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Winfried Menninghaus

Wozu Kunst?
Ästhetik nach Darwin

 

Suhrkamp

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Erste Auflage 2011

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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eISBN 978-3-518-77010-8

 

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Cover    

Impressum    

Vorbemerkung    7

Einleitung    9

I .   Werbung, Wettbewerb, Wahl: Darwins Konkurrenzmodell der Künste    31

II.   Das Gegenmodell: Die Künste als Agenten sozialer Kooperation und Kohäsion   151

III .   Sexuelle Werbung, Spiel, Technologie und Symbole: Vier evolutionäre Vektoren der Künste    195

IV .   Ästhetische Selbstpraktiken    260

Bibliographie    280

Ausführliches Inhaltsverzeichnis    318

Anmerkungen    318

7 Vorbemerkung

Das vorliegende Buch ist das Gegenstück zu meiner 2003 erschienenen Studie Das Versprechen der Schönheit . Diese behandelte Adonis und andere mythologische Gestalten herausragender Schönheit gegen den Horizont von Darwins Theorie körperlicher Schönheit . Nun geht es um die Evolutionstheorie der menschlichen Künste . Wieder sind Überlegungen Darwins ein Hauptbezugspunkt: dieses Mal sein an Tieren entwickeltes Modell der Künste des Singens, Tanzens und multimodaler Vorführungen sowie seine Benutzung dieses Modells für eine evolutionäre Perspektive auf die menschlichen Künste. Und wieder werden auch Mythen herangezogen, dieses Mal Künstlermythen. Darwins eigene Erzählung von den visuellen und auditiven Künsten des Menschen hat selbst viele Merkmale eines zugleich wissenschaftlichen und phantasiegeborenen Mythos.

Das neue Projekt wurde bereits vor der Publikation des alten begonnen. Bis 2005 waren Konzept und einzelne Teile auch gut vorangekommen. Doch dann habe ich es übernommen, für die Freie Universität den Forschungscluster »Languages of Emotion« zu beantragen. Beantragung, Gründungsphase und mehrjährige Leitung dieses Clusters haben dazu geführt, dass mir die Fertigstellung des Buches sehr viel schwerer gefallen ist als diejenige aller Bücher, die ich zuvor geschrieben habe.

Zu den zeitlichen Schwierigkeiten kamen solche der inhaltlichen Ausrichtung hinzu. Die Forschungsprojekte im Cluster haben mir Gelegenheit gegeben, meine über viele Jahre verfolgten Interessen an den distinktiven Eigenschaften poetischer Sprache mit neuen Methodiken und unter Einbeziehung von theoretischen Modellen aus Psychologie und Linguistik zu betreiben. Experimentelle Rhetorik und Ästhetik in Kooperation mit meinen Berliner und Leipziger Cluster- 8 Kollegen aus den Sciences sind ein intellektuelles Abenteuer von großem Reiz. Leider ergab sich daraus auch eine gewisse Entfernung von dem evolutionstheoretischen Projekt. Denn beide – evolutionstheoretische Theoriebildung und streng empirische Ästhetik – sollten sich zwar idealiter wechselseitig unterstützen und begrenzen. Vorläufig berühren sie sich jedoch nur ausnahmsweise.

Immerhin weiß ich heute besser als noch vor zwei Jahren, wie sich einige Hypothesen des vorliegenden Buches empirisch testen lassen. Entsprechende Projekte werden demnächst entwickelt. Ihre Durchführung wird aber frühestens in zwei Jahren zu publizierten Resultaten führen. Nur an einigen wenigen Stellen des Buches konnte ich auf schon laufende experimentelle Studien zurückgreifen.

Ein sechswöchiges Fellowship des Humanities Research Center der Rice University gab mir im Sommer 2007 die Möglichkeit, grundlegende Ideen des vorliegenden Buches erstmals in einer Serie von drei Vorlesungen zur Diskussion zu stellen. Ein Opus magnum -Stipendium der Volkswagen und der Thyssen-Stiftung hat mir schließlich entscheidend geholfen, den Spagat zwischen den sehr verschiedenen Forschungsparadigmen auszuhalten und die Studie zur Evolutionstheorie der Künste trotz des starken Sogs in die empirische Forschung doch noch fertigzustellen. Meinen Cluster-Kolleginnen Laura Damerius, Katja Liebal und Constance Scharff danke ich für wichtige Hinweise aus evolutionsbiologischer und -psychologischer Perspektive, Philip Ekardt für seine kritische Lektüre der ersten Fassung des Gesamtmanuskripts. Henning Dahl-Arnold, Bendix Düker, Nina Peter und Michael Steimel danke ich für ihre Hilfe bei der Sichtung der Forschung und bei der Einrichtung sowie gründlichen Korrektur des Manuskripts. Ohne diese vielfältige Unterstützung wäre das vor längerer Zeit projektierte Buch vielleicht zwischen den vielen neuen Anforderungen und Interessen zerrieben worden.

9 Einleitung

Gegenstand und Ziel der Studie

Charles Darwins Buch The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex ( 1871 ) 1 enthält viele hundert Seiten über körperliche Schönheit bei Tieren und Menschen, aber nur wenige Seiten über die menschlichen Künste der visuellen Selbstverschönerung, des Singens und des rhetorisch-dichterischen Sprechens. An Kühnheit sind diese wenigen Seiten kaum zu übertreffen: Die im Tierreich verbreiteten Praktiken des Präsentierens körperlicher Ornamente und des werbend-kompetitiven Vorführens von Sing-, Tanz- und Baukünsten könnten, so Darwins Vermutung, eine frühe evolutionäre Phase auch der menschlichen Künste gewesen sein. Im kardinalen Fall der Musik betont er zugleich, dass ihre hypothetische archaische Phase nicht identisch mit einer Beschreibung und Erklärung der von homo sapiens sapiens tatsächlich geübten Künste sei ( II   330 - 333 ).

Das erste Kapitel der vorliegenden Studie widmet sich einer eingehenden Sichtung von Darwins Hypothesen zu den menschlichen Künsten. Es schreibt dabei gegen eine massive Tendenz der Darwin-Rezeption an, feinere Unterscheidungen zugunsten stark vereinfachter Basisannahmen nicht zu beachten. Darwins Theorie von Rhetorik und poetischer Sprache ist weithin noch zu entdecken; sie ist nie ernsthaft gegen den Ho 10 rizont der klassischen rhetorischen Theorie gelesen worden. Musik und Rhetorik treffen sich in Darwins Diagnose in dem Ziel, mit den nichtsemantischen und gewaltfreien Mitteln einer kunstvollen Elaborierung von Signal- und Symbolsystemen Aufmerksamkeit zu wecken und die Hörer affektiv für Person, Kunstleistung und die soziale oder sexuelle Agenda des jeweils Singenden oder Sprechenden einzunehmen.

Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Künsten bei nichtmenschlichen und menschlichen Spezies hat Darwin in sehr ungleicher Weise erörtert. Die Ähnlichkeiten werden konzeptuell klar begründet und in Teilen auch detailliert beschrieben; die Differenzbehauptung bleibt dagegen blass und unausgeführt. Die vorliegende Studie bearbeitet diese Lücke. Als Leitfaden dient dabei die Frage: Welche anderen Verhaltensadaptionen des Menschen könnten dazu beigetragen haben, dass die hypothetischen Analoga der Vogelkünste des Singens, Tanzens und Vorführens des Federschmucks beim Menschen etliche distinktive Merkmale ausbilden konnten ? Die Künste, so die genealogische Hypothese, entstanden als neue Varianten menschlichen Verhaltens, als die sehr alten Adaptionen der Bewertung sexueller Attraktivität, des Spielverhaltens und des Werkzeuggebrauchs nach Erwerb und unter Mithilfe unserer Fähigkeit zu Sprache und Symbolgebrauch einem neuen gemeinsamen Gebrauch zugänglich wurden. Vor dieser Verschaltung im Feld der Künste war ästhetisch aufwändige Werbung weitgehend gegen Spielverhalten abgedichtet, hatte Spielverhalten wenig oder gar nichts mit Werkzeuggebrauch oder mit symbolischem Denken zu tun und trug die fortgeschrittenste Technologie der Materialbearbeitung nur wenig zu den Praktiken der Körperornamentierung bei. Das Flüssigwerden dieser Grenzen ermöglichte die Emergenz der Künste. Diese beerben zugleich einige der funktionalen Leistungen, die mit den teilweise sehr viel älteren Adaptionen von Spiel, Technologie und Symbolgebrauch verbunden sind.

Diese Hypothese zu den Künsten entspricht typologisch 11 einer generellen kognitionswissenschaftlichen Hypothese zur Struktur des menschlichen Geistes. Danach hängt die eigentümliche Kreativität und Flexibilität des menschlichen Geistes nicht zuletzt davon ab, dass wir einen crossmodularen Gebrauch von unseren kognitiven, emotiven und behavioralen Fähigkeiten und Dispositionen machen können. Kants berühmte Formel vom »freien Spiel unserer Vermögen« hat eine solche entgrenzende Verwendung und Integration sonst heterogener »Vermögen« bereits als zentrales Merkmal des Ästhetischen bestimmt.

Darwins Tierbeispiele weisen der ästhetischen Elaborierung durchweg eine klare Funktion zu. Als Form der Selbstanpreisung dienen sie primär der Werbung um das andere Geschlecht, oft zugleich der Herausforderung von Konkurrenten aus dem eigenen. Physische wie künstlerische Exzellenz erhöht die Chancen in der sexuellen (und sozialen) Konkurrenz. Die menschlichen Künste beerben diese Funktionen in je unterschiedlichem Umfang; sie relativieren sie zugleich durch eine Vielzahl weiterer Faktoren. In dem Maß, in dem die schönheitsgestützten Mechanismen sexueller Wahl hybride Verbindungen mit den Adaptionen von Werkzeuggebrauch, Spiel und Sprache (Symbolgebrauch) eingehen, ergibt sich eine enorme Erweiterung ihres Funktionsspektrums:

( 1 ) Konkurrenz : Die Fortsetzung des Schönheitswettbewerbs in der Konkurrenz der Künstler und die statusverleihende Funktion des Erwerbens und dekorativen Verwendens von Kunstwerken entspricht Darwins Vogelmodell und damit der sexuellen Genealogie der Künste (Kapitel I ).

( 2 ) Kooperation/Kohäsion : Die menschlichen Künste können ebenso in vielfältiger Form der Synchronisierung, Kooperation, ja Kohäsion sozialer Gruppen zuarbeiten und Konkurrenzmechanismen gerade einklammern, neutralisieren, ja überwinden (zumindest innerhalb von Gruppen). Erzählungen und Lieder, die gruppenweit gekannt, gesungen, teilweise auch geglaubt werden, und die Synchronisierung der Bewegungen vieler Individuen in gemeinsamen Tänzen 12 sind dafür einschlägige Beispiele. In Kapitel  II wird für diese Phänomene ein Partizipations modell der menschlichen Künste entwickelt.

( 3 ) Selbstbildung/Selbstpraktiken : Die Produktion und Rezeption der Künste kann des Weiteren in der Ontogenese von Individuen motorische, kognitive und affektive Fähigkeiten befördern. Entsprechende Hypothesen stehen seit langem im Zentrum des klassischen Modells ästhetischer »Bildung« und Unterhaltung. In diesem Kontext wird der produktive und rezeptive Umgang mit den Künsten weder als kompetitive Werbung und zugehörige Wahl noch als Bindemittel für soziale Gruppen, sondern primär als Form der Selbstbildung gedacht. Funktionshypothesen dieses Typs werden in Kapitel  III auf eine evolutionstheoretische Basis gestellt und in Kapitel  IV vergleichend erörtert.

Die Konkurrenz-, Kohäsions- und »Selbstbildungs«-Hypothesen werden in der Regel als sich ausschließende Optionen vertreten. Keine der Hypothesen ist neu; jede hat bereits eine reiche, je eigene Geschichte. Das vorliegende Buch kann deshalb allein eine neue Sichtung, Begründung und Begrenzung dieser Hypothesen leisten. Dazu gehört der Nachweis, dass die konkurrierenden Hypothesen durchaus nicht grundsätzlich unvereinbar sind: Eine und dieselbe ästhetische Praxis kann zwei, ja allen drei Funktionen gleichzeitig zuarbeiten . Einzelne Kunstarten und -gattungen neigen zu unterschiedlichen Profilen in dominanter Einzelfunktion und möglichen Funktionsüberblendungen. Die theoretische Modellierung der möglichen Interaktionen der drei Funktionspole zeigt des Weiteren, dass die Kunsteffekte des dritten Typs eher als Implikation oder Nebeneffekt der beiden anderen Funktionspole gedacht werden können als umgekehrt.

13 Was ist evolutionäre Ästhetik ?

Schönheitswettbewerbe und das Vorführen von Gesangs-, Tanz- und Baukünsten gehören seit Darwin zum Kernbestand einer Evolutionsbiologie des Verhaltens. Darwins Hypothesen zur Rolle sexueller Körper-»Ornamente« und kunstvoller Vorführungen bei nichtmenschlichen Spezies haben insbesondere im späteren 20 . Jahrhundert ein breites Echo und eine enorme Vertiefung gefunden. Für seine Ausführungen speziell zu den menschlichen Künsten des Singens, Sprechens und Sich-Schmückens gilt das Gegenteil: Sie sind nur in kleinen akademischen Nischen rezipiert und nur selten ernsthaft weiterverfolgt worden.

Immerhin hat sich in den zurückliegenden Dekaden ein grenzgängerisches Gebiet mit dem Namen »Evolutionäre Ästhetik« etabliert. Es hat den Charme – und zugleich den prekären Charakter – eines Außenseiters, der sowohl in den etablierten Wissenschaften von den Künsten und der philosophischen Ästhetik als auch in der akademischen Psychologie und Biologie auf verbreitete Skepsis stößt. Überdies gibt es selbst unter den wenigen Vertretern der evolutionären Ästhetik erheblichen Dissens auch bei fundamentalen Fragen und Begriffen. Ein weithin geteiltes Verständnis der Begriffe »Evolution« und »Ästhetik« ist nicht gegeben. Ich werde deshalb vorab basale Optionen in der Semantik dieser Begriffe unterscheiden, um dadurch den theoretischen und methodischen Fokus zu bestimmen, unter dem die vorliegende Studie evolutionäre Ästhetik betreibt.

Ästhetische Wahrnehmung ist nicht denkbar ohne ein wertendes Moment. Entsprechend ist die Aussage, etwas sei schön oder weniger schön, gut inszeniert oder weniger gut inszeniert, stets mehr als eine deskriptive Aussage. Das »Geschmacksurteil« ist deshalb für Kant der zentrale Gegenstand der Ästhetik. Bewertet werden – auch jenseits von Regelpoetiken – die kognitive und affektive Lustfähigkeit visueller, auditiver und multimodaler Objekte und Ereignisse. Ästhetik 14 heißt deshalb in diesem Buch die Theorie von den Eigenschaften, der Entstehung und den Funktionen ästhetischer Präferenzen, wie sie sich in impliziten und expliziten ästhetischen Wertungen äußern. Wie in Kants Theorie des »ästhetischen Urteils« geht es mithin vor allem um die Seite der Rezeption . Fragen der »objektiven« Ästhetik – im Sinne der Romantiker und hegelianischer Ästhetiken – nach Geschichte und System der Künste und ihrer Unterarten stehen dementsprechend nicht im Vordergrund. Fragen der Aisthesis im weiteren Sinne – als generelle Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis überhaupt – werden nur behandelt, sofern dies für ästhetische Präferenzbildung im engeren Sinn unerlässlich ist. Und Fragen der Produktions ästhetik werden ebenfalls nur einbezogen, soweit sie direkt aus Art und Macht der Rezeption erklärbar sind. Bei den vermutlich besonders alten menschlichen Künsten des Singens und Tanzens gehen Rezeption und Produktion allerdings oft ineinander über. Diese Künste laden zum aktiven Mitmachen ein und verringern damit den Abstand zwischen Rezipienten- und Produzentenrolle. Funktional gleichwertig werden beide Rollen gleichwohl nicht. Das eigene Mitsingen und Mittanzen ersetzt keineswegs das Beobachten der Gesangs- und Tanzqualitäten anderer. Beide Rollen bleiben trennbar und funktional verschieden.

Darwin hat Kants Betonung der wertenden Rezeption noch verstärkt: Nach seiner Theorie verändern sich etwa die körperlichen Ornamente oder die Gesangsvorführungen von Vögeln speziesweit in genau dem Maß, in dem die Rezipienten systematisch ihre »Macht der Wahl« (»power of choice«, II   122 ) ausüben. Die Grundfragen der Ästhetik in diesem Verständnis lauten: Was bedeutet es, dass Rezipienten einige Phänomene in der Art ihres Erscheinens und Präsentiertwerdens (Aussehen, Klang, Bewegung und multimodale Überkreuzungen) anderen Phänomenen vorziehen ? Auf welchen sensorischen, kognitiven und affektiven Mechanismen beruht diese Bevorzugung ? Und welche Konsequenzen und Funktionen hat sie ?

15 Das Feld ästhetischer Bewertung ist weitaus größer als das engere Feld der Künste. Naturphänomene können ebenso ästhetisch geschätzt werden wie die Eleganz eines mathematischen Beweises. Ästhetische Bewertung kann ein mitlaufender Teil zahlloser Wahrnehmungsprozesse sein. Stärkere bis dominante Grade erreicht sie in der Regel nur bei bestimmten Objekt- und Ereignisklassen. 2 Prototypisch dafür sind die wertenden ästhetischen Sensitivitäten für das mehr oder weniger »schöne«, »gute«, »ansprechende« Aussehen natürlicher Körper und technisch hergestellter Objekte (Kleidung, Schmuck, Gebrauchsgegenstände diverser Art) sowie für die verschiedenen Künste. Es sind diese starken Auslöser ästhetisch wertender Wahrnehmung, die den gegenständlichen Horizont der vorliegenden Studie bestimmen. Die Künste stehen dabei obenan. Die Streuung ästhetisch ›urteilender‹ Wahrnehmung durch eine Fülle weiterer Bereiche wird hingegen nicht untersucht.

Die verschiedenen Künste machen von verschiedenen Sinnesdomänen und Prozessierungsmustern Gebrauch. Die Evolutionstheorie fragt deshalb primär nach je spezifischen Mechanismen und Funktionen der einzelnen Künste . Ohnehin ist der Kollektivsingular »die Kunst« für die Gesamtheit aller einzelnen Künste eine moderne westliche Erfindung, die wenig älter als 200 Jahre ist. Etliche Sprachen kennen einen solchen Sammelbegriff gar nicht. Im vorliegenden Buch werden zwar auch gemeinsame Merkmale der einzelnen Künste und mehr noch ihrer Rezeption herausgearbeitet; angesichts der evolutionstheoretischen Fragestellung dominiert jedoch die Ergründung der Arbeitsweisen und Funktionen 16 der einzelnen Künste. Der Titel müsste also streng genommen »Wozu die Künste ?« lauten.

Wie Archäologen, Ethnologen und Anthropologen nehmen evolutionäre Ästhetiker durchweg an, dass das moderne westliche Denken eines eigenen sozialen Subsystems mit Namen »Kunst« nur eine hochgradig spezielle Spielart kultureller Praktiken darstellt, die in früheren Zeiten mit großer Selbstverständlichkeit die alltägliche Lebenswelt einerseits, die Feste und religiösen Riten andererseits geprägt haben. Die vorliegende Studie folgt diesem Sprachgebrauch und bezeichnet mit dem Sammelbegriff »Künste« ein sehr weites Feld an Praktiken, die allesamt einen für unmittelbar praktische Zwecke entbehrlich scheinenden ästhetischen Aufwand betreiben, eben dadurch aber Aufmerksamkeit zu binden und eine Lust des Betrachtens, Zuhörens, Mitsingens, Mittanzens zu bereiten vermögen. Im Einzelnen umfassen diese Praktiken das Singen und Überliefern von Liedern und Erzählungen, Tänze, instrumentale Musik, Praktiken des Sich-Schmückens, Verzierung oder zumindest ästhetisch überdeterminierte Gestaltung etlicher selbsthergestellter Gegenstände des Alltagslebens, Riten mit mehr oder weniger großem ästhetischen Aufwand, vielfach auch Produktion von Skulpturen und Malereien. Alle diese ästhetischen Praktiken zeigen eine hohe kulturelle und historische Varianz in Verbreitung und Ausführung.

Evolutionstheoretische Modelle sind eine Option, die Entstehung, Verbreitung und kulturelle Variation der Künste zu erklären. Ziel des vorliegenden Buches ist allein die kritische Diskussion, Vertiefung und Ausdifferenzierung evolutionstheoretischer Hypothesen. Ambitionen, die Konflikte evolutionärer und anderer Erklärungsmodelle zu entscheiden, sind nicht damit verbunden. Vereinfachte Vorstellungen ihres Unterschieds werden allerdings ausgeräumt.

17 Die Vielfalt evolutionärer Prozesse

Wohl keine andere wissenschaftliche Innovation des 19 . Jahrhunderts hat das Denken so grundlegend verändert wie Darwins Einsichten in die Mechanismen biologischer Evolution. Die evolutionäre Ergründung komplexer menschlicher Verhaltensmerkmale hat gleichwohl vielfach immer noch das Negativimage improvisierter Spekulation und unterentwickelter Empirie. Für evolutionäre Ästhetik gilt dies in besonderem Maß. Darwins spekulative Hypothesen zu transkulturellen Merkmalen von Moral, Religion und ästhetischen Präferenzen ( I   34 - 106 , I   158 - 164 , II   330 - 384 ) bezeugen dieses Dilemma. Es ist erstaunlich, in welchem Umfang, mit welcher intellektuellen Brillanz und in welcher Präzision Darwin die Theoriebildung des späteren 20 . Jahrhunderts zu diesen Fragen vorweggenommen hat. Konzeptuelle Fortschritte über Darwin hinaus halten sich in engen Grenzen. Als Muster empirischer Forschung kann sein kühner Aufriss dieses riesigen Forschungsgebiets aber keineswegs gelten. Im Gegenteil: Wohl nur einem so phantasievollen Denker wie Darwin konnte es gelingen, bei so wenig Wissen über die Evolution der menschlichen Künste so weit reichende Hypothesen aufzustellen, deren Substanz noch längst nicht erschöpft ist.

Komplexe Verhaltensmerkmale sind die riskantesten Objekte evolutionstheoretisch fragender Untersuchungen. Um sicher sein zu können, dass ein Verhalten eine evolvierte Adaption ist, müsste idealiter gezeigt werden, dass es sowohl aufgabenspezifisch ist als auch – bei aller ontogenetischen Entwicklung und Varianz – angeborenen Einschränkungen unterliegt. 3 Der härteste Beweis dafür wäre der Nachweis, dass bestimmte Gen-Komplexe das fragliche Verhalten – und möglichst nur dieses – selektiv bedingen. Evidenzen dieses härtesten Typs sind bei komplexen Verhaltensmerkmalen zu 18 mindest vorläufig eine extreme Seltenheit. Selbst im Fall der Sprache steckt die genetische Entzifferung noch in den Anfängen. 4 Von einer Genetik ästhetischer bzw. auf Künste bezogener Verhaltensmerkmale weiß man so gut wie nichts.

Die letzten 15 Jahre haben vielfältige Versuche gesehen, diesen Mangel neurowissenschaftlich zu kompensieren, insbesondere auf dem Gebiet der neuronalen Prozessierung von Musik. Der Grundgedanke dabei ist: Wenn unser Gehirn musikalische Tonfolgen transkulturell zuverlässig in den gleichen Netzwerken prozessiert, wenn Läsionen dieser Netzwerke die entsprechenden Fähigkeiten nachweislich beeinträchtigen oder unmöglich machen, dann könnte es sich um angeborene Prozessierungsmuster handeln (auch wenn sie ontogenetisch zugleich auf kulturelles Lernen angewiesen sind).

Inzwischen hat sich allerdings die Einsicht durchgesetzt, dass die transkulturelle Gleichheit neuronaler Verarbeitungsmuster per se noch kein Goldstandard für angeborene Einschränkungen ( innate constraints ) ist. Forschungen zur Schrift bieten hierfür ein schlagendes Beispiel. Die Schrift ist viel zu jungen Datums, um die in bildgebenden Studien gefundene transkulturelle Übereinstimmung in der neuronalen Prozessierung als Effekt und Ausweis einer evolutionäre Adaption denken zu können. Für neue kulturelle Erfindungen wie die Schrift, so die Erklärung, rekrutiert unser Gehirn auf je geeignete Weise Prozessierungsnetzwerke, die für affine Aufgaben zuständig sind. 5 Bei der Schrift sind dies die Netzwerke für Sprache einerseits, für visuelle Erkennung andererseits. Die 19 flexible Anpassung an eine neue Aufgabe resultiert so in einem hochgradig uniformen Verarbeitungsmuster.

Diese neuronal recycling -Hypothese besagt nicht dasselbe wie eine rein kulturkonstruktivistische Erklärung. Indem unser Gehirn Schrift unter ökonomischem Rekurs auf evolvierte Netzwerke verarbeitet, bleibt diese Verarbeitung an die speziellen Möglichkeiten und Grenzen der rekrutierten Adaptionen gebunden. Zugleich ergibt sich die Konsequenz, dass selbst eine universelle Rekrutierung bestimmter Netzwerke für bestimmte kulturelle Kognitions- und Verhaltensmuster keineswegs ausreicht, um auf eine aufgabenspezifische Adaption gerade dieser Muster kraft natürlicher Selektion schließen zu können. Es könnte sich vielmehr um ein kulturelles Recycling weit älterer Adaptionen handeln, die gar nicht für diesen speziellen neuen Zweck evolviert sind.

Eine negative Gewissheit sei deshalb vorausgeschickt: Genetische und neurobiologische Evidenzen, dass die einzelnen Künste modular als spezialisierte Adaptionen evolviert sind, weiß das vorliegende Buch nicht beizubringen. Für eine evolutionstheoretische Erkundung ist dies keine Katastrophe. Wie Stephen J. Gould und Elisabeth S. Vrba betont haben, 6 bedeutet Evolution nicht stets und nur, dass natürliche Selektion aus einem Pool an Variationen ein bestimmtes Merkmal ausprägt, das für einen speziellen Gebrauch adaptiv ist. Evolutionäre Prozesse bringen auch viele Merkmale hervor, die nicht durch natürliche Selektion für eine bestimmte adaptive Aufgabe geprägt worden sind. Dabei kann es sich etwa um die zahlreichen Nebenprodukte adaptiver Selektion handeln. 7 Und vor allem: Einmal existierende adaptive und nichtadaptive Merkmale können von der weiteren Evolution als »ein Pool von Merkmalen, die für eine Kooptation verfügbar sind«, 8 be 20 nutzt und neuen Verwendungen zugeführt werden. 9 Darwins Beobachtungen und Bemerkungen schließen, so schon Gould und Vrba, ein breites Spektrum solcher evolutionärer »Kooptationen« ein. 10

Zentral für die evolutionäre Perspektive des vorliegenden Buches sind zwei Typen des Funktionswandels ( functional shift ), die evolvierte Adaptionen betreffen können:

( 1 ) Alte adaptive Merkmale können nicht nur ihre ursprüngliche Funktion zugunsten einer neuen verlieren; sie können auch neue Funktionen hinzugewinnen, ohne die bisherigen einzubüßen . 11

In mechanischer Hinsicht können etwa die Technologien der Selbstornamentierung als eine neue Verwendung unserer Adaption für Werkzeuggebrauch beschrieben werden. Die älteren Leistungen des Werkzeuggebrauchs für die Zwecke 21 der Jagd, der Nahrungszerlegung und des Kampfs mit Artgenossen gehen dabei nicht zugunsten der neuen (Herstellen von Farbe und Schmuckstücken, Entwicklung von Malinstrumenten und -techniken) verloren. Es wird vielmehr ein neuer Anwendungsbereich – und zugleich eine kulturelle Ausdifferenzierung der Technologie selbst – erschlossen. Das neue Phänomen der selbstdekorativen Künste entsteht durch den neuen kooptierenden Gebrauch einer sehr alten Adaption (Werkzeuggebrauch) zugunsten einer vermutlich noch älteren Verhaltensadaption (vorteilhafte Selbstpräsentation im Kontext sexueller Werbung bzw. sozialer Distinktion). Wie sich bei näherer Betrachtung zeigen wird, spielt die relativ neue menschliche Adaption der symbolischen Kognition dabei eine wichtige, die Kooptation vermittelnde Rolle.

Für die nichtdekorativen visuellen Künste sowie die sprachlichen und multimedialen Künste werden ähnliche Kooptationsmodelle vorgeschlagen. Darwins Hypothese zur Rhetorik besagt, dass rhythmische und melodische Fähigkeiten, die in der hypothetischen archaischen Proto-Musik der sexuell werbenden Überredung dien(t)en, in der neuen Adaption der Wortsprache als prosodisch-emotionale Überredungsmittel mit stark erweitertem Anwendungsspektrum weiterwirken.

( 2 ) Verhaltensadaptionen können ihre ursprüngliche Funktion verlieren, diesen Verlust der einstmaligen Funktion aber sehr lange überleben, ohne dass eventuelle neue Funktionen die obsolete alte gänzlich überlagern oder gar tilgen.

In diesen Fällen können Residua der einstmaligen Funktion auf wie immer erratische Weise spürbar und wirksam bleiben. Sie ragen dann als ein »evolutionäres Überbleibsel« (»evolutionary vestige«), 12 als insistierende Spur einer ganz oder weitgehend untergegangenen Funktion in eine neue Zeit hinein, in der die alten Koordinaten nicht mehr gelten. Ebendiese letzte Möglichkeit – das wiedergängerhafte, ›unto 22 te‹, assoziative Weiterleben von Verhaltensmerkmalen, deren evolutionäre Zeit ›eigentlich‹ abgelaufen ist – wird sich als die Kernfigur von Darwins Theorie der Musik erweisen.

Biologische Evolution und Kultur

Alte Adaptionen, ihre Nebenprodukte und die zahlreichen nicht durch Adaption entstandenen Merkmale von Lebewesen sind der riesige Varianz-Pool, aus dem durch Kooptation und rekombinierende »bricolage« immer wieder neues Verhalten entstehen kann. 13 In verstärktem Maß gilt dies für Lebewesen, deren Verhalten nur teilweise durch genetische Programme festgelegt ist und die daher auf den ontogenetischen Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen angewiesen sind. Nach heutigem Wissen ist kein anderes Wesen so sehr ein sozial lernendes Wesen wie der Mensch. Darüber hinaus prägt homo sapiens sapiens in besonderem Maß ein Merkmal aus, das im Standardmodell der Adaption oft vernachlässigt worden ist, obwohl es grundsätzlich seit Darwin dazugehört: Lebewesen passen sich nicht nur an eine unabhängig von ihnen gegebene Umwelt an; sie verändern diese auch ihrerseits. 14 Erdwürmer und Ameisen etwa transformieren die Zusammensetzung des Bodens, in dem bzw. von dem sie leben; von Bibern gebaute Dämme verändern ökologische Systeme in einer sofort ins Auge fallenden Weise. Konsequent gedacht sind letztlich alle Lebewesen stets auch aktive Erzeuger und Veränderer ihrer eigenen Lebenswelt. Und je mehr sie durch ihr Verhalten und ihren Stoffwechsel ihre je eigene Umwelt verändern, desto mehr müssen sie sich wiederum an die Effekte ihrer eigenen Tätigkeiten anpassen.

Aus solchen fortgesetzten Rückkopplungen ergibt sich für 23 Spezies mit Spielräumen für soziales Lernen die Konsequenz, dass sogar ihre biologische Evolution zumindest in Teilen eine Funktion ihres eigenen, ontogenetisch erworbenen Verhaltens sein kann. Jede Generation einer sozial lernenden Spezies gibt an die nächste nicht nur Gene und einen je spezifischen materiellen Veränderungsstand der Umwelt ( ecological inheritance ), sondern auch lernbare Fähigkeiten weiter. 15 Beim Menschen schließt der je weitergegebene Stand der »niche construction« auch die dauerhafteren materiellen Produkte technologischer Praktiken ein: Hütten, Häuser, Werkzeuge aller Art, Schmuck, Kunstwerke und andere Objekte. 16

Insgesamt weiß man noch sehr wenig über die Interaktion von genetischer, ökologischer und kultureller Evolution. Dies hat insbesondere drei Gründe: ( 1 ) Die Komplexität des Rückkopplungsmodells erschwert eine trennscharfe Zuschreibung von Ursache und Wirkung bei einzelnen Korrelationen. ( 2 ) Der Stand des Wissens über die drei Variablen ist sehr ungleich; die meisten erlernten und protokulturellen Verhaltensformen haben nur sehr wenige eindeutige Spuren in der archäologischen Überlieferung hinterlassen. ( 3 ) Schließlich und vor allem: Genetische, ökologische und (proto)kulturelle Evolution arbeiten mit zum Teil sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten. 17 Das begrenzt entschieden die Möglichkeiten ihrer Rückkopplung.

Beispiele für Rückwirkungen kultureller Erfindungen auf die biologische Evolution stützen sich regelhaft auf Phänomene, in denen kulturelle Phänomene entweder eine sehr langfristige Stabilität zeigen oder in denen sie eine unge 24 wöhnlich rapide genetische Evolution begünstigt haben können. Der erste Fall könnte bei steinernen Handäxten gegeben sein: Diese haben eine so lange, mindestens anderthalb Millionen Jahre zurückreichende Präsenz in der menschlichen Überlieferung, dass die Annahme einer auch genetisch relevanten Rückkopplung mit der Evolution der Hominiden nicht abwegig scheint. 18 Für die kulturelle Benutzung von Feuer zur Zubereitung sonst ungenießbarer Nahrungsmittel könnte Ähnliches gelten. 19 Musterbeispiel für den zweiten Fall ist die Entwicklung zur Laktose-Toleranz. Diese genetische Veränderung antwortete offenbar relativ schnell auf einen neuen, sehr stark wirkenden Adaptionsdruck, der von der kulturellen Erfindung der Milchwirtschaft ausging. 20

Wo die besonderen Bedingungen der genannten Beispiele nicht gegeben sind, tappt die Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Genen, Ökologie und Kultur noch weitgehend im Dunkeln. So gut daher die Hypothese einer »biokulturellen« Rückkopplung in der Evolution des Menschen auch begründet ist, 21 vorläufig ist sie kaum mehr als eine evokative Losung, für die probate Forschungsmethoden noch in den Anfängen stecken. Die theoretischen Konsequenzen sind gleichwohl erheblich: Bei systematischem Einschluss der »niche construction« erfordert Darwins Modell der Evolution grundsätzlich keine spezielle Modifikation für den Menschen. 22 Zugleich herrscht weithin Übereinstimmung, dass einige besonders machtvolle Mechanismen der Konstruktion selbstgeschaffener Umwelten nur beim Menschen zu finden 25 sind. 23 Dies gilt zumal für die gezielt unterrichtende Weitergabe von Informationen und Fähigkeiten und den akkumulierenden »Wagenheber«-Effekt menschlicher Kulturen, der sich durch symbolgestützte Erinnerung und Weitergabe ergibt und durch die Verwendung externer Speichermedien seine volle Kraft erreicht. 24

Die biologische Evolutionstheorie des Menschen ist mithin von sich aus in einem prägnanten Sinn eine Theorie seiner Evolution zu einem kulturellen Wesen . Einige Modelle dafür betonen so sehr ein selbstkonstruktives, auf soziales Lernen gestütztes Moment, dass die immer wieder strapazierte Opposition von biologischer Genese und Kulturkonstruktivismus dem Stand der Evolutionstheorie selbst nicht (mehr) gerecht wird.

Ein besonderer, primär für den Menschen reklamierter Typ der Interaktion von selbstgeschaffener Umwelt und biologischer Evolution impliziert sogar den Gedanken einer weitgehenden Entkopplung beider. Grundsätzlich können die Resultate der Tätigkeiten, mittels deren Lebewesen ihre eigenen Umwelten autopoietisch verändern, den biologischen Adaptionsdruck sowohl verstärken und beschleunigen als auch herabsetzen und verlangsamen. Beim Menschen gibt es nur wenige Anhaltspunkte für den ersten Fall, die so klar scheinen wie die bereits genannte Entwicklung zur Laktose-Toleranz. Anders verhält es sich mit dem entgegengesetzten Abhang der Interaktion von kultureller und biologischer Evolution. Zahlreiche Kulturtechniken – wie Kleidung, Impfung usw. – verringern oder suspendieren gar einige Mechanismen natürlicher Selektion. Sie erlauben dem Menschen, wie schon Wallace und Darwin hervorgehoben haben, »mit einem unveränderten Körper in Einklang mit einer sich verändernden Welt zu bleiben« ( I   158 - 159 ). Erlernte kulturelle Praktiken des Menschen können biologische Adaptionszwänge aus 26 hebeln, ja »überwältigen«. 25 Evolutionstheoretiker nehmen mehrheitlich an, dass spätestens seit der vielbeschworenen »kulturellen Revolution« der jüngeren Steinzeit – also seit 40 000 bis 50 000 Jahren vor unserer Zeit – Prozesse sozialen Lernens und die Erfindung neuer kultureller Praktiken die Entwicklung menschlichen Lebens weit stärker prägen und verändern, als dies für den Faktor genetische Evolution gilt. Andere, wie Robin Dunbar, 26 verlegen den Eintritt des Menschen in eine Kulturzeit, deren Beschleunigung kausal mit einem relativen Einfrieren insbesondere der bis dahin erreichten kognitiven Adaptionen einhergeht, sogar bis in die Zeit vor 150 000 Jahren zurück. 27

Diese hypothetische Verschiebung der Gewichte von biologischer und kultureller Evolution mag auch Dawkins’ Vorschlag motiviert haben, beide als völlig separate Systeme mit analogen Mechanismen zu betrachten. 28 Eine sehr rasche Verbreitung neuer kultureller Entwicklungen ist ein typischer Indikator für eine geringe Bedeutung spezieller biologisch-genetischer Beschränkungen der fraglichen Phänomene. 29 Die Forschungsrichtung einer Phylogenese der Kulturen 30 hat darüber hinaus Methoden entwickelt, kulturelle Abstammungsbeziehungen und Änderungsprozesse auch über sehr viel längere Zeiträume zu modellieren, im Fall der Sprachen über etliche tausend Jahre. 31 Aus den Resultaten ergeben sich 27 direkte Konsequenzen auch für die evolutionsbiologische Frage, ob und in welchem Umfang die kulturelle Evolution der Sprachenvielfalt eventuell Beschränkungen durch angeborene spezialisierte Adaptionen unterliegt. 32

Auf einige Produkte der menschlichen Künste, die eine lange archäologische Überlieferung haben – allen voran Keramik –, sind ›kladistische‹ Untersuchungen, die strukturelle Merkmalsanalysen kultureller Phänomene mit aufwändigen statistischen Methoden verbinden, ebenfalls bereits angewandt worden. Auch diese extrem vielversprechende empirische Methode hat allerdings inhärente Grenzen: Kein noch so subtiler und gut begründeter Stammbaum von Alter und Verteilung natürlicher Sprachen, keramischer Produkte oder anderer Klassen selbsthergestellter Kunstwerke gibt Antworten auf die Fragen, wie die Fähigkeit zu Sprache und symbolischer Kognition überhaupt evolviert ist, welche menschlichen Fähigkeiten die kulturelle Evolution der Künste begünstigt haben könnten, welche kognitiven und affektiven Mechanismen von den Künsten rekrutiert werden, welche Funktionen diese Mechanismen evolutionär hatten und heute haben. Das vorliegende Buch ist primär an diesen letzten Fragen interessiert.

Der heikle Status der Funktionsfrage

In einem mittlerweile klassischen Aufsatz hat Tinbergen vier Vektoren evolutionstheoretischen Fragens unterschieden: eine mechanistische, eine ontogenetische, eine phylogenetische und eine funktionale. 33 Grundsätzlich stellen diese Vektoren je unabhängige Forschungsziele mit eigenen Methodiken dar. Wer nach der Funktion des Vogelgesangs fragt, muss nicht unbedingt genau wissen, wie Vögel ihren Gesang me 28 chanisch erzeugen und in welchen Schritten sie ihre Gesangskünste ontogenetisch perfektionieren. Andererseits ist die Ablösung der Funktionsfrage von den anderen Vektoren einer Adaption bei Desideraten der evolutionären Ästhetik wenig zu empfehlen. Denn Funktionsfragen stehen hier generell auf besonders schwachem empirischem Fundament. Die größten wissenschaftlichen Fortschritte sind in den zurückliegenden Jahren für das »mechanistische« Niveau (etwa die physiologischen und neuronalen Grundlagen der Gesangserzeugung) gemacht worden. Dieses Niveau ist hier und jetzt empirisch bestens untersuchbar. Das ontogenetische Erlernen von Gesängen ist ebenfalls gut beobachtbar, und die phylogenetische Entwicklung der vokalen Trakte kann sich auf Artenvergleich und archäologische Funde älterer Hominiden stützen.

Die Funktionsfrage dagegen ist das wissenschaftliche Sorgenkind. Archaische Funktionen einer Adaption von Körper oder Verhalten hinterlassen oft keine, im günstigeren Fall nur sehr indirekte und schwer lesbare Spuren in der archäologischen Überlieferung. Auch ist keineswegs klar, ob eine heute beobachtbare Funktion identisch mit der archaischen Funktion ist, um deretwillen das Verhalten eventuell einstmals evolviert ist. Die Funktion einer Adaptation kann weit instabiler sein als die körperlichen oder behavioralen Mechanismen, welche dieser Funktion in der Umwelt ihrer Entstehung gedient haben. 34 Die Zuschreibung evolutionärer Funktionen sieht sich deshalb regelmäßig der Kritik ausgesetzt, wenig mehr als beliebige Ad-hoc-Erfindungen zu bieten.

Diese Achillesferse der evolutionären Psychologie wird im vorliegenden Buch nicht methodisch oder diplomatisch umgangen. Im Gegenteil: Die Funktionsfrage ist zentral, und gleichzeitig kennt der Autor den größeren Teil der empirischen Forschung nur aus interessierter Kenntnisnahme. Ein solches Vorgehen kann mit folgenden Argumenten gerechtfertigt werden:

29 ( 1 ) Theoriebildung enthält stets empirisch (noch) ungedeckte Vorgriffe. Einerseits gründet sie in dem Fundus verfügbarer empirischer Daten; andererseits benutzt sie theoriegestützte Modellannahmen, um sowohl die gegebenen Daten als auch fehlende und/oder noch unverstandene Daten zu konzeptualisieren. Ohne einen Überschuss der Theoriebildung über empirische Daten ist wissenschaftliches Arbeiten kaum denkbar. Dies schließt allerdings ein, dass Theoriebildung gehalten ist, sich so weit wie wie möglich auf verfügbare empirische Daten zu stützen.

( 2 ) Kritiker der evolutionären Ästhetik merken gern an, die vertretenen Funktionshypothesen seien allenfalls »interessant« oder »anregend«, nicht aber »wissenschaftlich« in dem Sinn, dass sie hier und heute mit allgemein akzeptierten Methoden für sich allein oder gar gegeneinander testbar und mithin empirisch falsifizierbar seien. Für einen Autor, der primär aus den Literaturwissenschaften und der theoretischen Ästhetik kommt, ist dies weniger abschreckend als für einen Biologen oder Psychologen. Die Texte der philosophischen Ästhetik und der den Künsten gewidmeten Disziplinen würden nach diesen Standards ohnehin bestenfalls »interessant« sein. Die Unterwerfung unter eine Empfehlung, zentrale Desiderate der Ästhetik mit Rücksicht auf mangelnde oder noch nicht hinreichend entwickelte empirische Testbarkeit lieber gar nicht zu verfolgen, wäre sicher nicht »interessanter«.

In ihrer eigenen Methode bleibt die vorliegende Studie der wissenschaftlichen Herkunft ihres Verfassers treu. Ein gutes Drittel der Studie wird primär aus einem close reading von Darwins Buch The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex ( 1871 ) entfaltet; die neuere Forschung zum Thema wird extensiv in dieses close reading einbezogen. Wie bei anderen Gegenständen soll die immer noch eher junge Methode des close reading zu einer differenzierteren Sicht auf Entwicklung und Funktionen der Künste verhelfen. Darwins Perspektive auf die menschlichen Künste, so stellt sich heraus, ist weitaus reicher und komplexer, als dies an ihrer heute 30 üblichen Wiedergabe erkennbar ist. Das genaue Lesen historischer Texte gehört sicher nicht zu den Stärken der aktuellen empirischen Wissenschaften. Heutige Evolutionsbiologen verlassen sich weit mehr auf ein abstrahiertes topisches Wissen von Darwins kardinalen Hypothesen, als dass sie seine Bücher tatsächlich noch lesen. Unter diesen Voraussetzungen scheint die Erwartung nicht zu verwegen, dass in diesem Feld manches auch noch lesend zu entdecken ist.

Archäologie und philosophische Ästhetik sehen in den Künsten vielfach ein, wenn nicht das entscheidende Definiens des Menschen. Metaphorologische Modelle der Künste haben den Abstand zu anderen Spezies dagegen regelmäßig überbrückt: Die aufwändige Honigproduktion der Bienen beschreibt seit der Antike die »Süße« dichterischer Sprachschöpfungen; 35 der Zikadenmythos evoziert eindringlich das Getriebensein zum »Singen« selbst um den Preis von Nahrungsaufnahme und Weiterleben; 36 und der Gesang der Vögel figuriert immer wieder als kaum zu übertreffender Inbegriff auch der menschlichen Musik. 37 Darwins Evolutionstheorie macht als Erste buchstäblich ernst mit einem Tiermodell der Künste. Seine Hypothesen zu den menschlichen Künsten gelten deshalb vielfach als reduktionistisch, »biologistisch« und heillos kunstfern. Das vorliegende Buch will das Gegenteil zeigen: Eine evolutionstheoretische Erkundung der Künste im Ausgang von Darwin tilgt nicht die Unterschiede der menschlichen und nichtmenschlichen »Künste«; sie erlaubt es vielmehr, diese Besonderheiten profunder und anders zu denken. Sie erschließt wichtige Einsichten in Entstehung, inhärente Mechanismen, Wirkungsweisen und – nicht zuletzt – die individuellen und sozialen Funktionen der Künste.