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ÜBER DIE AUTORIN

Francesca Segal, 1980 in London geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlicht unter anderem im Granta Magazine, Guardian und Daily Telegraph, ist Kolumnistin für den Observer und Feuilletonistin für das Tatler Magazine. Ihr Debütroman Die Arglosen erschien 2013 und gewann zahlreiche Preise, u.a. den Costa First Novel Award und den National Jewish Book Award for Fiction. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in London.

ÜBER DAS BUCH

Als sich Julia und James ineinander verlieben und dann auch noch ihre Haushalte zusammenlegen, sind ihre beiden Kinder Gwen und Nathan gar nicht erfreut. Die beiden Teenager können sich nicht ausstehen und sehen sowieso keinen Grund, irgendetwas an ihrem bequemen Leben zu verändern. Auch Julias Ex-Schwiegereltern beobachten das neue Arrangement mit Argusaugen. Doch Julia und James sind sich sicher: Jetzt geht es einfach mal um sie selbst, auch sie haben sich ein Stück vom Glück verdient. Ihr Plan scheint aufzugehen – bis eine Nachricht plötzlich alles auf den Kopf stellt.

»Francesca Segal schreibt mit einer fast unauffälligen Eleganz.«

The Observer

»Messerscharfe, lustige und meisterhafte Beobachtungen.«

Emma Straub, Autorin von Ein Sommer wie kein anderer

Kein & Aber

 

Wozu braucht eine Mutter eine Tochter?

Dorn im Herzen, Zukunftsfessel,

Freiheitsende. Doch ist nichts größer als

der heulend klingenscharfe Schrei,

der einem Kind die Mutter gibt.

Das Blutband reißt, das sie

zusammenhielt. Das Kind,

klein und hilflos, gebiert die Mutter.

 

Das Leben einer Frau gehört ihr selbst,

bis es genommen wird

von diesem ersten, unverwechselbaren Schrei.

Dann ist nicht mehr nur sie,

dann ist sie Teil des Ganzen,

von allem, was es gibt:

von Ära, Stamm und Krieg.

 

– Anne Stevenson

TEIL I

1

Die Teenager würden wieder alles kaputt machen. Zumindest versuchten sie es immer. Abgesehen von ihrer gegenseitigen Abneigung war es das Einzige, was Gwen und Nathan gleichermaßen antrieb. Heute Morgen hatte Julia bei dem Gedanken daran, ihre Tochter zu wecken, ein besonders ungutes Gefühl.

Sie würden alle zusammen in die USA reisen. Das Ziel war James’ Heimatstadt Boston, die Julia sich schon ausmalte, seit sie James kennengelernt hatte. Sie hatten sich eine gemeinsame Zukunft versprochen, aber nun machte seine Vergangenheit sie neugierig. Sie würde ihn nie als jungen Mann erleben, und Boston kennenzulernen schien ihr das Nächstbeste – ein Notbehelf für die unmöglich aufzuholende Zeit, in der sie ihn noch nicht gekannt hatte. Sie wollte die Orte sehen, die ihn geformt hatten. Sie wollte nach Harvard, wo er seinen Abschluss gemacht hatte, Arzt, Ehemann und Vater geworden war, wo er vom jugendlichen Niemand zu dem allseits geschätzten Erwachsenen geworden war, der jetzt neben ihr auf dem Bauch lag und gleichmäßig in sein Kissen atmete, und das in ihrem Bett unter dem Dach des gemeinsamen Zuhauses, eines schmalen viktorianischen Reihenhauses in Gospel Oak, London. Sie freute sich auf Boston. Andererseits bedeutete dieser Urlaub auch drei intensive Tage mit Nathan, der zweifellos jede Chance nutzen würde, sie mit beiläufigen Anekdoten über die glücklichen Tage zu quälen, in denen seine Eltern noch verheiratet gewesen waren. Wobei Julias Tochter Gwen es ihnen sicher noch schwerer machen würde. So war es zumindest bislang immer gewesen.

James wachte auf, lächelte Julia verschlafen an und legte einen Arm um ihre Taille. Er zog sie zu sich und brummte etwas in ihr Haar, ein muskulöser Schenkel klappte warm und marmorschwer auf ihren, und sie war festgenagelt.

»Das Taxi ist in einer Stunde hier, wir müssen die Kinder wecken. Und der Hund muss noch mal raus.«

Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Lass die Kinder ohne uns fahren, wir bleiben hier. Das würde den Nervensägen recht geschehen.«

Wie aufs Stichwort ertönte aus der Etage unter ihnen ein dröhnender Bass – zu dieser und auch jeder anderen Uhrzeit viel zu laut für ein Reihenhaus. Nathan war wach. Wenn er sonst übers Wochenende aus dem Internat in Westminster kam, war er meist nicht aus den Federn zu bekommen, aber wenn es nach Boston ging – und hinaus aus ihrem Haus, vermutete Julia –, hüpfte er vor dem ersten Sonnenstrahl aus dem Bett. Gwens lautstarke Beschwerde, die sie mit schlafschwerer Zunge vorbrachte, ließ nicht lange auf sich warten. Und weil so frühmorgens schon so viele Menschen wach waren, fing auch Mole freudig an zu bellen. »Mach den Scheiß aus!«, war das Letzte, was sie hörten, bevor Nathan die Lautstärke noch weiter aufdrehte.

»Wann werden die beiden endlich nett zueinander sein?«

James hatte sich aus dem Bett gelehnt und angelte nach dem T-Shirt vom Vortag. »Wahrscheinlich nie«, sagte er gelassen. »Aber bald sind wir sie los. College. Wehrdienst. Wir verkaufen sie einfach ans Militär.« Als keine Reaktion kam, setzte er sich auf und sagte sanfter: »Gib ihnen Zeit, sie müssen sich aneinander gewöhnen. Das ist schließlich eine ganz schöne Umstellung.«

»Aber Saskia kann sich doch auch benehmen. Warum ist deine Tochter ein Engel und meine so ein Albtraum?«

»Saskia muss ja auch nicht hier wohnen«, wandte James ein. Er schielte auf seine Uhr. »Das Taxi kommt erst in anderthalb Stunden. Hab ich noch Zeit, laufen zu gehen?«

Er stand jetzt neben ihr, reckte sich und gähnte, und Julia hielt inne und betrachtete ihn. Es war schon erstaunlich, dass dieser Mann das Bett mit ihr teilte. Er hatte eine massive, sehr ansehnliche Brust und war mit seinen fünfundfünfzig Jahren noch immer überwiegend blond – er war groß und kantig, wie es nur Amerikaner sein konnten. In ihrer englischen Fantasie sah sie ihn mit einem Strohhalm zwischen den weißen Zähnen in Latzhose auf einem Traktor sitzen oder unterwegs zum Training auf dem sonnengebleichten Baseballfeld klischeehaft die Kappe heben. Die Reise in die USA würde ihr Fantasiebild korrigieren – dass er in Wirklichkeit jüdischer Gynäkologe aus einem Arbeiterviertel Bostons war, bliebe wohl ein wunderbar unlogischer Kontrast. Im OP-Kittel wirkte er übergroß und irgendwie bedrohlich. Er rettete Frauenleben. Und Julias Leben rettete er jeden Tag.

Als James in ihr Leben trat, hatten Julia und Gwen bereits fünf Jahre lang alleine gelebt – Mutter und Tochter wie Geiseln, die lange gefangen gehalten worden waren. Er hatte Klavierstunden bei ihr genommen, und ihr war irgendwann klar geworden, dass sich ihre Woche mehr und mehr um diese gemeinsame Zeit zu drehen begonnen hatte. Er besaß einen lässigen Charme und brachte sie zum Lachen. Unter zahlreichen Vorbehalten hatte sie sich schließlich auf eine Verabredung zum Kaffee eingelassen, bei der es vorgeblich um seinen musikalischen Fortschritt gehen sollte (der trotz seiner Hartnäckigkeit dürftig war). Bei ihrem ersten richtigen Date, das zeitlich auf Gwens Erdkunde-Exkursion nach Keswick fiel, hatte Julia verkrampft dagesessen, wenig gesprochen, dabei allerdings jede Menge Rotwein getrunken und sich schließlich im Taxi nach Hause mit erschreckendem, eruptivem Hunger auf James gestürzt. Die ersten ehrlichen, zwanglosen Worte hatte sie verkatert und beschämt am nächsten Morgen mit ihm gewechselt. Ein echtes englisches Date, wie früher. Auf James’ Seite festigte die Geschwindigkeit, mit der das Ganze geschah, seine Überzeugung, dass sie füreinander bestimmt seien. Und das waren sie wirklich. Er war all das, was sie sich niemals zu träumen gewagt hatte.

Gwen war James bis zu diesem Zeitpunkt höflich aus dem Weg gegangen, wenn er einmal die Woche zu seiner Stunde kam – ein weiterer Schüler ihrer Mutter, der mit Chopins Nocturnes und mittelmäßiger Handspanne in das Musikzimmer im ersten Stock tappte, doch über Nacht war er ihr Todfeind geworden, Rivale bis aufs Blut, erbitterter Gegner ihres Vaters und ihrer selbst. Einen Elternteil hatte Gwen bereits verloren, und ihre Mutter würde sie nicht kampflos hergeben. Julia fürchtete Gwen, und sie fürchtete um sie. Nie zuvor hatte sie den Wutausbrüchen ihrer Tochter standgehalten. Doch ganz ohne Absicht hatte sie nun eine neue Kraftquelle aufgetan: Sie hatte sich verliebt. Trotz aller Hindernisse brachte James die Sonne zurück in ihr Leben, und inzwischen regte sich in ihr sogar die zarte Hoffnung, mit seiner Unterstützung auch die Wunden ihrer Tochter heilen zu können. Diese neue Beziehung war ganz anders als ihre Ehe, und dafür war sie dankbar. Das machte es einfacher, in ihrem Herzen, das so lange Zeit nur Gwen gehört hatte, Platz für James zu finden. Er ermutigte Julia, sich zurückzulehnen, seine Liebe als selbstverständlich anzunehmen und an ein gemeinsames Älterwerden zu glauben, aber so weit war sie noch nicht. Sie befürchtete, ein solcher verschwenderischer Hochmut könne dieses Glück gefährden. Das Glück war eine flüchtige Sternenkonstellation, ein Sonnenstrahl, der flammendes Gold aufs Wasser zauberte, bevor Wolken aufzogen. Für Julia war das Leben eine Aneinanderreihung von Katastrophen. Sie wartete nur darauf, dass das Klavier herabstürzte, der Tornado losfegte, aber in der Zwischenzeit freute und erschreckte sie ihre eigene echte Zufriedenheit. Wenn Gwen diese Zufriedenheit nur nicht so gehasst hätte.

Als Julia in die Küche kam, traf sie dort auf beide Kinder, noch in Pyjamas, die sich in gewohnter Manier ignorierten. Nathan schaufelte sich am Herd Porridge in den Mund und starrte so interessiert in den offen stehenden Kühlschrank, als würde er fernsehen. Seine Frisur war noch nicht gemacht, und die braunen Haare über den dunklen Brauen und den milchigen, durch übertriebenes Rasieren irritierten Wangen standen ihm wie elektrisch aufgeladen vom Kopf ab. In Kürze würde er für beträchtliche Zeit das Badezimmer in Beschlag nehmen. Julia hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass der Junge ein derart gesteigertes Interesse an seinem Aussehen und dessen Pflege hatte, Gwen stellte er damit locker in den Schatten. Ein paar Tage zuvor hatte sie ihn ausgestreckt auf dem Sofa gefunden, wo seine Freundin seine Augenbrauen erst mit Eiswürfeln behandelte und sie dann zupfte. Er hatte Julia nur selbstgefällig und ohne jedes Schamgefühl zugewinkt.

Gwen lag auf dem Fliesenboden, streichelte eins der seidig schwarzen Ohren ihres Labradors und flüsterte Entschuldigungen für die bevorstehenden Unannehmlichkeiten hinein. Moles Antwort war ein breites Gähnen, das den Blick auf seine schwarzen Wachslippen und die lange, geschwungene rosa Zunge freigab. Das begriff Gwen als Beendigung ihres Gesprächs und stand auf. Sie war größer als ihre Mutter und auch größer als Nathan. Sie hatte die befremdlichen, hageren Proportionen eines Models, das war Julia bewusst, aber sie hoffte inständig, dass Gwen dieser Gedanke niemals kommen würde. So oder so bewegte sie sich noch mit einer ungelenken, schlaksigen Tollpatschigkeit. Wohlwollend hätte man annehmen können, sie müsste sich nur erst an ihre Körpergröße gewöhnen, aber sie war bereits seit ihrem dreizehnten Lebensjahr fast eins achtzig groß – seit drei Jahren also –, und noch immer lief sie vor Wände, stolperte über unsichtbare Gegenstände und stieß sich die Knie unterm Tisch. Die üppigen roten Locken hatte sie auf dem Kopf aufgetürmt und den dicken Haarknoten mit einem schwarz-gelb gestreiften Bleistift fixiert. Sie beugte sich vor, um sich energisch die Hose abzuklopfen, wobei ihr die Brille von der Nase rutschte, die sie nun mit dem Fingerknöchel wieder hinaufschob.

»Muss das sein?«

»Muss was sein?«

»Liebling, du verteilst die Hundehaare in der ganzen Küche.«

Gwen fegte ein letztes Mal mit der Hand über ihre Schlafanzughose. »Ich kann doch nichts dafür, dass Mole so haart. Ach! Hör mal, ich hab meine schwarze Jeans wiedergefunden. Sie war – ta-da! – in meiner Schultasche. Das Rätsel ist gelöst.«

Hinter ihr hatte Nathan angefangen, leise und schief Yankee Doodle zu pfeifen. Julia hielt den Wasserkocher unter den Hahn und gab sich für ein paar Sekunden Träumereien von Kaffee und Stille hin. »Guten Morgen, Nathan«, sagte sie schließlich in seine Richtung. Dann, an Gwen gewandt: »Hast du das ganze Hundezeug für Opa zusammen?«

Gwen deutete mit dem Kopf in Richtung Flur. »Die große Tüte an der Tür. Er hat gesagt, wir müssen nur Futter und Medikamente mitbringen, Näpfe hat er selbst.«

Nathan stierte noch immer in den Kühlschrank. Feuchtkalte, teure Luft wehte zu Julia herüber. Schließlich nahm er ein Schälchen Himbeeren heraus, die er einzeln in den Topf mit dem übrigen Porridge warf, das inzwischen auf dem Herd überkochte. Julia wandte den Blick ab. Sie war gestern erst spät im Bett gewesen, weil sie die Küche vor der Abreise noch hatte putzen wollen.

»Porridge?«, bot er an und hielt ihr den Topf hin.

»Nein, danke.«

»Ich nehme vielleicht welches«, sagte Gwen, die ihn nun, da ihre Mutter anwesend war, direkt ansprechen konnte. »Aber Himbeeren muss man doch vorher waschen, die sind voll mit irgendwelchem Zeug.«

»Dann solltest du das Risiko lieber nicht eingehen«, sagte Nathan und kippte den gesamten Topfinhalt in seine eigene Schale. Er kratzte den Topf aus und stellte ihn leer und angebrannt zurück auf den Herd. Die Methoden variierten, aber unterm Strich waren beide Kinder gleich gemein zueinander. James hatte Julia versichert, es würde ihnen nicht schaden, das untereinander auszufechten. Insgeheim tendierte sie jedoch dazu, Nathan die Schuld zu geben – ständig provozierte er.

Julia nippte am brühend heißen Kaffee und ging ihre Liste noch einmal durch. Die Fenster waren alle zu, sie hatte den Müll hinausgebracht, aber die Kinder würden weiteren produzieren, die Heizung musste heruntergeregelt werden. James würde das sicher gern für sie erledigen, wenn er nach Hause kam, aber sie hatte sich daran gewöhnt, allein für den Haushalt verantwortlich zu sein, und wollte das Schicksal nicht herausfordern, indem sie sich auf ihn verließ. Sie traten die Reise also tatsächlich an, und sehr bald würde sich herausstellen, wie gut die Idee zu diesem Familienausflug wirklich gewesen war.

Nathan holte ein Schneidebrettchen aus dem Schrank und verkündete, er werde nun ein Gemüseomelett zubereiten, was er zwar noch nie gemacht habe, aber so schwer könne das ja nicht sein. Es sei wichtig, eine Reise gut gestärkt anzutreten. Und schon stand er wieder im Kühlschrank, holte Eier, Butter, Milch, Tomaten, Zucchini und das gesamte Käsefach heraus, das, wie Julia wusste, einmal herausgenommen, beinahe unmöglich wieder in seine Plastikführung zurückzuschieben war. Wäre James da gewesen, hätte er der Sache ein entschiedenes Ende gesetzt, denn Nathan würde auf dem Weg von Gospel Oak zum Flughafen sicher nicht verhungern und hatte außerdem noch nicht gepackt. Aber James war noch nicht von seiner Joggingrunde zurück, und Julia hatte es bisher bewusst vermieden, seinen Sohn erziehen oder ihm auch nur Ratschläge erteilen zu wollen. Sie sah auf die Uhr. Die Zeit rannte, und sie mussten den Hund noch bei Philip absetzen.

2

Das Zusammenleben war noch ungewohnt. Das Haus im Queen’s Crescent war schon vor Gwens Geburt Julias Zuhause gewesen. Daniel und sie hatten es gekauft, als sie hochschwanger gewesen war. Mondgesichtig und schwerfällig packte sie Umzugskartons aus und half Daniel dabei, das Kinderzimmer in blassem Hellgrün und kräftigeren Mint-Tönen zu streichen, ein grasfarbener Hintergrund, vor dem ihre zierliche, rotgesichtige Tochter mit dem orangen Haar später wie ein rabiater, schlafloser Kobold wirkte, in gleichem Maße fordernd und bezaubernd. Als Daniel vor fünf Jahren gestorben war – innerhalb von sechs Monaten war er dem aggressiven Lebertumor erlegen, den er schon einmal, vor langer Zeit, mit solch irreführender Leichtigkeit besiegt hatte –, hatte sie sich nicht dazu durchringen können, auszuziehen. Queen’s Crescent war der Ort, an dem Daniel war, oder eben gerade nicht, doch diese greifbare Abwesenheit war alles, was Gwen und sie noch von ihm hatten. Zu ihrer verbitterten und vom Leben enttäuschten Mutter hatte Julia keinen Kontakt mehr, aber Daniels Eltern, Philip und Iris Alden, hatten ihr seit Daniels Tod immer wieder unter die Arme gegriffen. Was sie von den neuesten Entwicklungen hielten, war eine Frage, die Julia umtrieb. Kam die Sprache auf James, reagierten sie stets höflich und wohlwollend. Iris hatte schon länger angedeutet, angeregt, verlangt, Julia solle »einen Schlussstrich ziehen«. Es sei ungesund für Julia und Gwen, in so enger, innerer Symbiose zu leben, und beide bräuchten nun aus unterschiedlichen, aber gleichermaßen berechtigten Gründen einen Mann im Haus. Doch »einen Schlussstrich ziehen« war abstrakt, wohingegen »zusammenziehen« sehr konkret war. Julia hatte James sogar über Philip kennengelernt, der sich auf einer Neonatologie-Tagung mit ihm angefreundet hatte. Eigentlich hätte diese Tatsache ihr Gewissen erleichtern müssen, doch das tat sie nicht, schließlich hatte Philip sie als Klavierlehrerin empfohlen, nicht als Lebensgefährtin. Wenn sie die Zeit fand, machte Julia sich neben allem anderen auch noch um ihre Schwiegereltern Gedanken.

Mit fünf Koffern, diversen Kisten teuren Rotweins, zwölf Bücherkartons (der Inhalt bestand zum größten Teil aus US-Taschenbuchausgaben der Werke, die bereits in ihrem Regal standen), einer edlen Musikanlage mit frei stehenden Boxen und einer gepflegten amerikanischen Kaffeemaschine hatten James Fuller und sein Sohn Nathan eines Nachmittags im weichen, goldenen Licht und der Wärme des beginnenden Septembers vor der Tür gestanden, und in den seitdem vergangenen elf Wochen war die Luft im Haus vor Anspannung und Groll fast schneidbar gewesen. Gwen war von Natur aus nicht in der Lage, Hass und Kummer zu verbergen; Nathan, ein Jahr älter und schon etwas reifer, war genauso unglücklich mit der Situation, hätte dies jedoch nie offen zugegeben und verhielt sich Julia gegenüber daher spürbar gönnerhaft.

Wenn er mit Gwen allein war, ignorierte er sie meist, wenn er sie nicht lustlos piesackte, ihre Grammatik korrigierte oder sich über ihren Blog lustig machte, auf dem sie Schlüsselszenen ihrer Woche mit Miniaturknetmännchen nachstellte, die in sorgfältig ausstaffierten Schuhkarton-Kulissen auftraten. James’ Stellvertreter war ein Darth Vader mit schwarzem Helm, unheilvoll und zerstörerisch. Nathan trat stets Händchen haltend mit seiner Freundin Valentina auf, einer aparten, herrischen kleinen Elfe, die Dauerübernachtungsgast war, wenn er übers Wochenende aus dem Internat kam. Gwen hatte Valentina zwar attraktiv dargestellt, das seidig blonde Haar und die üppige Brust naturgetreu nachgeformt, doch erschien das Paar ewig im Partnerlook und trug Sonnenbrille, selbst drinnen und selbst im Dunkeln. Ein raffinierter Schachzug, der den beiden einen Hauch Lächerlichkeit verlieh. Julia, Philip und Iris nutzten den Blog als Indikator für Gwens aktuelle Stimmung. Einst fröhlich und heiter, war diese ausnahmslos verzweifelt, seit ihre Mutter sich in Darth Vader verliebt hatte.

»Ich wollte euch nur bon voyage wünschen, Liebes.«

Julia klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und kämpfte weiter mit dem Reißverschluss ihrer Reisetasche. Selbstsicher, durch nichts aus der Ruhe zu bringen und herrisch auf jene herabschauend, die keins von beidem waren, hatte Iris einen unfehlbaren Riecher für die chaotischsten Momente in Julias Leben.

»Danke. Diese voyage könnte allerdings ein bisschen stressig werden, wir sollten längst unterwegs sein. Es ist, als würden wir für einen ganzen Monat verreisen.«

»Unter den gegebenen Umständen kommen einem die drei Tage vielleicht wirklich wie ein Monat vor. Hast du ein wenig Zeit für dich und Dings eingeplant, à deux? Etwas Luft zum Durchatmen?«

»Nein, ich glaube, das können wir diesmal nicht machen. Das wäre den Kindern gegenüber nicht fair.«

Nach einer bedeutungsschweren Pause bemerkte Iris trocken: »Mit Säuglingen zu verreisen kann ja so anstrengend sein.«

»Iris!« Julia versuchte noch einmal, den Reißverschluss zuzuziehen, der endlich mühelos bis ans Ende glitt und dabei mehrere feine Fäden ihres Lieblingsschals fraß. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe mir zu Herzen genommen, was du gesagt hast. Ich versuche ja, Gwen wie eine Erwachsene zu behandeln, doch das Wochenende wird sicher schwierig für sie –«

»Es wird sicher auch schwierig für dich. Aber so weit ich unterrichtet bin, wolltet ihr Spaß haben.«

»Das werden wir auch.«

»Ich bitte darum. Kein Märtyrertum da drüben, das gehört sich nicht. Amerikaner glauben auch nicht an so was. Lass dich vom amerikanischen Geist anstecken. Sei tapfer und ehrgeizig.«

Julia versprach, sich Mühe zu geben, allerdings gehörten Tapferkeit und Ehrgeiz nicht zu ihren Stärken. Sie kippte die restliche Milch in den Ausguss und suchte um sich blickend die Küche nach anderen Dingen ab, die innerhalb von drei Tagen verderben würden. Als es an der Tür klingelte, war sie gerade dabei, mit Küchenreiniger den Herd einzusprühen, auf dem die Spritzer von Nathans Porridge bereits steinhart geworden waren, und parallel dem Bericht von Iris’ letzter Reise in die USA und einer Aufführung von Indian Ink am Broadway zu lauschen. Julia sei prädestiniert für einen Besuch des Boston Symphony Orchestra, und Dings möge Musik doch auch, oder nicht? Ob sie sich denn bestimmt nicht davonstehlen könnten? Und ob sie nicht auch der Meinung sei, sie habe sich das verdient?

»O Gott, tut mir leid. Das Taxi ist da. Ich muss auflegen. Ach, Moment! Iris?«

»Ja, ich bin noch da.«

»Bist du sicher, dass Philip das mit dem Hund schafft? Ich weiß, wie sehr er ihn liebt, aber Mole ist so groß …«

»Philip Alden wird das schon hinbekommen. Ein bisschen Bewegung tut seinen Knien gut, und außerdem droht er ohnehin dauernd damit, sich einen Streuner aus dem Tierheim zu holen. Du weißt doch, wie sehr er alles auf vier Pfoten liebt. Die zwei alten Knacker werden sich prächtig verstehen.«

Julia biss sich auf die Lippe. Bilder tauchten vor ihren Augen auf: wie der Hund einem der frechen Londoner Eichhörnchen hinterherjagte, den schwerfälligen Philip auf den Gehweg riss, gebrochene Rippen, Lungenentzündung, Tod. Sie verdrängte die Vorstellung. Mole hatte sich seit Jahren nicht mehr losgerissen, und sein grauer Star ließ ihn ganze Möbelstücke übersehen, es war also unwahrscheinlich, dass er ein Eichhörnchen ins Visier nehmen konnte. Zudem hielt seine Arthritis locker mit der von Philip mit.

Julia konzentrierte sich jetzt auf das Thermostat der Heizung. Es hatte eine Urlaubseinstellung, da war sie sicher. Wahllos und ohne große Hoffnung drückte sie irgendwelche Knöpfe. Iris interpretierte ihr Schweigen anders.

»Du willst, dass ich ihn nehme, wenn es nicht klappt. Julia, das Tier stinkt zum Himmel! Fünfzig Jahre lang habe ich kein stinkendes Viech in mein geliebtes Heim gelassen.«

»Nur, wenn irgendwas schiefgeht. Wenn Philip nicht mehr kann.«

»Es wird schon nichts schiefgehen. Aber gut, wenn es dich beruhigt: Ich nehme ihn, falls es mir notwendig erscheint. Und jetzt los, genieß die Zeit. Und lass dich nicht von der Exfrau einschüchtern. Denk dran, es gibt Gründe dafür, dass sie die Ex ist.«

James war hereingekommen und bedeutete ihr, er bringe jetzt ihr Gepäck zum wartenden Taxi.

»Mhm, dazu kann ich gerade nichts sagen.«

»Wie subtil, Liebes. Na dann, bon voyage und bonne chance. Und in Gottes Namen, habt ein bisschen Spaß.«

»Danke. Alles Gute, Iris, danke.«

Von oben rief Gwen: »Ist das Omi? Kann ich mit ihr sprechen?«

»Das Taxi wartet! Tut mir leid, Iris, Sekunde, Gwen ruft nach mir –« Mutter und Tochter trafen sich im Flur, und Gwen, noch immer ohne Schuhe an den Füßen, streckte die Hand nach dem Telefon aus. Die Haare hatte sie zu einem dicken, tropfenden Zopf geflochten, aus dem ein Kranz aus gold- und kupferfarben schimmernden trocknenden Locken hervorsprang. Sie hatte drei Packungen Polymerknete in der Hand, weiß, kirschrot und pfauenblau. Nathan kam die Treppe heruntergedonnert, riss den Garderobenschrank auf und fing an, Sachen herauszuwerfen wie ein grabender Hund. Der Haufen aus Mützen, Handschuhen und Schals hinter ihm wurde immer größer.

»Mum, sind das wohl Flüssigkeiten? Kann ich die mit ins Handgepäck nehmen?«

»Zieh dir bitte die Schuhe an, Gwen. Iris, tut mir leid. Ich melde mich, wenn wir wieder da sind.« Obwohl er mit dem Kopf tief zwischen Mänteln steckte, hörte sie Nathan murmeln: »Ist ja wohl recht eindeutig, dass das keine Flüssigkeiten sind, wenn man mal drüber nachdenkt, dass sie fest sind.« Es würde ein langes Wochenende werden. »Hab ihn!«, rief er schließlich triumphierend und verschwand samt gefundenem Schal nach draußen zu dem wartenden Wagen.

Gwen legte ihr spitzes kleines Kinn auf die Schulter ihrer Mutter und brüllte: »Ich rufe dich vom Flughafen aus an, Omi! Hab dich lieb!«, drückte ihr die folienverpackte Knete in die Hand und schlitterte den Flur hinunter, um ihre Turnschuhe zu suchen, während Julia weiterhin dilettantisch auf dem Thermostat herumdrückte. Auf dem Display stand jetzt: ++SOMMERMODUS AKTIVIEREN?++ Das musste reichen.

In ihrer Küche am Parliament Hill goss sich Iris eine zweite Tasse Kaffee ein und wählte die Nummer von Philip Alden. Irgendjemand in der Familie musste doch auf die Stimme der Vernunft hören.

Das Telefon riss Philip aus einem Nickerchen. Seit seinem achtzigsten Geburtstag war sein Nachtschlaf unbefriedigend, sodass er nun jeden Morgen um fünf Uhr aufstand, weil er das Rattern seiner Gedanken nicht mehr aushielt, während sein Körper steif im Bett lag. Dann lieber in Bewegung sein, egal wie langsam und schwerfällig. Um diese Zeit – kurz nach acht Uhr morgens – schaffte er es manchmal, noch ein kurzes Nickerchen im Sessel einzulegen.

In seine Souterrainwohnung fiel gerade für kurze Zeit die Morgensonne; breite, gelbe Strahlen drangen durch die hohen Fenster und machten vorübergehend die Staubpartikel sichtbar, die in dichten Wolken zwischen den ramponierten Möbeln schwebten. Ansonsten war das Wohnzimmer recht dunkel, nur beleuchtet von zwei fransenbesetzten orangeroten Nachttischlampen, die zu beiden Seiten des Sofas auf furnierten Tischchen standen. Das Sofa mit dem fadenscheinigen, schokoladenfarbenen Samtbezug war in den Siebzigerjahren das stolze Herzstück des Aldenschen Wohnzimmers gewesen. Eine Federzugleuchte stand vor den Bücherregalen auf vier gebundenen Ausgaben des Therapiehandbuchs zur klinischen Geburtshilfe, 6. Auflage, herausgegeben von Philip selbst. Gwen hatte im letzten Sommer einen Patchworkkurs in einem Gemeindezentrum in Kentish Town absolviert, und der einzige Quilt, den sie seitdem fabriziert hatte, lag nun ausgebreitet auf den Beinen ihres Großvaters. Er hatte ein grelles Fischgrätmuster aus lila- und senffarbener Baumwolle und war mit einem Schaumstoffvlies gefüllt. »Ich hab dich lieb, Opa«, stand in gestickten Buchstaben darauf, drum herum glitzernde Herzen, die von glitzernden Pfeilen durchbohrt wurden. In seinem Schoß lag eine ausgedruckte Kurzgeschichte von Stefan Zweig, die Iris ihm per E-Mail geschickt hatte, mit der Aufforderung, sie zu analysieren, damit sie sich später über die Intention des Autors streiten könnten.

Als Iris in sein Leben rauschte, war Philip ein gestandener Junggeselle von sechsunddreißig Jahren gewesen, frischgebackener Oberarzt auf der Station für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am University College Hospital, in seiner spärlichen Freizeit leitete er eine klinische Studie zur Zangengeburt bei hinterer Hinterhauptslage. Iris interviewte Ärzte für einen Artikel zum ersten Jahrestag der Zulassung der Antibabypille. Sie entführte Philip in den Pillars of Hercules Pub, verabreichte ihm Whisky, brachte ihn zum Lachen. Sie hatte stechend graue Augen und glänzendes, kohlschwarzes Haar, das wie Seide durch seine Finger glitt. Sie war stürmisch, lebhaft, furchtlos, jung. Er war erweckt worden und hatte das Glück kennengelernt. Iris hatte eine Neugier und einen frischen Wind in sein Leben gebracht, die ihn mitrissen und schwindelig machten, aber er hatte nie zu glauben gewagt, dass das ein Leben lang anhalten würde.

Als die Ehe schließlich nach drei Jahrzehnten endete, weil Iris fand, Philip dürfe die langjährige Affäre mit ihrem Redakteur Giles Porter nicht länger ignorieren, hatte Philip dies ohne großes Aufheben hingenommen. Er kaufte eine bescheidene Souterrainwohnung in Greencroft Gardens, abgehend von der Finchley Road. In gewisser Weise war es eine Rückkehr zur alten Routine. Ihm war bewusst, dass das Leben unspektakulär war, es war eine ernsthafte und einsame Angelegenheit. Die Familie seines verstorbenen Sohnes sowie seine Freundschaft mit Iris waren ihm ungemein wichtig und mehr, als er sich je erhofft oder erwartet hatte.

Iris blieb in dem Haus am Parliament Hill wohnen, und Giles zog ein. Die drei hatten eine freundschaftliche Beziehung zueinander aufgebaut, und Philip war hin und wieder zu Besuch – zum Abendessen, zu Cocktailpartys oder auf einen Drink auf der Terrasse des Gartens, den er selbst angelegt hatte. Mit dem Zusammenzug hatten Iris und Giles jedoch angefangen zu streiten, und drei Jahre später hatte Giles sich dauerhaft in sein Ferienhaus in Frankreich zurückgezogen, woraufhin die Streitereien dank der zivilisierenden Trennung durch den Ärmelkanal aufhörten. Als Giles kurz nach seinem Umzug in die Provence gestorben war (an einem, wie Philip fand, wahnsinnig vorhersehbaren Herzinfarkt durch Arteriosklerose nach Jahren des beharrlichen, beinahe krankhaften Genusses von Baconsandwiches und filterlosen Zigaretten), war Philip aufrichtig traurig gewesen. Sollte Iris seitdem andere Beziehungen gehabt haben, so hatte sie nicht darüber gesprochen, und obwohl Philip häufig zu Besuch war, hatte er keinerlei Hinweise darauf entdecken können.

Zahllose Nächte im Bereitschaftsdienst hatten ihn geschult; das Telefon am Ohr, hatte er stets pflichtgetreu den Namen der Patientin, die Symptome, den Zustand des Kindes aufgeschrieben, noch ehe er voll bei Bewusstsein war, und dabei wach und kompetent geklungen.

»Iris?«

»Gwen mobbt den Amerikaner noch immer. Und ich habe ein schlechtes Gefühl bei dieser Boston-Sache.«

Philip dachte nach. »Das ist doch sicher nicht mit Mobbing zu vergleichen.«

»Sie sagt kaum ein Wort, wenn er dabei ist, sie rührt das Essen, das er kocht, noch immer nicht an, selbst Julias Essen lässt sie stehen, wenn er es war, der es ihr hingestellt hat. Und jetzt tut sie offenbar so, als würde sie ihn wegen seines Akzents nicht verstehen. Den Teil finde ich ehrlich gesagt ziemlich genial. Aber so kann es doch nicht weitergehen. Und jetzt soll sie auch noch einen fröhlichen Wochenendtrip mit diesem unerträglichen Sohn machen.«

»Ich glaube nicht, dass James sich triezen lässt. Er hat immerhin bei Steingold in Harvard studiert.«

»Sie darf sich aber nicht daran gewöhnen. Die erste Zeit ist entscheidend.«

»Er hat doch selbst Teenagerkinder, er wird schon wissen, dass das eine schwierige Situation für sie ist. Er ist sehr nett, Iris. Ich mochte ihn schon lange vor … vor dieser ganzen Sache.«

»Ja, schön. Ich habe trotzdem kein Interesse an ihm«, sagte Iris spröde. Das war eine freche Lüge. Sie verging fast vor Neugier auf James Fuller und seine Familie. »Mich interessiert nur, dass Gwen glücklich ist, und deswegen darf sie sich nicht so sehr danebenbenehmen, dass er es irgendwann nicht mehr aushält. So was merkt man sich. Und jetzt hocken sie alle aufeinander, steigen heute Abend aus dem Flugzeug und feiern Thanksgiving bei der Exfrau. Was für eine groteske Expedition! Für ein romantisches Wochenende zu zweit hätten Julia und Dings lieber irgendwo in ein nettes Landhotel fahren und sich austoben sollen!«

»Er will ihr doch nur ein bisschen was von Boston zeigen.«

»Meinetwegen, das ist das eine, aber ihr die Exfrau zu zeigen, ist etwas ganz anderes. Warum müssen sie die unbedingt besuchen?«

»Sie ist Nathans und Saskias Mutter. Und offenbar kommen die beiden sehr gut miteinander aus.«

»Da ist doch eindeutig was faul«, verkündete Iris entschieden. Keiner von beiden erwähnte ihre eigene jahrelange treue und ungezwungene Freundschaft, die aus der Asche ihrer phasenweise stürmischen Ehe erstanden war. Sie waren schon lange übereingekommen, dass sie die Ausnahme waren. Stattdessen ging Iris zum eigentlichen Anlass ihres Anrufs über. »Ich möchte, dass Gwen nächste Woche mit uns in die Puccini-Oper geht. Ich will damit nicht ihren Hang zur Theatralik unterstützen, sondern ich plane eine subtile Intervention.«

»Deine Interventionen sind nie subtil. Fragst du sie, oder soll ich?«

»Du fragst sie. Sie sind gerade auf dem Weg zu dir, um das sabbernde Viech bei dir abzuladen. Hör zu, ich weiß, du liebst dieses Tier abgöttisch, aber wenn Mole dir zu anstrengend wird, dann setz ihn in ein Taxi zu mir. Und lass es nicht wie eine lockere Einladung klingen, besteh drauf, dass sie mitkommt.« Sie legte auf.

3

James klopfte an Gwens Hotelzimmertür und verkündete, sie seien nun so weit. Er hatte wahrscheinlich auch diesen unerträglichen, militärisch anmutenden Trommelwirbel an die Zwischenwand geklopft, den sie vorhin ignoriert hatte. Die Kampfeslust war für den Augenblick aus ihr gewichen, aber sie würde ganz sicher nicht anfangen, so zu tun, als wären sie alle zusammen in einer Art lustigem Ferienlager. Bisher war hier gar nichts lustig – eisiger Regen hatte ihnen auf dem kurzen Sprint vom Terminal zum Taxi ins Gesicht gepeitscht, und der frühabendliche Himmel verhieß nichts Gutes. Dass Nathan sich dauernd über das Londoner Wetter beschwerte, ergab bei ihrem ersten Eindruck von Boston überhaupt keinen Sinn.

Gwen trat auf den Hotelflur hinaus, auf dem dünne Teppiche mit Blumenmuster unter aufwändig getäfelten, dunkelgrünen Wänden lagen, und zog ruckartig die Tür hinter sich zu, es war kein richtiges Türknallen. Julia stand neben James, blickte sie entschuldigend an und sah unerwartet gut angezogen aus. Auch wenn es Gwens großes Ziel war, James loszuwerden, wollte sie nicht, dass ihre Mutter von der mysteriösen Pamela übertrumpft wurde. James’ Exfrau war Engländerin (da hatte James offenbar einen Fetisch), aber Gwen stellte sie sich trotzdem immer als Amerikanerin – und damit sehr kultiviert – vor. Nathan hatte angedeutet, dass sich seine Eltern wegen der nicht zu bändigenden sexuellen Energie getrennt hatten, die zwischen den beiden herrschte, und es ihn nicht überraschen würde, wenn die beiden irgendwann wieder zueinanderfinden würden. Gwen hatte diese Information nicht an Julia weitergegeben, sondern sie geschützt und in ihrem Sinne gehandelt. Sie spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen und Zärtlichkeit für ihre Mutter, die verletzlich wirkte ohne ihre Kokonschichten aus Wolle und Jeans und uralten, zweckmäßigen Seidenhemdchen. Heute trug sie stattdessen ein schwarzes Seidenoberteil mit weitem, weichem Kragen und einen schwarzen Bleistiftrock aus Wolle, der den Blick auf ihre Knie fast, aber nicht ganz freigab.

Julia hatte eine tadellose, sehnige Figur und einen reinen, sehr blassen Teint. Alles an ihr war blass – Adern schimmerten grasgrün durch transparente Haut, die Augen waren vom blassesten Blau und Augenbrauen und Wimpern fast unsichtbar, ein Makel, den sie schon lange ignorierte. Ihr dickes Haar war aschblond, genau der richtige Ton, um die grauen Strähnen zu kaschieren, die sich in den letzten Jahren eingeschlichen hatten. Sie trug es zu lang, da sie selten die Energie aufbrachte, mit ihrem Friseur über Strähnchen und Stufen und andere altersrelevante Maßnahmen zu diskutieren, und ihn deswegen so selten wie möglich aufsuchte. Die Wanderschuhe waren schon lange in den täglichen Gebrauch übergegangen, weil sie den Fuß stützten und gleichzeitig deutlich wie ein Plakat im Schaufenster signalisierten, dass sie kein Interesse mehr an männlichen Avancen hatte. Mit der Liebe war es nun vorbei, das war ihr mit ihren sechsundvierzig Jahren bewusst gewesen, und es kam ihr armselig und unschicklich vor, sich anders anzuziehen. Und dann kam James.

Jetzt hatte Julia eine Kampfausrüstung angelegt. Ihre Beine, so lange unter dicken, verwaschenen Strumpfhosen, unförmigen Hosen oder einer praktischen Kombination aus beidem versteckt, mussten nun einem Vergleich standhalten. Sie mussten nicht einfach fabelhaft aussehen, hatte Gwen angeordnet, sondern fabelhafter als Pamelas, wobei sie beide nicht wussten, wie Pamela aussah, und daher gar nicht beurteilen konnten, wie hoch die Messlatte lag. Gwen hatte darauf bestanden, shoppen zu gehen, und sich im Schneidersitz auf den Boden der engen Umkleidekabine von Whistles auf der Hampstead High Street gesetzt, auf ihrem Smartphone herumgedrückt und nur aufgeblickt, um kurze, scharf formulierte und – das musste Julia zugeben – treffende Bewertungen der diversen Kleidungsstücke abzugeben, die Julia vorführte. Zu der Kombination, für die sie sich schlussendlich entschieden, hatte Gwen gesagt: »Mit hohen Schuhen sehen deine Waden darin großartig aus. Los, Schuhe kaufen«, und hatte ihre Mutter die Straße hinunter zu Hobbs geschleppt. Das war bisher Gwens einziges Zugeständnis an die Beziehung mit James, was Julia erst gerührt und sie dann in eine folie à deux gestürzt hatte. »Du musst die Schuhe tragen, die wir gekauft haben, dafür sind sie doch da!«, hatte Gwen gekreischt, als Julia Zweifel gekommen waren und sie ein Paar zweckmäßige schwarze Schnürschuhe mit Gummisohle eingepackt hatte. »Das sind doch voll die Nonnenschuhe. Du musst sexy sein!« Gwen sprach ihre Mutter fast immer im Befehlston an, aber diesmal schien es um mehr zu gehen, und ihre Stimmung war ansteckend.

Es war fünf Uhr nachmittags an Thanksgiving, und dem Concierge war es nicht gelungen, ein Taxi aufzutreiben. Sie könnten entweder eine Stunde warten, bis der Kleinbus des Hotels wieder da sei, oder zu Fuß gehen. James’ Stimme hatte eine energische, überschwängliche Tonlage erreicht. »Es ist ganz nah, das laufen wir!«, dröhnte er durch die Lobby. »Das macht euch doch nichts aus, oder, ihr fleißigen Wandersleut?« Solche Nervosität kannte Julia gar nicht von ihm, daher fügte sie sich lieber. Selbst Gwen, die sonst keine Gelegenheit ausließ, ihn auflaufen zu lassen, sagte nichts. Sie holte nur die Kapuze ihres Pullovers unter dem Mantelkragen hervor, zog sie sich tief ins Gesicht und folgte ihnen hinaus auf die windige Straße.

Sie hatten ein kurzes trockenes Zeitfenster an einem ansonsten völlig verregneten Tag erwischt, und die unebenen Gehwege waren zu einer gefährlichen Piste aus vereisten Gullys und rutschiger Laubpampe geworden. Julia sah zu, wie Gwens langer Körper sich in den Wind stemmte und sie gehorsam hinter James her auf diese seltsame, neumodische Zusammenkunft zutrottete. Ihre untypische Nachgiebigkeit tat Julia im Herzen weh. Sie wollte ihr Kind auf den Arm nehmen und sie in ein warmes Taxi setzen, oder noch besser, sie zurück zum Hotel mit all seinen Annehmlichkeiten bringen, wo sie in Ruhe zu Abend essen und sich dann gemeinsam der wundersamen, stumpfsinnigen Vielfalt des amerikanischen Kabelfernsehens hingeben konnten. Im hoteleigenen Restaurant hatte sie aus der Lobby heraus Kellner mit Cobb Salad, dicken, gegrillten Frikadellen mit ölig glänzenden Zwiebelringen und schwarzen Pfännchen voll Käsemakkaroni gesehen. Gwen würde das Essen lieben. Julia wollte mit ihrer Tochter die Speisekarte wälzen, absurde Mengen bestellen, die sie niemals aufessen konnten, das amerikanische Essen mit den unzulänglichen englischen Imitationen vergleichen – kurz gesagt: als Mutter und Tochter die Neue Welt erkunden. Es war für sie immerhin das allererste Mal in den USA, und für Gwen ebenso. Plötzlich bereute Julia es, während ihrer Jahre zu zweit keine Reisen unternommen zu haben, und stellte mit einem unerwarteten Stich fest, dass sie diese Chance wohl vertan hatte, jetzt da es James gab. Vor ihr entfernten sich James und Gwen immer weiter auf der dunklen Straße. Julia war denkbar schlecht für dieses Wetter angezogen, aber sie hatte keine andere Wahl, als ihnen zu folgen.

Sie eilten durch die Straßen des South End, in denen sich ein Brownstone ans nächste reihte, die breiten, steilen Treppen, die zu den Haustüren führten, waren herbstlich dekoriert. Lichterketten wanden sich wie Efeu um Zäune mit pikförmigen Zierspitzen. Es war wirklich kein weiter Weg, aber der Wind war eisig und ließ eine stetig dicker werdende Eisschicht auf den schwarzen Pfützen entstehen.

Wenige Meter bevor sie Pamelas Haus erreichten, geschah das Unglück. In England gab es kein Wetter, das Ziegelpflaster in eine Achterbahn verwandelte, weshalb Julia, an milde englische Pfützen gewöhnt, die freundlicherweise nicht tiefer als anderthalb Zentimeter werden, vom Bordstein in einen Pfuhl stapfte, der ihren Fuß bis zum Knöchel mit schmierigem Eiswasser umspülte. Sie schrie auf vor Schreck.

James war vorangegangen, hatte Gebäude und Restaurants aufgezeigt und eine nur mittelmäßig widerwillige Gwen dazu ermutigt, ihm von den diversen Souvenirs zu erzählen, die sie ihren Großeltern mitbringen wollte. Beschämt hastete er zurück zu Julia.

»O Gott, das tut mir so leid, wir hätten auf den Bus warten sollen. Ich Idiot. Ich bin total nervös. Auf einmal kommt mir das alles verrückt vor, ich habe ja wohl nicht alle Tassen im Schrank, euch zu Pamela zu schleppen. Wir hätten lieber mit den Kindern nach Mexiko fliegen sollen, statt – hast du dir wehgetan? Soll ich dich den Rest des Weges tragen? Sollen wir das Ganze abblasen und zum Chinesen gehen?«

Julia schüttelte den Kopf. Ihr rechter Fuß brannte vor Kälte, Schmerz schoss ihr durch die Knochen. Sie schüttelte ihn mehrmals und humpelte dann auf James gestützt weiter. Die Schuhe, die Gwen ihr aufgedrängt hatte, unbestreitbar schmeichelhaft und aus entsetzlich teurem, weichem, grauem Wildleder, waren ruiniert. Julia spürte, wie der Schuh mit jedem Schritt weiter wurde und schlappte. Ihre Zehen hingegen spürte sie nicht mehr, was eine willkommene Erleichterung war. Es fing wieder an zu regnen.

Vor der Tür angekommen, bereitete sich Julia auf Pamela vor, indem sie sich sehr viel Mühe für einen offenen, enthusiastischen Gesichtsausdruck gab, doch es war ein älterer Herr, der die Tür öffnete. Er wollte James gerade die Hand schütteln, als er ziemlich heftig von einer fülligen Frau in üppigen, herbstlichen Gewändern zur Seite geschubst wurde. Blond, vollbusig, als Derwisch aus losen Tüchern und Seide sowie beunruhigenden Einblicken in die Falten der übereinandergeschichteten Stoffe kam Pamela über sie. Sie trug eine thailändische Fischerhose aus weit fließender lila Rohseide, die in der Taille zu einer komplizierten Schleife geschlungen war, und ein Seidenhemdchen in leuchtendem Orange. Die Ärmel waren so tief ausgeschnitten, dass man, wenn sie die Arme hob, fast bis zur Taille sehen konnte, was auch den Blick auf eine ziemlich hängende Brust freigab. Ein ungeschliffener, in Silber eingefasster Amethyst hing an einer gewaltigen Kette um ihren Hals. Jede Oberfläche – und davon gab es bei ihr viele – glänzte: der Schmuck, die Rohseide, die offenen blonden Haare. Auf Gesicht und Dekolleté schimmerte ein leichter Schweißfilm. Gwen, die in den vergangenen Monaten gleich für mehrere Personen stürmischen Hass entwickelt hatte, empfand augenblicklich Abscheu Pamela gegenüber. Ihre Haare waren zu lang für eine alte Frau. Und warum trug sie eigentlich keinen BH?

Julia fand sich plötzlich an Pamelas Brust wieder und hatte sofort ein verstörendes Bild davon im Kopf, wie James die Behaglichkeit dieses moschusduftenden Gebirgsmassivs früher genossen hatte. Der Amethyst drückte ihr schmerzhaft aufs Schlüsselbein. Pamela wirkte sehr jung, das Übergewicht, das sie mit sich herumtrug, polsterte ihr Gesicht und machte es mädchenhaft glatt. Sie sah nicht aus, als wären ihre Kinder schon im Teenageralter.

»Schwester!«, rief Pamela und hielt Julia jetzt auf Armeslänge, als wäre sie ein Kleidungsstück auf dem Markt, dessen Kauf sie in Betracht zog.

»Sie ist nicht deine Schwester«, sagte Gwen unwillkürlich, lauter als beabsichtigt, und sah einen müden Ausdruck über das Gesicht ihrer Mutter huschen. Nun wandte Pamela sich strahlend an sie. »Wir sind alle Schwestern im gleichen Kampf, Süße. Gwendolen.« Dann war Gwen an der Reihe, gedrückt zu werden, und einzig ihre Größe bewahrte sie davor, halb zu ersticken wie ihre Mutter. Über Pamelas Kopf hinweg versuchte sie, Blickkontakt zu Julia aufzubauen, aber sie erwischte nur James, der irgendwie irre grinste.

»Julia braucht was Trockenes für die Füße«, erklärte er Pamela, die Gwen losließ, mit wehender Seide herumwirbelte und sich über Julias Fuß beugte. Julia wurde freier Blick in den Ausschnitt ihres Oberteils gewährt, weit tiefer, als der pendelnde Kristall hing.

»Boston ist brutal. Echt brutal. Wir haben zwei Winter gebraucht – weißt du noch? Zwei lange Winter, um uns darauf einzustellen. Man muss angezogen sein wie Shackleton auf Polarexkursion, um hier zu überleben. Ich habe im ersten Jahr den ganzen Winter mit einem Kaufhausmantel zugebracht und wäre beinahe gestorben. Ich war so unglücklich, dass ich James angebettelt habe, mit mir ins elende alte England zurückzugehen oder sich nach Stanford oder irgendwo anders hin versetzen zu lassen. Und dann kam er eines Tages mit einer Fellmütze nach Hause, und ich dachte: Vielleicht überlebe ich doch ganz knapp. Ich weiß, Fell …«, sagte sie zu dem grauhaarigen Mann, der ihnen die Tür aufgemacht hatte. »Du wärst entsetzt gewesen, wenn du mich damals gekannt hättest. Aber diese Tiere sind gestorben, um mir das Leben zu retten. Die Mütze habe ich immer noch. Eigentlich wollte ich sie Saskia vermachen, aber vielleicht sollte ich sie lieber begraben. Und jetzt zieh diese unnützen Dinger endlich aus«, befahl sie. Mehrere weitere Gäste waren durch die offene Wohnzimmertür zu sehen, und Julia merkte nun, dass diese Leute sie neugierig beäugten. »James, das hättest du ihr doch sagen müssen! Boston ist keine Stadt für süße kleine Stöckelschuhe. Komm mit nach oben, wir haben keine Eile, es steht schon alles auf dem Tisch. Wir waren viel zu viele, um gemeinsam am Tisch zu essen, also habe ich ein Büfett zusammengeworfen. Fangt an, Leute! Los, esst!«

Julia stand jetzt in Strümpfen im Flur, und Pamela hatte ihre Schuhe als Geiseln genommen und hielt sie an den Fesselriemchen wie zwei erlegte Vögel. »Komm hoch, Süße«, befahl sie, wallte die Treppe hinauf und zog Julia am Handgelenk mit. »Ich stelle dich vor, sobald wir dich versorgt haben. Jamesy, du übernimmst die Bar, bis wir wieder da sind.«