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Patricia Holland Moritz

Die Einsamkeit des Chamäleons

Rebekka Schombergs erster Fall

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Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © kids.4pictures – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4268-1

Widmung

Ich widme dieses Buch in Liebe meinem Vater, Karl-Georg Holland-Moritz.

Zitat

Wer eine gute, verständige und schöne Frau sucht, sucht nicht eine, sondern drei.

Oscar Wilde

PROLOG

Die Mutter war aschfahl, als sie Rebekka den Brief mit dem Absender Erich Schomberg reichte. Rebekka wohnte damals längst nicht mehr bei ihr. Sie hielt sich nach der erneuten Absage für ein Journalistikstudium mit Nachtschichten auf dem Postamt und einem Leben in den Wohnheimen der Stadt über Wasser. Für sie bestimmte Briefe wurden immer noch an die Marzahner Wohnung geschickt.

›Er will mich sehen. Seinen Letzten Willen mit mir besprechen. Was hat das zu bedeuten, Mutter?‹

›Dass er reinen Tisch machen will. Und im schlimmsten Fall eine Haushaltsauflösung an dir hängen bleibt.‹

Damit brachte die Mutter unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie nichts mit diesem Mann zu tun haben wollte, der ihr Schwiegervater war.

›Was war das zwischen euch?‹

›Ein luftleerer Raum. Mehr nicht. Ich habe ihn auf der Beerdigung deines Vaters zum letzten Mal gesehen. Dein Großvater ist nichts als eine dunkelrote Bazille. Erst braun, dann rot. Immer ganz den Umständen angepasst. Wie dein Chamäleon damals.‹

›Was hat er getan?‹

Die Mutter schaute ihre Tochter an, und Rebekka wusste in diesem Moment, dass sie diesen Ausdruck in ihrem Gesicht nie wieder sehen würde. Sie trat ganz nah an ihre Mutter heran, nahm ihr Gesicht in ihre Hände. Wusste, dass es auch diesen Augenblick der Nähe nie wieder geben würde. Und sie wiederholte ihre Frage, weil sie wusste, dass es auch diesen Moment der Wahrheit nie wieder zwischen ihnen geben würde.

›Was hat er getan?‹

Monika Schomberg setzte sich. Diese ganze Sache ging sie nichts an. Mit ihrem Mann war auch dessen Vater für sie gestorben. Und dass er sich nun aus dem Off gemeldet hatte bei ihr und ihrer Tochter, den letzten beiden, die ihm offensichtlich noch blieben, konnte nur eine der letzten perversen Ideen des Erich Schomberg sein.

Mit einer Handbewegung bat sie Rebekka um ein Glas Wein. Die offene Flasche stand neben dem Herd. Widerwillig griff Rebekka zu einem Glas und füllte es randvoll, weniger hätte die Mutter nicht akzeptiert.

›Setz dich.‹

Rebekka gehorchte.

›Ich weiß nicht viel, aber genug. Dein Vater hatte mir davon erzählt. Ich sollte seinen Vater wohl gar nicht erst kennenlernen. Und so war es dann auch. Ich habe mich von diesem Mann ferngehalten. Ich weiß …‹, sie trank ihr Glas mit wenigen Schlucken leer und stellte es geräuschvoll auf den Tisch, ›… nicht viel, aber genug. Er war bei einem Massaker dabei gewesen in Frankreich. Das war das eine. Und dieses Massaker hat ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Das ist das andere. Und dass solche Typen unbehelligt in der Deutschen Demokratischen Republik unter Hammer, Sichel und Ährenkranz weiter Karriere machten, ist das ganz andere … Ist das, was mich in diesem Scheißstaat, der nun endlich den Bach runtergeht, am meisten kaputtmacht. Und du dachtest immer, es ist der Alk oder der Umstand, dass ich deinen Vater nicht mehr habe?‹

Sie schaute Rebekka an, und Rebekka spürte, dass ihre Mutter tatsächlich eine Antwort von ihr wollte.

Noch am selben Tag hatte Rebekka ihn aufgesucht. Von einem Besuch konnte keine Rede sein, denn sie ging zu ihm, um sich zu vergewissern, dass es gut gewesen war, ihn als Kind nie wahrgenommen zu haben und seiner großväterlichen Obhut entkommen zu sein, die er wahrscheinlich pflichtgemäß an den Tag gelegt hätte beim Anblick seines einzigen Enkels, beim Gedanken an seinen einzigen Sohn, der so früh verstorben war.

Erich Schomberg wohnte in einem Neubaublock in Köpenick, unweit einer idyllisch anmutenden Bootsanlegestelle. Er öffnete ihr die Tür und betrachtete sie stumm. Stahlblau war der Begriff, der Rebekka als Erstes einfiel, als sie ihm in die Augen schaute. Keine freundliche Regung war seinem Blick zu entnehmen. Bei Rebekkas Großvater hatte alles seinen Platz. Die Brille saß wie festgesteckt auf seiner breiten Nase, das schlohweiße Haar lag geglättet an seinem Kopf und kräuselte sich nur im Nacken etwas. Eine schwarze Strickjacke, aus deren Brusttasche ein glattgebügeltes Taschentuch ragte, umspannte das blütenweiße Hemd. Seine Hände lagen an der Hosennaht der ebenfalls glattgebügelten Anzughose, und alles in allem ergab er das Bild einer Schaufensterpuppe, Mode für den Herrn ab 60, Ton in Ton von Weiß über Grau bis Schwarz.

Rebekka vermied es, ihm die Hand zu reichen und hoffte, er würde sie einfach hereinbitten, ihr ein paar oberflächliche Fragen stellen und so etwas wie einen Versuch starten, ihr zu erklären, was nicht zu erklären war.

›Komm rein.‹

Instinktiv hatte sie erwartet, gesiezt zu werden. Da es in Erich Schombergs Welt aber zwei Sorten von Menschen zu geben schien, die eine, die er schätzte, die andere, die sich seine Wertschätzung erst erarbeiten musste, wusste sie sofort, in welche Kategorie sie für ihn gehörte. Sie war auf seine Bitte hin hier und sie wollte diesen Pflichtbesuch schnell hinter sich bringen. Die Wohnung wirkte in ihrer kargen Möblierung unpersönlich und kalt, aber auch hier hatte alles seinen Platz. Der Fernseher war ein altes Modell, die Wände waren seit Jahren nicht mehr gestrichen worden, die Möbel in der Küche und das Bad sahen so hinfällig aus, dass Rebekka sich fragte, wie sich ein solcher Anblick jeden Morgen aufs Neue ertragen ließ. Da ihr Großvater offenbar weit schlimmere Anblicke ungerührt ertragen hatte, war dieser hier wohl eher einer der besseren. Und es hatte Rebekka nicht zu interessieren, wie er sein einsames Leben in dieser Einöde von Wohnung lebte.

›Deine Mutter hatte wohl keine Lust, mitzukommen?‹

›Nein.‹

›Das wundert mich nicht. Sie hat noch nie den Kontakt zu mir gesucht. Umso mehr freut mich dein Besuch.‹

Ein Lächeln umspielte seinen faltigen Mund. Es waren tatsächlich Lachfalten, die Rebekka dort und um seine Augen herum entdeckte. Doch ein Zeichen des Erkennens oder gar der Verwandtschaft war in seinen Gesichtszügen nicht vorgesehen.

›Kommen wir gleich zur Sache, Rebekka.‹

Es war beängstigend, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Wenn sie ihrer Mutter glaubte, dann war Menschen, die ihren Namen aus Erich Schombergs Mund vernommen hatten, nichts Gutes widerfahren.

›Mein Letzter Wille ist hier in diesem notariell beglaubigten Schriftstück festgehalten. Eine Durchschrift liegt in dieser Kanzlei.‹

Er schob ihr eine Visitenkarte über den Tisch.

Er hatte ihr nichts zu trinken angeboten. Es war Stille im Raum. Nur das Ticken der Wanduhr hackte die schleichende Zeit in kleine Stücke.

›Ich möchte, dass du mich hier rausholst, wenn ich sterbe. Dass ich auf dem Köpenicker Friedhof anonym bestattet werde und du von dem Geld, das dann bereits auf deinem Konto liegen wird, die Kosten dafür bestreitest. Was du mit dem Rest des Geldes machst, ist mir egal. Der Krempel hier kann direkt in die nächste Haushaltsauflösung. Und solltest du noch ein paar Fotos von deinem Vater haben wollen‹, mühsam stand er auf und ging zu einer Kommode, ›die sind hier drin.‹

Er zog ein Schubfach auf und nahm neben zwei Fotoalben auch ein grün gebundenes Notizbuch heraus.

›Und hier drin findest du, was du über mich wissen solltest.‹

Rebekka fühlte sich, als habe er ihr soeben den Schlüssel zu einem Giftschrank gegeben. Sie dachte an die Worte ihrer Mutter. Dass er ein Unverbesserlicher gewesen sei, und zwar in beiden Systemen. Dass er den Ulbricht an der Wand hatte. Sie schaute sich um. Von dem Bild war nichts zu sehen, auch kein weißer Fleck, auch kein Honecker-Porträt. An Erich Schombergs Wänden hingen überhaupt keine Bilder. Die Wohnung hatte nichts Persönliches. Jeder hätte hier leben können, ohne etwas ergänzen oder wegnehmen zu müssen.

Für ihn war das Gespräch beendet. Rebekka nahm die Alben und das Heft an sich, die Karte vom Notar und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.

Am nächsten Tag klingelte das Telefon in der Marzahner Wohnung. Die Nachbarin von Erich Schomberg hatte am Morgen einen Zettel in ihrem Briefkasten gefunden, sie solle umgehend den Hausmeister holen und die Tür zu Schombergs Wohnung aufbrechen lassen. Gegen Mittag fanden sie Erich Schomberg. Er hatte sich im Schlafzimmer erhängt.

Innerhalb nur einer Woche hatte Rebekka alle Formalitäten erledigt. Sie konnte es nicht erwarten, diesen Mann unter der Erde zu wissen, anonym und eines Tages von der Welt vergessen, auf der er eine blutige Spur hinterlassen hatte.

Innerhalb einer weiteren Woche eröffnete ihr der Notar, sie sei Alleinerbin von Erich Schombergs Vermögen. Wie in Trance betrat Rebekka die Marzahner Wohnung und hielt ihrer Mutter das Schreiben mit der schier unglaublichen Ziffer unter die Nase.

›Das Geld werden wir behalten‹, sagte Rebekka, ›und ich weiß auch schon, was wir damit machen werden.‹

Ihre Mutter schaute sie nur mit glasigen Augen an. ›In dieser Sache gibt es kein wir. Du wirst. Nicht ich. Mach damit, was du willst. Ich lebe. Frei von diesem Dreck. Prost!‹

Kapitel 1

Vielleicht war es ein Waschbär gewesen bei den Mülltonnen an der Hauswand. Vielleicht ein Marder unter einem der geparkten Autos. Vielleicht aber auch ein Tritt, der unbeabsichtigt laut geraten war auf den dürren Zweigen, die der Winter auf der Wiese zurück gelassen hatte wie Spielzeug, dessen er überdrüssig war. Manchmal gingen Biber nachts hier um, Frettchen und Wildschweine. In einem Lied hieß es, in Brandenburg würden wieder Wölfe leben.

Rebekka griff zur Taschenlampe, die neben ihrem Bett lag und die Dimensionen eines Fleischklopfers hatte. Ein Fenster war gekippt. Sie öffnete es ganz, lehnte sich hinaus, aber da waren nur der Zaun und dahinter der Acker und weder ein Waschbär noch ein Marder zu sehen. Sie öffnete das Fenster, das nach vorn auf die Straße führte. Sogar Ratten hätte sie in Kauf genommen oder einen verirrten Frischling. Aber nichts war schlimmer, als nichts zu entdecken, nur den gewohnten Ausblick zu haben auf einen geparkten Wartburg und einen Gartenzaun mit Buchsbäumen dahinter.

Rebekka war ein ausgeglichener Mensch mit einem gesunden Gespür für Gefahr in all ihren Variationen. Und hier draußen war sie nicht in Gefahr. Es war vergeudete Kraft, sich auch nur einen Moment zu ängstigen. Angst war ein Gefühl, das sie ausbremsen und ihr wertvolle Zeit stehlen würde, die sie so dringend zur Erholung brauchte. Also durfte sie keine Angst haben. Es war der Marder. Bresecke wird sich freuen.

Rebekka schloss das Fenster. Es wurde allmählich hell.

Wie der Rest der Welt hatte nun auch Rebekkas Lieblingsradiosender die Esoterik entdeckt. Die Vielfalt an Radioempfang war limitiert auf dem Land, und auch wenn sie ein Internetjunkie war, hätte Rebekka nie auf eine Radiostation zurückgegriffen, die sie nur im Google-Fenster finden konnte. Also schraubte sie jeden Tag aufs Neue an dem Knopf der Sendersuche herum und blieb dann doch wieder dort hängen, wo es an jenem Morgen hieß:

Wenn Sie weniger Elektrosmog in Ihrer unmittelbaren Umgebung haben wollen, dann schließen Sie weniger Geräte an!

Dieser Tag würde ein sonniger werden.

Rebekka kroch zurück ins Bett. Die geblümte Bettwäsche roch nach frischer Bergluft, seit sie einmal pro Woche ein Kissenparfüm mit tatsächlich diesem Duft ansprühte. Sie streckte sich und spürte, wie die Schwere aus ihren Gliedern wich. Solange sie noch nach jedem Lauf Muskelkater hatte, war sie nicht leistungsfähig genug, also würde sie noch mehr trainieren müssen. Sie wollte fit sein, um weglaufen zu können, wenn es notwendig war.

Ihre Gedanken kreisten um einen unheimlichen Verdacht. Es musste um die 20 Todesfälle gegeben haben in dieser Berliner Recyclingfirma. Ungefähr einen im Monat, wenn Rebekka die Traueranzeigen mit immer demselben Logo in ihrer Berliner Zeitung richtig deutete. Sie konnte nicht wieder einschlafen. Es war ihr unerklärlich, wie so etwas möglich sein konnte, ohne dass es jemanden kümmerte. In dieser Stadt wurde jedes Falschparken geahndet, und Schwarzarbeiter wurden noch auf der Baustelle festgenommen. Aber 20 Mitarbeiter ein und derselben Firma konnten in nur zwei Jahren wegsterben, ohne dass wenigstens ein Angehöriger Alarm schlug.

Es gab einen weiteren Grund, weshalb Rebekka nicht wieder einschlafen konnte. Da war diese Sache, eine Ansammlung von Zellen, die stoffwechselten, ein Haufen aus Urin und Kot und unverdauter Nahrung, frisch gehalten durch Atmung und etwa fünf bis sieben Liter Blut, durchsetzt von haufenweise perversen Gedanken, das Ganze umspannt von etwa zwei Quadratmetern Fläche aus Haut. Diese Sache saß in einer schmalen grauen Gefängniszelle in Paris. Diese Sache war das Böse. Und Rebekka wartete nur auf den Tag, an dem es herausgelassen wurde wie der Geist aus der Flasche.

Kapitel 2

Auf der Straßenseite gegenüber dem Hackendahl in der Friedrichstraße klebten zwei Männer ein schaufenstergroßes Plakat von Andrew Cascones Moon-series auf das Schaufenster eines leerstehenden Geschäftes. Rebekka mühte sich, das Logo der Kunstsammlung auf dem Plakat zu erkennen und wäre vor Anstrengung fast vom Barhocker gefallen, als ihr Handy klingelte.

»Ich sage es ungern, aber dein Verdacht hat sich bestätigt. Zumindest sieht es für mich danach aus.«

Im selben Moment hatte sie Andrew Cascone, den neuen Stern am Berliner Kunsthimmel und ihren heimlichen Internetflirt, vergessen und drückte den Hörer nah an ihr Ohr.

»Mark!«

Sie spürte, wie er mit sich gerungen haben musste, um überhaupt zum Hörer zu greifen. In dem Telefon, das er gerade benutzte, war ihre Nummer als einzige gespeichert, und er hatte es nur dann bei sich, wenn sich für ihn eine der seltenen Gelegenheiten ergab, Rebekka zu treffen.

Sie saß im Hackendahl, nippte an ihrem Bier und gab dem Barkeeper das Ichmöchtezahlen-Zeichen. Den Hörer noch immer ans Ohr gepresst, legte sie die Berliner Zeitung zur Seite und saß kerzengerade.

»Was ist passiert?«

Mark atmete hörbar aus. Sie sah ihn vor sich und verspürte sofort das vertraute Kribbeln, für das ihr allein seine Stimme genügte.

»Du willst es hören, ja?«

»Was auch immer es ist. Wird ja wohl etwas Wichtiges sein.«

Natürlich genoss Rebekka den Moment. Aber mehr noch: Sie ahnte, dass Mark sie nun auf Augenhöhe betrachtete, und das war in Ergänzung dazu, dass sie seine Geliebte war, ein vielversprechender Umstand.

»Es gibt wieder einen Todesfall in dieser Firma. Ein Mann, Ende 50. Lag neben einer Werkbank in der Halle mit den Metallabfällen. Du … hör mal … Rebekka …«

»Wie ist er gestorben?«, unterbrach sie ihn.

»… ich hab das nur bei den Kollegen, die vor Ort waren, mitgehört. Seit du mir davon erzählt hast, geht mir die Firma nicht mehr aus dem Kopf, und nun höre ich den Namen nur noch. Hast mich halt aufgeschreckt mit deinem Verdacht …«

»Wie ist er gestorben, Mark?«

Rebekka wurde ungeduldig. Jenes ungute Gefühl, das ihr so oft die Luft zum Atmen nahm, machte sich wieder in ihr breit. Dieses wie Hinter-schalldichtem-Glas-Sitzen. Alle können einen sehen, doch die Zeichen nicht verstehen. Worte verhallen ungehört und sind nur als Mundfratzen sichtbar. Es wird abgewinkt und weitergegangen.

»Offenbar wie 18 andere vor ihm.«

»Es waren … 18? Du hast die Zahl?«

»Der Letzte war offenbar der Tropfen, der das Fass … Ach Kleines, du weißt schon. Es geschehen Grausamkeiten am laufenden Band, und dann gibt es diesen einen Vorfall … und die ganze Chose kocht hoch.«

Rebekka schloss die Augen und holte tief Luft.

»Vielleicht hattest du ja doch den richtigen Riecher«, sagte Mark vorsichtig, da er das Brodeln am anderen Ende der Leitung beinah körperlich spüren konnte.

Nein. Ich lese Zeitung und bemerke alle zwei Wochen eine Traueranzeige immer derselben Berliner Recyclingfirma.

»Vielleicht handelt es sich aber auch um Todesfälle, die keinerlei kriminellen Hintergrund haben, und den Ärger, der dann folgt, willst du nicht haben.«

»Aber das alles kann doch kein Zufall sein!«

Mark am anderen Ende schlug einen väterlichen Ton an.

»Wir müssen vorsichtig sein.«

Seit sie sich kannten, hatte er vermieden, von »wir« und »uns« zu sprechen. Es war für beide eine Variante des Vermeidens von Versprechen, die nicht gehalten werden würden.

»18 verstorbene Mitarbeiter einer Firma in zwei Jahren sind kein Umstand, anhand dessen sich eine polizeiliche Ermittlung durchführen lässt. Einer von uns beiden muss über eine bedenkliche Art von Fantasie verfügen, um hier eine Mordserie zu erkennen.«

»Dann sind es jetzt 19«, sagte Rebekka unbeirrt und malte sich ein Gesicht hinter jeder einzelnen Ziffer aus. 19 Mal geboren werden, aufwachsen, rebellieren, sich fügen, planen, lieben, hassen und zu früh für alles sterben.

»Außerdem ist es unlogisch, dass ein Mörder seine Opfer per Annonce anzeigt.«

Rebekka schreckte aus ihren Gedanken hoch.

»Genau diese Frage habe ich mir zuerst gestellt. Und auch sofort die Antwort gefunden.«

»Die da wäre?«

»Dass die Firma jeden Todesfall zur Traueranzeige macht und damit in die Öffentlichkeit bringt, ist ein Zeichen dafür, dass es sich bei den Verstorbenen um vorschriftsmäßig angestellte Leute gehandelt hat. Und wenn ein Mitarbeiter stirbt, dann kommt das in die Zeitung. Zumindest bei den großen Firmen. Und wenn keine Anzeige geschaltet wird, werden Fragen gestellt. Es müsste ein Leichtes sein, die Personalakten durchzugehen.«

»Ich bin in dieser Sache ganz bei dir, Rebekka, keine Angst. Nur musst du dir über das Risiko im Klaren sein, das du eingehst, wenn du hier etwas lostrittst.«

»Lostreten kann ich nur, was bereits lose herumliegt.«

»Sicher. Es wird allerdings schwer, an die Namen der Verstorbenen heranzukommen, und ich selbst habe keinerlei Handhabe, dort herumzuschnüffeln. Die Kollegen waren routinemäßig vor Ort, weil der Mann an seinem Arbeitsplatz verunglückt ist, haben alles aufgenommen, nichts Verdächtiges entdeckt, und das war’s.«

»Dann war das jetzt wohl ein Auftrag für mich?«

Mark konnte nicht sehen, dass Rebekka sich schon die ganze Zeit Notizen machte, doch er wusste, dass sie verstanden hatte.

»Okay, Kleines, sein Name ist Karl-Heinz Otto. Die Todesursache ist vermutlich …«

»Ja?«, hakte sie nach, »ich bin noch dran!«

Er riskierte viel, wenn nicht sogar alles, wenn er Rebekka diese Art von Informationen gab.

»Ein Schlag.«

»Auf den Kopf? Ins Genick?«

Rebekka erkannte sich in ihrer Abgeklärtheit selbst kaum wieder und trank zwei hastige Schlucke aus ihrer Bierflasche.

»Lass dich nicht bitten!«

»Bist schon nah dran. Ich darf dir nichts weiter sagen, Süße!«

Das vertraute Kosewort holte Rebekka zurück in die Realität. Von diesem Moment an war Mark nicht mehr der Ermittler bei der Berliner Kripo. Er wurde wieder zu dem Mann in ihrem Leben, den sie nie heiraten und doch immer lieben würde.

»Wann sehen wir uns?«

Seine Frage war das übliche Schlusswort ihrer seltenen Unterhaltungen am Telefon. Rebekka schaute auf die Uhr. Bis zum Vico House war es nicht weit, und da Freddy, ihr bester Freund unter den Angestellten, Dienst hatte, konnte sie ihr Zimmer mieten, selbst wenn es nur für einen Tag oder den Rest davon war.

»Heute.«

»Ich weiß«, entgegnete Mark in seiner selbstbewussten Art, die das Kribbeln in Rebekkas Körper nun direkt in ihren Unterleib dirigierte. »Wenn ich frage ›wann‹, dann will ich wissen, um welche Uhrzeit.«

»Ich brauche eine halbe Stunde.«

»Ich nur 20 Minuten. Also warte ich auf dich.«

Der Barkeeper des Hackendahl winkte ihr noch mit einem Geldschein hinterher, der sein übliches Trinkgeld übertraf, doch Rebekka war schon aus der Tür und bog in die Torstraße ein.

Kapitel 3

Schon als Kind hatte Rebekka ein Faible für Statistiken gehabt. Aus ihrem Kinderzimmer blickte sie damals runter auf die Straße und notierte, wie viele Autos pro Stunde vorbeifuhren. Sie hockte vor der Kaufhalle und zählte die Leute, die hineingingen und herauskamen, und wirkte so noch seltsamer, als es sowieso schon der Fall war. Sie war der kleine Feuermelder gewesen, der überall herumstand. Und wo es etwas zu zählen und zu notieren gab, entwickelte sie die eine oder andere neue Erkenntnis. Stoßzeiten im Straßenverkehr und in der Kaufhalle zum Beispiel, wie viele Leute Wartburg und wie viele Skoda fuhren, und welche Menschen es waren, die bitteres Tonic­wasser kauften. Rebekka war damit einer Marktanalyse sehr nahe gekommen, nur dass die keinen interessierte, weil es den Markt dafür noch nicht gab. An der Seite ihrer mit sich selbst beschäftigten Mutter war Rebekka von klein auf Einzelkämpferin gewesen und hatte sich ihre ganz eigene Meinung vom Leben gebildet.

Daher war es eine logische Folge, dass die Optik des sich immer wiederholenden Logos der Berliner Recyclingfirma unter schwarz gerahmtem Text der Traueranzeigen Rebekkas Interesse geweckt hatte. Die gleiche Wirkung erzielten Werbeplakate auf Straßen und in Bahnhöfen. Hatte sie nur oft genug das gleiche Haarfärbemittel darauf gesehen, kaufte sie es als Nächstes. Und selbst von einem Sänger wie Roland Kaiser wusste sie bei penetranter Plakatierung ganz genau, wann er wo in Berlin ein Konzert gab, auch wenn seine Schlager die letzte Musik war, die sie hören würde. In Wirtschaft, Politik und Religion wurde dieser Trick erfolgreich angewendet, die Menschen fielen darauf herein und ließen sich willig an der Nase herumführen. So auch Rebekka Schomberg. Sie würde auch jetzt wieder routiniert behutsam mit einer Recherche beginnen, diesmal jedoch im Recyclinggeschäft. So wie damals, als sie als absolute Dilettantin auf dem Gebiet der bildenden Kunst einem Fälscher auf die Spur gekommen war. Er hatte Menschen übers Ohr gehauen, die ihr gesamtes Erspartes in ein einziges Kunstwerk gesteckt hatten, um dessen Anblick und Besitz genießen zu können, ihn anderen Menschen in einem eigens geschaffenen Museum mit interaktiven Spielen für Kinder zugänglich zu machen und die sonst nicht viel besaßen.

Rebekka würde sich auch jetzt wieder in ein neues Umfeld begeben, sich unter die Familie eines der Verstorbenen mischen. Sie würde der Sache vor Ort nachgehen, in der Firma, in der Branche, überall, wo recycelt wurde, um zumindest den Auslöser der Todesserie bei Recycling, Verschrottung und Co. zu finden. Es gab genau zwei Beweggründe, aus denen heraus sie sich mit den Angelegenheiten anderer, ihr völlig fremder Menschen befasste. Zum einen, weil sie es konnte, weil sie die Zeit dafür hatte, die Mittel und das Talent. Sie hätte es selbst als schwierig empfunden, jemandem zu erklären, warum ihr Lebensinhalt darin bestand, Ermittlerin ohne Auftrag zu sein. Schließlich wurde sie auch sofort stutzig, wenn ihr jemand etwas predigte und dabei betonte, es gehe ihm nur um sie und ihr Wohlbefinden. Bücher und Predigten waren voll von Lebensweisheit und in Wahrheit nur so ehrlich gemeint wie der Verkauf eines Staubsaugers. Der andere Beweggrund, sich einzumischen, wenn sie ein Verbrechen witterte, eine Ungerechtigkeit oder Vertuschung, war die Schuld, die ihr Großvater ihr aufgebürdet hatte, und deren Wiedergutmachung Rebekkas Lebensinhalt war. Die Erinnerung an ihren Großvater und das Vermögen, das er ihr hinterlassen hatte, war der tote Winkel in Rebekkas Gehirn.

Kapitel 4

Mark zog sich an.

»Bin ich eigentlich erpressbar? Sagst du es irgendwann meiner Frau?«

»Damit sie dich verlässt und ich dich für immer an der Backe habe? No way

»Dabei denkt meine Frau, ich könnte sie eines Tages mit einer Jüngeren betrügen. Wenn sie wüsste, wie sehr sie sich da täuscht …«

»Allein für diese Bemerkung hast du zwei Ohrfeigen in einer verdient.«

Rebekka ließ Wasser in die Wanne laufen.

Er legte die Arme um sie. »Du hast mal gesagt, du könntest nie mit mir zusammenleben. Warum nicht?«

»Weil ich dir nie vertrauen könnte. Nicht mal auf einem Auge, während ich das andere zudrücke.«

»Warum bist du dann so gern mit mir zusammen?«

»Mit gern hat das nichts zu tun. Du bist mein Zugang zu polizeilichen Interna. Ich brauche deine Hilfe.«

»Du nutzt mich also nicht nur sexuell aus.«

»Richtig.«

Beide lachten. Er küsste sie auf den Nacken. Dann ging er hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Mark liebte Rebekka für all das, was ihm an noch keinem anderen Menschen begegnet war. Sie war wie die Natur, die sich selbst heilte. Wie ein Stück Rasen im Schatten eines Baumes, durch den nur wenig, aber ausreichend Regen auf die Halme fällt. Als brächte der morgendliche Tau ihren Körperhaushalt immer wieder auf Vordermann.

In Mark Tschirners Leben gab es genau zwei Frauen: die eine, die er geheiratet hatte, und die andere, die er nicht geheiratet hatte. Diesen Zustand empfand er als ideal und hoffte von Tag zu Tag und jedes Mal, wenn er Rebekka traf, dass sie ihr Interesse an dieser unverbindlichen Verbindung nie verlieren möge. Aber alles, was er ihr bieten konnte, war Liebe ohne Familie und ohne Alltag. Und genau diese Art von Liebe musste für Rebekka alles andere als verlockend klingen.

Sie hatten sich kennengelernt, als er noch Kriminalhauptmeister war. Berlins Kunstszene erstarrte unter einem Fälscherskandal, und Mark ermittelte für das LKA im Rahmen eines Ermittlungshilfeersuchens. Die Rothaarige im grauen Hosenanzug war Mark sofort aufgefallen. Typ Sekretärin mit Haarknoten, Brille. Sie lehnte auf dem Flur vor dem Gerichtssaal in Moabit und schien auf etwas oder jemanden zu warten. Später, viel später, beharrte Rebekka darauf, sie habe auf ihn, Mark Tschirner, gewartet. Und zwar genau dort.

›Was gestern noch Kunst war, ist heute schon Bianchi‹, hatte sie gedankenverloren gesagt, als stünde hinter Pietro Bianchi noch etwas Größeres als der soeben verhandelte Fälscherskandal. Von diesem Maler sprach damals die ganze Welt, zumindest ein nicht unerheblicher Teil davon, der wegen ihm Millionen von Euro für wertlose Kopien ausgegeben hatte.

Mark hatte einen abwertenden Blick auf ein paar vorbei eilende Fotografen geworfen, um sich dann sofort wieder der Rothaarigen zuzuwenden.

›Überschätzen Sie die ganze Sache nicht ein wenig?, fragte er und versuchte dabei, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen.

Mit einem Ruck wandte sie sich ihm zu und sah ihm direkt in die Augen. ›Wie bitte?‹

Mark errötete bei ihrer heftigen Reaktion auf seine gedankenlos dahin gerotzte Frage.

In einem bestimmten Ton, aber ohne jede Arroganz, wies die Rothaarige ihn zurecht.

›Das hier ist der größte Kunstfälscherskandal der Nachkriegszeit, sowohl was Umfang und Perfektion, als auch was die Vermarktung von Fälschungen betrifft. Und Sie glauben tatsächlich, das könne man überschätzen?‹

›Die Gemälde wurden ganz offensichtlich überschätzt.‹

Mark freute sich selbst ein wenig darüber, wie gekonnt er diese Kurve genommen hatte.

›Ja klar! Weil jeder Idiot ein Bild malen und nur ein Genie es verkaufen kann.‹

Sie lehnte sich wieder an die Wand und schien weiter zu warten.

Mark war fasziniert von ihrer unkomplizierten Art. Und nun stellte sie sich auch noch als klug heraus.

›Ist nicht von mir‹, fügte sie hinzu, als habe sie seine Gedanken gelesen.

›Muss es auch nicht. Die Bilder waren ja auch nicht von Max Pechstein.‹

An jenem Tag im Gericht war Mark als Zeuge befragt worden. Die Rothaarige schien nur Besucherin zu sein in dem Prozess, der öffentlich geführt wurde, und bei dem Sitzplätze den Wert von Goldstaub hatten. Die Verhandlung war gerade zu Ende gegangen, Mark wollte seinen Chef im Auto mitnehmen und hielt ungeduldig nach ihm Ausschau. Doch eigentlich wollte er alles andere als weg von hier. Er bot sich an, Kaffee zu holen. Die Rothaarige bedankte sich und versprach, auf dem Flur auf ihn zu warten. Er beeilte sich. Wusste, dass jede jetzt vertane Minute für ein behutsames Annähern an die Frau auf dem Flur für immer verloren wäre. Er lief zurück, zwei Kaffeebecher in der Hand, und stellte sich vor.

›Mark. Mit k.‹

›Wie Rebek… k… ka‹, war ihre Antwort.

Sie stießen mit ihren Kaffeebechern an.

›Was treibt Sie hierher?‹

›Pure Neugier.‹

›Kunstfälscher ziehen die Massen doch eigentlich weniger an als Mörder.‹

Rebekka schaute ihn herausfordernd an. ›Sie sind also ein Ermittler in dieser Sache?‹

Dieser Moment gehörte zu jenen, in denen Mark wirklich stolz war auf seinen Beruf, der ihm in der Anfangsphase doch eher mitleidsvolle Blicke eingebracht hatte. Allerdings fiel ihm auf, dass das Interesse dieser Frau offensichtlich einen anderen Grund als seine Arbeit und ihre gefährlichen Momente hatte. Sie taxierte ihn wie einen potenziellen Angestellten. Vor allem aber schien sie ihn für einen gut aussehenden Mann zu halten und in ihm das zu sehen, was eigentlich unsichtbar und nur bei einer stimmigen Chemie zu erkennen war.

Vom Ende des Flurs kam Nebel angetrabt, Marks Vorgesetzter, der auf eine Mitfahrgelegenheit hoffte. Mark nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er hatte nichts zu verlieren.

›Kann ich Sie wiedersehen? Dann erzähle ich Ihnen mehr von … meiner Arbeit. Wenn Sie das wollen.‹

Ob sie ihn nun als charmant empfand oder sich nur für ihre eigenen Zwecke an seiner Arbeit interessierte, war ihm völlig egal, da sie in eine Verabredung einwilligte. Zu erwähnen, dass er verheiratet war, wäre albern gewesen. Dann hätte er gleich mit erwähnen müssen, dass er sie wahnsinnig gern ins Bett kriegen würde.

Es wurde ein wunderbares Date. Sie wirkte weich, sinnlich, absolut anziehend auf ihn. Vom ersten Moment jenes Abends an war ihm klar, dass sie ihn begehrte wie er sie und ihm keine Sekunde länger würde widerstehen können.

Sie verließen das Bocca di Bacco in der Friedrichstraße, liefen zielstrebig durch die schlendernde Touristenmasse hindurch zu seinem Wagen, den er in der Mohrenstraße geparkt hatte und nun mit einem Knöllchen versehen wiederfand. Den Nachteil, das dann gegenüber seiner Frau erklären zu müssen, ignorierte er in jenem magischen Moment, als er den Papierschnipsel wegwarf und Rebekka die Tür aufhielt. Wie in einer abgeschirmten Kapsel saßen sie eng aneinander gedrückt, Mark drehte nur hin und wieder locker am Lenkrad, seine Rechte lag auf Rebekkas Oberschenkel, sie lehnte an seiner Schulter. Im Seitenblick nahm er ihre halbgeschlossenen Augen wahr, den leicht geöffneten Mund und das zufriedene Lächeln, das darauf lag. Die ganze Frau war Vorfreude auf ihn, die Spannung in der Luft so stark, dass jedes Wort gestört hätte. Er bog in die Torstraße ein, fuhr auf das Vico House zu und rechts ran, setzte den Blinker. Er hatte noch wenige Sekunden, wofür er lieber die ganze Nacht gehabt hätte. Sie nahm ihre Handtasche, lehnte sich zu ihm. Ihr Gesicht war nun ganz nah an seinem, und die Lippen, an denen er bereits im Bocca di Bacco bei jedem Wort gehangen hatte, dieser Mund, der beim Essen die Gabel umschlossen hatte, dass ihm vor Erregung fast schwindlig geworden war, dieser Mund war nun nah genug an seinem für einen Kuss. Ihre Lippen berührten sich, sie öffnete seine mit ihrer Zunge und ließ ihn ganz behutsam spüren, dass sie ihn genauso begehrte wie er sie in diesem Moment.

›Ich würde dich gern nach oben begleiten, aber …‹ Er brachte es nicht fertig.

›Danke, Mark. Ich will nicht die Nacht mit dir verbringen. Aus dem einfachen Grund, weil du mich sowieso nicht vergessen und in zwei, drei Tagen von dir aus anrufen wirst. Und der Sex, den wir dann haben werden, wird besser sein als alles, was wir heute Nacht hätten haben können … Machs gut.‹

Sie warf ihm eine Kusshand zu und stieg aus.

Er hatte nicht mal einen Tag gewartet, sondern sie schon am nächsten Morgen angerufen.

Warum er seine Frau zum ersten Mal betrog, war Mark selbst schleierhaft. Er konnte nicht einmal sagen, dass sie oder das gemeinsame Leben ihm zu fad geworden wären. Er betrog seine Frau, weil es eine Frau wie Rebekka gab.

Seine Frau bot ihm alles, was er sich wünschen konnte. Wo andere Ehefrauen bequem wurden, legte sie richtig los. Versauerten andere abends vor dem Fernseher, hatte sie einen neuen Yogatreff ausgemacht, zu dem sie regelmäßig ging. Stumpften andere ab, belegte sie einen Online-Sprachkurs. Nahmen andere unkontrolliert an Gewicht zu, widmete sie sich ständig neuen Diäten. Seine Frau sah fantastisch aus, hatte sehr guten Geschmack für Kleidung und Make-up, ihr Körper war eine Augenweide. Die zwei Geburten sah man ihr nicht an, und sie war eine exzellente Mutter. Ihre Arbeit in einer Steuerkanzlei schien sie optimal auszulasten, aber nie kam sie müde oder schlecht gelaunt aus dem Büro. Die Wohnung war ein Zufluchtsort und strahlte Gemütlichkeit und Harmonie aus. Seine Frau stellte keine verfänglichen Fragen, und selbst ein Knöllchen wie das aus der Mohrenstraße wurde bis zur Zahlung kommentarlos an die Pinnwand in der Küche geheftet, neben Einkaufszettel und Weight-Watcher’s-Punkte-Tabelle.

Rebekka hingegen war das ganze Gegenteil. Sie war eine verschlossene Frau mit Problemzonen und keinem festen Zuhause. Sie roch einen Braten, noch bevor er auf dem Herd stand, und war ein schlafender Vulkan. Musste sie vor ihm gehen, bat sie ihn, die Tür hinter sich zu schließen. Keine Frage, ob er noch da wäre, wenn sie wiederkam, denn Verbindlichkeit war keine Option. Mark hätte jedes Mal in ihren Sachen stöbern können, wenn er es nur gewollt hätte. Doch er wusste, dass er sowieso nichts finden würde. Den Sex mit Rebekka machten weder skurrile Orte noch akrobatische Einlagen aus. Mit ihr zu schlafen war ein Mehrgänge-Menü, das angemessen sättigte. Und für all das hätte Mark Tschirner immer wieder aufs Neue seine Ehe aufs Spiel gesetzt.

Kapitel 5

Der Stift in seiner Hand rauschte nur so über das Papier und malte Pferdeköpfe, bis ihn eine ganze Herde anstierte aus stechenden, schwarzen Augen.

»Der Tod von Otto fährt uns voll in die Parade! Was hat das zu bedeuten?«

»Ich war nicht dabei, falls du das wissen wolltest.«

Der eine bekam die Aufregung des anderen mit. Zwei Hunde, so weit voneinander weg angekettet, dass sie sich sehen, riechen, die Ängste des anderen wittern und Drohgebärden ausstoßen konnten, ohne sich zu beißen und dabei ernsthaft zu verletzen.

»Ab jetzt ist die Sache ein Selbstläufer. Es sind genügend Stücke im Umlauf. Die momentane Aufmerksamkeit schadet uns. Ein jungscher Schnüffler ist dabei, ein gewisser Mark Tschirner. Behalte den auf dem Kieker, der will sich hier nur Sporen verdienen. Öffentlichkeitsarbeit ist dein Terrain. Nun sorg bitte dafür, dass sie sich im brauchbaren Teil der Öffentlichkeit abspielt und nicht im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung.«

»Das hab ich verstanden! Ich schaffe das irgendwie aus der Welt. Ideen sind herzlich willkommen.«

»Auch für Ideen bist du zuständig. Gleich beim ersten Zwischenfall keine mehr zu haben, spricht nicht wirklich für deine Qualifizierung in dieser Sache.«

»Dieser erste Zwischenfall, wie du es nennst, kann uns alles kosten. Wieso hauchte der ausgerechnet an seiner Werkbank sein Leben aus?«

»Kollateralschaden. Wie Beifang beim Thunfisch. Auch da geht hin und wieder ein Delfin mit ins Netz.«

»Der Mann hat vier Kinder, die allesamt nicht auf den Kopf gefallen sind.«

»Im Zusammenhang mit der Todesursache des Mannes eine bemerkenswert poetische Metapher.«

»Du scheinst die Sache nicht sonderlich ernst zu nehmen.«

»Ich habe die Sache in dem Moment ernst genommen, als die Polizei auf dem Tableau erschien. Und dass sie erst mal ohne weitere Ermittlungen wieder abgezogen ist, halte ich für einen ziemlich brauchbaren Beitrag meinerseits zu dieser – wie du es nennst – Sache

»Ja ja! Ich hab verstanden. Sieh einfach zu, dass die Wogen flach bleiben, keinen Wind um nix, und schon geht alles wieder seinen gewohnten Gang.«

»Dann sieh du zu, dass du alles auf die Reihe kriegst, ich hoffe, du hast mitgeschrieben.«

»Sire, ich eile

Es war ein Abtasten gewesen. Die erste ernst zu nehmende Situation. Der größte anzunehmende Unfall. Und der eine konnte ihn nicht dem anderen in die Schuhe schieben. Es gab einen Dritten im Bunde, den beide nicht kannten und der beide wie ein kalter Windhauch berührte, obwohl das Fenster geschlossen war.