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Dieses Buch wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von Swisscom

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Vorwort

 

Vorwort

Eine jüngere Männerstimme – zögernd, aufgeregt! Ob er hier richtig sei, fragt der Anrufer etwas unsicher. Er gibt zu verstehen, dass zurzeit einiges auf seiner Seele laste, vieles in seinem Leben ganz und gar nicht im Lot sei. Die Mitarbeiterin der Dargebotenen Hand bestärkt den Mann in seiner Hoffnung, dass er sich hier aussprechen kann – bedingungslos.

Die Philosophie von Tel 143 erlaubt es dem Anrufenden, seinem Gegenüber trotz schützender Anonymität gleichzeitig nahe zu sein – quasi Ohr an Ohr. Das erleichtert es dem jungen Mann, aus der »sicheren Distanz« heraus mit der Zuhörerin einen vertrauten Kontakt aufzubauen und sich ihr gegenüber zu öffnen – sein Herz auszuschütten. Von diesem besonderen Angebot der Dargebotenen Hand und dem, was es bei Anrufenden bewirken kann, handelt das erste Kapitel dieses Buches, das anlässlich des 60-Jahr-Jubiläums Einblicke in die Arbeit der Schweizer Notrufnummer für emotionale Erste Hilfe geben möchte. Welche Menschen wenden sich an die Dargebotene Hand? Was sind ihre häufigsten Anliegen? Mit welchen Leistungen steht ihnen Tel 143 zur Seite? Diese Fragen sowie die grossen Themen Einsamkeit, Suizidalität und psychische Leiden werden dabei auch vor dem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet.

Was können Gespräche, was die Auseinandersetzung mit eigenen tiefen Gefühlen, mit belastenden Erlebnissen, Sorgen und Nöten bewirken? Wer zuhört, findet eher die richtigen Worte. Worte, die für Anrufende im besten Fall wie Medizin wirken. Dieser heilsame Zusammenhang zwischen Entlastung von seelischem Leid und Kommunikation wird auch von der neueren biomedizinischen Forschung untermauert. Ja, er geht sogar so weit, dass auch die körperliche Gesundheit positiv beeinflusst wird. So werden auch diese Prozesse in Körper und Gehirn, die bei der täglichen Arbeit der Dargebotenen Hand eine wichtige Rolle spielen, hier nicht unerwähnt bleiben.

Nach einigen Minuten wird der Anrufer etwas ruhiger, es entwickelt sich ein rund halbstündiges Gespräch, in dessen Verlauf der Mann den Mut fasst, eine Auslegeordnung seiner Probleme zu machen. Er merkt, dass ihm jemand mit Interesse zuhört. Das entlastet ihn fürs Erste etwas. Denn die akute Krise mit seiner Partnerin hat dazu geführt, dass ein solches aufmerksames gegenseitiges Zuhören in der Beziehung mit diesem ihm wichtigsten und vertrautesten Menschen immer schwieriger geworden ist.

Mit der unterschätzten Fertigkeit guten Zuhörens, dem wichtigsten Rüstzeug der Mitarbeitenden von Tel 143, beschäftigt sich das zweite Kapitel. Die Erfahrungen der Dargebotenen Hand zeigen, dass echtes Zuhören in vielen Beziehungen – ob im privaten oder öffentlichen und beruflichen Bereich – häufig zu kurz kommt. Dass die Nummer 143 in der Schweiz jährlich weit über 200 000 Mal angewählt wird – im Durchschnitt alle zwei Minuten rund um die Uhr –, hängt aber auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. Noch nie lebten in der Schweiz so viele Menschen in einem Singlehaushalt – rund 1,3 Millionen sind es aktuell. In urbanen Regionen lebt heute fast jeder Zweite in einem Einpersonenhaushalt. Viele der meist jüngeren Singles wählen diese Wohnform ganz bewusst und fühlen sich wohl damit. Doch es gibt auch die anderen. Das Risiko, inmitten des Trubels zu vereinsamen, ist im neuen Jahrtausend nicht geringer geworden.

Es fehlt nicht an Belegen, wonach das helfende Zuhören sogar bei jenen Menschen zu kurz kommt, die von Berufs wegen gut daran tun, diese Disziplin ganz besonders zu pflegen. Neuere Studien bescheinigen eindrücklich die ausserordentliche Bedeutung guten Zuhörens für Ärzte und für die Genesung ihrer Patienten. Zeitdruck und Kommunikationsdefizite sorgen aber dafür, dass dieses Potenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft wird. Wer viel Stress hat, dem fällt die konzentrierte Arbeit mit den eigenen Ohren oft besonders schwer.

Etwa in der Mitte des Gesprächs, fühlt sich der Mann am Telefon psychisch, aber auch körperlich etwas besser, seine grosse Anspannung ist ein wenig gewichen. Der Anrufer hat dank des klärenden Gesprächs etwas Übersicht und auch wieder etwas mehr Klarheit über seine Gefühle gewonnen. Von einer Lösung seiner Probleme mag er noch weit entfernt sein; er hat aber neue Zuversicht gewonnen und weiss etwas besser, wo er ansetzen könnte. Ein paar Empfehlungen für konkrete Hilfsangebote aus der Region hat er sich notiert, falls er sich für weitergehende Schritte entscheiden sollte. Da er zum ersten Mal angerufen hat und die Dargebotene Hand gar nicht richtig kennt, möchte er gegen Ende des Gesprächs vom Gegenüber noch wissen, wer eigentlich hinter dem Angebot von Tel 143 steht.

Wer sind die Dargebotenen Hände? Von ihnen handelt das dritte Kapitel; von den schweizweit rund 640 Freiwilligen, die den »Service public für die Seele« rund um die Uhr und ohne finanzielle Entschädigung in Schwung halten. Was sind ihre Motive? Warum bleiben sie ihrer Organisation so besonders lange treu und identifizieren sich so stark mit ihr? Wo liegen die Stärken gut ausgebildeter Laien im psychosozialen Bereich? Was können sie allenfalls besser als die Profis, und wo gelangen sie an ihre Grenzen?»

Mit gutem Grund äussern sich Dargebotene Hände zu ihrer Tätigkeit in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend, gilt es doch auch stets, der Anonymität – eines der Markenzeichen von Tel 143 – Sorge zu tragen. In kurzen Statements sollen sie nun aber zu Wort kommen und mit ihrer Offenheit Einblick in ihre wichtige Arbeit bei der Dargebotenen Hand geben. Diese Arbeit bringt es mit sich, im Hintergrund zu bleiben; sie ist aber gleichzeitig auch auf Öffentlichkeit angewiesen – einerseits, um immer wieder das Angebot in Erinnerung zu rufen, andererseits, um genügend neue Mitarbeitende zu finden.

Die Dargebotene Hand wurde im Jahr 1957 in Zürich gegründet – der Aufbau bis zur heutigen föderalistischen Struktur mit eigenständigen Stellen in zwölf Regionen dauerte rund 20 Jahre. Welche bekannten Namen standen hinter der Gründung? Und wie wurde aus einem Zweipersonen-Betrieb im Zürcher Aussenquartier die heutige Freiwilligenorganisation? Das vierte Kapitel wagt neben dem historischen Rückblick schliesslich auch den Ausblick in die Zukunft.

Der Mann, der sich in der Zwischenzeit für das Gespräch bedankt und verabschiedet hat, war nur einer von Zehntausenden, die jährlich in allen Sprachregionen der Schweiz die Nummer 143 wählen: Das Schlusskapitel bietet Einblicke in drei Dutzend authentische Gespräche aus dem vergangenen Jahr, die zum Schutz der Anrufenden anonymisiert und verfremdet wurden. Diese Gespräche zeigen vor allem eines: dass es wohl kein Thema, kein Problem, keine Not gibt, die nicht an die Dargebotene Hand herangetragen würden. Zwischen den Hauptkapiteln finden sich zudem drei Interviews mit namhaften Fachleuten, die aus ihrer jeweiligen Perspektive das Angebot der Dargebotenen Hand bewerten und einordnen.

Laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage hat in der Schweiz rund jede zehnte Person bei der Dargebotenen Hand entweder selbst schon einmal angerufen (drei Prozent), oder sie kennt jemanden, der sich bei Tel 143 schon einmal Hilfe geholt hat (sechs Prozent).[1] Nach einer Anlaufstelle gefragt, an die man sich in einer persönlichen Krise oder Notlage anonym wenden kann, nennen 40 Prozent die Dargebotene Hand. Ebenso viele würden sich in einer Lebenskrise »sicher« oder »eher« an Tel 143 wenden. Diese Zahlen zeigen, wie bekannt die Kurznummer für emotionale Erste Hilfe ist. Dieses Buch möchte dazu beitragen, dass noch mehr Menschen wissen, was und wer hinter den drei Ziffern steht: ein Service public im besten Sinne des Wortes – von der Bevölkerung für die Bevölkerung.