Kapitel 15


 

Curly Del Vecchio mit seinen gestreiften Mänteln und Hosen, der goldenen Uhrkette und seiner staubfrei gebürsteten Melone war in Wolf Creek nicht beliebt. Er war ein Fuchs und Schwindler, Spieler und selbst ernannter Frauenliebling, der wegen seiner Verwicklung in einem Pferdediebstahlkartell zehn Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Er hielt sich für einen unschlagbaren Schützen, aber jeder halbwegs Flinke könnte ihn bereits erschießen, bevor seine Hand überhaupt das Leder seines Pistolenhalfters berührte.

Das Einzige, was Curly wirklich beherrschte, war das Trinken. In dieser Nacht, als er auf Nathan Segaris' Anwesen außerhalb des Orts eintraf, hatte er bereits acht Flaschen Bier geleert und sich durch einen Viertelliter Rum gearbeitet. Es war ein kühler Abend und es schneite, aber Curly bemerkte es nicht. Ihm ging es wunderbar, denn er war verdammt betrunken. Curly feierte den Diebstahl von Carl Hews fünfzig Rindern, wenn auch etwas vorzeitig.

Er war sich bewusst, dass Nate Segaris und die anderen über seine Trunkenheit nicht sonderlich erfreut sein würden. Aber schließlich hatte jeder das Recht, ab und an zu feiern.

Ganz besonders, wenn man bald zu einer ganzen Stange Geld kommen würde. Fünfzig Rinder vom alten Hew für fünfzig Dollar das Stück – das würde eine hübsche Menge Taler ergeben, da sie inzwischen fünf Leute weniger waren. Fünfhundert U.S. Treasury Greenbacks pro Mann; da konnte man sich nicht beschweren.

»Ruhet in Frieden, Jungs«, sagte Curly zu sich selbst.

Fünf von uns gibt es nicht mehr, dachte er, und fünf sind noch übrig.

Zufall. Das ist alles.

Curly gab seiner alten Stute die Sporen – nur ein kleiner Kick in die Seiten, nichts weiter –, und sie wurde etwas schneller und galoppierte über den festgetretenen Schnee. Sie trug ihn über eine kleine Anhöhe, von der aus Nates Haus zu sehen war. Einladend sah es aus: Eine Rauchfahne stieg aus der Ofenröhre und im Fenster glimmte eine Laterne.

Ich hoffe stark, dass er 'ne Flasche mit was Warmem hat, dachte Curly.

Er machte sein Pferd in der Scheune fest und wankte betrunken die Veranda hoch, nachdem er kurz zum Pinkeln innehielt. Er war schon fast auf der letzten Stufe, bevor er merkte, dass etwas nicht stimmte.

Die Tür war herausgerissen und bestand nur noch aus Kleinholz. Lediglich ein paar abgerissene Stücke hielten sich an den Angeln fest; der Rest war als Splitter und Zerborstenes auf den Boden niedergeregnet.

Curly griff nach seiner alten Armeepistole Kaliber .44.

Das Metall in seiner zitternden Hand fühlte sich wie Eis an.

»Nate?«, rief er mit schwacher Stimme.

Als er keine Antwort bekam, ging er die letzten beiden Stufen hoch und hielt im Türrahmen inne. Der Tisch war umgeworfen und zerbrochen worden. Regale waren zusammengebrochen und ihr Inhalt lag überall verstreut. Ein Mehl- und ein Zuckersack waren aufgerissen worden. Alles war weiß bestäubt. Plötzlich blies eine kalte Windböe herein, brachte das alte Haus zum Knarzen und wirbelte Mehlstaub wie Geister vom Boden empor.

Überall war Blut.

Curly drehte sich der Magen um.

Auf dem Boden standen ganze Pfützen davon, es war die Wände hochgespritzt und klebte in Tropfen am alten eisernen Herd. Der Blutgestank hing mit reifem, rohem Nachdruck in der Luft, in Curlys Nase, an seiner Haut. Er konnte es auf seiner Zunge schmecken.

Er wartete nicht darauf, eine Leiche zu entdecken.

Das brauchte er nicht.

Im Laufschritt machte er sich davon, hetzte durch den Schnee, fiel, rutschte, aber schaffte es schließlich zur Scheune. Er war völlig nüchtern, als er seine Stute losband und aufstieg.

Der Sturm begann erneut und wirbelte Schnee durch die Luft.

Das Pferd begann zu wiehern und wild hin und her zu zucken. Es bewegte sich erst in eine Richtung, schnaubte, und sprang dann in die andere.

»Los, verdammt noch mal!«, schrie Curly. Der Geruch eines gewaltsamen Todes durchdrang alles. Er zerrte an den Zügeln und gab der Stute die Sporen. »Los schon!«

Die Scheunentür wurde vom Wind aufgerissen und wieder zugeschlagen. Drinnen wieherte Nates Pferd und riss wie verrückt an seinem Haltestrick. Irgendetwas stimmte nicht, und beide Tiere wussten es.

Die Lampe im Haus flackerte und ging aus.

Ein eisiger Schauder lief Curly den Rücken hinunter, der nichts mit dem fauchenden, bitterkalten Wind zu tun hatte. Und dann kam aus der Ferne noch ein anderes Geräusch: Ein tiefes, schreckliches Heulen, ein wahnsinnig gewordenes dumpfes Bellen, das sich im Wind immer höherschraubte und zerriss. Curly wurde kalt. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Dieses Geräusch … wie das Donnern eines Güterzuges, das durch einen Minenschacht hallte.

Das Heulen erklang erneut.

Näher.

Mit einem Aufschrei riss Curly an den Zügeln, und die Stute galoppierte die Straße hinunter, warf ihn dabei fast ab. Sie raste wie verrückt in die falsche Richtung und Curly schaffte es nicht, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Sein Gesicht wurde durch die Kälte taub und seine Augen tränten. Panische Angst klopfte in seinem Herzen und seinen Ohren – dieses Heulen …

Näher.

Und noch näher.

Kapitel 27


 

Auf die äußerst vage Beschreibung von Deputy Bowes hin ritt Longtree in die Bergausläufer, um das nächstgelegene Lager der Blackfoot zu finden. Der Wind wehte nicht mehr wie am Morgen und die Temperaturen lagen über dem Gefrierpunkt. Longtree hatte das früher schon in Montana und Wyoming erlebt: Schneestürme und eiskalter Wind, denen eine kurzlebige Wärmewelle folgte, ein Tauwetter, in dem alles zu Matsch wurde, bis eine Woche später alles wieder gefror, wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fielen.

Die Landschaft oberhalb von Wolf Creek, in den Ausläufern der Tobacco Roots, war wunderschön. Das Unterholz und die Zedernbüsche der offenen Berghänge führten zu verschneiten Gipfeln, umgestürzten Bäumen und dichtem Kiefern- und Fichtenwald. Oberhalb der Baumgrenze ragten die Berge riesig, kahl und majestätisch hervor. Und gefährlich.

Er wusste, dass der ganze Landstrich so aussah, fast wie ein spirituelles Erlebnis. Aber die Realität war ernüchternd. Es war ein Gebiet der plötzlichen Erdrutsche und ohne Vorwarnung einfallenden Schneestürme. Eiskalter Wind schien aus dem Nichts zu kommen. Es gab hungrige Wolfsrudel und wilde Grizzlys, die darauf aus waren, sich mehr Fleisch und Fett für den Winterschlaf anzufressen. Außerdem war es die Heimat der Blackfoot-Indianer, die als der blutrünstigste Stamm am oberen Missouri galten.

Als Longtree über den Bergrücken ritt, erspähte er das Lager. Er hatte keinerlei Zweifel, dass er beobachtet wurde – und das vermutlich schon seit einiger Zeit.

 

Kapitel 35


 

Es war fast zwei Uhr, als Longtree hörte, wie sich ein Pferd näherte.

Er hatte ungefähr eine Stunde geschlafen und schreckte bei dem Geräusch auf. Die Jahre, in denen er gefährlichen Männern nachgestellt hatte und von ihnen gejagt wurde, ließen ihn nur noch leicht schlafen. Das kleinste Geräusch weckte ihn auf.

Manchmal reichte schon ein kräftiger Wind aus, der die Bäume rauschen ließ.

Er kämpfte sich aus seinen Decken. Sein Pferd schnaubte.

Der Reiter hielt in den Bäumen an, die die kleine Schlucht säumten.

»Komm schon«, rief Longtree, der jetzt seine Pistole gezogen hatte.

Der Reiter kam langsam den Pfad hinunter; die Pferdehufe knirschten mit vorsichtigen, langsamen Schritten im Schnee. Longtree warf Holz auf das nur noch glimmende Feuer, das orangefarben aufflackerte. Der Reiter war ein Indianer, daran gab es keinen Zweifel. Ein langes Büffelfell war bis über seinen Kopf gezogen und er saß in einem rohledernen Sattel.

Nur war es kein »er«, sondern Laughing Moonwind vom Lager der Blackfoot.

Sie trug Büffelhandschuhe und hatte ein altes Kentucky-Gewehr dabei. Sie machte ihr Pferd fest und setzte sich ans Feuer.

»Sie sind so ziemlich die letzte Person, die ich hier erwartet habe«, sagte Longtree, steckte seine Pistolen weg und setzte sich neben sie. Er rollte sich eine Zigarette.

»Sie kamen, um uns Fragen zu stellen«, begann sie. »Jetzt bin ich gekommen, um das Gleiche zu tun.«

Er nickte. »Das klingt fair. Wer hat Sie geschickt? Crazytail?«

Sie starrte ihn mit ihren großen braunen Augen an. Das Feuer reflektierte darin; es schien dort hinzugehören. »Ich habe gesagt, ich stelle die Fragen«, sagte sie streng und dann in etwas weicherem Ton: »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.«

»Ihr Englisch ist gut«, bemerkte Longtree, ohne sich die Mühe zu machen, nachzufragen, wo sie es gelernt hatte.

»Ich bin bei Weißen in die Schule gegangen.«

Er nickte. »Ich auch.«

»Warum sind Sie hier?«, wollte sie wissen. »Warum kümmert sich die U.S. Regierung um diese Vorfälle?«

»Es werden Menschen umgebracht. Ich bin hergeschickt worden, um den Grund dafür herauszufinden.« Er erklärte ihr kurz, wie viel Ärger daraus angesichts der Silberminen und des Reservats und des generellen Hasses zwischen Weißen und Indianern resultieren konnte.

»Und Sie glauben, dass Sie all diese Probleme lösen können?«

»Nein, aber ich kann's versuchen.« Das zitternde Licht des Feuers warf springende Schatten auf sein Gesicht. »Jemand muss das tun. Es ist außer Kontrolle. Wenn das so weiter geht, werden die Menschen aus Wolf Creek wegziehen. Das mag für Ihr Volk eine gute Sache sein, Moonwind, aber für den weißen Mann ist es das nicht.«

Sie reagierte nicht darauf. »Und Sie werden bleiben, bis Sie der Sache auf den Grund gegangen sind?«

Er nickte. »Das muss ich.«

»Selbst wenn Sie dafür sterben müssen?«

Er zuckte die Achseln. »Darauf lasse ich es ankommen. Ich werde dafür bezahlt.«

»Sie sind äußerst dickköpfig. Und sehr dumm.«

Sie ließ das Büffelfell von ihren Schultern auf die Erde gleiten. Durch das Feuer war es sehr warm. Longtree hatte inzwischen die Jacke abgelegt. Er saß rauchend da und beobachtete sie, ließ sie die Dinge leiten. Sie wusste irgendetwas und er wollte erfahren, was.

»Die Büffelherden werden immer kleiner«, sagte sie. »Bald werden meine Leute genauso hungern wie die anderen Stämme der Prärie. Wir sind ein aussterbendes Volk.« Traurig starrte sie zu Boden. Es war keine erlernte Traurigkeit, sondern eine vererbte – die ihres Volks. »Das ist von all den Demütigungen, welche die Weißen uns aufzwingen, die schlimmste. Sie nehmen uns die Fähigkeit, uns zu ernähren und zu bekleiden. Wir werden betteln müssen, nur um unsere Kinder nicht hungern zu lassen. Die Weißen haben wir nie gemocht. Aber wir hätten ihnen sogar vergeben können, wenn es zufällig geschehen wäre. Doch es war kein Zufall.« Ernst und stolz blickte sie ins Feuer. »Die Armee hat das Abschlachten der Büffel angeordnet. Und wir sterben mit den Büffeln.«

Longtree sagte: »Ich glaube, dass die Armee den Sioux und Cheyenne Einhalt gebieten will. Damit die Indianerkriege aufhören.«

»Und was ist mit uns?«, fragte Moonwind. »Müssen wir mit ihnen umkommen?«

Longtree seufzte. »Ich wünschte, dass ich dafür eine Antwort hätte.«

»Ihre Leute, die Absaroka, die Crow, haben mit den Flathead gegen uns gekämpft …«

»Gegen die Dakota und die Sioux haben wir auch gekämpft.«

»Sie haben gegen uns gekämpft«, beharrte sie.

Er sog an seiner Zigarette. »Hatten die Crow denn eine andere Wahl? Die Blackfoot haben sie gnadenlos überfallen und getötet. Moonwind, die Blackfoot sind ein Kriegervolk und bestimmt nicht unschuldig.«

Sie ignorierte das. »Die Crow haben mit den Weißen gegen uns und gegen andere Stämme gekämpft. Und was hat es ihnen gebracht? Man hat sie vergessen, als sie für die Weißen nicht mehr nützlich waren. Von den Crow gibt es jetzt nur noch wenige, Joseph Longtree. Aus ihnen ist ein hungerndes, geschlagenes Volk geworden, das von den Krankheiten des weißen Mannes geplagt wird.«

»Ich weiß, was geschehen ist«, sagte er zu ihr. »Das ist mir nicht neu.«

»Die Weißen sind Verräter.«

»Nicht alle.«

»Ihre Mutter war eine Crow. Wie können Sie so etwas sagen?«

»Und mein Vater war weiß. Nichts davon hat mit dem zu tun, wegen dessen ich gekommen bin«, erklärte er. »Ich bin nicht gekommen, um Indianer zu jagen. Ich bin hier, um diesem Töten Einhalt zu gebieten oder zumindest herauszufinden, warum es geschieht.«

»Ist Ihnen das so wichtig?«

»Ja«, gab er zurück. »Und jetzt stelle ich ein paar Fragen, die Sie beantworten werden. Erzählen Sie mir mehr über die Skull Verbindung.«

Sie zuckte die Achseln. »Der gehören nur Männer an, wie bei den Geheimbünden üblich. Wir haben mehrere davon, wie andere Stämme auch. Es gibt noch die Bear, Wolf und Beaver Verbindung. Man sagt, dass die Beaver Verbindung die spirituell einflussreichste ist. Aus der Wolf und Bear Verbindung kommen die besten Jäger. Aber die älteste und geheimste ist die Skull Verbindung. Sie wird auch am meisten gefürchtet.«

»Warum?«

»Weil …« Sie spitzte die Lippen, als ob das, was sie hier preisgab, tabu wäre – was es vermutlich auch war. »Weil es in ihrer Macht steht, den Skullhead heraufzubeschwören.«

»Und was ist dieser Skullhead?«

»Ein übernatürliches Wesen. Der Überlieferung nach rächt der Skullhead Vergehen und Untaten.«

Longtree starrte sie an und bemerkte, dass sie mehr wusste, als sie erzählte. Sie wich seinem Blick aus. »Sagen Sie mir, was es damit auf sich hat.«

Lange starrte sie ins Feuer und begann dann: »Man sagt, dass die, die der Skull Verbindung angehören, ihre Gestalt ändern, zu etwas anderem werden können.« Sie ließ die Worte wirken. »In meinem Volk ist das ein ganz herkömmlicher Glaube. Die Bear Verbindung glaubt, dass sie die Gestalt ihres geistigen Führers annehmen kann, die des Großen Bären. Die Wolf Verbindung glaubt, dass sie sich in Wölfe verwandeln kann.«

»Und glauben Sie das?«

»Ich glaube viele Dinge.«

»Aber das hier, glauben Sie daran? Die Weißen haben ein Wort für Gestaltenwandler. Kennen Sie es?«

»Werwolf«, sagte sie. »Ein europäischer Glaube.«

Er nickte. »Eine alte Legende.«

Die Bezeichnung schien ihr nichts auszumachen. »Man sagt, dass die Urahnen vielen Kreaturen nahe waren. Manche davon gibt es nicht mehr. Manche sind nur noch eine ferne Erinnerung. Sie sind mit ihnen auf die Jagd gegangen, in ihrer Gestalt. Sie konnten ihre Haut abstreifen. Darunter war das Fell eines Wolfs oder Bären. Das wurde mit der Blutmedizin erreicht, von der mein Vater sprach.«

Longtree warf seine Zigarette ins Feuer. »Also gut. Das ist schön für die Wolf und Bear Verbindung. Ich mache mich über das, was sie glauben, nicht lustig. Aber was ist mit denen der Skull Verbindung? Was behaupten die, durch die Blutmedizin zu werden?«

Sie schwieg. Dann wandte sie sich zur Seite und sah ihn an, verschlang ihn mit ihren Augen, sodass er erschauderte. Licht und Schatten spielten über ihr Gesicht. »Man hat gesagt, dass mein Großvater ein Gestaltenwandler war. Dass er oft in Tiergestalt auf die Jagd ging. Dass sein Vater und der Vater seines Vaters auch welche waren.«

»Und Crazytail?«

»Er auch.«

Longtree leckte sich über die Lippen. »Wollen Sie mir sagen, dass Ihr Vater in Tiergestalt diese Menschen getötet hat? Als urzeitliches Tier? Als Skullhead?«

Sie sah wütend aus. »Nein. Sie wollten mehr über die Skull Verbindung wissen. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

Aber war das alles? Versuchte sie, ihm damit etwas zu sagen? Nein, entschied er, sie erzählte nur Geschichten ihres Volkes, mehr nicht. Menschen wurden nicht zu Tieren. Es gab keine Werwölfe oder Werbären oder Skullheads. Wenn er anfing, solchen Schwachsinn zu glauben, war es an der Zeit, sein Marshal-Abzeichen zurückzugeben. Es war zu verrückt.

»Vor einem Jahr«, sagte sie, »ist in Wolf Creek ein weißes Mädchen ermordet worden. Carpenter hieß sie. Sie war vergewaltigt und dann erstochen worden. Mein Bruder, Red Elk, wurde verhaftet.«

»Hat er das Verbrechen begangen?«

»Nein, so etwas würde er nie tun.« Das schien sie zu glauben. »Er hatte zu viel Ehrgefühl. Man hat ihn gesehen, wie er sich über die Leiche beugte, und da er ein Indianer war, haben die Weißen natürlich entschieden, dass er es getan haben musste.« Sie presste die Lippen hart zusammen. »Er wurde festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Zwei Nächte später hat ein Lynchmob das Gefängnis gestürmt und ihn gehängt.« Sie lachte trocken, emotionslos. »Zumindest ist es das, was Sheriff Lauters sagt.«

»Sie glauben, dass er lügt?«

»Ja. Warum, weiß ich nicht, aber ich glaube, dass er jemanden schützen will.« Zweifel hatten sich in Moonwinds Herzen angesiedelt und nun nährte sie diese. »In den letzten Jahren sind die Rancher von organisierten Viehdieben geplagt worden. Red Elk hatte mir erzählt, dass er zu wissen glaubte, wer dazugehört.«

»Er wurde also verhaftet und gelyncht, damit er nichts verraten konnte?«, fragte Longtree.

»Ich glaube, ja. Aber da ist noch mehr. Nachdem er gehängt wurde, ging hauptsächlich unter den Weißen ein Gerücht um, das Red Elk die Frau nicht getötet hatte. Dass er sie entdeckte, als sie im Sterben lag, und dass sie ihm sagte, wer sie angegriffen hatte.«

»Einer der Viehdiebe?«

»Das wäre … logisch, finden Sie nicht? Red Elk wusste, wer ihr Mörder war, und er wusste auch, wer die Diebe waren.«

Longtree seufzte. »Sie sind am Raten.«

»Ach ja? Ich habe Red Elk an dem Tag, bevor er gelyncht wurde, im Gefängnis besucht. Er hat mir gesagt, dass er weiß, wer der Mörder ist. Und dass er vor Gericht mit dem Finger nicht nur auf den Mörder, sondern alle Viehdiebe zeigen wollte.«

»Aber er hat Ihnen nicht erzählt, um wen es sich handelt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er sagte, dass es zu gefährlich für mich sei, das zu wissen.«

Longtree überlegte. In gewisser Hinsicht machte es Sinn. Wenn Red Elk den wahren Mörder und die Viehdiebe kannte, hätten bestimmte Leute allen Grund, ihn einzukerkern und zu lynchen, bevor es zur Verhandlung kam. Aber was war mit Lauters? Wie war er darin verwickelt? Die Logik diktierte, dass er zu den Viehdieben gehörte und dass der Mörder ein anderer war. Lauters wollte nicht, dass der Mörder vor Gericht kam, denn angesichts der Todesstrafe hätte er alles erzählt. Red Elk wurde gesehen, wie er sich über die Leiche beugte – ein äußerst praktischer Sündenbock. Danach passte alles zusammen: Die Viehdiebe mussten gewusst haben, das Red Elk sie kannte. Es klang logisch und beantwortete viele Fragen – aber war es die Wahrheit?

Longtree rollte sich noch eine Zigarette und steckte sie mit einem glimmenden Stück Holz aus dem Lagerfeuer an. »Wer«, fragte er, »hat gesehen, wie sich Red Elk über die tote Frau gebeugt hat?«

»Sheriff Lauters.«

Longtree verzog das Gesicht. Verdammt. Jetzt war alles nur zu offensichtlich – oder? Er konnte nicht einfach so Schlussfolgerungen ziehen. Er würde langsam machen müssen, alles so still und heimlich wie möglich überprüfen. Wenn Lauters darin verwickelt war und entdeckte, dass Longtree anfing, herumzuschnüffeln … das konnte übel ausgehen. Trotzdem erklärte nichts von alledem die vielen anderen Tode.

»Ich werde das untersuchen«, versprach er. »Aber in erster Linie muss ich mich um die Morde kümmern.«

»Vielleicht lösen Sie auch die andern Fälle, wenn Sie diesen lösen.«

Er sah sie an. Moonwind wusste wesentlich mehr, als sie zugab, aber sie war äußerst dickköpfig. Sie würde ihm nur so viel preisgeben, wie sie wollte. Eine Frau wie sie konnte nicht zum Reden gezwungen werden. Er musste ihr Vertrauen gewinnen, und das konnte er nur, indem er untersuchte, wie ihr Bruder gelyncht worden war und was dazu geführt hatte.

Eins nach dem anderen.

»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte Longtree, »würde ich sagen, dass Sie andeuten wollen, diese Morde seien aus Rache geschehen.«

Sie zuckte die Achseln. »Das werden Sie schon selbst herausfinden müssen.«

Er beließ es dabei. Er hatte angenommen, dass es zwischen den ermordeten Männern eine Verbindung gegeben hatte, und nun wurde ihm eine Möglichkeit aufgezeigt – es musste sich bei ihnen um die Viehdiebe gehandelt haben; jene, die Red Elk gelyncht hatten.

Immer langsam, mahnte er sich. Vorsichtig. Sie könnte auch lügen.

Aber noch hatte er keine Entscheidung getroffen. Er würde alles genau untersuchen und dann daraus seine Schlüsse ziehen.

Plötzlich wurde er sich bewusst, dass er in ihre Augen starrte und sie in seine. Er lehnte seinen Kopf zu ihr hinüber und sie schlang ihre Arme um ihn, bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen. Dann wandte sie sich ab und zog ihr Baumwollkleid aus. Longtree machte es ihr nach. Ihr straffer Körper wurde vom Feuer in Rottönen gebadet. Er küsste ihre Brüste, ihren Bauch, alles von ihr. Sie zog ihn auf sich hinauf und führte ihn in sich hinein. Und selbst während er kraftvoll in sie stieß und in ihre wilden, hungrigen Augen schaute, sah er noch das Gesicht von Lauters vor sich.

Aber nicht mehr lange.

Einige Zeit später lagen sie zusammen mit Longtrees Decken bedeckt vor dem Lagerfeuer. Die Nacht war kalt, aber sie schwitzten und glühten noch nach ihrem Liebesakt. Lange sagte keiner ein Wort. Es schien nicht nötig zu sein. Der Wind war kühl, hier in der Schlucht hinter den Bäumen kaum zu spüren. Im Himmel strahlten die Sterne.

Moonwind stützte sich auf einen Ellbogen und sagte: »Du bist in einer Missionsschule aufgewachsen?«

»Zum Teil.« Er erzählte ihr vom Überfall der Sioux, die sein Dorf und seine Familie zerstört hatten. »Man könnte sagen, dass ich gleichermaßen von den Crow und den Weißen erzogen bin.«

»Die Weißen ordnen gerne alles wie in Schubladen. Ist dir das schon mal aufgefallen?«

»Ja.«

»Alles muss etikettiert und geordnet und getrennt in unterschiedlichen Kästchen untergebracht werden. Seltsam.«

Longtree lachte. »Sie finden das Leben auf diese Art leichter zu ertragen.«

Moonwind sagte: »Mein Vater, Herbert Crazytail, ist ein äußerst weiser Mann. Als ich klein war, hatte er unter den Weißen viele Freunde. Als sie dann in Virginia City die Missionsschule bauten, hat er mich hingeschickt, damit ich die Gebräuche der Weißen lerne. Damit ich ihre Sprache spreche und ihren Gott kenne. Er hat gesagt, dass die Weißen eine starke Medizin besitzen.«

»Recht hat er gehabt«, gab Longtree zu. »Das ist etwas, das ich auf die eher schwierige Art lernen musste.«

»Ja, mein Volk auch. Crazytail wollte, dass ich die Gebräuche der Weißen kenne und verstehe, dass sie ihre Medizin, obwohl sie so stark ist, missbrauchen. Er wollte mir zeigen, dass ihr Gott und seine Lehren weise sind, aber dass der weiße Mann ihnen nicht folgt. Auch das habe ich gelernt. Der weiße Mann ist verschwenderisch, Joseph Longtree. Er zerstört das, was er nicht versteht, und lacht über das, was er sich nicht vorstellen kann. Er hat einen Gott, aber er lästert über ihn und ignoriert seine Lehren.«

Dagegen konnte Longtree nichts sagen. Die Religion der Weißen war, im Gegensatz zu der der Indianer, weitestgehend ein Ding der Bequemlichkeit: Ihre Regeln wurden nur befolgt, solange sie nicht anderen Vorhaben oder Bedürfnissen in die Quere kamen.

»Die Weißen sehen das Natürliche als etwas an, das vom Übernatürlichen getrennt ist. Aber mein Volk – und deins – tut das nicht. Wir haben keine Wörter, um einen Unterschied daraus zu machen. Es ist beides das Gleiche«, sagte Moonwind, in deren Augen das Feuer funkelte und sprühte. »Wenn die Weißen das auch glauben würden, könnten sie uns akzeptieren, statt uns als anders zu sehen.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Longtree. »In diesem Land stoßen verschiedene Kulturen aufeinander.«

»Sag mir«, fragte sie und hielt sein Gesicht zwischen ihren langen schlanken Fingern, »da du halb weiß bist: Glaubst du an das Übernatürliche oder nur an das, was du berühren, spüren, in deiner Hand halten kannst?«

Das war keine leicht zu beantwortende Frage.

Die einzige Möglichkeit war, ihr von Diabolus zu erzählen. »Das war im Oklahoma Territory nahe der Grenze zu New Mexico, vor vielen Jahren. Damals war ich ein Kopfgeldjäger. Ein Mann hatte mir Geld gegeben, damit ich ihm eine Leiche bringe …«

 

Kapitel 47


 

»Zieh dich an, Nell«, sagte Sheriff Lauters. Er sah ihr dabei nicht zu; jede Frau, selbst eine Prostituierte, hatte so viel Respekt verdient. »Sie auch, Reverend. Bei Ihrem nackten Anblick wird mir schlecht.«

Claussen war nicht nur peinlich berührt, er war gedemütigt. In seinem sonst stets geröteten Gesicht war keine Farbe mehr. Seine selbstgerechte Arroganz war zu Staub zerfallen. Er war ein geschlagener, gebrochener Mann, dessen schmutzigen kleinen Geheimnisse entdeckt worden waren – und zwar von dem, den er am meisten verabscheute.

»Sheriff …«, begann Nell.

»Jetzt aber raus hier, Kind, und lass dich von mir nicht noch mal dabei erwischen, deinem Beruf in einem Haus Gottes nachzugehen. Kapiert?«

Sie nickte. Ihre blauen Augen schwammen in Tränen, als hätte ihr Vater sie erwischt.

»Vergiss einfach, was hier geschehen ist«, wies er sie an. »Vergiss, dass du mich gesehen hast, vergiss den Reverend. Hier ist heute nichts passiert. Verstanden?«

Schluchzend nickte sie.

»Also dann, hopp, hopp.«

Sie rannte die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Lauters wusste, dass sie niemandem davon erzählen würde. Niemals.

Claussen saß auf dem Bett und starrte auf seine Hände, die zitterten – wie auch der Rest von ihm. Lauters warf ihm einen wütenden Blick zu, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Abscheu zu verbergen. Er zog seinen Schaffellmantel aus und hängte ihn an die Tür.

»Mein Gott«, winselte Claussen. »Mein Gott.«

»Maul halten«, fuhr Lauters ihn an. »Sie und Gott gehen getrennte Wege, Reverend. Und da das heute vermutlich nicht das erste Mal war, würde ich sagen, dass sich Ihre Wege schon vor geraumer Zeit getrennt haben.«

Claussen sagte nichts mehr; er schluchzte, sein ganzer Körper bebte.

»Auch Jesus hat geweint«, sagte Lauters. Er fischte seinen Tabakbeutel heraus und stopfte sich einen Pfropf Kautabak in den Mund. Er polierte sein Sheriffabzeichen und nahm es ab, legte es auf den Nachttisch neben dem Bett.

»Jetzt bin ich genauso wenig ein Mann des Gesetzes wie Sie ein Mann Gottes sind«, sagte er.

»Sheriff …«

»Maul halten«, sagte Lauters erneut. »Wie lange täuschen Sie die braven Mitgliedern Ihrer Kirche schon?«

»Noch nicht lange, das schwöre ich. Die Sünde überkam mich …«

»Du Scheißkerl«, grollte Lauters, packte den Reverend beim Hemdkragen und warf ihn zu Boden. Als er versuchte aufzustehen, kickte Lauters ihm die Beine weg.

»Als du noch ein Mann Gottes warst«, begann der Sheriff, »musste ich mir von dir einiges gefallen lassen. Schließlich schlägt man einen Prediger nicht. Aber da du nur ein Sünder bist wie ich, fällt das nun als Grund weg.«

Er hakte seinen Arm unter Claussens Ellbogen und zerrte ihn auf die Beine.

Sie standen sich Aug in Aug gegenüber.

Lauters spuckte ihm ins Gesicht. Der Reverend erzitterte nur. »Sünder«, sagte Lauters und rammte ihm die Faust in den Bauch. Claussen klappte nach Luft schnappend zusammen. Lauters packte ihn am Ohr und zog ihn wieder hoch, schlug ihm mit seiner massiven Faust ins Gesicht. Claussen stolperte über einen Stuhl und fiel. Blut strömte aus seiner gebrochenen Nase. Bevor er aufstehen oder sich erholen konnte, stürzte sich Lauters auf ihn. Er packte ihn beim Hemd und trat dem Reverend sein Knie ins Gesicht.

Claussens Kopf schlug nach hinten gegen die Wand. Er sackte zusammen.

»Du hast meine Frau gegen mich aufgebracht«, sagte Lauters.

Claussen, dem die Tränen aus geschwollenen Augen strömten, schüttelte den Kopf. Lauters ohrfeigte ihn. Dann machte er es noch einmal, lachte, und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Rote schmerzende Abdrücke waren ins Gesicht des Reverends eingegraben. Blut und Sabber rannen aus seinem Mund.

Lauters zog ihn hoch und klopfte ihm auf die Schulter. »Du hast mit der Zeit die ganze Stadt gegen mich aufgebracht.« Er drückte Claussen gegen die Wand und hielt in dort mit fleischiger Faust fest. »Ich habe gegen schlimmere Feinde als dich gekämpft. Ich habe die gemeinsten, abscheulichsten Männer verprügelt und getötet, die dieses widerwärtige Land gegen mich aufbrachte. Glaubst du, dass du eine Chance hast?« Er ohrfeigte ihn erneut. »Antworte!«

»Ich habe nicht … nie …«

Lauters trat ihm sein Knie in die Weichteile und dann in den Magen. Claussen klappte zusammen, fiel keuchend und ächzend auf die Knie. Lauters versetzte ihm ein paar Haken ins Gesicht und warf den blutenden, gebrochenen Mann in die Mitte des Zimmers.

Der Reverend hob den Kopf. Sein Gesicht sah abscheulich aus: Das linke Auge war rot zugeschwollen, seine Nase in schiefem Winkel zur Wange gebrochen. Seine Unterlippe stand zerplatzt hervor und Kinn und Wangen waren blutverschmiert. Hasserfüllt musterte er den Sheriff.

Lauters trat ihm ins Gesicht.

In betrunkener, psychotischer Rage zerrte er den Reverend auf die Beine und hämmerte mit der rechten Faust auf sein Gesicht ein, während er ihn mit der linken Hand auf den Beinen hielt. Wieder trat er ihm das Knie in den Magen, sah zu, wie er hinfiel, und hieb gnadenlos mit beiden Fäusten auf seinen Hinterkopf ein.

Claussen fiel zu Boden und bewegte sich nicht mehr.

Vor Anstrengung keuchend rieb sich Lauters die wunden, blutenden Fäuste. Sein aufgedunsenes Gesicht schwitzte in Strömen Alkohol aus allen Poren. »Noch ist es nicht vorbei, Reverend.« Er nahm einen Porzellankrug vom Tisch, goss daraus Wasser in eine Schüssel und entleerte sie über dem bewegungslosen, gebrochenen Haufen, der einmal Prediger war.

Claussen kam wieder zu sich. Sein noch funktionierendes Auge fokussierte und verschwamm, in seinem Kopf drehte sich alles. Lauters hob ihn hoch und warf ihn aufs Bett.

»Ich will, dass Sie aus dieser Stadt verschwinden, Reverend. Wenn Sie übermorgen immer noch hier sind, bringe ich Sie um. Ist das klar?«

Claussen versuchte zu nicken.

Lauters tätschelte ihm den Brustkorb, pinnte sich sein Sheriffabzeichen wieder an und zog seinen Mantel über. Lächelnd stand er im Türrahmen. »Nun haben Sie Ferien«, sagte er.

 

Kapitel 58


 

Stunden später.

Es war Bowes und Longtree gelungen, ohne weitere Probleme das Gebiet der Blackfoot zu verlassen. Selbst die Schüsse hatten keine Aufmerksamkeit erregt. In Bowes' Haus aßen sie etwas und nahmen jeder ein Bad. Immerhin entspannten sich Longtrees Muskeln dabei ein wenig, die sich nach dem stundenlangen Graben in der gefrorenen Friedhofserde nicht gerade gut anfühlten. Außerdem schmerzte seine Schusswunde an den Rippen aufgrund der Anstrengungen umso mehr. Schließlich ritt er zurück zu seinem Lager, wo er Laughing Moonwind entdeckte. Lange bevor er den Platz erreichte, konnte er sehen, dass ihn jemand erwartete: Ein helles Lagerfeuer brannte, dessen Rauch er schon von Weitem sehen konnte. Er war froh, dass es sich nicht um einen Hinterhalt von Gantz oder Lauters handelte. Doch in dem Fall hätte wohl kaum ein Feuer gebrannt.

»Bist du schon lange hier?«, fragte er.

»Ja, Ich habe auf dich gewartet.«

Longtree setzte sich ans Feuer und wärmte sich. Sie hatte Kaffee gekocht, von dem er sich einen Becher nahm.

»Ich habe gehört«, sagte sie, »dass du dir gefährliche Feinde gemacht hast.«

»Dir entgeht wohl nichts, was?«

Sie strich sich eine Haarsträhne von den Augen weg. »Nein.«

Longtree rollte sich eine Zigarette und zündete sie an der Glut des Feuers an. »Ich scheine mir immer Feinde zu machen, egal, wo ich bin.«

»So bist du wohl.«

Longtree lachte trocken. »Das kann man sagen. Sieht so aus, als ob Marshals noch nie von jemandem gemocht wurden und als ob sie auch nie jemand mögen wird.«

»Sheriff Lauters ist ein gefährlicher Gegner, Joseph Longtree«, sagte sie, ohne sonderlich besorgt auszusehen. Sie stellte nur eine Tatsache fest. »Ich habe gehört, dass du heute angeschossen wurdest.«

»War nur ein Streifschuss.«

»Bald wirst du schlimmere Feinde als Lauters haben.«

Er kratzte sich das unrasierte Kinn. »Wen denn?«

»Die Skull Verbindung weiß von dir und deinen Untersuchungen.«

»Ich stelle keinerlei Bedrohung für sie dar.«

»Doch. Du bist hier, um dem Töten ein Ende zu setzen, und damit du das kannst, wirst du ihnen in die Quere kommen müssen.«

Er lächelte grimmig. »Du beharrst immer noch auf dieser Skullhead-Geschichte?«

Sie sah ihn schweigend an. In ihrem Blick lag alles Wissen dieser Welt. »Ich halte das für eine dumme Frage.«

Longtree küsste sie und erzählte ihr, wo er gewesen war und was er gesehen und getan hatte. Sie schien von nichts überrascht zu sein, nur unglücklich darüber, dass er die Begräbnisstätte überhaupt betreten hatte.

»Du hast einen heiligen Ort besucht«, sagte sie leise. »Du hast das Grab meines Bruders geschändet. Ich sollte dich töten. Wenn ich eine gute Piegan wäre, würde ich das tun.«

»Aber du tust es nicht.«

Sie zuckte die Achseln. »Und woher willst du wissen, dass ich das niemandem erzählen werde? Dass du für dieses Sakrileg nicht aus Rache getötet wirst?«

Longtree zog langsam an seiner Zigarette. »Weil du nichts sagen wirst. Wenn du's tätest, würden sie mich umbringen. Und wenn ich tot bin, kann ich nicht herausfinden, was deinem Bruder wirklich zugestoßen ist … und ich bin vermutlich der einzige Mann, der das kann.«

Moonwind gestattete sich ein dünnes Lächeln. Ihre dunklen Augen glitzerten im Feuerschein. »Du hast recht. Die Ehre meines Bruders ist wichtiger als alle Begräbnisstätten dieser Welt. Trotzdem hast du mit deiner Tat Gotteslästerung begangen.«

Longtree starrte sie wütend an. »Das Ding hat mich fast umgebracht.«

»Das Ding war ein Gott

Nun rauchte Longtree schweigend. Gott oder nicht, dieser Horror aus dem Grab war nichts auch nur entfernt Menschliches. Es war ein Dämon. Nicht mehr und nicht weniger. Die Toten konnten nicht laufen. Das war einfach eine Tatsache … oder war es bis heute Abend gewesen. Er bezweifelte, dass er jemals wieder etwas nicht glauben würde, weil es zu weit hergeholt schien.

»Du glaubst mir alles, was ich dir erzähle«, sagte Longtree. »Warum? Wenn mir jemand so eine Geschichte erzählen würde, würde ich ihn auslachen.«

Moonwind runzelte die Stirn. »Das ist das Problem mit euch Weißen. Ihr meint, alles zu wissen – dass nichts existiert oder existieren kann, das ihr nicht gesehen oder am eigenen Leib erfahren habt. Tja, nun weißt du's besser. Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die außerhalb deiner beschränkten Erfahrungen liegen.«

»Auch tote Dinge, die laufen können?«

»Wie ich schon sagte, es war ein Gott. Und er war nicht tot, sondern hat nur … gewartet.«

Er seufzte. »Bowes hat mir einiges über Ghost Hand erzählt.«

»Ghost Hand war mein Großvater, ein wichtiger Medizinmann, eine Legende in unserem Volk«, erklärte sie. »Ich habe gehört, dass er einen ertrunkenen Mann lebendig machte und dass ein erfroren dagelegenes Baby wieder lebte, als er seinen Atem hineinblies.«

»Was hast du von deinem Großvater gewusst?«, fragte Longtree.

»Ich wusste, dass er ein netter und sanfter alter Mann war, sonst nicht viel. Er starb, bevor ich geboren wurde. Er war ein Medizinmann und Mitglied der Skull Verbindung.«

»Und ein Gestaltwandler?«

»Möglicherweise.«

»Ich glaube, das können wir außer Acht lassen. Skullhead ist kein Mensch, gestaltwandelnd oder nicht.«

»Nein, er ist ein Gott. Aber du warst dir nicht sicher, oder?«

Longtree zuckte die Achseln. »Nein, war ich mir nicht. Und ich musste mir sicher sein. Ich musste wissen, hinter was ich her bin. Die Wahrheit, und nicht irgendwelche Erzählungen. Als ich Red Elk untersuchte, war offensichtlich, dass er nur ein toter Mann war. Er war kein Tier oder Halbwesen.«

Longtree hatte über das, was er auf der Begräbnisstätte gesehen hatte, lange und genau nachgedacht. Er glaubte die Geschichten über die Blutmedizin immer noch nicht, aber diese Mumie war aus dem Grab auferstanden und mehr Tier als Mensch gewesen. Was auch immer er glauben mochte – nie würde er akzeptieren, dass die Kreatur, die er gesehen hatte, auch nur im Entferntesten menschlich war. Selbst ein Medizinmann konnte so nicht aussehen.

»Interessante Geschichten, die wir uns hier erzählen, Mädchen«, sagte er schließlich. »Äußerst interessante Dinge über die Skull Verbindung, Blutmedizin und deinen Großvater. Aber es sind eben doch nur Geschichten, nicht?«

»Die Skull Verbindung gibt es wirklich«, sagte sie verärgert.

»Natürlich. Aber erwartest du tatsächlich, dass ich glaube, diese Männer verwandeln sich in Monster? Was ich gesehen habe, war kein Mensch. Magst du mir sagen, was es war?«

»Ein Blackfoot war es nicht.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Longtree.

Sie fixierte ihn mit stählernem Blick. »Es ist nichts, über das man Witze macht.«

»Sag's mir.«

Sie schluckte. »Was du gesehen hast, Joseph Longtree, war etwas, dass mein Volk einmal verehrt hat. Etwas vom Anfang der Zeit. Man hat sie die Herrscher der hohen Wälder genannt. Es gab sie hier vor den Menschen.«

»Vor den Indianern?«

»Vor überhaupt jemandem.« Sie zog ihre Decke enger um die Schultern. »Du hast an einem heiligen Ort gegraben. An dem Ort, wo der Letzte der Herren vor langen Jahrhunderten begraben wurde.«

»Da war noch ein leeres Grab …«

»Und ich glaube, dass du weißt, wieso es leer ist. Was dort lag, ist jetzt wieder unterwegs.«

»Wie kann das sein?«, fragte er ungläubig.

»Die Skull Verbindung hat sie früher verehrt. Sie werden Methoden haben, sie wieder zum Leben zu erwecken. Mehr weiß ich nicht.«

»Tatsächlich?«

Sie sah wütend aus. »Ich begehe hier Frevel an meinen Vorfahren. Ich hoffe, dass sie es mir vergeben können. Der weiße Mann behauptet, dass es die Föderation der Blackfoot in diesem Teil der Welt erst seit 300 oder 400 Jahren gibt. Aber das ist falsch. Wir leben seit ewigen Zeiten hier. Unsere mündlichen Überlieferungen gehen Tausende von Jahre zurück. Vor sehr langer Zeit, in den sogenannten Dunklen Tagen, erreichte unser Volk diese Berge. Das ist so lange her, dass die Berge damals noch Hügel waren. Andere Berge von damals sind heute nur noch Hügelketten. Die Blackfoot kamen in den Dunklen Tagen auf der Jagd nach Tieren hierher. Sie entdeckten einen riesigen Wald, einen Wald, so groß, dass er die ganze Welt bedeckte. Die Bäume wuchsen bis in den Himmel hinein. Und unter den Bäumen, auf den heiligen Lichtungen und Senken, gab es Dunkelheit und Schatten, in denen viele seltsame Kreaturen lebten. Die Überlieferung erzählt davon, dass unsere Vorfahren die zusammengefallenen Steinruinen uralter Städte fanden. Doch diese Ruinen und der finstere Wald dahinter waren das Jagdgebiet der Skullheads. Es gab Hunderte von ihnen. Man nannte sie nicht nur die Skullheads, sondern auch die Kannibalenriesen, die Herren der Berge, Könige der Jagd und die Menschenfresser.

Unser Volk kämpfte gegen sie, aber die Skullheads waren grimmig, waren Teufelskrieger. Uns war nur erlaubt, in ihren Wäldern und Schluchten zu leben und jagen, wenn wir einige unserer Kinder opferten. Diese dunklen Riten wurden von Priestern durchgeführt, aus denen die Skull Verbindung entstand. Über viele Jahrhunderte ging das so.

Mit der Zeit lichteten sich die Wälder, die Sümpfe trockneten aus und das Sonnenlicht drang in die Lager der Skullheads ein. Die Ruinen der Städte waren nur noch Staub, den der Wind fortwehte. Alles veränderte sich. Unser Volk wurde zahlreich und stark, die Skullheads jedoch immer schwächer. Als die Zeit der Hunde anbrach, gab es nur noch eine Handvoll von ihnen. Und die wurden von unseren Medizinmännern, die noch die alten Sitten kannten, besiegt und gefangen genommen. Sie wurden bei lebendigem Leibe begraben. Aber gestorben sind sie nie. Den Tod kannten sie nicht wie wir. Während die Jahrhunderte vergingen, warteten sie. Wann immer sich an unserem Volk vergangen wurde, ist einer von ihnen wiederbelebt worden, um zu bestrafen und Gerechtigkeit zu finden. Und das ist alles, was ich weiß. Jetzt gibt es auf unserem Friedhof nur noch zwei oder drei von ihnen. Und einer ist unterwegs.«

Longtree fand ihre Erzählung sehr fesselnd: Den kurzen Blick in die Vorgeschichte auf die Ära vor der Eiszeit, der über Tausende von Jahren vom Vater an den Sohn, von der Mutter an die Tochter weitergegeben worden war.

»Diese Ruinen, die du erwähnst«, sagte er. »Die Städte – wer hat sie gebaut?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie waren bereits zu Staub zerfallen, bevor die Blackfoot kamen, aber die Skullheads haben sie nicht errichtet, sondern andere Geschöpfe.«

Longtree nahm an, dass es nicht weiter wichtig war. »Der Skullhead, der jetzt unterwegs ist … er wird getötet werden müssen.«

»Ich wünsche dir viel Glück dabei.«

Longtree nickte. Sie hatte gesagt, dass er bald schlimmere Feinde als nur Lauters haben würde. Und was sollte das heißen? Dass ihn nun die Herrscher der hohen Wälder verfolgen würden? Er fragte sie danach.

»Durchaus möglich«, gab sie zu. »Wenn die Verbindung herausfindet, dass du das Grab einer ihrer Götter geöffnet hast …«

Er seufzte. »Dann sehe ich besser zu, dass ich ihn erwische, bevor er mich erwischt.«

Mehr ließ sich dazu nicht sagen.

Longtree zog Moonwind an sich heran und küsste sie ungestüm. Sie verweigerte sich ihm nicht. Ihre starken Arme zogen ihn näher an sich heran. Sie öffnete ihren Büffelumhang und schob seinen Mund auf ihre vorgestreckten Brüste. Er liebte sie mit seinem Mund, entlockte ihr vor dem Lagerfeuer mit der Zunge und den Lippen all ihre Geheimnisse und Leidenschaften. Sie tat es ihm gleich. Als er in sie eindrang, tat er es langsam, sanft, entlockte ihr Stöhnen und Aufschreie. Als er kräftiger und schneller in sie stieß, schlang sie ihre Beine um seine Hüften und keuchte in sein Ohr, flüsterte ihm ihre Wünsche zu und biss ihn zärtlich. Schließlich waren sie wie zwei in der Hitze und Sehnsucht verlorene Tiere, schwammen über entflammte Meere, während ihre Hüften in rohem Hunger gegeneinanderstießen.

Als es vorbei war, sagte sie: »Nun bin ich dein.«

Sie hielten einander vor dem Lagerfeuer und streiften des anderen Haut mit sanften Küssen und Liebkosungen. Moonwind blieb bis kurz vor Morgengrauen bei ihm. Als sie ihn verließ, küsste sie ihn und ritt still davon, um ihn nicht aufzuwecken.

Angesichts dessen, was danach geschah, war es gut, dass sie fortging.

 

Kapitel 71


 

Nachdem Longtree Deputy Bowes den Leichnam von Mike Ryan gebracht hatte, machte er sich auf die Suche nach Sheriff Lauters. Niemand hatte ihn gesehen. Bei Doc Perry war er nicht und Perry behauptete, nicht zu wissen, wo er war.

Longtree glaubte ihm nicht.

Er wusste, dass der Doktor mit dem Sheriff schon seit geraumer Zeit befreundet war. Perry wusste, wo er war, würde es aber nicht sagen – selbst dann nicht, wenn Longtree ihn verhaftete und ihm ein paar Schläge verpasste. Perry war ein äußerst loyaler Mann. Longtree respektierte das. Lauters musste irgendwo da draußen sein, musste sich in einem Saloon oder Bordell verkrochen haben und war dabei, sich zu besaufen. Seine Karriere war am Ende. Dessen musste er sich bewusst sein. Er versteckte sich, und das Einzige, was ihn zum Vorschein bringen konnte, war der Skullhead. Früher oder später würde es dazu kommen.

Longtree stellte sein Pferd im Stall gegenüber vom Serenity Hotel unter und machte sich zu Fuß auf den Weg. Er musste Lauters finden. Wenn das bedeutete, jeden Saloon der Stadt nach ihm abzusuchen, dann würde er das tun. Verhaften wollte er Lauters noch nicht, sondern ihn nur in Schutzgewahrsam nehmen. Ob es dem Sheriff gefiel oder nicht, das war Longtree egal. Er wollte den Mann im Gefängnis hinter Gittern sitzen haben, damit Bowes und er eine Chance gegen das Biest hatten, wenn es wegen ihm auftauchte.

Das war der Plan.

Es fiel immer noch Schnee und der Wind wehte, als Longtree an der Schmiede vorbeiging. Er hielt inne. Dick Rikers war der Schmied und laut Bowes Erzählungen einer der wenigen, die gesehen hatten, wie Red Elk gehängt wurde.

Longtree ging hinein.

Drinnen war es heiß. Rikers stand am Schmiedeofen und bearbeitete ein Brandeisen.

»Marshal. Was kann ich für Sie tun?«, fragte er. Seine muskulösen Arme waren schweißnass.

»Wenn ich darf, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

Rikers nickte, legte seine Arbeit beiseite und wischte sich Gesicht und Hals mit einem Handtuch ab. »Ich mache gerade ein paar neue Brandeisen für die Ryan Ranch. Aber das kann warten.«

»Für Mike Ryan?«

»Wüsste nicht, dass es noch einen andern Ryan gäbe.«

Longtree rollte sich eine Zigarette und zündete sie langsam an. »Ryan ist tot, Mr. Rikers«, sagte er.

»Tot?« Rikers sah geschockt aus.

»Ja, ermordet. Von demselben Ding umgebracht, das die andern getötet hat. Was Sie auch gesehen haben, wenn ich mich recht entsinne.«

Rikers erblasste, als er sich an die Nacht erinnerte, in der er die Kreatur nach dem Angriff auf Dewey Mayhew hatte weglaufen sehen. »Ryan«, sagte er. »Mike Ryan.«

Longtree nickte. »Und ich glaube nicht, dass er der Letzte war.«

»Dagegen muss was getan werden.«

»Na, das versuchen wir ja, Mr. Rikers, seien Sie nur sicher«, sagte Longtree und atmete eine Rauchwolke aus. »Aber wissen Sie, es ist seltsam, wirklich äußerst seltsam. Mir kommt es so vor, als ob diese Tötungen mit dem Lynchmord an dem Blackfoot letztes Jahr zusammenhängen. Das haben Sie mitangesehen, stimmt's?«

Rikers schluckte. »Ja, ich hab's gesehen. Aber ich hätte nichts für ihn tun können, außer mich auch umbringen zu lassen, falls Sie darauf hinauswollen.«

»Nein, Sie haben schon das Richtige getan, Mr. Rikers. Es bringt nichts, sich bei solchen Verbrechen einzumischen.«

»Ich habe keine Ahnung, wer die waren – sie trugen Masken.«

»Nein, das interessiert mich auch nicht weiter. Ich wollte Sie wegen des Mordes befragen, der zu alldem geführt hat.«

Rikers Gesichtszüge erschlafften. »Das Carpenter Mädchen?«

»Ja. Können Sie sich an sie erinnern?«

Rikers setzte sich hin und leckte sich die Lippen. »Sie war ein hübsches Ding, Marshal. Hübsch und sehr nett. Alle mochten sie. Sie war einfach ein liebes Mädchen, das nie mit jemandem Streit hatte.«

»Können Sie sich erinnern, ob sie Verehrer hatte?«

Rikers lachte. »Sie hatte zu viele, Marshal. Alle möglichen Männer sind aus der Versenkung aufgetaucht, nachdem sie einen Blick auf sie geworfen hatten.«

»Können Sie sich an irgendwelche von ihnen erinnern?«

»Verdammt, Marshal«, sagte Rikers, »das ist eine ganze Weile her. Manche waren Ranchhelfer, andere Bergarbeiter, und sogar Liberty, der Zahnarzt, war scharf auf sie.«

»Alle waren hinter ihr her, was?«