cover
e9783641139124_cover.jpg

Inhaltsverzeichnis

Widmung
Vorwort (Xavier Naidoo)
WO DRIFTEN WIR HIN? - Ein Unfall verändert ein Leben
NICHT VON DIESER WELT - Ein böses Erwachen
WAS WIRD MICH ERWARTEN? - Erste Schritte ohne Beine
WIR GEHÖREN ZUSAMMEN - Freunde fürs Leben
SEID IHR MIT MIR? - Bonus und Malus
WIR HABEN ALLES GUTE VOR UNS - Die Marke Sitzmann
DIESER WEG WIRD KEIN LEICHTER SEIN - Sitzmann lernt sitzen
EIGENTLICH GUT - Mein Weg in die Selbstständigkeit
VOLLE KRAFT VORAUS - Was mich bewegt
FREISEIN - Meine Straßen der Freiheit
SAG ES LAUT - Der gemeine Behinderte an sich ...
FÜHR MICH ANS LICHT - Handbike-Fieber
SEINE STRASSEN - Der Marathon-Sitzmann
WENN DU ES WILLST - Glauben versetzt Berge
DON’T GIVE UP - Motivation ist alles
WER WEISS SCHON, WAS DER MORGEN BRINGT? - Winning Sitzmann
DAS HAT DIE WELT NOCH NICHT GESEHEN! - Die Sitzmann-Mission
WAS WIR ALLEINE NICHT SCHAFFEN - Die Kraft der Familie
ERNTEN, WAS MAN SÄT - Vater sein
UNTER DIE HAUT - Sitzmann, Schwerpunkt Mann
DIE DINGE SINGEN HÖR’ ICH SO GERN - Nachwort: Last not least
Danke
Copyright

Danke

Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern für ihre Geduld und Kraft, die sie mir in guten und schwierigen Zeiten meines Lebens, gerade im Krankenhaus, entgegengebracht haben. Für ihre Zuversicht, ihren Ehrgeiz im richtigen Moment und ihre liebevolle Erziehung, die ich nun an meine Tochter Emely weitergeben darf. Ich danke meinen Brüdern Benjamin und Daniel für ihre Unterstützung und ihren Humor in all meinen Lebenslagen.

 

Ich danke meinen Großeltern, Liselotte und Helmut Karnetzky, und Christa und Eduard Sitzmann für ihre liebevolle Art, gemeinsam verbrachte Zeit und ihre Toleranz für all meine eingeschlagenen Wege. Möge Opi Helmut in Frieden ruhen und auf uns warten. Ich danke allen Mitgliedern der Familie Sitzmann und der Familie Karnetzky für ihre Begeisterung an meinem Leben und der Verbreitung meiner Lebensfreude. Besonders danke ich Chefarzt Dr. Georg Adamidis dafür, dass er am 31.08.1992 mein Leben gerettet hat und bis heute ein sehr wichtiger Mensch für mich ist.

 

Ich danke meinem besten Freund Stefan Dehmer für seine bedingungslose Freundschaft und seine Kraft, uns beide weiterzubringen. Ich danke Xavier Naidoo für seine inspirierende Musik, die mich auch zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Ich danke Eveline Sitzmann für fünf bewegte gemeinsame Jahre und die Kraft, unsere wundervolle Tochter Emely auf die Welt zu bringen. Ich danke Angela Bezzenberger für ihre langjährige tiefe Freundschaft und die gemeinsam verbrachten Wochenenden in Stuttgart zu Zeiten meiner Selbstfindung und ihre große Unterstützung nach meinem Unfall bis heute.

 

Ich danke Barbara Schmitt für fünf gemeinsame Jahre, in denen ich auch durch sie lernte, mit meiner Behinderung und meinem neuen Leben umzugehen.

 

Danken möchte ich auch Gregor Friedel und Thomas Niemitz, ohne die es keinen Film und somit auch dieses Buch nicht gegeben hätte. Mein Dank geht auch von ganzem Herzen an Michael Heil, der mich anfangs als mein Mentor und später auch als mein Freund viele Jahre unterstützt und begleitet hat und dies bis heute noch tut.

 

Herzlichen Dank an Christine Weiner und Bernd Görner, dass sie dieses Buchprojekt angeregt und tatkräftig unterstützt haben.

 

Ein freundschaftlicher und besonders herzlicher Dank geht an meinen Freund Max William Beyersdorf, der mich in guten und schwierigen Zeiten mit seiner positiven und kraftgeladenen Lebenseinstellung und seinem Know-how begleitet und unterstützt hat.

e9783641139124_i0014.jpg
 

 

Ebenso möchte ich mich für die bedingungslose Hilfe und den Einsatz der rotarischen Freunde aus Coburg bedanken, da sie dieses Buchprojekt und auch andere meiner Projekte menschlich und finanziell unterstützt haben. Wenn der gemeinsame Grundgedanke stimmt, ist nahezu alles möglich. Ich danke dem Herrn, dass ich lebe.

e9783641139124_i0015.jpg

WO DRIFTEN WIR HIN?

Ein Unfall verändert ein Leben

17 Jahre ist es jetzt her. Spätsommer 1992. Ein verregneter Tag in einem heißen Monat. Und ich gerade noch 15 Jahre alt. 2,04 Meter groß. Heute bin ich die Hälfte. Ein halber Mann. Ein Sitzmann. Namen sind Programm.

 

Über die Autobahn fahren. Nicht rasen, aber zügig fahren. Oder über Landstraßen cruisen. Dann kann ich am besten nachdenken. Meine Gedanken fließen mit der Leitplanke. Immer dort, wo sie unterbrochen ist, zerbeult, oder Bremsspuren zu sehen sind, da weiß ich, es ist etwas passiert. Das berührt mich immer noch. An jedem Unfall, den ich mitbekomme, ist auch ein Teil von mir mitbeteiligt.

 

Ich setze mich ins Auto, lege eine von Xaviers Platten auf und fahre los. Das Fahren und die Musik bringen meine Gedanken in Bewegung. Ich erzähle mir selbst mein Leben. Blicke zurück, nach vorne und schalte den Blinker ein. Hindernisse gibt es immer. Und überall. Heute nicht mehr und nicht weniger als damals.

 

Damals heißt im Klartext: in der Welt auf zwei Beinen.

 

Heute heißt im Klartext: im Rollstuhl.

 

»Herr Sitzmann, was klappt in Ihrem jetzigen Leben nicht mehr so gut?«, werde ich oft gefragt, und ich antworte:

 

»Treppensteigen.«

 

»Ist Ihr Name echt?«

 

Skurrilerweise ja!

 

Und: »Herr Sitzmann, und was vermissen Sie am meisten?« »Im Stehen vögeln«, sage ich und lache laut, damit die anderen es sich auch erlauben können. Das Lachen.

 

Ich bin unterwegs. Will einen Freund besuchen und muss wieder einmal an ihr vorbei: an der Raststätte, die meine Beine gefressen hat. Wieder einmal mache ich halt. Nicht, weil ich trauern will, sondern weil ich Hunger habe. Es liegt Schnee, viele LKW stehen hier, und ich höre die Aggregate brummen. Die Raststätte ist innen weiß getüncht, und an einem der Tische sitzt ein Mann, der Jägerschnitzel mit Kroketten isst. Alles ist ganz normal, bis auf die Tatsache, dass ich keine Beine habe. Die Blicke folgen mir verschämt. Kenne ich schon, und meinen Hunger beeindrucken Blicke nicht. Verschämte schon gar nicht. Ich ziele die Theke an.

 

»Bratwurst mit Pommes ohne Ketchup.« Auch Männer ohne Beine essen gern.

 

Viel Leuchtreklame in Rot ist hier zu sehen. Bin ich hier im Rotlichtmilieu gelandet? Klirrende Kälte, die die Brummifahrer zu den Türen hereintreibt. Von irgendwo steigen Nebelschwaden auf.

 

Das könnte hier eine gute Location für den Anfang eines guten Krimis sein, denke ich Bratwurst essend und schaue aus dem Fenster zu meinem Auto hin. Es wartet auf mich auf dem Behindertenparkplatz. Kein anderer Wagen weit und breit. Kein gutes Gelände heute, weder für Rollstuhlfahrer noch für Menschen, die auf Füßen gehen. Es ist alles vereist. 10-15 cm Schnee. Ein Wunder, dass ich nicht auf die Fresse gefallen bin.

 

Die Raststätte war früher ein Treffpunkt für Lastwagen aus aller Herren Länder. Deswegen war auch damals mein Lastwagenfahrer da. Vielleicht hielt er an, um Bratwurst zu essen – mit Pommes ohne Ketchup. Und dann wollte er weiter, aber Stefan und ich waren ihm im Weg. Und dann nur noch ich. Und dann nur noch meine Beine. Mein Lastwagen kam aus Norddeutschland. Das ist lange her. Die Hälfte meines Lebens. Es macht mir nichts aus, davon zu erzählen oder darüber nachzudenken. Viel Gutes ist seitdem passiert. Diese Raststätte hier ist für mich nichts anderes als der Parkplatz, an dem ein neues Leben für mich begann.

 

Während ich meine Pommes nachsalze, verfolgen meine Augen das Abendprogramm, das stumm aus dem Fernseher rieselt, der unter der Decke hängt. Das Ganze unterlegt mit einer Tonspur aus dem Radio. Ich hab das noch nie begriffen, warum in Kneipen Fernseher laufen, obwohl ihr Ton abgeschaltet ist.

 

Jetzt ist ein älteres Ehepaar hereingekommen, das auch Schnitzel mit Pommes essen will. Sie nicken zu mir herüber und ich lächle zurück. Niemand sieht, dass ich keine Beine habe. Meine fehlenden Füße sind unter dem Tisch und da schaut niemand mehr hin, der in mein lachendes Gesicht geschaut hat. Die meisten Menschen kommen nicht einmal auf die Idee, dass ich so schwer behindert bin. Wo ich doch so offen lachen kann.

 

Ich muss mal aufs Klo. Die Behinderten-Toilette ist sehr sauber, und es riecht auch richtig gut hier. Das Personal ist aus Polen oder Russland. Sehr zuvorkommend und freundlich. Die beiden halten mir sofort die Tür auf. Ich müsse nichts bezahlen, erklärt mir der Mann. Keine Pinkelgebühr. »Warum nicht?«, frage ich zurück. Die Toilette muss ja trotzdem geputzt werden. Ich lege 70 Cent in die Schale und merke: In dieser Schale sind wir alle gleich, denn das Kleingeld wandert sofort in seine Kitteltasche.

 

Was hat das Pinkeln eigentlich damals gekostet? Kann mich nicht mehr daran erinnern, wie an so vieles, was mir entfallen ist. Durch einen Unfall trennt sich so manches. Was war davor und was danach? Wer war aufmerksam, und wer war es nicht? Wer war Schuld und wer hatte keine? Und auch ich, der Sitzmann, wurde getrennt. Danach gab es einen oberen und einen unteren Sitzmann. Wie in Wien das obere und das untere Belvedere zu besichtigen ist. Nur dass meine unteren Prunkräume nicht mehr zu sehen sind.

 

Und: Viele Überlegungen tauchen nach einem solchen Unfall auf. Wenn wir nicht Rast gemacht hätten ... Wenn das Wetter gut gewesen wäre … Wenn wir nicht so gehetzt gewesen wären … Wenn der Lastwagenfahrer doch noch eine geraucht hätte, bevor er wieder losgefahren wäre. Fünf Minuten hätten gereicht. Vier Minuten. Drei, zwei, eine. Nicht nur Minuten, Sekunden können im Leben alles verändern. Sogar Bruchteile von Sekunden. Die Überlegungen kommen zu spät. Sie rollen das Leben nach hinten auf, und das funktioniert einfach nicht. Man muss nach vorne blicken. Immer. Mit und ohne Beine.

 

Ich denke jetzt nur darüber nach, weil alle möglichen Leute immer wieder darüber nachdenken und mich dann fragen. Sie sehen mich, hören meine Geschichte und schon kommt: Oh Scheiße, wenn die doch noch einen Moment gewartet hätten und Flo noch mal pinkeln gegangen wäre, obwohl er schon pinkeln war, dann könnte er jetzt noch laufen und bräuchte nicht den blöden Rollstuhl.

e9783641139124_i0003.jpg

 

Klar. Alles wäre anders gekommen, hätten Stefan und ich damals nicht diese Tour nach Holland gemacht. Haben wir aber. Gut gelaunt und mit den besten Absichten. Ein Kurztrip in Partylaune. Ich hatte ein Mädchen wiedertreffen wollen, das ich ein paar Wochen zuvor dort in einer Jugendherberge an der Bar kennen gelernt hatte. Die wollte ich unbedingt wiedersehen. Und dann kamen wir an, und die süße Holländerin war nicht mehr da. Schöner Mist. Und ich, total verknallt, hatte nicht einmal ihren Namen oder eine Telefonnummer. O.K., verlieren gehört zum Pokern, das Risiko zum Spiel!

 

Stefan und ich hockten uns an dem Abend an die Bar, und ich trank eine ganze Menge unmögliches Zeug. Grauenhafte Kombinationen aus Alk und Cola. Die Party, wegen der wir nach Holland gefahren waren, fand dann zwischen uns beiden statt und endete damit, dass wir sternhagelvoll ins Bett fielen und am nächsten Morgen megamäßig verschliefen. Es war ein Sonntag, und wir wollten schnell nach Hause. Als wir endlich aufwachten, war aber bereits späte Kaffeezeit. Sehr späte Kaffeezeit! Das war eine Katastrophe, weil ich ja am nächsten Tag Schule hatte und Stefan wieder zur Arbeit musste. Wir blickten gehetzt auf unsere Uhren, rutschten mit den Fingern auf der Landkarte herum, fanden keine Abkürzung und hatten Panik in den Augen. Panik kenne ich eigentlich als Zustand nicht. Nur heute taucht sie dann und wann auf, wenn ein anderer am Steuer sitzt. Der Unfall hat einen echt miesen Beifahrer aus mir gemacht.

 

Wir machten uns damals, so schnell es ging, auf den Weg. »Nein, danke, kein Kaffee! Nein, wirklich nicht! Danke, wir müssen echt ganz schnell los!« Zuerst war es sonnig und trocken. Aber je näher wir gen Homebase kamen, desto dunkler wurde der Himmel über uns. Die Wolken zogen sich grau zusammen, in weiter Ferne zuckten am Himmel ein paar Blitze, der Wind zerrte an den Bäumen und an uns, und bald schon klebten wir beide komplett durchnässt auf dem Motorradsattel fest. Es regnete wie aus Kübeln, aber Stefan fuhr trotzdem sehr, sehr sicher. Er hatte den Führerschein schon eine ganze Weile, weil er älter ist als ich. Ich hätte mir die Fahrt bei diesem Regen ganz bestimmt nicht zugetraut.

 

Es war wirklich eine grauenhafte Fahrt. Als ich die Schilder der Raststätte sah, brüllte ich unter meinem Helm zu ihm nach vorne: »Halt mal an, ich muss aufs Klo!« Obwohl nur noch ein paar Kilometer vor uns lagen, hatte ich langsam echt genug und außerdem jetzt auch noch Hunger.

 

Wir bogen zur Raststätte »Hunsrück« ab. Nach Hause waren es noch 80 Kilometer. Schnell tanken, von den letzten Groschen was essen. »In einer Dreiviertelstunde sind wir zu Hause.« Bloß kein langer Stopp. So nass, wie wir waren, dachten wir an nichts anderes als an eine warme Dusche und noch irgendwas Gutes zu essen. Heim zu Mamas Herd. Ich rannte runter auf die Toilette. Die, die heute 70 Cent kostet und für Behinderte eine Gratis-Leistung ist. 1992 hatte ich noch die andere Tür genommen. Bereits nach zehn Minuten waren wir wieder soweit. Rauf auf das Motorrad, ziemlich matt und mürbe von dem Wetter. Stefan war die ganze Zeit gefahren, denn ich hatte ja noch gar keinen Führerschein.

 

Die Stimmung war nicht schlecht. So wie immer. Stefan und ich, wir sind zwei lustige Typen, die sich so schnell nicht ins Bockshorn jagen lassen. Das waren wir immer. Das sind wir immer noch. Wir verstehen uns wortlos. Aber wir waren bei diesem Trip echt »abgeschafft«! Wenn es nicht geregnet hätte, wir hätten uns ohne Probleme neben die Straße gelegt und die Augen für eine Runde zugemacht, so fertig waren wir. Ich kann diese Müdigkeit fast heute noch in meinem Körper spüren. Trotz Motorenlärm und Auspuff-Gestank wären wir neben der Straße sofort eingeschlafen.

 

Hätten wir’s nur getan! Das wäre das Beste gewesen. Aber wir haben es nicht gemacht. Erstens regnete es, zweitens war es kalt – viel zu kalt für einen Tag im August – und drittens waren wir die »jungen Wilden«. Und die jungen Wilden wollten nach Hause ins warme Nest. Und zwar schnell! Wir stiegen aufs Motorrad und fuhren los. Dann ist es auch gleich passiert. Das Ende des Ausflugs, ohne Rendezvous mit der Prinzessin, aber mit der Bekanntschaft eines Lastwagens.

 

Alles ging ganz schnell. Diesen Satz hört man immer bei Unfällen. »Alles ging ganz schnell!« oder »Es geschah wie in Zeitlupe.« Sie haben die Wahl. Bei mir ging alles ganz schnell.

 

Stefan kam auf dem Beschleunigungsstreifen, der zur Autobahn führt, zu weit nach links. Das kann passieren, besonders bei so einem Sauwetter, und ist in der Regel auch nicht sehr schlimm. In diesem Fall und an diesem Tag zu dieser Stunde, Minute, Sekunde, war es ungünstig, um nicht zu sagen, verdammt blöd.

 

Von hinten kam der Laster.

 

Dann kam der Knall.

 

Ich flog durch die Luft.

 

Schmerzen hatte ich keine. Nee, das nicht.

 

Stefan fiel nach rechts auf den Grünstreifen und ich nach links auf die Straße: unter die Reifen.

 

So fing es an. Mein Leben ohne Beine. Sie müssen nicht erschrecken. Es ist gut, was jetzt kommt. Versprochen!

 

Welche Gedanken hatte ich eigentlich, frage ich mich heute. Spürte ich, dass eine Lebenswende nahte? Ich erinnere mich nicht. Ich dachte: Scheiße, was ist denn jetzt passiert? Und: Hoppala!

 

Da ich keine Schmerzen hatte, befürchtete ich nichts. Ich hab nur gedacht, die Haxen sind wahrscheinlich ziemlich kaputt. Meine Beine fühlten sich blöd an. Aber ich hätte nie gedacht, dass die so kaputt sind, dass man sie absägen muss. Ich lag auf der Straße und wollte eigentlich aufstehen. Dann kam Stefan angerannt und brüllte, dass ich mich nicht bewegen solle. Er zog mich dann von der Autobahn.

 

Hätte Stefan mich nicht weggezogen, wäre wahrscheinlich gleich der nächste Laster oder Wagen über mich gerollt, und das wäre dann wirklich mein Ende gewesen. Eine Menge Frauen hätte ich dann nicht kennen gelernt. Eine ganz kleine vornan: meine Tochter Emely. Sie ist jetzt ein Jahr alt. Daddys Liebling. Emely würde dann nicht einmal existieren und das wäre für die Menschheit wirklich ein Verlust, denn sie ist ein echter »Wonneproppen«.

 

Aber damals ahnte ich noch nichts davon. Nichts von den Zielen, die ich noch erreichen würde, von dem Spaß, den ich habe, dem Erfolg, nichts von Emely und nichts von den Fahrten, die ich heute für mich mache. Fahrten durch die Dunkelheit. Zum Nachdenken und Entspannen.

 

Damals lag ich nur auf der Straße, habe mir die Brille und den Helm abgezogen und hörte Stefan laut schreien: »Nee, nee, nicht aufstehen, bloß das nicht. Bleib liegen! Bleib bloß liegen!«

 

Er sah geschockt aus. Das bekam ich noch mit. In meinen Ohren rauschte es. Ein surrendes Geräusch. Es waren die Autos auf der Autobahn. Fast melodisch klang das, fast hypnotisch. Das Surren machte mich unendlich müde, und ich fühlte die Nässe und die Kälte gar nicht mehr so sehr.

 

Wenn ich heute beim Fahren die Fenster runterkurbele und wenn es dann noch regnet, dann ist es wieder da. Alles. Die Räder auf dem nassen Asphalt, die Laster, das Überholen. Das Surren, das ich wiedererkenne, erzählt mir einen Teil meiner Geschichte.

 

Dass ich liegen bleiben sollte, hat mir nicht gefallen. Ich bin nicht der Typ, der irgendwo liegen bleibt. Aber ich fühlte mich schrecklich schwach, bekam immer schlechter Luft und begann zu hecheln. Das war nicht so schlimm. Was ich entsetzlich fand, war das Liegenbleiben. Ich hatte, wenn ich aus meiner Trance auftauchte, einen wahnsinnig starken Drang, aufzustehen und zu gehen. Das weiß ich noch. Bewegung ist mein Leben. Ich wollte den Unfallort einfach verlassen. Weggehen, wegrennen, weghüpfen. Weg, einfach weg! Wenn man mich festhalten will, dann drehe ich fast durch. Das bezieht sich auf alles. Auf Frauen, Jobs, Erfahrungen, auf mein ganzes Leben. Nicht umsonst bin ich ständig unterwegs. Mit Beinen. Ohne Beine. Und mit einem meiner Autos. An diesem Tag ging aber nichts mehr von alledem.

 

Irgendwelche Auto- oder Brummifahrer alarmierten per Handy die Polizei und den Rettungsdienst. Es dauerte noch eine knappe Viertelstunde, dann waren alle da. Blaulicht, Sirene, Absperrung, alles, was so ein Unfall braucht. Ich fühlte mich hellwach, obwohl ich nicht weiß, ob ich es wirklich war. Irgendein Sanitäter kam und schnitt mir die Jacke auf. Aus dem Gerede um mich herum konnte ich mir zusammenreimen, dass die Helfer vermuteten, ich hätte etwas am Kreuz.

 

Es war ganz seltsam. Ich hörte es und hörte es auch wieder nicht. Die Worte drangen nicht zu mir durch. Kaum in mein Gehirn hinein und schon gar nicht in meine Seele. Auf dieser Trage im Krankenwagen, der Sanitäter legt Kanülen und sonstige Zugänge an, Infusionen werden gestöpselt, aber ich – ganz ruhig. Ich ließ es mit mir geschehen und wartete auf das, was passierte.

 

»Lasst mich zu ihm rein!«, hörte ich Stefan und sah, wie die Sanitäter ihn zurückhielten. Stefan schrie, dass er zu mir wolle. Immer wieder schrie er das. So taumelig wie ich war, erschien es mir wie ein gesungenes Mantra. Sein Schreien löste das Surren der Räder, das ich wahrnahm, ab. Dann war alles nur noch schwarz vor meinen Augen.

 

So war das. Aus meiner Krankenakte weiß ich, dass ich lange zwei Stunden im Rettungswagen lag, weil der Hubschrauber nicht landen konnte. Wir hatten schlechtes Wetter. Der Himmel über Deutschland hatte sich zusammengezogen.

 

Heute ist diese Raststätte für mich eine Raststätte wie jede andere in Deutschland. Es hat sich hier auch viel verändert. Wenn ich nicht wüsste, dass hier mein Schicksalstag passierte, ich würde diese Raststätte nicht einmal wiedererkennen. Zu keiner Zeit musste ich herkommen, um vielleicht etwas aufzuarbeiten oder mich dieser Vergangenheit zu stellen. Ich bin hier, weil mich mein Weg in die Gegend führte. Da ist es einfach gut, mal haltzumachen. Aber es hätte auch einen anderen Rastplatz treffen können.