ist. Der Ringwall aus Schlacke blieb erhalten und umgibt heute noch den Kratersee, der allmählich zuwächst. Er war schon einmal verlandet, wurde aber durch die Gewinnung von Torf wieder freigelegt und füllte sich erneut mit Regenwasser.

Ich sitze auf dem Lavawall. Die Farben des Sees spiegeln das Himmelslicht und die vorübereilenden Wolken. Ein Roter Milan kreist hoch oben, vom nahen Dorf Bettenfeld klingen die Abendglocken herüber. Die Luft wird kühler, schwerer, geheimnisvoller. Der Vogelchor verliert einen nach dem anderen seine Solisten, bis nur noch Amsel und Singdrossel zu vernehmen sind. Dann verstummen auch sie. Der See hat eine tiefdunkle Farbe angenommen. Auf seiner glatten Oberfläche spiegeln sich noch dunkler die Silhouetten der Bäume. Das letzte Nachglühen der Sonne wirft einen rostroten Schimmer über den blauschwarzen Nachthimmel.

FRANKREICH

Mit Esel Chocolat auf dem Pilgerweg

Vor Jahrzehnten wanderte ich auf dem spanischen Jakobsweg. Damals war er nur wenigen Menschen bekannt, und es war nicht abzusehen, wie sehr er in Mode kommen würde. Da ich seither mit vielen Pilgern in Kontakt stehe und Erfahrungen austausche, wurde der Wunsch immer stärker, wieder einmal auf dem Jakobsweg unterwegs zu sein. Im Jahr 2002 war es dann so weit. Diesmal entschied ich mich für einen Wegabschnitt durch Frankreich. Als Begleiter wählte ich einen Esel, der mit seinem liebenswerten Eigensinn die Pilgerreise für mich zu einem besonderen Erlebnis werden ließ.

Es ist Liebe auf den ersten Blick. Als ich in seine dunklen Augen sehe, weiß ich – er ist der Richtige! Sein Name ist Chocolat, denn sein Fell ist schwarz wie bittere Schokolade. Mir gefällt einfach alles an ihm, nicht nur die Augen, auch die kräftigen Knie und die starken Hufe. Esel Chocolat wird mich auf dem Pilgerweg durch Frankreich von Le Puy bis zu den Pyrenäen begleiten.

»Santiago! Auf nach Santiago!« Das war der Ruf der Pilger im Mittelalter. Im Nordwesten Spaniens, am Rande unseres Kontinents, soll in der Provinz Galicien im Jahr 812 das Grab des heiligen Jakob gefunden worden sein. Jakob, Jakobus oder Santiago, wie er in Spanien genannt wird, war einer der zwölf Apostel von Jesus. In der Kathedrale von Santiago de Compostela werden seine Gebeine noch heute verehrt. Niemand weiß, wie viele Menschen in den vergangenen Jahrhunderten auf dem Jakobsweg gepilgert sind, einige Millionen waren es sicher. Sie kamen aus ganz Europa, von Irland bis Russland, von Schweden bis Portugal. Im Mittelalter gab es ein länderübergreifendes weitmaschiges Wegenetz mit dem einen Ziel: Santiago de Compostela. Hier, am Ende des langen Pilgerweges, lag der Ort der Erlösung. Kranke erhofften sich Heilung, Sünder rechneten mit Ablass, Gläubige versprachen sich Reinigung und Seelenheil.

Inzwischen ist Pilgern modern geworden, und der religiöse Aspekt steht bei den meisten Wanderern nicht mehr im Vordergrund. Nicht nur in Spanien, auch in den anderen Ländern werden die alten Pfade nach Santiago de Compostela wiederentdeckt. In Frankreich gibt es gleich vier Jakobswege. Der bekannteste, den auch ich gewählt habe, beginnt in Le Puy, dem ehemaligen Podium, wie der Ort auf Lateinisch ursprünglich hieß. Davon abgeleitet wird der Weg Via Podiensis genannt. Er führt etwa 700 Kilometer über das Zentralmassiv bis zu den Pyrenäen und gilt als die landschaftlich schönste, aber wegen der steilen Auf- und Abstiege auch als die schwierigste Route. Würde mein Esel den Strapazen eines so weiten Weges gewachsen sein?