Fußnoten

Nabe: Japanisches Eintopfgericht, das wie Fondue zu Hause auf einem Kocher am Tisch zubereitet wird. Ein typisches Winteressen. (A. d. Ü.)

In Japan ist es auch im vertrauten, informellen Umgang unter Gleichaltrigen nicht unüblich, sich beim Nachnamen zu nennen, insbesondere wenn eine junge Frau einen jungen Mann anspricht. Der Grad der Nähe wird durch ein entsprechendes Suffix ausgedrückt. Den bloßen Vornamen benutzt man nur für sich selbst und den engsten Kreis, etwa den Ehepartner.

»Idioten-Uni« (jap.: baka-daigaku): Privatuniversitäten, die nicht sehr hoch angesehen, doch oft teuer sind, bei denen man relativ leicht einen höheren Bildungsabschluss erwerben kann, wenn man keine akademische Karriere anstrebt.

Kotatsu: niedriger japanischer Tisch, der im Winter mit einer unter der Platte installierten Infrarotlampe und einer Steppdecke bis zum Boden warme Beine und Füße garantiert.

Hibachi: Holzkohlebecken, das in japanischen Häusern und Wohnungen traditionell als Ofen fungierte.

Matcha: hochwertiger, nach spezieller Behandlung fein gemahlener Grüner Tee. Außer bei der Teezeremonie findet das kostbare Teepulver in Japan (und zunehmend im Westen) auch als Zutat und beliebte Geschmacksrichtung für Getränke, Eis, Kuchen oder andere Süßspeisen Verwendung.

Yuzu: asiatische Zitrusfrucht mit fein-herbem Geschmack, in Japan Symbol für die kalte Jahreszeit.

Doraemon und Nobita: die beiden Hauptfiguren der japanischen Kinder-Manga-Serie Doraemon, die seit Dezember 1969 durchgängig bis heute erscheint. Die himmelblaue Roboterkatze Doraemon ist in ganz Asien durch TV-Zeichentrickserien, zahlreiche Kinofilme und Merchandise-Artikel mindestens so bekannt wie Donald Duck oder Charlie Brown im Westen. Ihrem Schöpfer Fujiko F. Fujio (19331996) widmete Banana Yoshimoto die vorliegende Erzählsammlung.

Der zeitreisende Roboter Doraemon wird aus der Zukunft in die gegenwärtige Tōkyōter Vorstadt zu dem etwa zehn Jahre alten, tolpatschigen, aber liebenswerten Jungen Nobita gesandt, um diesen mit seinen speziellen Fähigkeiten vor allerlei Ungemach zu bewahren. Meist gerät Nobita jedoch durch Doraemons Hilfe in weit größere Schwierigkeiten, bevor alles mit einer Moral von der Geschicht noch einmal gut ausgeht.

Dorayaki: eine traditionelle japanische Süßspeise, eine Art Pfannkuchen mit einer Füllung aus anko, einer süßen Paste aus gekochten roten Azuki-Bohnen. Dorayaki sind die Lieblingsspeise von Doraemon. Der Teigmantel besteht aus einer Art Biskuitteig (Castella) und ist nicht ganz geschlossen (wie etwa bei einem Berliner), sondern eher wie zwei zusammengeklappte amerikanische pancakes mit Füllung dazwischen. In Spezialitätenläden für traditionelle japanische Süßigkeiten gibt es exquisitere Variationen mit hochwertigeren Füllungen, z.B. Maronenpaste u.Ä., bei denen dann auch der Teigmantel sorgfältiger verarbeitet ist.

Doraemon und Nobita, Dorayaki: siehe die entsprechenden beiden Fußnoten dazu in der Erzählung Überhaupt nicht warm.

»Why should I wish to chronicle so carefully these extremely painful and unpleasant and lacerating memories?« (zitiert nach William S. Burroughs (19141997): Queer. Edited and with an Introduction by Oliver Harris. 25th Anniversary Edition. Penguin Modern Classics: 2010, Appendix: William S. Burroughs Introduction to the 1985 Edition, S. 128.). Eine deutsche Ausgabe von Queer gibt es nicht. Banana Yoshimoto zitiert aus der ins Japanische übersetzten Ausgabe von 1988.

Dem großen Fujiko F. Fujio gewidmet, dem Schöpfer von Doraemon

Das Geisterhaus

»Ja, wenn das so ist – ich habe schon die ganze Zeit Lust auf Nabe,1 aber alleine macht das keinen Spaß. Wollen wir nicht bei mir zu Hause Nabe machen, Setchan?«

Ich hatte zuvor bloß gesagt: »Ich möchte mich dafür bedanken, dass du mir bei der Arbeit so oft zur Seite gesprungen bist, deshalb würde ich dich gerne zum Essen einladen.«

Und das war dann Iwakuras2 Antwort gewesen.

Ich war mir nicht sicher, wie ich eine solche Einladung in die Wohnung eines allein lebenden jungen Mannes verstehen sollte.

Aber da es sich um Iwakura handelte, war es wohl genau so gemeint, wie er es gesagt hatte, außerdem lag seine Wohnung offenbar ganz in der Nähe.

Jedenfalls schien er keine Hintergedanken zu haben, seine Miene war offen – und mein Herz machte auch nicht den kleinsten Hüpfer.

Wie der bewölkte Himmel mitten im Winter strahlte er so ein merkwürdiges Zwischending zwischen Helligkeit und Dunkelheit aus, und das hielt mich irgendwie davon ab, mich in ihn zu verlieben. Denn die unbändige Energie, einfach drauf‌losrennen zu wollen, die Hochstimmung – alles, was für eine junge Liebe unerlässlich ist, schien mit ihm unvorstellbar.

»Gut, wann sollen wir? Bei dir Nabe machen, meine ich?«, sagte ich und machte sachlich einen Tag aus.

Das war auf der Bank unter dem großen Keyaki-Baum, dem einzigen auf dem Campus der Uni, die wir beide besuchten.

Ich hatte kaum Freundinnen, und die wenigen Freundinnen, die ich hatte, waren ganz mit ihren Jobs beschäftigt und kamen selten zum Unterricht. Das war der Normalzustand an so einer Idioten-Uni3 wie der unseren. Da wir beide also meistens alleine dort herumliefen, hatten wir uns mit der Zeit ganz automatisch angefreundet.

 

Ich hatte ihn bei einem Aushilfsjob in einem Pub in der Nachbarschaft kennengelernt, wo ich für kurze Zeit meine Freundin vertreten hatte. Er jobbte dort als Barkeeper.

Wenn wir uns danach an der Uni über den Weg liefen, haben wir regelmäßig zusammen zu Mittag gegessen oder uns ein bisschen unterhalten.

Er war der einzige Sohn der Familie einer in unserer Stadt ziemlich berühmten Biskuitrollenbäckerei, und es gab Gerüchte, dass er, weil er das Geschäft nicht übernehmen wollte, jeden Yen sparte, und tatsächlich schien er so ein Leben zu führen. Er befand sich in einer Art Sackgasse: Wenn er nicht während der Studienzeit sparte und seinen eigenen Weg fand, war ein Leben als Biskuitrollenbäcker vorprogrammiert, ob er wollte oder nicht. Sein Leben als Jobber verriet die typische Not eines Menschen, dessen Weg vorgezeichnet ist.

»Was hast du nur gegen Biskuitrollen, was Besseres kann dir doch kaum passieren!«, sagte ich, die eine Schwäche für Biskuitrollen hatte.

»Im Grunde hab ich ja auch nichts dagegen, nur meine Mutter ist so perfekt, weißt du, ein wahres Prachtstück: immer gutgelaunt, sympathisch, fleißig«, entgegnete Iwakura. Tatsächlich war das angenehme Wesen, die Tüchtigkeit und patente Cleverness seiner Mutter stadtbekannt. Man hörte auch häufig, dass ihre einnehmende Art, mit den Kunden umzugehen, bei so manchem den Ausschlag gab, dort zu kaufen.

»Ich glaube, ich … ich bin wirklich ein ausgesprochen gutmütiger Mensch.«

»Das weiß ich doch.« Seine Sanftmut und Wohlerzogenheit waren mir schon auf unseren gelegentlichen Spaziergängen aufgefallen. Zum Beispiel, wenn wir durch den Park gingen, der Wind durch die Bäume strich und die schaukelnden Blätter die Sonnenstrahlen tanzen ließen: Dann blinzelte er, und auf seinem Gesicht machte sich ein »Ach, wie herrlich!« breit. Fiel ein Kind hin, huschte ein Bedauern über sein Gesicht, und dann, sobald es von Vater oder Mutter auf den Arm genommen wurde, ein Ausdruck von Erleichterung. Diese aufrichtige Empfindsamkeit ist nur Menschen eigen, die von ihren Eltern etwas entscheidend Wichtiges mit auf den Weg bekommen haben.

»Und wenn ich mein ganzes Leben in diesem Haus bleibe, immer im selben Trott, werde ich allein meine Gutmütigkeit weiter perfektionieren können.«

»Und was wäre daran schlecht?«

»Nichts, aber was ich meine, ist, es käme keine wahre Güte dabei heraus. Sieh mal, in Friedenszeiten, mit genug Geld und Zeit, ist es keine große Kunst, ein sanftmütiger, großherziger Mensch zu werden, meinst du nicht auch? Und genau so wäre es in meinem Fall: Wenn alles so bleibt, wie es ist, wäre das eine Gutmütigkeit nur in guten Zeiten. Und dadurch würde ich letztlich etwas Hässliches, Dunkles in mir heranzüchten. Oder mein Leben würde möglicherweise verstreichen, ohne dass ich etwas anderes als diese oberflächliche Gutmütigkeit erreicht hätte. Aber gerade weil ich schon von Natur aus ein großherziger Mensch bin, möchte ich möglichst daran weiterarbeiten, diese Qualität weiter ausbilden. Und nicht die dunkle Seite davon.«

»Ist das der Grund, warum du jeden Yen zweimal umdrehst und an allen Ecken und Enden sparst wie verrückt?«

»So würde ich es nicht ausdrücken. Ich mache nur das, wozu ich mich entschlossen habe, so weit ich kann. Täte ich das nicht, würde alles so weitergehen wie bisher – und schwups, säße ich im Geschäft. Und wenn es einmal so weit gekommen ist, könnte ich mich dem Lauf der Dinge nicht mehr entziehen«, sagte Iwakura.

Es musste ihn eine ganze Stange Geld gekostet haben, sich an dieser Privatuniversität einzuschreiben.

Ich war schon in den Universitätskindergarten gesteckt worden, weil ich in einer Phase geboren wurde, als meine Eltern gerade in ihrem Geschäft sehr viel um die Ohren hatten, und war dann einfach von ganz unten nach oben durchgereicht worden.

Ich stamme aus dem Hause eines einigermaßen berühmten Restaurants für westliche Küche in der Nachbarstadt. Um unser Haus einzuordnen: Wir stehen in jedem Touristenführer, und wenn man mit der Familie einmal auswärts essen gehen will oder wenn ein alleinstehender Angestellter abends denkt, heute will ich mal nicht so sein und mir ein Abendessen gönnen, bevor ich nach Hause fahre, aber echte französische Küche kann ich mir nicht leisten – dann kommt man zu uns.

Da ich das seit der Generation meiner Großeltern bestehende Restaurant übernehmen wollte, hätte ich eigentlich gar kein Studium oder eine andere Ausbildung gebraucht, solange ich nur halbwegs Kochen lernte. Besser gesagt, da die Speisekarte bei uns immer haargenau gleich geblieben war, hatte ich schon ausgiebig üben können, wie man ein mit Reis gefülltes Omelett oder Sauce Demi-glace oder einen ordentlichen Pilaw und dergleichen zubereitet, ich musste also nur noch irgendwann die Meisterprüfung zur Köchin ablegen.

Mein älterer Bruder war schon als Oberschüler zu Hause ausgezogen, weil er den Familienbetrieb nicht übernehmen wollte. Er arbeitet jetzt in einer Werbeagentur und ist mit Feuereifer bei der Sache.

Mag sein, dass mich dieses »Ich weiß zwar nicht genau, warum, aber ich will auf gar keinen Fall die Nachfolge antreten« an meinen Bruder in jener Zeit als Jugendlichen erinnerte und dass das ein Grund dafür war, dass ich eine gewisse Vertrautheit mit Iwakura verspürte.

Wie oft hatte ich mir mitten in der Nacht das Herumgejammere meines Bruders anhören müssen!

Er ist im positiven Sinne wahnsinnig neugierig und wäre überhaupt nicht der Typ gewesen, rund um die Uhr gesellschaftlichen Umgang zu pflegen, tagtäglich die gleichen, festgesetzten Abläufe zu haben und zu den gleichen Zeiten die gleichen Dinge tun zu müssen. Er suchte ständig den Reiz und die Herausforderung und liebte es über alles, wenn etwas Neues passierte. Dass mein Bruder in ihre Fußstapfen treten sollte, war, glaube ich, nichts weiter als die Wunschvorstellung meiner Eltern gewesen.

»Du bist absolut ungeeignet für einen Restaurantbetrieb, Brüderchen. Ich werde den Laden übernehmen«, sagte ich immer wieder.

Im nächtlichen Zimmer lachte mein Bruder daraufhin jedes Mal grimmig auf und versuchte, mit Argumenten wie, er hätte aber die geschickteren Hände, außerdem sei er stark und unsere Eltern wollten sowieso ihn als Nachfolger, sich selbst halbherzig vom Gegenteil zu überzeugen.

Denn mein Bruder hatte auch die Eigenart, regelmäßig unsicher zu werden, sobald jemand anders seinen eigenen Standpunkt einnahm.

Jetzt kommt er nur noch sporadisch zu Besuch zu uns nach Hause, dann isst er mit uns zusammen und fährt anschließend wieder weg, in seine eigene Wohnung. Es sieht nicht so aus, als ob er in absehbarer Zeit heiraten würde, er will wohl lieber seine Freiheit noch etwas genießen, und dafür, dass er etwa ganz nach Hause zurückkäme, um das Restaurant zu übernehmen, gibt es keinerlei Anzeichen.

»Ob sie sich da mal nicht übernimmt?« – Meine Eltern hatten offensichtlich hin und her überlegt, wie sie auf mein Ansinnen, den Familienbetrieb übernehmen zu wollen, reagieren sollten, und waren zu dem Schluss gekommen, mich vorher unter allen Umständen so viele verschiedene Erfahrungen wie möglich machen zu lassen, damit es auf keinen Fall so käme wie mit meinem Bruder. So groß schien für sie der Schock gewesen zu sein, dass mein Bruder, von dem sie selbstverständlich angenommen hatten, dass er ihre Nachfolge antreten will, den Restaurantbetrieb hasste.

Deshalb wollten sie auf Nummer sicher gehen und schickten mich, um mir genügend Bedenkzeit zu geben, sogar auf die Universität, damit ich mich noch umentscheiden konnte und es auf gar keinen Fall so aussähe, als wollten sie mir die Nachfolge aufzwingen.

Nun, da ich es mir nicht anders überlegt hatte, war meine Universitätskarriere gerade dabei, wohl einfach auf ein Studium des Lebens an sich hinauszulaufen.

Da es für mich selbstverständlich war, mit meiner Mutter und meinem Vater zusammenzuarbeiten und älter zu werden, und ich es außerdem sogar für das Verlässlichste und Wichtigste im Leben hielt zu sehen, wie Vater und Mutter irgendwann langsam an die Stelle meiner Großeltern traten – meiner bereits verstorbenen Großmutter und meines Großvaters, der immer noch wie das Wahrzeichen des Ladens im Restaurant herumlief und zum Beispiel die Stammgäste bediente –, konnte ich die Gefühle meines Bruders, der all das ablehnte und lieber von zu Hause weggegangen war, überhaupt nicht teilen.

Ich bin schon immer beinahe übertrieben gewissenhaft gewesen, auch als kleines Kind schon, und ich liebe es einfach, an etwas dranzubleiben, was ich einmal angefangen habe. Kalligraphie zum Beispiel mache ich heute noch, das Rechnen mit dem Soroban, dem japanischen Abakus, habe ich zwar aufgegeben, dafür begeistere ich mich seit kurzem fürs Kopfrechnen, außerdem übe ich mich seit zehn Jahren im Töpfern. Mit drei Freundinnen aus Kindertagen zusammen fahre ich jedes Jahr zur selben Jahreszeit nach Iwate ins Onsen, in dasselbe Gasthaus mit heißer Quelle, und betrachte es als feste Jahresveranstaltung, die ich in acht Jahren nicht ein einziges Mal versäumt habe.

Deshalb konnte ich auch überhaupt nicht begreifen, warum Iwakura die hauseigene Biskuitrollen-konditorei, für die man sich günstigere Geschäftsbedingungen kaum vorstellen konnte – herrliches Gebäck mit wunderbarem Geschmack, verbunden mit alteingesessener, günstiger Verkaufslage –, so vehement ablehnte. Wenn es jetzt etwas gegeben hätte, das er hätte lieber machen wollen, hätte ich es nachvollziehen können, aber da es das nicht gab, hatte ich keine Ahnung, welchen Weg er überhaupt einschlagen wollte.

Seine spärlichen Äußerungen, mit denen er weder die Zusammenhänge noch, was in ihm vorging, eingehend erklärte, wirkten auf mich, als lehne er eigentlich nur die eigene Situation ab, da er sich immer noch im Stadium reiner Träumerei befand.

Doch wir waren beide Kinder aus Familien mit langer Tradition im Gastgewerbe, und diese gemeinsame Erfahrung bildete die Basis für angeregte Gespräche – wir hatten einfach die gleiche Wellenlänge, das wusste ich von Anfang an.

Uns beiden war gemein, an so etwas wie Verantwortung gewöhnt zu sein, auch wenn mir bewusst ist, dass es keine großartige Verantwortung war, die wir zu tragen hatten.

 

Am verabredeten Tag für das Nabe-Essen kauf‌te ich die Zutaten ein und machte mich zum ersten Mal auf den Weg zu der Adresse, die mir Iwakura genannt hatte.

Das Gebäude stand auf einem Grundstück, das Iwakuras Onkel gehörte, und sollte demnächst abgerissen werden, deshalb durf‌te er bis dahin dort gegen eine symbolische Miete von fünf‌tausend Yen wohnen … diese Geschichte hatte er mir zwar erzählt, trotzdem überstieg der Zustand des Gebäudes meine Vorstellungskraft.

Der Holzbau schien jeden Moment auseinanderzufallen: Fensterscheiben waren zerbrochen, die Stufen der Außentreppe waren eingetreten, und der Flur moderte an allen Ecken und Enden vor sich hin.

Wo bin ich denn hier gelandet – das ist ja zum Fürchten! Und hier wohnt er ganz allein … wie gruselig!, dachte ich, während mir die Knie weich wurden.

Angesichts des desolaten Zustands des Hauses konnte ich jetzt aber nachvollziehen, warum niemand anders mehr hier wohnte.

Ich hatte das Gefühl, nun den Grund für dieses transparent Düstere erkannt zu haben, das für ihn so charakteristisch war, für diese eigenartige Einsamkeit, diese Schwere, die ihn umgab.

Ich wickelte mir den Schal fester um den Hals, blickte in der kalten Winterluft zum trüben Wolkenhimmel auf und schluckte den Kloß hinunter, der mir in der Kehle steckte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, nicht mehr als dieselbe Person wieder herauszukommen, wenn ich einmal dort hineinginge.

Oben im ersten Stock stand Iwakura in der aufgeschobenen alten Schiebetür zur Eckwohnung und erwartete mich.

»Das ist ja ein schreckliches Haus!«

»Sag ich doch, aber das hier war früher die Wohnung der Eigentümer, deshalb habe ich wenigstens viel Platz.« Er lachte.

Und tatsächlich: Im Kontrast zu dem Eindruck, den die winzige Schiebetür vermittelt hatte, lag dahinter eine komplette Zwei-Zimmer-Wohnung. Es gab ein Wohnzimmer mit Küche und Essecke und hinten ein zehn Tatami-Matten großes japanisches Zimmer, Bad und Toilette waren separat, und die Räume hatten sogar relativ hohe Decken. Vom Fenster aus blickte man auf einen Park, wo gerade die Abendmelodie mit der Zeitdurchsage abgespielt wurde, die die Kinder ermahnte, nach Hause zu gehen.

Abgesehen davon, dass die anderen Wohnungen verlassen im Dunkeln lagen, war seine ein überraschend heller, behaglicher Ort.

»Hast du überhaupt einen Nabe-Topf?«, fragte ich.

»Klar. Ich besitze sogar einen Tischkocher mit den passenden Gaskartuschen!«

»Ich mache einen einfachen Nabe, mit Geflügelbällchen, Chinakohl und Glasnudeln. Bist du einverstanden mit Udon-Nudeln als Sattmacher zum Schluss?«

»Perfekt!«, sagte Iwakura und lachte.

»Eigentlich liegen mir ja Gerichte der westlichen Küche wesentlich mehr. Die könnte ich dir sogar mit verbundenen Augen zubereiten.«

»Ja, richtig, daran hätte ich auch denken können bei meinem Wunsch! Aber ich hatte nun mal solche Lust auf Nabe

»Macht nichts, die Sachen zu kochen, die wir bei uns im Restaurant servieren, wäre für mich auch nicht so interessant gewesen.«

Ich machte mich in der Küche an die Arbeit, und bald erfüllte Dampf die Wohnung. Iwakura hatte Musik angestellt und las unterdessen in einem Buch. Draußen war es rasch dunkel geworden, und wenn ich gelegentlich die alten Glasfenster zum Lüften öffnete, pfiff ein kalter Wind herein und zog einmal durch die ganze Wohnung.

Dann aßen wir Nabe, bis wir nicht mehr konnten, und sahen dabei fern.

Die Zeit floss ganz normal dahin, ohne dass wir das Thema Liebe auch nur streif‌ten.

Ganz der Profi (obwohl ich ja noch gar nicht im Berufsleben stand), hatte ich beim Kochen kaum dreckiges Geschirr zurückgelassen, so dass es nach dem Essen wenig abzuspülen und sauberzumachen gab, und das erledigte überwiegend Iwakura. Dann brühte er Kaffee auf, und nachdem wir es uns damit am Kotatsu4 gemütlich gemacht hatten und dazu die Biskuitrolle aßen, die er sich von zu Hause besorgt hatte, sagte ich auf einmal:

»Irgendwie kommt mir diese Wohnung merkwürdig vor. Man beruhigt sich, aber so, als wäre die Zeit stehengeblieben. Es ist so ausgesprochen still hier, nur hier, wie auf einer Insel der Ruhe, und man fühlt sich ganz entspannt. Aber ich frage mich, wie du es bloß schaffst, dich von so einem Ort regelmäßig loszureißen und zur Arbeit zu gehen! Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich hierbleiben und gar nichts mehr machen!«

Iwakura nickte: »Da hast du recht, man entspannt sich schon fast zu sehr in dieser Wohnung, die Zeit bleibt stehen. Außerdem scheint es hier noch Mitbewohner zu geben.«

»Andere Leute – hier, in diesem Gebäude meinst du?«, fragte ich erschrocken, denn ich dachte, er meinte vielleicht irgendwelche Obdachlosen oder so, und mir wurde mulmig zumute.

»Nein, keine fremden Leute … Wie soll ich sagen, es sind die Hausbesitzer.«

»Die Eigentümer wohnen noch hier?«

»Ja, also, wie soll ich dir das erklären … Sie sind schon gestorben, aber das scheinen sie noch nicht gemerkt zu haben.«

»Häh? – Wie bitte?«

»Ja, ein Ehepaar, sie saßen zusammen am Hibachi5, um sich zu wärmen, und dabei müssen sie dann beide eingenickt sein, jedenfalls sind sie hier in diesem Zimmer durch eine Kohlenmonoxid-Vergiftung ums Leben gekommen. Sie waren schon ziemlich betagt.«

»Hier, in diesem Zimmer?«

»Ja …«

»Ist das jetzt ein Trick? Willst du mir einen Schreck einjagen, damit ich Angst bekomme und du irgendwas Unanständiges mit mir anstellen kannst?«

»Gar keine schlechte Idee … – Aber es ist wirklich wahr. Ab und zu sehe ich die beiden hier in diesem Zimmer.«

Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte, und fragte nur: »Willst du damit sagen, sie sind von der sichtbaren Sorte?«

»Nein, nein, man kann sie nicht richtig sehen, überhaupt nicht. So wie man auch niemanden richtig sieht, wenn man alleine auf Reisen ist und draußen auf einem Friedhof übernachtet.«

»Und, was sollte das dann eben?«

»Vielleicht lässt meine Aufmerksamkeit nach, wenn ich alleine zu Hause bin, ich döse, bin in Gedanken. Oder nach der Arbeit, wenn ich vielleicht übermüdet bin, jedenfalls manchmal, wenn ich gerade aufgewacht bin oder müde nach Hause komme und einen Tee trinke, dann überschneiden sich die beiden Welten, und dann sehe ich sie, als würden sie hier weiterleben wie früher, wie wenn nichts geschehen wäre.«

»Solltest du nicht vielleicht eine Austreibungszeremonie durchführen lassen?«

»Aber hier wird doch sowieso bald alles abgerissen. Bis dahin lass ich sie einfach in Ruhe, hab ich mir überlegt«, erwiderte Iwakura. »Wo sie doch so glücklich aussehen, wie sie hier harmonisch zusammenleben …«

Da war sie wieder, die gutmütige Seite von Iwakura. Er war sogar zu Geistern nett!

»Aha«, meinte ich skeptisch.

Vielleicht ist er bei all den Sorgen um seine Zukunft und unter der hohen Arbeitsbelastung im Job ein wenig sonderbar geworden, dachte ich und nahm mir vor, ihn in nächster Zeit besonders aufmerksam im Auge zu behalten.

Davon abgesehen – wie wir uns hier wie ein altes Ehepaar gegenübersaßen, die Füße unter den Kotatsu gestreckt, Kuchen in uns hineinmümmelten und dabei nüchtern über Geister redeten, hatte schon etwas Komisches.

Später brachte er mich noch bis vor die Tür meines Apartmenthauses, wobei er sein Mofa neben sich herschob, weil er auf dem Rückweg noch Besorgungen machen wollte.

»Wieso wohnst du eigentlich alleine, Setchan? Du bräuchtest doch nur eine Bahnstation zu fahren und wärst bei euch zu Hause?«, fragte er.

Es war eine sternenklare Nacht, die Mondsichel hatte Spitzen, scharf wie Eiszapfen. Sie sah weiß aus, als wäre sie aus dem Nachthimmel ausgeschnitten worden.

»Ach, meine Mutter hat sich wieder ein Hobby zugelegt, sie gibt neuerdings Kochkurse. Seitdem ist es ein einziges Kommen und Gehen zu Hause, und ich habe kein eigenes Zimmer mehr. Aber das hier ist nur ein Ein-Zimmer-Apartment. Ich fahre ständig nach Hause. Meistens esse ich da und komme dann nur zum Schlafen hierher zurück. Ich helfe auch oft im Restaurant aus.«

»Beneidenswert, so dazuzugehören. Ich bin ja inzwischen zum Außenseiter geworden.«

»Aber man muss auch auf einen gewissen Abstand zur Familie achten. Wenn man nämlich nicht aufpasst, sickert alles zu den anderen durch, und man hat als Erwachsener kaum noch Zeit für sich, kein eigenes Leben mehr. Deshalb habe ich mir ganz bewusst eine eigene Wohnung genommen und verreise auch allein.«

»Ach tatsächlich? Da magst du vielleicht recht haben. Womöglich ist es das, was mich auch so fertiggemacht hat. Setz schon mal den Wagen raus, weil die Eltern verreisen oder zum Einkaufen möchten, hilf doch mal schnell diesem oder jenem Verwandten beim Umzug – so etwas würde wie selbstverständlich mein Leben bestimmen, das habe ich klar vor mir gesehen. Dabei finde ich das an sich gar nicht mal so schlimm, und ich habe auch nichts dagegen, ein Handwerker zu werden.«

»Du hast noch so viel Zeit – wie wäre es, wenn du Geld sparst, dir erst mal eine Stelle suchst oder es mit einem Studium im Ausland probierst? So als braver, guter Junge zu leben, wie du es geschildert hast, scheint besonders für einen jungen Mann nicht lange gutzugehen – das macht dich noch ganz kirre.«

»Ja genau, für meine Eltern habe ich das Stadium des kleinen Babys, das sie großziehen müssen, noch nicht wirklich verlassen, aber ich habe schließlich auch mein eigenes Leben.«

»Danke fürs Heimbringen!«

»Danke, dass du heute für mich gekocht hast. Und ich hab mich nicht mal an den Unkosten beteiligt, entschuldige.«

»Keine Ursache. Die Biskuitrolle war so lecker!«

Er winkte mir zu und fuhr mit dem Mofa zurück. Ein teures Modell, etwas alt zwar, aber gut gepflegt. Überall schimmert durch, dass er aus reichem Hause stammt, dachte ich bei mir.

Während er diese Privilegien wie selbstverständlich in Anspruch nahm, gleichzeitig aber davon sprach, das Familienunternehmen zu verlassen und Geld zu sparen, um auf eigenen Füßen zu stehen, was einer kaum lösbaren Aufgabe gleichkam, schien es für mich kein Wunder mehr zu sein, dass er vom Gefühl und vom äußeren Anschein her so düster und trostlos wirkte.

Der Abend war absolut normal verlaufen, wie immer, nichts Außergewöhnliches, meine Gefühle waren kein bisschen aufgewühlt, also urteilte ich für mich entschieden: »Liebe wird nicht daraus, das bleibt Freundschaft.«

 

»Hör mal, Mama, hast du mal was von einem Unglück in dem alten Apartmenthaus im Stadtteil nebenan gehört? Bei dem die Eigentümer durch eine Kohlenmonoxid-Vergiftung ums Leben gekommen sind?«, fragte ich meine Mutter auf gut Glück.

»Ja, davon habe ich gehört. Es kam sogar in den Nachrichten. Wenn ich mich recht entsinne, haben sie am Hibachi gesessen, aber die Lüftung nicht eingeschaltet, und sind dann eingeschlafen, nicht wahr?«

»Ja genau. Und – weißt du sonst noch was über diese Leute?«, fragte ich weiter, denn meine Mutter hatte ihr ganzes Leben hier verbracht – wenn jemand mehr wusste, dann sie.

Nachdem das Restaurant geschlossen war und wir alles aufgeräumt hatten, saßen wir an der Theke zusammen und aßen Pilaw mit Krebsfleisch, das Tagesessen für die Mitarbeiter. Die Miso-Suppe dazu schmeckte genau, wie sie nach dem mir persönlich von Großmutter überlieferten Rezept zu schmecken hatte. Ich wurde überhaupt nicht wütend, wenn man von mir sagte, ich sei einzig und allein auf die Welt gekommen, um für künftige Generationen den Geschmack dieser Miso-Suppe zu erhalten. So köstlich war sie, eine magische Verlockung, ein Zauberelixier. Allein schon, weil Großmutter ja sogar die Miso-Paste selbst gemacht hatte.

»Sie sind oft zusammen hergekommen, dieses Ehepaar. Zuletzt dann nicht mehr so häufig, als der Mann immer schlechter laufen konnte. Meistens kamen sie in der Woche, am frühen Abend, wenn noch alles leer war, Hand in Hand, die beiden. Sie setzten sich grundsätzlich da drüben hin, an Tisch Nummer 6, und bestellten immer eine Portion Reis-Omelett und eine Portion Curry mit Schweinefleisch. Und sie wollten immer Extrateller, weil sie sich jedes Gericht teilten.«

»Ach ja, stimmt, jetzt, wo du es sagst, sehe ich das Bild vor mir. Sicher, an die beiden erinnere ich mich auch!«

»Und sie haben immer zu zweit eine einzige kleine Flasche Bier bestellt, erinnerst du dich? Süß waren sie, der Opa und die Oma, und, wie soll ich sagen, von leisem Auf‌treten, einfach und schlicht wirkten sie, aber sie hatten ihre bescheidenen, aber festen Gewohnheiten, und die haben sie über lange Jahre hinweg eingehalten, fast so, als ob sie dafür lebten und diese Bräuche sie am Leben hielten. Sie schienen nicht einmal besonderen Spaß daran zu haben, aber denen, die sie beobachteten, vermittelten sie einen Eindruck von Geborgenheit und großem Glück. Dein Vater und ich haben oft zueinander gesagt: ›Sollten wir gemeinsam alt werden, wäre es schön, wenn wir so würden wie sie.‹ Man darf es zwar nicht laut sagen, aber deshalb haben wir damals schon gesagt, es wäre am besten, wenn sie gemeinsam im Schlaf sterben würden«, sagte Mutter.

Vater und Mutter verstehen sich für ein Ehepaar direkt abartig gut.

Die beruf‌liche Laufbahn meines Vaters verlief ungewöhnlich: Er war ein braver fleißiger Angestellter, der regelmäßig zum Essen in unser Restaurant kam, wobei er sich allmählich in Mutter verliebte; daraufhin kündigte er bei seiner Firma, lernte kochen und entschloss sich, mit ihr gemeinsam das Restaurant weiterzuführen. Er ist grundsätzlich mit allem einverstanden, was Mutter sagt. Das war auch wieder so, als es um ihre Pläne um die Kochseminare ging: Obwohl ich mich strikt dagegen ausgesprochen hatte, ist Vater auf Mutters Bitte hin sofort wieder eingeknickt.

»Aber ihr müsst euch jetzt nicht unbedingt ein Beispiel an den beiden nehmen und auch gemeinsam im Schlaf sterben, verstanden?«, meinte ich.

»Und selbst wenn – ich wäre unbesorgt, denn ich wüsste das Restaurant ja in guten Händen!«, sagte Mutter und lachte.

Als wir Kinder waren, hat sie diesen Satz oft auf meinen Bruder losgelassen.

Mutter hat das einfach so dahingesagt, vergnügt und frohgemut, ohne jede böse Absicht, aber in meinem Bruder haben sich diese erwartungsvollen Sätze immer weiter angestaut. Sie immer wieder gesagt zu bekommen bedeutete für ihn eine tonnenschwere Last.

Und ich war jedes Mal neidisch auf ihn, weil er es war, auf den man sich verließ.

Mit Abstand betrachtet lag der unspektakuläre Grund für meinen Wunsch, selber die Nachfolge anzutreten, einfach in der Prägung meines Willens. Wie konnte er bloß meckern, wo er sich doch in einer so gesegneten Position befand! Ich verstand meinen Bruder nicht. All diese Gedanken, die ich ihm gegenüber hegte, waren vielleicht irgendwann unmerklich zu einem so riesenhaften Wust aus Vorstellungen herangewachsen, dass sie einfach als fixe Idee auf mich zurückfielen.

Doch seit dem Tod meiner Großmutter denke ich anders darüber.

Zur Beerdigung erschienen eine Menge ältere Herren in schwarzen Anzügen, die in ihrer Jugend von Großmutter mit allerlei Leckereien durchgefüttert und mit guten Ratschlägen versorgt worden waren und die nun dieses und jenes aus ihren Erinnerungen erzählten – von ihrem ersten Rendezvous im Restaurant zum Beispiel oder wie sie bei Liebeskummer von Großmutter mit frittierten Garnelen getröstet worden waren – und anschließend wieder heimkehrten.