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Endnoten

1

Peter L. Berger, The Heretical Imperative: Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, New York 1979; dt. Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1992, S. 3945. [Anm. d. Übers.]

2

Moses Mendelssohn, Schriften über Aufklärung und Religion, hrsg. und eingel. von Martina Thom, Berlin 1989, S. 314 ff. [Hervorh. im Orig.].

3

Schabbat ist im Hebräischen feminin, dodi (›mein Freund‹) ist Gott; Gott und Israel empfangen den Schabbat. [Anm. des Übers.]

Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig III,1, V. 63
(Übersetzung: A. W. Schlegel)

Jüdische Einwanderer in Israel aus verschiedenen Ländern. Auffällig ist die Vielfalt der Gesichtszüge, die eine ganz unterschiedliche ethnische Herkunft zeigen

(Fotos: Werner Braun, Jerusalem)

Einleitung

Die Suche nach den richtigen Wörtern

Dies ist ein Buch in deutscher Sprache. Wie alle anderen Sprachen, die sich in einer christlichen Kultur entwickelten, ist sie nicht neutral. Sie ist vielmehr mit christlichen Begriffen und Prämissen befrachtet. Und da das Christentum im 1. Jahrhundert nach der Zeitwende aus einem innerjüdischen Konflikt entstand und sich gegen das Judentum abgrenzte, ist es schwierig, die jüdische Religion aus einer christlichen Kultur und Sprache heraus so unbefangen zu betrachten, wie man etwa den Schintoismus oder den Buddhismus betrachten würde. Man denke nur an einige der beleidigenden Untertöne, die in dem schlichten Wort »Jude« lange Zeit mitschwangen.

Wenn man mit Fragen beginnt: »Was denken die Juden von Jesus?« oder: »Was ist im Judentum wichtiger, der Glaube oder die Werke?«, ist man bereits auf dem Holzweg: Auf diese Weise nähert man sich der jüdischen Religion mit christlichem Gepäck. Es finden sich in diesem Buch auch auf solche Fragen Antworten, doch helfen sie nicht, das Judentum so zu verstehen, wie es sich selbst, von innen heraus, versteht. Für das Judentum steht Jesus nicht im Zentrum, noch setzt es voraus, dass Glauben und Werke einen Gegensatz bilden.

Beginnen wir daher von vorne und versuchen herauszufinden, was »Judesein« heißt und wie die jüdische Religion von innen aussieht. Es folgt zuerst eine Liste von zentralen Begriffen, die einer Gruppe christlicher Studenten nützlich erschienen, um anderen das »Christsein« zu erläutern:

Die nächste Liste stammt von einem gläubigen Juden, der einer Gruppe von Christen seinen Glauben erklären wollte:

Etliche Begriffe (Gott, Thora, Israel) sind deutschsprachigen Christen durchaus vertraut. Doch derjenige, der die Liste zusammenstellte, glaubte offensichtlich, sie seien dennoch erläuterungsbedürftig, weil sie leicht missverstanden werden könnten. Die Mehrzahl sind dagegen rein hebräische Begriffe; ihre Bedeutung im Deutschen zu formulieren ist überaus schwierig, obgleich es sich um alltagssprachliche, also eigentlich »leichte« Wörter handelt.

Dass alle Begriffe der christlichen Liste, bis auf die christologische Gruppe »Sohn«, »Kreuzigung«, »Himmelfahrt« und »Geburt Christi«, auch in einem jüdischen Gespräch vorkommen könnten, ist nicht weiter überraschend. Doch sie transportieren andere Bedeutungsnuancen und haben ein anderes dogmatisches ›Gewicht‹. Gerade die in beiden Glaubenstraditionen viel benutzten Begriffe »Bund Gottes«, »Erlösung« und »Heilige Schrift« sind es aber, die am meisten Verwirrung stiften. Ihre Bedeutungen decken sich partiell, sind aber nicht identisch. So hat man manchmal den Eindruck, dass die beiden Religionen durch eine gemeinsame Sprache mehr getrennt als vereint sind.

Man störe sich nicht daran, dass die hebräischen Wörter so klingen, als ließen sie sich nur schwer einprägen oder verstehen. Sie werden in diesem Buch, wenn nötig, immer wieder erklärt. Ihre Bedeutung erlernt man freilich am besten im Kontext: bei der Lektüre dieses oder anderer Bücher oder im Gespräch mit Juden, die sie als ganz selbstverständlich verwenden. Es verhält sich damit genau wie mit dem Erlernen einer anderen Sprache – und es handelt sich ja auch wirklich um das Lernen einer Sprache, nämlich der ›natürlichen‹ Sprache der jüdischen Religion.

Religionen sind keine abstrakten Gebilde. Ihre Anhänger beteuern oft, Gott habe sie ihnen eingegeben oder sogar die heiligen Texte diktiert und sie seien ewig gültig. Doch die Menschen müssen diese Texte für ihr Leben auslegen und sie anwenden, und die auf den folgenden Seiten entrollte Geschichte handelt davon, wie die Juden mit ihren Texten während der vergangenen zwei Jahrtausende gelebt haben.

Unsere Geschichte hat vier Darsteller: Gott, die Thora, das Volk Israel und die umgebende Welt. Beziehungen spielen in ihr eine zentrale Rolle: das ›Einzelne‹ (Israel) steht in ständiger Wechselwirkung mit dem ›Allgemeinen‹ (der Menschheit als ganzer in Gestalt der kulturellen Umwelt). Es gibt Herausforderungen und Reaktionen, Spannungen und Lösungen, Tragödien und Freuden.

Judentum im engeren Sinn ist die Religion der Juden. Aber wer sind die Juden? Das ist das Thema des ersten Kapitels. Vorerst betrachten wir als Juden alle Mitglieder jener heutigen Gruppen, die sich positiv auf die von den Rabbinen des Talmuds definierten Traditionen beziehen (mehr über den Talmud in Kapitel 3). Ausgeschlossen ist dadurch die »Religion des Alten Testaments«, die in den eher reaktionären theologischen Seminaren noch immer als Zweig der Judaistik präsentiert wird. Die ›Welt‹ der Rabbinen wurzelt in jenen Partien der Hebräischen Schrift, auf die sie ihre Autorität stützt. Wir werden allerdings sehen, dass diese Welt von einer wörtlichen Textauslegung weit entfernt ist.

Unsere Definition schließt auch andere »jüdische Sekten« aus, die im 1. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten – Essener, Sadduzäer, Samariter und »Judenchristen«. (Einige dieser Gruppen werden uns freilich in Kapitel 2 wiederbegegnen. Dort wird berichtet, wie es zur Spaltung von Judentum und Christentum kam, die ursprünglich eine Religion bildeten.)

Das zentrale Thema dieser Einführung bildet die Religion. Sie lässt sich jedoch nicht von der Gesellschaft, der Geschichte oder den emotionalen Erfahrungen und geistigen Erkenntnissen ihrer Gläubigen trennen. Wir flechten daher einige Informationen über die jüdische Gesellschaft und die Geschichte der Juden ein.

Dabei treffen wir unsere eigene Wahl zwischen den großen Schulen der jüdischen Historiographie, welche die gleiche Geschichte so verschieden erzählen. Da gibt es die »tränenreiche« Schule, für welche die jüdische Geschichte ein Jammertal, ein Leiden und Martyrium, eine einzige Kette von Verfolgungen ist. Diesen Typus kennen wir seit Ephraim von Bonn aus dem 12. Jahrhundert, der seine berühmte Martyrologie im Gefolge der den Zweiten Kreuzzug begleitenden Massaker an den Juden im Rheinland, in England und Frankreich verfasste. Weiter gibt es die »Jerusalem«-Schule (Ben Zion Dinur), in deren Sicht die ganze jüdische Geschichte auf das Land Israel bezogen ist. Am anderen Pol steht der große Historiker Simon Dubnon, der die positiven Leistungen des »Diaspora-Judentums« hervorhob. Und es gibt die traditionellen Theologen, die – in echt biblischem Stil – die jüdische Geschichte behandeln als fortlaufende Erzählung von der Sündhaftigkeit und Buße des jüdischen Volks und von Gottes Strafen und Belohnungen oder sie in große »vorherbestimmte« Zyklen einteilen, die in der Ankunft des Messias kulminieren. Scherira Gaon, im 10. Jahrhundert in Babylon lebend, wurde zum Vorbild für all jene, die jüdische Geschichtsschreibung als die Aufgabe ansahen, die authentische Tradition bis zu Moses zurückzuverfolgen. Franz Rosenzweig im 20. Jahrhundert dagegen scheint die Bedeutung der Geschichte überhaupt zu negieren: »Wir sehen Gott in jeder ethischen Handlung, aber nicht in dem vollendeten Ganzen, der Geschichte; denn wozu bräuchten wir einen Gott, wenn die Geschichte göttlich wäre?«

Für uns jedoch steht die kreative Geschichte des Judentums im Vordergrund. Die Leiden, die Verfolgungen und Vertreibungen kann niemand leugnen. Erstaunlich aber ist, dass der jüdische Geist dennoch über die Jahrhunderte hinweg geblüht hat in einer noch immer nicht endenden Prozession von Dichtern und Heiligen, von Philosophen und Bibelkommentatoren, von Grammatikern und Talmudisten, von Juristen, Satirikern, Rabbinen und Pädagogen, aber auch von unbesungenen Frauen und Männern einfachen Glaubens.

1 Wer sind die Juden?

Gehört die Tomate zum Obst oder Gemüse? Für den Botaniker unzweifelhaft zum Obst, für den Küchenchef zum Gemüse – was aber würde die Tomate selbst sagen? Wenn sie überhaupt über die Sache nachdächte, würde sie wohl die gleiche Identitätskrise erleben, in die Juden leicht geraten, wenn man sie in die Zwangsjacke einer Rasse, einer ethnischen Gruppe oder einer Religion zu stecken versucht. Lässt man sie in Ruhe, sind Tomaten und Juden weder besonders komplizierte noch obskure Wesen. Sie passen aber nicht ohne weiteres in die bequemen Kategorien wie »Obst« oder »Gemüse«, »Nation« oder »Religion«, die zur Klassifizierung anderer Nahrungsmittel und Menschen sonst so nützlich sind.

Woran würden Sie eine Jüdin oder einen Juden erkennen, wenn sie oder er Ihnen auf der Straße begegnete? Es gibt sowohl schwarze wie weiße, orientalische wie okzidentale, konvertierte wie jüdisch geborene, atheistische, agnostische und noch viele andere Typen von religiösen Juden. Ist es da überhaupt möglich, die Juden kollektiv zu beschreiben? Wie viele Juden gibt es? Und wo leben sie?

Wer waren die Juden früher?

Die Frage nach der jüdischen Identität ist überraschend neu. Im Mittelalter etwa sah niemand darin ein Problem. Man wusste, wer die Juden waren. Die Juden waren ein »besonderes Volk«, »das auserwählte Volk«, wie es in der Bibel heißt, auserwählt von Gott zum Träger seiner Offenbarung. Doch sie hatten Jesus verworfen. Sie waren deshalb verflucht und zu einem niederen sozialen Status verdammt, bis sie Jesus anerkennen würden, wenn die Zeit erfüllt sei. Im späten Mittelalter hatte sich die christliche Voraussage erfüllt: die Christen hatten unter Anwendung politischer Macht die Juden tatsächlich in jenen niederen sozialen Status abgedrängt, den sie ihnen prophezeit hatten. Die Juden wurden gezwungen, in Ghettos zu leben, sie mussten besondere Kleidung tragen, waren von Zünften, Berufen und Landbesitz ausgeschlossen, wurden von den Kanzeln als Christusmörder geschmäht, der Brunnenvergiftung (zur Zeit der Pest) beschuldigt, sowie der Hostienschändung, des »Ritualmords« an christlichen Kindern (die sogenannte »Blutanklage«: angeblich benutzten sie ihr Blut für das Pessach) und so gut wie jeder Schandtat, die nur ein verwirrter Geist auf eine fremde Gruppe projizieren konnte.

Es ist aufschlussreich, ja geradezu schockierend, wie die Juden in der christlich religiösen Kunst, besonders des Westens, dargestellt wurden. Vor dem 12. Jahrhundert besaßen sie keine physischen Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Dann erfolgte plötzlich ein Umschlag: die europäischen Juden bekommen Hakennasen, Schwimmfüße und andere Merkmale, mit denen man sich sonst die Physiognomie des Teufels auszumalen pflegte. Selbst im 20. Jahrhundert hält sich noch in Teilen Europas der Volksglaube, die Juden trügen Hörner. Natürlich waren es nicht die Juden, die ihr Äußeres im 12. Jahrhundert auf mysteriöse Weise verändert und in neuerer Zeit zurückverwandelt hatten, sondern es war die christliche Ikonographie, die von nun an den Mythos des jüdischen Bundes mit dem Teufel artikulierte.

Die in der mittelalterlichen »Christenheit« erzeugten Stereotypen waren selbst dann noch virulent, als das System unter dem Einfluss der Aufklärung zusammenbrach. Sogar Voltaire, ein Protagonist der Aufklärung, hielt die Juden für eine verkommene und minderwertige Rasse. Anstelle des theologischen Antijudaismus der Kirchen entwickelte sich ein rassistischer Antisemitismus, der in der »Endlösung« der Nazis, dem Projekt der Erniedrigung und physischen Ausrottung der »jüdischen Rasse«, gipfelte.

Doch die Nazis hatten ein Problem. Spätestens 1933 war es völlig evident, dass die Juden keine Schwänze, Hörner oder irgendwelche anderen anstößigen Züge besaßen, die sie von anderen Deutschen (oder Polen oder wem immer sonst) unterschieden. Als Goebbels und sein Propagandaapparat die mittelalterlichen Karikaturen im Stürmer wiederaufleben ließen, war denn auch die jüdische »Normalität« derart weit vom Hirngespinst der rassischen Verschiedenheit der Juden entfernt, dass die Nürnberger Gesetze geradezu hilflos Juden als Personen definieren mussten, die zumindest von einem jüdischen Urgroßelternteil abstammten, also 1212 Prozent »jüdisches Blut« in sich trugen. Es war ein böses Omen, dass die Nazis ihre ersten antijüdischen Gesetze – unter anderem Boykott, Rassentrennung und besondere Kleidung – just auf jene Dekrete stützten, die Papst Innozenz III. während des 4. Laterankonzils von 1215 erlassen hatte. Ein Hauptziel dieser Gesetzgebung war es, die Juden dadurch zu isolieren, dass sie anders als andere Menschen aussehen sollten – trotz der Tatsache, dass die Natur sie unpassenderweise ungefähr genauso geschaffen hatte wie die anderen auch.

Wie dachten die Juden früher über sich selbst?

Solange die christliche oder muslimische Umwelt die Juden weiter als ein »besonderes Volk« definierte und Gesetze zur Sanktionierung ihres speziellen Status erließ, haben die Juden ihre gesellschaftliche Situation verinnerlicht und ihr Los in den alten biblischen Kategorien interpretiert. Sie sahen sich als Gottes auserwähltes Volk, als eine Nation im Exil. Wie ihre Unterdrücker glaubten sie, Gott habe sie wegen ihrer Sünden verbannt. Doch sie zogen daraus andere Schlüsse als Christen und Muslime. Während die Christen und – in einem geringeren Maße – die Muslime verkündeten, Gott habe die Juden, indem er sie bestrafte, verworfen und fallengelassen, hielten die Juden ihr Los für eine Bestätigung ihres Status der »Auserwähltheit«: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er« (Sprüche 3,12). Die Völker, bei denen sie im Exil lebten, glichen den »unreinen« Götzenanbetern von ehedem, deren Schmeicheleien und üblem Einfluss sie um jeden Preis widerstehen mussten – bis zu der Zeit, wo Gott in seiner unendlichen Gnade beschließen würde, sein Volk zu erlösen und unter seinen Schutz zu stellen.

So hatten die Juden im ganzen Mittelalter und bis weit in spätere Zeit überall da, wo mittelalterliche Denkweisen und Gesellschaftsstrukturen fortbestanden, kein ›Identitätsproblem‹. Und da ihre eigenen Traditionen und ihre kulturelle Umwelt sich gegenseitig stabilisierten, war eine klare Trennlinie zwischen ihnen und ihren geographischen Nachbarn gezogen.

Natürlich gab es immer Sonderfälle, doch sie waren gering und ließen sich leicht durch tradierte Regeln entscheiden. Was war etwa der Status eines Kindes jüdischer Eltern, das von einem Feind gefangengenommen, christlich erzogen und später wieder in den Schoß des jüdischen Volkes zurückgekehrt war? Oder was war der Status des Kindes einer jüdischen Frau, die – wie es nicht selten geschehen sein mochte – von einem christlichen Soldaten oder Oberherrn vergewaltigt wurde? Die Regel, die sich zumindest bis in die Römerzeit zurückverfolgen lässt, war klar. Das Kind einer jüdischen Mutter war Jude; das Kind eines jüdischen Vaters mit einer nichtjüdischen Frau war Nichtjude, zumindest so lange, bis es formell konvertiert war. Diese Regel gilt noch immer in den meisten jüdischen Gruppen. In jüngster Zeit jedoch haben Reformkongregationen in den USA, dem Trend zur Geschlechtergleichstellung folgend, entschieden, dass wenn einer der beiden Eltern Jude ist, das Kind die vollen Rechte in der jüdischen Gemeinde besitzt, ohne formell konvertiert sein zu müssen (vgl. S. 137).

Wie sehen sich die Juden heute selbst?

In einem kürzlich erschienenen Buch über jüdische Identität definiert Michael Meyer, Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College Jewish Institute of Religion in Cincinnati, im Anschluss an die Forschungen des Soziologen Erik H. Erikson »Identität« als

»die Gesamtheit der Charakteristika, die die Individuen als konstitutiv für ihr Selbst erachten. Die individuelle Identität wurzelt in Identifikationen des Heranwachsenden mit Personen, die ihm nahestehen, mit deren Werten und Verhaltensmustern. Während es zum Erwachsenen heranreift, müssen diese Identifikationen vom Individuum nicht nur aufeinander abgestimmt, sondern auch an die Normen der Gesellschaft, in der es eine Rolle zu spielen hat, angepasst werden. Dieser Prozess repräsentiert die ›Identitätsbildung‹ […].«

Für den Ghettojuden stellte die Anpassung »an die Normen der Gesellschaft, in der das Individuum eine Rolle zu spielen hat«, kein großes Problem dar. Zwischen den Normen und Werten der Gesellschaft, als deren Glied er sich empfand – d. h. der jüdischen Gesellschaft –, und jenen, die er in der Familie, in der er aufgewachsen war, erworben hatte, gab es keine ernsthaften Konflikte. Familie, Gemeinde und die Fremdheit gegenüber dem, was jenseits lag, bildeten das Amalgam, aus dem sich eine klare Identität herauskristallisieren konnte.

Doch als die Juden in Europa und Amerika allmählich die Bürgerrechte erlangten und sich als Bürger der neuen Nationen oder gar der ganzen Welt fühlten, wurden viele mit radikal anderen Normen als jenen, die sie von ihrer Kindheit her kannten, konfrontiert. Ihre Identität wurde weniger klar, weniger sicher.

Meyer behauptet, dass drei Faktoren zur Ausbildung der heutigen jüdischen Identität beitrugen – Aufklärung, Antisemitismus und die Entstehung des Staates Israel. Wir wollen sehen, worin die Wirkung dieser Faktoren bestand.

Als die Juden, befreit von den Beschränkungen des Ghettolebens, durch die Aufklärung selbst einem Anpassungsprozess an die moderne Kultur unterworfen waren, sahen sie sich gezwungen, ihr eigenes Verhalten statt durch Berufung auf irgendeine Autorität, etwa eine spezielle Offenbarung, durch Vernunftgründe – die allen gemeinsame Diskussionsbasis – zu rechtfertigen. Eine zweite Forderung der Aufklärung war, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. Sie brachte den Juden zwar neue Bürgerrechte, bedeutete aber zugleich eine Absage an ihr Selbstverständnis als ein »besonderes Volk«.

Niemand hat dies wohl schärfer ausgesprochen als Graf Clermont-Tonnerre, der sich vor der Nationalversammlung der Französischen Revolution 1789 für die volle Staatsbürgerschaft der Juden einsetzte: »Als Volk muss man den Juden alles verweigern, als Individuen aber ihnen alles geben. Sie müssen gleichberechtigte Staatsbürger werden.« Mit anderen Worten, den Juden sollten die vollen französischen Staatsbürgerrechte gewährt werden. Dafür mussten sie auf ihre kollektive Sonderstellung und Autonomie verzichten. Die Entscheidung des Individuums sollte an die Stelle der tradierten Gemeindeautorität treten und die Religion zur »Privatsache« werden. Zwar begrüßten viele Juden diesen Wandel, der sich in West- und in Teilen Mitteleuropas rasch vollzog; vehement wurde er indessen von manchen Traditionalisten bekämpft, die befürchteten, er könnte die etablierte Gemeindeautorität mitsamt dem überlieferten Glauben und Ritus bedrohen. Als die »Plausibilitätsstruktur« traditioneller Glaubensformen, wie Peter L. Berger schreibt, fragwürdig wurde und anstelle der unbefragten Hinnahme der Gemeindeautorität die persönliche Entscheidung trat, wurde »der häretische Imperativ zum Grundphänomen der Moderne«.1

Meyer zufolge ist die Wirkung des Antisemitismus auf die jüdische Identität nicht eindeutig gewesen. Einerseits hat die Ablehnung durch die Außenwelt die jüdische Identität neu gestärkt: Religiöse Erneuerungsbewegungen sind oft in Zeiten der Diskriminierung und Verfolgung erblüht, als die Aufklärungsideale der Vernunft und universellen Menschenrechte ihre Strahlkraft eingebüßt hatten. Als Reaktion auf die »Damaskus-Affäre« von 1840 – die Damaszener Juden waren des Ritualmords angeklagt und von Pogromen bedroht – strömten Juden noch im fernen Amerika zu Protestversammlungen, intervenierten Moses Montefiori in England und Adolphe Crémieux in Frankreich und wurden die Juden weltweit in ihrer Entschlusskraft gestärkt. Und unter der Nachwirkung der »Mortara-Affäre« von 1858 – ein jüdisches Kind war heimlich getauft und von der päpstlichen Polizei in ein Kloster entführt worden – entstand 1859 zunächst der »Board of Delegates of American Israelites« und 1860 die französische »Alliance Israélite Universelle« (AIU). Beide Organisationen festigten – wie schon der 1760 bei der Thronbesteigung Georges III. gegründete englische »Board of Deputies of British Jews« – das jüdische Solidaritätsgefühl, wenngleich ihre primäre Absicht die Verteidigung der Rechte der Juden war.

Andererseits haben die Juden als Reaktion auf den Antisemitismus sich von ihrer Identifikation mit dem Judentum distanziert: durch Verschmelzung mit ihrer kulturellen Umwelt verheimlichen sie ihre jüdische Identität oder geben sie gar ganz auf. Wenn Juden merken, dass sie von Nichtjuden gedemütigt werden, kommen sie sich oft auch in ihren eigenen Augen minderwertig vor, verinnerlichen das gegen sie bestehende Vorurteil und verfallen in Selbsthass. Sie ändern ihre Namen, ihr Äußeres oder ihre Gewohnheiten, um sich ihrer Umwelt soweit wie möglich anzupassen. »Antisemitische Vorurteile machen Juden«, so Michael Meyer, »in Gegenwart von Nichtjuden noch befangener als sonst, mit der Folge, daß sie bestrebt sind, ihr Judentum so lange wie möglich vor dem Auge des nicht vertrauenswürdigen Außenstehenden, dessen Gunst gesucht wird, zu verbergen.«

Karl Marx’ frühe Abhandlung Zur Judenfrage (1844) ist ein faszinierendes Beispiel einer intellektuellen Form jüdischen Selbsthasses. Marx behauptet, das Judentum sei weder eine Religion noch ein Volkstum, sondern Profitstreben. Indem er das riesige jüdische Proletariat in Mittel- und Osteuropa vollkommen ignoriert, setzt er Juden und Christen, deren Religion von der jüdischen abstamme, dem »Feind« gleich, dem Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft. Marx flieht offensichtlich vor seiner jüdischen Identität – er wurde mit sechs Jahren getauft, stammt aber von beiden Elternseiten von Rabbinen ab –, »assimiliert« sich dem kulturellen Milieu des Antisemiten Feuerbach, dessen groteske Definition des Judentums er übernimmt, und sucht vor dem jüdischen Partikularismus Zuflucht im sozialistischen Universalismus.

Einer von Marx’ engsten Gefährten war der nur wenig ältere Moses Hess, selbst ein bedeutender sozialistischer Philosoph. In einer frühen Schrift urteilte er ähnlich wie Feuerbach und Marx über das Judentum. Später akzeptierte er seine jüdische Identität, die er in seinem zukunftsweisenden Werk Rom und Jerusalem nicht in religiösen, sondern in nationalstaatlichen Kategorien fasste. Anders ausgedrückt, Hess hatte die dritte Bestimmung der jüdischen Identität in der Neuzeit, die Idee der »Rückkehr nach Zion«, wieder aufgegriffen.

Das Paradox des Zionismus – der Begriff wurde erst 1892 geprägt – liegt in seinem doppelten, sowohl religiösen wie säkularen Ursprung. Religiös gesehen war die Rückkehr nach Zion so alt wie Gottes Verheißung an Abraham, dass jenes Land, in dem er wohne, sein Land sei. Diese Verheißung wurde in der Geschichte immer wieder durch religiöse Schriften, Gebete und den frommen Wunsch, im heiligen Land Gottes Gebote zu erfüllen, bekräftigt. Bereits 1782 hatte Elia von Wilna eine »Vision«, die zur Rückkehr nach Zion nebst einem praktischen Programm zur Wiederherstellung Israels aufrief. Und in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat der serbische Rabbiner Jehuda Alkalai, zweifellos vom balkanischen Nationalismus beeinflusst, den uralten Traum von der Rückkehr nach Zion in einer Weise neuformuliert, die sich den zeitgenössischen politischen Kategorien näherte.

Der entscheidende politische Anstoß kam allerdings erst später in diesem Jahrhundert: von säkularen sozialistischen Juden wie Moses Hess und schließlich Theodor Herzl, dem »Vater des modernen Zionismus«. Sie alle lehnten die traditionellen religiösen Glaubensformen ab. Andererseits erkannten sie, dass Aufklärung und Universalismus zwar die jüdische Identität ausgehöhlt, nicht aber den Antisemitismus ausgerottet hatten. Sie teilten mit anderen nationalistischen Philosophen und Politikern des 19