Charlotte Brontë

Jane Eyre

Die Waise von Lowood

Eine Autobiographie

Aus dem Englischen von Marie von Borch

 

Vollständig neu bearbeitet von Martin Engelmann

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1847 bei Smith, Elder & Co., London, unter dem Titel
Jane Eyre. An Autobiography.
Edited by Currer Bell.

 

Die erste deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Marie von Borch erschien 1888 bei Philipp Reclam jun., Leipzig, unter dem Titel

Jane Eyre, die Waise von Lowood.
Eine Autobiograhie von Currer Bell.

 

ISBN 978-3-8412-0067-9

 

Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2009
© Aufbau Media GmbH, Berlin, 2008
(für die revidierte Übersetzung)

 

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Inhaltsübersicht

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Zur Übersetzung

 

Charlotte Brontë

Erstes Kapitel

Es war ganz unmöglich, an diesem Tag einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir zwar noch eine ganze Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert, aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen mit sich gebracht, dass von weiterer Bewegung im Freien nicht mehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber, denn lange Spaziergänge waren mir stets zuwider, besonders an frostigen Nachmittagen. Ich fand es furchtbar, in der rauen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen und mit einem vom Schimpfen der Kinderfrau Bessie schweren Herzen, gedemütigt durch das Bewusstsein meiner körperlichen Minderwertigkeit gegenüber Eliza, John und Georgiana Reed.

Eliza, John und Georgiana hatten sich gerade im Salon um ihre Mama versammelt. Diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins, umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrien, und sah vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon befreit, mich dieser Gruppe anzuschließen: Sie bedauere es zutiefst, sei aber gezwungen, mich fernzuhalten, solange sie nicht selbst oder durch Bessies Worte überzeugt sei, dass ich ernsthaft versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter und ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen. Bis dahin müsse Sie mich aber leider von allen Vorrechten ausschließen, die nur für zufriedene, glückliche kleine Kinder gedacht seien.

»Was sagt denn Bessie, dass ich getan habe?«, fragte ich.

»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es geradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Sofort setzt du dich irgendwohin und schweigst, bis du höflicher reden kannst!«

An das Wohnzimmer grenzte ein kleines Frühstückszimmer, in das ich hineinschlüpfte. Hier stand ein großer Bücherschrank. Ich ergriff einen dicken Band, wobei ich sorgsam darauf achtete, dass er auch bebildert war. Dann kletterte ich auf den Sitz in der Fenstervertiefung, zog die Füße hoch und kreuzte die Beine wie ein Türke. Schließlich zog ich die roten Wollvorhänge fest zusammen und war auf diese Weise doppelt versteckt.

Scharlachrote Stofffalten verdeckten mir die Aussicht nach rechts; links befanden sich die großen, klaren Fensterscheiben, die mich vor dem düsteren Novembertag schützten, mich aber nicht von ihm trennten. In kurzen Momenten, wenn ich die Seiten meines Buches umblätterte, fiel mein Blick auf den Winternachmittag. In der Ferne lagen Wolken über einem blassen, leeren Nebel, davor in endlosem Regen die freie Rasenfläche mit ihren entlaubten, sturmgepeitschten Sträuchern.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück, es war Bewicks »Britische Vogelkunde«. Im Allgemeinen kümmerte ich mich wenig um den gedruckten Text, und doch waren da einige einleitende Seiten, welche ich nicht gänzlich übergehen konnte. Sie handelten von den Verstecken der Seevögel, von jenen einsamen Felsen und Klippen, die nur ihnen gehören, und von der Küste Norwegens, die von ihrer äußersten südlichen Spitze, dem Lindesnes, bis hinauf zum Nordkap mit Inseln übersät ist:

»Wo der nördliche Ozean, in wildem Wirbel

Um die nackten, öden Inseln tobt

Des fernen Thule; und das atlantische Meer

Sich stürmisch zwischen die Hebriden wälzt.«

Auch konnte ich nicht unbeachtet lassen, was dort stand über die düsteren Küsten Lapplands und Sibiriens, über die Küsten von Spitzbergen, Nowaja Semlja, Island und Grönland, den endlosen Bereich der arktischen Zone und jene einsamen Regionen leeren Raumes – jenes »Reservoir von Eis und Schnee, wo fest gefrorene Eisfelder, durch Jahrhunderte des Winters auf alpine Höhen geschichtet, den Nordpol umgeben und zu einem Ort der strengsten, äußersten Kälte vereinigt sind«. Von diesen todesweißen Regionen machte ich mir meine eigenen Vorstellungen: schattenhaft, wie alle nur halb verstandenen Gedanken im Kopf eines Kindes, aber einen seltsam tiefen Eindruck hinterlassend. Die Worte dieser einleitenden Seiten verbanden sich mit den darauffolgenden Vignetten und gaben ihnen eine tiefere Bedeutung: jenem Felsen, der aus einem Meer von Wellen und Wogenschaum emporragte; dem zertrümmerten Boot, das an traurig-wüster Küste gestrandet war; dem kalten, geisterhaften Mond, der durch düstere Wolkenmassen auf ein sinkendes Wrack herabblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit welchen Empfindungen ich auf den stillen, einsamen Friedhof mit seinem beschrifteten Grabstein sah, auf jenes Tor, die beiden Bäume, den niedrigen Horizont, der durch eine zerfallene Mauer begrenzt war, auf die schmale Mondsichel, die die Stunde der Abendflut bezeichnete.

Die beiden Schiffe, welche auf regungsloser, windstiller See lagen, hielt ich für Meeresungeheuer.

Über den Unhold, welcher sich sein Diebesbündel auf den Rücken schnürte, eilte ich flüchtig hinweg; er war ein Gegenstand des Schreckens für mich.

Ein gleiches Entsetzen flößte mir das schwarze, gehörnte Etwas ein, das hoch auf einem Felsen saß und eine Menschenmenge in weiter Ferne beobachtete, die um einen Galgen stand.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte. Oft war diese für meinen noch nicht entwickelten Verstand geheimnisvoll und meinem unbestimmten Empfinden unverständlich, stets aber flößte sie mir das tiefste Interesse ein: dasselbe Interesse, mit welchem ich den Erzählungen Bessies lauschte, wenn sie zuweilen an Winterabenden in guter Laune war. Dann pflegte sie ihr Bügelbrett an das Kaminfeuer des Kinderzimmers zu bringen und erlaubte uns, unsere Stühle heranzurücken. Und während sie Mrs. Reeds Spitzenmanschetten bügelte und die Rüschen ihrer Nachthauben kräuselte, erfreute sie uns mit Erzählungen von Liebesgram und Abenteuern aus alten Märchen und noch älteren Balladen, oder – wie ich erst viel später entdeckte – aus den Romanen »Pamela« und »Henry, Graf von Moreland«.

Mit dem »Bewick« auf meinen Knien war ich damals glücklich, glücklich wenigstens auf meine Art. Ich fürchtete nichts als eine Unterbrechung, eine Störung – und diese kam nur zu bald. Die Tür zum Frühstückszimmer wurde geöffnet.

»Oho, Madam Trübsal!«, ertönte John Reeds Stimme. Dann hielt er inne, augenscheinlich war er erstaunt, das Zimmer leer zu finden.

»Wo zum Teufel ist sie denn?«, fuhr er fort. »Lizzy! Georgy!«, rief er seinen Schwestern zu, »Jane ist nicht hier. Sagt Mama, dass sie in den Regen hinausgelaufen ist – dieses Biest!«

›Wie gut, dass ich den Vorhang zugezogen habe‹, dachte ich, und dann wünschte ich inbrünstig, dass er mein Versteck nicht entdecken möge. John Reed allein würde es auch niemals entdeckt haben – er war langsam, sowohl im Begreifen wie in seinem Wahrnehmungsvermögen – aber Eliza steckte den Kopf zur Tür herein und sagte sofort:

»Sie ist gewiss wieder in die Fenstervertiefung gekrochen, sieh nur da nach, Jack.«

Ich kam sofort heraus, denn ich zitterte bei dem Gedanken, dass Jack mich hervorzerren würde.

»Was möchtest du?«, fragte ich mit schlecht geheuchelter Gleichgültigkeit.

»Sag: ›Was wünschen Sie, Mr. Reed?‹«, lautete seine Antwort. »Ich will, dass du hierher kommst!« Und indem er in einem Lehnstuhl Platz nahm, gab er mir durch eine Geste zu verstehen, dass ich näher kommen und vor ihn treten solle.

John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren – vier Jahre älter als ich, denn ich war erst zehn Jahre alt. Er war groß und stark für sein Alter, hatte eine unreine, ungesunde Haut, grobe Züge in einem breiten Gesicht, schwerfällige Gliedmaßen und große Hände und Füße. Gewöhnlich pflegte er sich bei Tisch so vollzustopfen, dass er gallig wurde und trübe Augen und schlaffe Wangen bekam. Eigentlich hätte er jetzt in der Schule sein müssen, aber seine Mama hatte ihn für ein bis zwei Monate nach Hause geholt, »seiner zarten Gesundheit wegen«. Mr. Miles, der Direktor der Schule, versicherte, dass es ihm außerordentlich gutgehen würde, wenn man ihm nur weniger Kuchen und Leckerbissen von zu Hause schicken wollte, aber das Herz der Mutter empörte sich über eine so rohe Behauptung und neigte mehr zu der feineren und zarteren Ansicht, dass Johns Blässe von Überanstrengung beim Lernen und vielleicht auch von Heimweh herrühre.

John hegte wenig Liebe für seine Mutter und seine Schwestern – und eine starke Antipathie gegen mich. Er quälte und bestrafte mich, nicht zwei- oder dreimal in der Woche, nicht ein- oder zweimal am Tage, sondern fortwährend und unaufhörlich. Jeder Nerv in mir fürchtete ihn, und jeder Zollbreit Fleisch auf meinen Knochen schauderte und zuckte, wenn er in meine Nähe kam. Es gab Augenblicke, wo der Schrecken, den er mir einflößte, mich ganz verrückt machte, denn ich hatte niemanden, der mich gegen seine Drohungen und seine Tätlichkeiten verteidigte. Die Dienerschaft wagte es nicht, ihren jungen Herren zu beleidigen, indem sie für mich gegen ihn Partei ergriff, und Mrs. Reed war in diesem Punkte blind und taub: Sie sah niemals, wenn er mich schlug, sie hörte niemals, wenn er mich beschimpfte, obgleich er beides gar oft in ihrer Gegenwart tat, häufiger jedoch noch hinter ihrem Rücken.

Aus Gewohnheit gehorchte ich John auch dieses Mal und näherte mich seinem Stuhl. Eine schier endlose Zeit brachte er damit zu, mir seine Zunge so weit entgegenzustrecken, wie er es ohne Gefahr für seine Zungenbänder bewerkstelligen konnte. Ich fühlte, dass er mich jetzt gleich schlagen würde, und obgleich ich eine furchtbare Angst vor dem kommenden Schlag empfand, vermochte ich doch über die ekelerregende und hässliche Erscheinung des Burschen, der mich gleich schlagen würde, meine Betrachtungen anzustellen. Ich weiß nicht, ob er diese Gedanken auf meinem Gesicht las, denn plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, schlug er heftig und brutal auf mich los. Ich taumelte, dann gewann ich das Gleichgewicht wieder und trat einige Schritte von seinem Stuhl zurück.

»Das ist für die Frechheit, dass du vor einer Weile Mama eine unverschämte Antwort gegeben hast«, sagte er, »und dass du gewagt hast, dich hinter dem Vorhang zu verkriechen, und für den Blick in deinen Augen vor zwei Minuten, du Ratte, du!«

An Johns Beschimpfungen gewöhnt, fiel es mir niemals ein, irgendetwas auf dieselben zu erwidern; ich dachte immer nur daran, den Schlag zu ertragen, der unfehlbar auf die Schimpfworte folgen würde.

»Was hast du da hinter dem Vorhang gemacht?«, fragte er weiter.

»Ich habe gelesen.«

»Zeig mir das Buch!«

Ich ging an das Fenster zurück und holte es.

»Du hast kein Recht, unsere Bücher zu nehmen, du bist eine Untergebene, hat Mama gesagt. Du hast kein Geld, dein Vater hat dir keins hinterlassen, eigentlich solltest du betteln und hier nicht mit den Kindern eines Gentleman, wie wir es sind, zusammenleben und dieselben Mahlzeiten essen wie wir und Kleider tragen, die unsere Mama dir kaufen muss. Nun, ich werde dich lehren, zwischen meinen Büchern herumzustöbern, denn sie gehören mir, und das ganze Haus gehört mir oder wird mir wenigstens in einigen Jahren gehören. Geh und stell dich an die Tür; weg vom Spiegel und den Fenstern!«

Ich tat, wie mir geheißen, ohne eine Ahnung von seiner Absicht zu haben. Als ich aber gewahrte, dass er das Buch emporhob und mit demselben zielte, sprang ich instinktiv zur Seite und stieß einen Schreckensschrei aus – jedoch nicht schnell genug: Das Buch traf mich, ich fiel hin, schlug mit dem Kopf gegen die Tür und verletzte mich. Die Wunde blutete, der Schmerz war heftig; mein Entsetzen aber hatte den Höhepunkt überschritten und andere Empfindungen bemächtigten sich meiner.

»Du gemeiner Kerl!«, schrie ich. »Du bist wie ein Mörder – wie ein Sklaventreiber – du bist wie die römischen Kaiser!«

Ich hatte Goldsmith’ »Geschichte Roms« gelesen und mir meine eigene Ansicht über Nero, Caligula und andere gebildet. Im Stillen hatte ich schon meine Vergleiche gezogen, welche laut zu äußern allerdings niemals meine Absicht gewesen war.

»Was, was?«, schrie er. »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr es gehört, Eliza und Georgiana? Das will ich Mama erzählen! Aber vorher …«

Er stürzte auf mich zu; ich fühlte, wie er meine Haare und meine Schulter fasste. Doch er kämpfte mit einem verzweifelten Geschöpf: Ich sah wirklich einen Tyrannen in ihm, einen Mörder. Ich fühlte, wie einzelne Blutstropfen von meinem Kopf auf den Hals herabfielen, und empfand einen stechenden Schmerz. Diese Empfindungen siegten für den Augenblick über die Furcht, und ich trat ihm in wahnsinniger Wut entgegen. Was ich mit meinen Händen tat, kann ich nicht mehr sagen, aber er schrie fortwährend: »Ratte! Ratte!«, und brüllte aus Leibeskräften. Hilfe für ihn war sofort zur Stelle: Eliza und Georgiana waren gelaufen, um Mrs. Reed zu holen, die nach oben gegangen war. Jetzt erschien sie auf der Szene, und ihr folgten Bessie und ihre Zofe Abbot. Man trennte uns, dann hörte ich die Worte:

»Mein Liebling, mein Liebling! – Welch eine Furie, so auf Mr. John loszustürzen!«

»Hat man jemals ein so leidenschaftliches Geschöpf gesehen?«

Und Mrs. Reed verfügte: »Bringt sie in das Rote Zimmer und schließt sie dort ein!«

Vier Hände bemächtigten sich meiner und man trug mich nach oben.

Zweites Kapitel

Auf dem ganzen Weg leistete ich Widerstand; dies war etwas Neues und ein Umstand, der viel dazu beitrug, Bessie und Miss Abbot in der schlechten Meinung zu bestärken, welche diese ohnehin schon von mir hegten. Tatsache ist, dass ich vollständig außer mir war. Ich wusste sehr wohl, dass die Empörung dieses einen Augenblicks mir schon außergewöhnliche Strafen zugezogen haben musste, daher war ich in meiner Verzweiflung wie jeder rebellische Sklave fest entschlossen, nun bis ans Äußerste zu gehen.

»Halten Sie ihre Arme fest, Miss Abbot, sie ist wie eine wilde Katze.«

»Schämen Sie sich! Schämen Sie sich!«, rief die Zofe. »Welch ein abscheuliches Betragen, Miss Eyre, einen jungen Gentleman zu schlagen! Den Sohn Ihrer Wohltäterin! Ihren jungen Herrn!«

»Herr? Wieso ist er mein Herr? Bin ich denn eine Dienerin?«

»Nein, Sie sind weniger als eine Dienerin, denn Sie tun nichts, Sie arbeiten nicht für Ihren Unterhalt. Da! Setzen Sie sich und denken Sie über Ihre Bosheit nach!«

Sie hatten mich inzwischen in den von Mrs. Reed genannten Raum gebracht und mich auf ein Sofa geworfen. Mein erster Impuls war, wie eine Sprungfeder emporzuschnellen, jedoch drückten mich vier Hände augenblicklich wieder zurück.

»Wenn Sie nicht still sitzen, werden wir Sie festbinden«, sagte Bessie. »Miss Abbot, borgen Sie mir Ihre Strumpfbänder, die meinen würde sie augenblicklich zerreißen.«

Miss Abbot wandte sich ab, um ein starkes Bein von den notwendigen Banden zu befreien. Die Vorbereitungen, mir Fesseln anzulegen, und die Schande, die dies für mich bedeutete, dämpften meine Aufregung ein wenig.

»Nehmen Sie sie nicht ab«, weinte ich, »ich werde ganz still sitzen!«

Um ihnen für dieses Versprechen eine Garantie zu bieten, hielt ich mich mit beiden Händen an meinem Sitz fest.

»Das möchte ich Ihnen auch raten«, sagte Bessie, und als sie sich überzeugt hatte, dass ich wirklich anfing, mich zu beruhigen, ließ sie mich los. Dann stellten sie und Miss Abbot sich mit gekreuzten Armen vor mich und blickten finster und zweifelnd in mein Gesicht, als glaubten sie nicht an meinen gesunden Verstand.

»Das hat sie bis jetzt noch niemals getan«, sagte Bessie endlich zur Kammerzofe.

»Aber es hat schon lange in ihr gesteckt«, lautete die Antwort. »Ich habe der gnädigen Frau schon oft meine Meinung über das Kind gesagt, und sie hat mir auch beigestimmt. Sie ist ein verschlagenes kleines Ding: Ich habe noch nie ein Mädchen in ihrem Alter gesehen, das so hinterlistig war.«

Bessie antwortete nicht. Nach einer Weile wandte sie sich zu mir und sagte:

»Fräulein, Sie sollten doch wissen, dass Sie Mrs. Reed verpflichtet sind, sie versorgt Sie schließlich. Wenn sie Sie fortschickte, so müssten Sie ins Armenhaus gehen.«

Auf diese Worte hatte ich nichts zu erwidern; sie waren mir nicht neu. Soweit ich in meinem Leben zurückdenken konnte, war ich schon immer auf diese Umstände hingewiesen worden. Der Vorwurf meiner Abhängigkeit war in meinen Ohren schon fast zur leeren, bedeutungslosen Leier geworden, sehr schmerzlich und bedrückend zwar, aber nur halb verständlich. Nun fiel auch Miss Abbot ein:

»Und glauben Sie ja nicht, dass Sie mit den Fräulein Reed und Mr. Reed auf gleicher Stufe stehen, weil Mrs. Reed Ihnen gütig erlaubt, mit ihren Kindern erzogen zu werden. Diese werden einmal ein großes Vermögen haben, und Sie sind arm. Sie müssen demütig und bescheiden sein und versuchen, sich den anderen angenehm zu machen.«

»Was wir Ihnen sagen, ist zu Ihrem Besten«, fügte Bessie in weicherem Ton hinzu. »Sie sollten versuchen, sich nützlich und angenehm zu machen, dann werden Sie hier vielleicht eine Heimat finden; wenn Sie aber heftig, roh und ungezogen sind, so wird Mrs. Reed Sie fortschicken, davon bin ich fest überzeugt.«

»Außerdem«, sagte Miss Abbot, »wird Gott Sie strafen. Er könnte Sie mitten in Ihrem Trotz tot zu Boden fallen lassen, und wohin kämen Sie dann? Kommen Sie, Bessie, wir wollen sie allein lassen: Um keinen Preis der Welt möchte ich ihr Herz haben. Sagen Sie Ihr Gebet, Miss Eyre, wenn Sie allein sind, denn wenn Sie nicht bereuen, könnte etwas Schreckliches durch den Kamin herunterkommen und Sie holen.«

Sie gingen hinaus und schlossen die Tür hinter sich ab.

Das Rote Zimmer war ein Gästezimmer, in dem nur selten jemand schlief; man könnte beinahe sagen niemals oder nur dann, wenn ein übergroßer Besucherstrom auf Gateshead Hall es notwendig machte, alle Räumlichkeiten des Hauses zu nutzen. Und doch war das Zimmer eines der schönsten und prächtigsten Gemächer des Herrenhauses. Wie ein Tabernakel stand ein Bett im Mittelpunkt des Raumes, von massiven Mahagonipfeilern getragen und mit Vorhängen von dunkelrotem Damast behängt. Die beiden großen Fenster, deren Jalousien immer herabgelassen waren, wurden durch Gehänge und Faltendraperien des gleichen Stoffes halb verhüllt. Der Teppich war rot und auch der Tisch am Fußende des Bettes war mit einer tiefroten Decke belegt. Die Wände waren mit einem Stoff behängt, der auf lichtbraunem Grund ein zartes rosa Muster trug; die Garderobe, der Toilettentisch, die Stühle waren aus dunklem, poliertem Mahagoni angefertigt. Aus diesen düsteren Schatten erhoben sich hoch und glänzend die aufgehäuften Matratzen und Kopfkissen des Bettes, über die eine schneeweiße Decke gebreitet war. Ebenso unheimlich stach ein großer, gepolsterter, ebenfalls weißer Lehnstuhl hervor, der am Kopfende des Bettes stand und vor dem sich ein Fußschemel befand; damals erschien er mir wie ein geisterhafter Thron.

Das Zimmer war kalt, weil hier nur selten ein Feuer angezündet wurde; es war still, weil es weit vom Kinderzimmer und der Küche entfernt lag; und es war unheimlich, weil ich wusste, dass fast nie jemand das Zimmer betrat. Nur am Sonnabend kam das Hausmädchen hierher, um den stillen Staub einer Woche von den Möbeln und den Spiegeln zu wischen; und in großen Abständen kam auch Mrs. Reed, um den Inhalt einer gewissen Schublade zu kontrollieren, in welcher sich verschiedene Urkunden, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbild ihres verstorbenen Gatten befanden. Und hierin bestand auch das Geheimnis des Roten Zimmers, der Zauberbann, weshalb es trotz seiner Pracht so einsam und verlassen war.

Mr. Reed war seit neun Jahren tot. In diesem Zimmer hatte er seinen letzten Atemzug getan, hier lag er aufgebahrt, von hier hatten die Leichenträger ihn hinausgetragen, und seit jenem Tag hatte ein weihevoll-düsteres Gefühl mögliche Besucher von der Schwelle des Raumes ferngehalten.

Der Sitz, auf welchen Bessie und die bitterböse Miss Abbot mich gebannt hatten, war eine niedrige Ottomane, welche nahe dem weißen Marmorkamin stand. Das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten befand sich ein hoher dunkler Garderobenschrank, auf dessen Täfelung sich matte, düstere Lichter brachen; zu meiner Linken waren die verhängten Fenster. Ein großer Spiegel zwischen ihnen wiederholte die leere Majestät von Bett und Zimmer. Ich war nicht mehr ganz sicher, ob sie die Tür zugeschlossen hatten, und als ich wieder Mut genug hatte, um mich zu bewegen, stand ich auf und sah nach. Aber ach, keine Kerkertür war jemals sicherer verschlossen! Als ich wieder zur Ottomane zurückging, musste ich an dem Spiegel vorüber, und mein gebannter Blick bohrte sich unwillkürlich in die Tiefe desselben ein. In ihm sah alles noch kühler, hohler und düsterer aus als in Wirklichkeit, und die seltsame, kleine Gestalt, die mir aus ihm entgegenblickte, mit weißem Gesicht und Armen, die grell aus der Dunkelheit hervorleuchteten, mit Augen, die vor Furcht hin- und herrollten, wo sonst alles bewegungslos war – diese kleine Gestalt sah aus wie ein wirkliches Gespenst. Ich dachte an eines jener zarten Phantome, halb Elfe, halb Kobold, wie sie in Bessies Dämmerstunden-Geschichten aus einsamen, wilden Schluchten und düsteren Mooren hervorkamen und sich dem Auge des nächtlichen Wanderers zeigten … Ich kehrte auf meinen Sitz zurück.

In diesem Augenblick bemächtigte der Aberglaube sich meiner, aber die Stunde seines vollständigen Sieges über mich war noch nicht gekommen: Mein Blut war noch warm, die Wut des empörten Sklaven erhitzte mich noch mit ihrer ganzen Bitterkeit. Ich hatte noch einen wilden Strom von Gedanken an die Vergangenheit zu bändigen, bevor ich mich ganz dem Jammer über die trostlose Gegenwart hingeben konnte.

Wie der schmutzige Bodensatz aus einem trüben Brunnen, so stieg aus meinem bewegten, aufgeregten Gemüt alles an die Oberfläche meines Empfindens: John Reeds wilde Tyrannei, die hochmütige Gleichgültigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten. Weshalb musste ich stets leiden, stets mit verächtlichen Blicken angesehen werden, immer beschuldigt, immer verurteilt werden? Weshalb konnte ich niemals etwas recht machen? Weshalb war es immer nutzlos, wenn ich versuchte, irgendeines Menschen Gunst zu erringen? Man hatte Achtung vor Eliza, die doch so eigensinnig und selbstsüchtig war. Jedermann hatte Nachsicht mit Georgiana, die stets übel gelaunt, trotzig und frech war. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldigen Locken schienen jeden zu entzücken, der sie anblickte, und ihr Vergebung für all ihre Mängel und Fehler zu erkaufen. John wurde niemals bestraft, niemand widersprach ihm jemals, obgleich er den Tauben die Hälse umdrehte, die jungen Hühner umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, den Weinstock im Treibhaus seiner Trauben beraubte und von den seltensten Pflanzen die Knospen abriss. Er nannte seine Mutter sogar »altes Mädchen«, nahm kaum Rücksicht auf ihre Wünsche, ja zerriss und beschmutzte nicht selten ihre seidenen Kleider – und doch war er »ihr einziger Liebling«. Ich wagte niemals, einen Fehler zu begehen; ich bemühte mich stets, meine Pflicht zu tun. Und mich nannte man unartig und unerträglich, mürrisch und hinterlistig, vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerzte noch und blutete von dem erhaltenen Schlag und dem Sturz. Niemand hatte John einen Verweis erteilt, dass er mich grundlos geschlagen hatte. Aber als ich mich gegen ihn aufgelehnt hatte, um seiner weiteren besinnungslosen Gewalt zu entgehen, hatten mich alle mit den lautesten Schmähungen überhäuft.

»Ungerecht! Ungerecht!«, sagte meine Vernunft, welche durch den Schmerz eine frühreife, wenn auch vorübergehende Kraft erlangt hatte; und die Entschlossenheit, welche ebenfalls geweckt war, ließ mich allerhand Mittel ersinnen, um eine Flucht aus dieser unerträglich gewordenen Unterdrückung zu bewerkstelligen. Ich dachte daran, einfach davonzulaufen, oder, wenn dies nicht möglich wäre, niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und mich auf diese Weise zu Tode zu hungern.

Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag, wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Finsternis, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage, weshalb ich so viel leiden musste. Jetzt, aus dem Abstand von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren –, jetzt sehe ich alles klarer.

Ich war ein Misston in Gateshead Hall. Ich war ein Nichts an diesem Ort, ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der Tat, ich liebte sie ebenso wenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner ihrer Seelen übereinstimmen konnte; ein andersartiges Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein giftiges Geschöpf, welches die tiefste Verachtung für ihre Urteile und die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein unbekümmertes, geistreiches, schönes und wildes Kind gewesen wäre, Mrs. Reed meine – wenn auch ebenso abhängige und freundlose – Gegenwart leichter ertragen haben würde. Ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock des Kinderzimmers zu machen.

Das Tageslicht begann aus dem Roten Zimmer zu schwinden. Es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten Nachmittag folgte eine trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhaus heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie ein Stein, und mein Mut begann zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst und eine hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und legten sich auf die Asche meiner erkaltenden Wut. Alle sagten, dass ich boshaft sei – vielleicht stimmte es ja? Hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiss eine Sünde, denn war ich auf den Tod vorbereitet? War das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ziel? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte. Durch diesen Gedanken an ihn erinnert, versuchte ich, ihn mir dort vorzustellen und verweilte mit wachsendem Grauen dabei. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern, aber ich wusste, dass er mein Onkel gewesen war, der einzige Bruder meiner Mutter, dass er mich in sein Haus aufgenommen hatte, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen war, und dass er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, dass sie dieses Versprechen gehalten habe, und soweit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es wohl auch tatsächlich getan. Wie sollte sie denn auch für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es musste ihr natürlich ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen; es ertragen zu müssen, dass eine ganz andersartige Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte.

Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner: Ich zweifelte nicht, ja hatte es niemals bezweifelt, dass Mr. Reed, wenn er noch am Leben wäre, mich mit Güte behandelt haben würde. Und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf, da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen hatte. Wie sie jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen. Ich stellte mir vor, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder das Gewölbe der Kirche oder das unbekannte Land der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen würde. Ich trocknete meine Tränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, dass diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Trost erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könnten, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Diese vielleicht ganz trostreiche Vorstellung würde entsetzlich sein, wenn sie Wirklichkeit annehmen würde. Mit aller Gewalt versuchte ich, diese Gedanken zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefasst zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, hob ich den Kopf und versuchte, in dem dunklen Zimmer umherzublicken. In diesem Augenblick sah ich plötzlich den Widerschein eines Lichtes an der Wand. War dies vielleicht der Mondschein, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig, und dieses Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopf. Heute kann ich freilich erraten, dass dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Haus trug, aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß, und in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen von Flügeln hielt. Etwas schien sich mir zu nähern, ich fühlte mich bedrückt, erstickt, mein Widerstandsvermögen gab nach, ich stürzte auf die Tür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung an der Klinke. Eilende Schritte kamen durch den Korridor heran; der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und Bessie und Miss Abbot traten ein.

»Miss Eyre, sind Sie krank?«, fragte Bessie.

»Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!«, rief Abbot aus.

»Lasst mich raus! Lasst mich ins Kinderzimmer gehen!«, schrie ich.

»Weshalb denn? Ist Ihnen irgendetwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?«, fragte wiederum Bessie.

»Oh, ich sah ein Licht, und ich meinte, dass ein Geist kommen würde.« Ich hatte jetzt Bessies Hand ergriffen, und sie entzog sie mir nicht.

»Sie hat mit Absicht so geschrien«, erklärte Abbot mit einigem Abscheu. »Was für ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber sie wollte weiter nichts, als uns alle herbeilocken. Ich kenne ihre bösen Streiche schon.«

»Was gibt es denn hier?«, fragte eine andere Stimme gebieterisch. Mrs. fegte mit flatternden Haubenbändern und wehendem Kleid den Korridor entlang. »Abbot und Bessie, ich glaube, dass ich Befehl gegeben habe, Jane Eyre in dem Roten Zimmer zu lassen, bis ich selbst sie holen würde.«

»Miss Jane schrie so laut, Madam«, wandte Bessie zögernd ein.

»Lasst sie los«, war Mrs. Reeds Antwort. »Lass Bessies Hand los, Kind! Verlass dich darauf, auf diese Weise wirst du nicht hinausgelangen. Ich verabscheue solche List, besonders bei Kindern; es ist meine Pflicht, dir zu beweisen, dass du mit derartigen Ränken und Schlichen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine ganze Stunde hierbleiben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Versprechen gibst, vollkommen ruhig und gehorsam zu sein.«

»Oh, Tante, habt Erbarmen! Vergebt mir doch! Ich kann, ich kann es nicht ertragen … Bestraft mich doch auf andere Weise! Ich komme um, wenn …«

»Sei still! Diese Heftigkeit ist ganz widerlich und empörend!«

Ohne Zweifel hegte sie Abscheu gegen mein Betragen. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie sah in mir eine Verkörperung der heftigsten Leidenschaften, geprägt von einem niedrigen, gemeinen Geist und gefährlicher Falschheit.

Als Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, warf Mrs. Reed, die meiner wilden Angst und meines lauten Schluchzens wohl müde geworden war, mich rasch in das Zimmer zurück und schloss mich ohne weitere Worte wieder ein. Ich hörte noch, wie sie davonrauschte, und bald nachdem sie gegangen war, muss ich in Krämpfe verfallen sein: Bewusstlosigkeit machte der Szene ein Ende.