Paul Nizon

Sehblitz

Almanach der modernen Kunst

Herausgegeben und mit einem
Nachwort versehen von
Pino Dietiker und Konrad Tobler

Suhrkamp

Inhalt

Vorwort

PFORTEN DER MODERNE

Francisco de Goya

William Turner

Odilon Redon

Henri Rousseau

Ferdinand Hodler

Vincent van Gogh

Aristide Maillol

Édouard Vuillard

AUGENHUNGER

Sammlung Rupf

Eugène de Kermadec & Bram van Velde

Kasimir Malewitsch

Mark Rothko, Mark Tobey & Sam Francis

Henri Matisse

Emil Nolde

Pierre Soulages

Henri Laurens

Otto Tschumi

Jackson Pollock

Alexej von Jawlensky

Joan Miró

Jean Dubuffet

Leoncillo Leonardi

Alberto Burri

Nicolas de Staël

Giorgio Morandi

Pablo Picasso

Marc Chagall

Biennale 1968

Christo, Andy Warhol & Martial Raysse

Friedrich Kuhn

Louis Soutter

Art Basel 1971

Chaim Soutine

ATELIERBESUCHE

Varlin

Hans Josephsohn

Wilfrid Moser

Max von Moos

Robert Müller

Hans Falk

Egbert Moehsnang

Karl Jakob Wegmann

Friedrich Dürrenmatt

Norbert Tadeusz

Walter »Pips« Vögeli

Alberto Giacometti

Nachwort

Textnachweise und Anmerkungen

Dank

Vorwort

Ein Teil der vorliegenden Texte über Kunst – ich möchte sie am liebsten Kunstübungen nennen – ist unmittelbar nach Studienabschluss in den späten fünfziger Jahren entstanden. Ich war unter dreißig, Familienvater und Museumsassistent; und bald einmal debütierender Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Die Museumszeit endete 1959, danach kam ich für ein lebenwendendes Jahr nach Rom. In Rom fand die endgültige Wandlung zum Schriftsteller statt, doch die Befassung mit zeitgenössischer Kunst ging weiter. 1961 trat ich die Stelle des leitenden Kunstkritikers an der Neuen Zürcher Zeitung an, die ich nach nicht ganz einem Jahr quittierte, und zwar zu Gunsten der dichterischen Arbeit. Es ist die Zeit, als meine ersten literarischen Bücher entstanden.

Ich lebte fortan als freier Schriftsteller und versuchte, aus der Kunstkritik einen Brotberuf zu machen; doch nicht nur: In Wirklichkeit passionierte mich die Auseinandersetzung mit der damals modernen Kunst oder Avantgarde, weil sie mich zuinnerst anging. Die damalige Moderne stand unterm Zeichen der abstrakten Nachkriegskunst, der sogenannten Ecole de Paris und des amerikanischen action painting. Mit beiden Strömungen verband mich das Gefühl einer Zugehörigkeit, doch wie waren die mich erregenden künstlerischen Vorgänge in Sprache zu fassen? Natürlich nur mit literarischen Mitteln. So sind denn diese frühen Arbeiten zur Kunst als Teil meines literarischen Werdegangs anzusehen, wenn nicht als Kapitel meiner Jugendprosa.

Aus späterer Lebenszeit und anderen Anlässen stammen die großformatigen Auseinandersetzungen mit befreundeten Künstlern und großen Leitfiguren, zumeist hommage-artige Würdigungen; sie sind für Kataloge, Zeitschriften und andere Medien verfasst worden.

Gehe ich zu weit, wenn ich behaupte, ich sei als Schriftsteller bei der Kunst der Moderne zur Schule gegangen?

 Paul Nizon

 Paris, im August 2017

PFORTEN DER MODERNE

Francisco de Goya

Goya ist im Grunde eine späte Entdeckung meines Lebens. Er ist zurzeit meine große Liebe. Liebe macht blind, heißt es. Es ist darum sehr schwierig, über einen Künstler, dem man mit überbordenden Emotionen anhängt, etwas Objektives zu sagen, geschweige denn zu begründen, warum man ihn über die Maßen verehrt, ich meine: seine Vorzüge aufzuzählen. Man möchte in solchen Fällen nicht analysieren, man möchte nichts zerlegen, man möchte staunen und einfach in der Nähe und in der Aura der verehrten Person, in diesem Falle vor seinen Werken verweilen und sich überwältigen lassen.

Wer ist Goya? Auf diese Frage gibt es eine Menge Möglichkeiten der Annäherung.

Er ist ein Hofmaler und Porträtist, ein Auftragskünstler und Großunternehmer, der es zu Ruhm und Reichtum gebracht hat.

Er ist ein Volksmaler, der das Volk auf der Straße und in den Kneipen, die Huren und Händler und Mörder ebenso wie die schönen jungen Frauen und Kinder, die einfachen Leute, wie man sagt, im Alltag und bei Festen gemalt hat.

Er ist selber ein Mann, der aus dem Vollen gelebt hat, und vor allem ein Verehrer des schönen Geschlechts, er ist auch ein Maler des weiblichen Akts, was in der spanischen Tradition selten ist. Ein galanter Maler und ein Erotiker.

Er ist so etwas wie ein Kriegsreporter, ein unbestechlicher Zeuge der Desastres de la Guerra.

Er ist der Maler des Stierkampfs und als solcher überaus populär. Der Volksmund spricht von ihm als von jenem Goya der STIERE. Er ist lebenslang ein Liebhaber des Stierkampfs, dieses erzspanischen Mysterienkults.

Er ist, vor allem in seinen Caprichos, seinen Radierungen überhaupt und dann in den sogenannten SCHWARZEN MALEREIEN, ein Erforscher und Ausloter der menschlichen Abgründe, des inneren Schreckenskabinetts – heute würde man sagen: jener seelischen Rohstoffe, die die Psychologen und Psychiater ans Licht des Bewusstseins gezerrt haben. In dieser Hinsicht gehört er in die Familie eines Hieronymus Bosch.

Er hat, wie schon gesagt, nicht nur aus dem Vollen gelebt, lebenslang der Liebe gefrönt, dem Besitz gehuldigt, sich mit der Macht arrangiert, seine Karriere aufs Beste verwaltet: Er hat auch fürchterliche menschliche Krisen durchgestanden, die ihn an den Rand des Irrsinns brachten und in schwere Erkrankungen warfen, die ihn unter anderem das Gehör kosteten, ja: Goya war taub – wie Beethoven, eingesperrt in den Kerker seiner Visionen, Obsessionen, Ängste, Alpträume, Abgründe, aber auch in das Brausen seines schöpferischen Orkans.

Als Künstler ist er der Vollender der großen Barockkunst in der Nachfolge eines Velázquez, Rembrandt, Tiepolo bis hin zu einem Fragonard und ein gewaltiger Erneuerer, der den Realismus, ja Impressionismus vorwegnahm und mit seinen schwarzen Malereien und den Radierungen an die Pforte der Moderne, der phantastischen Kunst, ja des Surrealismus pochte und vorstieß. Er ist einer der größten Magier im Bereich der Farbe und einer der tiefsten Deuter der menschlichen Natur.

Er ist ein Existenzmaler. Ich sehe seinen Platz in jener Familie, die mit den Namen Rembrandt, Beethoven und Picasso bezeichnet werden kann. Seine künstlerische, menschliche und geistige Spannweite ist gewaltig. Ebenso wie seine nie versiegende Schaffenskraft. Ein Titan. Als Auskunft über den Menschen ist sein Werk ein riesiger Atlas. Er ist Opfer und Richter.

Er ist auch ein Kind seiner Zeit. Welcher Zeit?

Ein Zeitgenosse Goethes, geboren 1746 in Fuendetodos bei Saragossa, gestorben 1828 in Bordeaux im Exil.

Er hat gemalt unter Karl III., einem aufgeklärten Herrscher mit liberalen Ideen, und unter dessen Nachfolger Karl IV. und vor allem unter der Königin Maria Luisa und deren Günstling Godoy (den sie als Premierminister und Oberbefehlshaber der spanischen Armeen eingesetzt hatte). Es war eine Periode der Dekadenz, Korruption, der Unterdrückung aller liberalen Tendenzen, eine Schreckensherrschaft im Zeichen der Inquisition.

Goya erlebte die Napoleonischen Kriege, die Einsetzung von Napoleons Bruder Joseph Bonaparte als spanischen König. Er erlebte den Aufstand des Volkes von Madrid und die Niederschlagung des Aufstands. Die Erschießungen, Massaker. Sie sind in die Bilder vom 2. und 3. Mai 1808 eingegangen. Er erlebte die Zeit, da Spanien Kriegsschauplatz war, auf welchem sich die französischen, die aufständischen spanischen und die englischen Truppen zerfleischten. Er erlebte die Einsetzung Ferdinands VII., eine kurze Zwischenphase der Hoffnung, da Spanien konstitutionelle Monarchie mit einer liberalen Verfassung wurde. Und den Rückfall in ein despotisches Terror-Regime mit den allgegenwärtigen Schergen der Inquisition. Er erlebte Verfolgung, Flucht und schließlich das Exil.

Er blieb die längste Zeit Hofmaler, er konnte sich mit der Macht arrangieren. Und dennoch ist alles und vor allem seine geistige und humane Position, sein WIDERSTAND in seine Kunst eingegangen. Er war ein Opfer seiner Zeit, ein Zeuge und Richter.

Unbestechlich, wie es seine Porträtkunst bezeugt.

William Turner

Turner gilt nicht nur (mit Recht, scheint mir) als der bedeutendste englische Maler: Er ist einer der geheimnisvollsten und phänomenalsten Maler der Kunstgeschichte schlechthin. Ein malerisches Wunder. Ein Bahnbrecher der modernen Kunst.

Er gehört in die Familie der visionären Maler.

Turner ist Landschafter, und dies zu einer Zeit, da sich in der europäischen Kunst bemerkbar macht, was man als Aufkeimen eines neuzeitlichen Naturgefühls, als Beginn des Naturalismus im strengen Sinn bezeichnet. Seine historische Nachbarschaft ist mit dem Stichwort »Landschaftskunst der Goethezeit« markiert.

Als Turner begann, beherrschte, kurz gesagt, einerseits eine tonige Ideal-Landschafts-Kunst in der Nachfolge Poussins und Lorrains das Landschafts-Fach: eine mythologische, klassizistische Götter-Landschaftsmalerei; anderseits eine die Natur heroisierende Malerei, sagen wir – in der Nachfolge eines Joseph Anton Koch. Klassizismus also – und ein früher Naturalismus, der die Schönheiten von Wasserfällen und Felsen und Viehherden an der Tränke um ihrer selbst willen darzustellen suchte. Dieser Naturalismus ist romantischer Art. Wo die Götter und mythologischen Szenen, die Tempel und die ganze entsprechende Staffage aus der Landschaft ausgeräumt sind; wo also die göttlichen Vorwände wegfallen; wo die Landschaft keine Szenerie mehr zu sein braucht für die Wunschvorstellungen idealer Ordnungen (in welchen sich die als Schäfer verkleidete privilegierte Schicht mit den antiken »Nichtstuern« identifizierte und sich in ihnen heroisierte); wo also die ersten Versuche zu einer »nackten« Naturschau unternommen wurden: Da wurde nun die Natur selber vergöttlicht: Gebirge, Seen, fruchtbares Weideland und fürchterliches Wetterland wurden mit Ahnungen aufgeladen. Oder mit dem Malen vor dem Motiv wurden die eigenen Schauer angesichts einer undomestizierten und entsprechend ungeheuren Naturlandschaft ausgedrückt. (Ein Höhepunkt dieser romantischen Auffassung ist Caspar David Friedrich.) Oder die Landschaft wurde als Schöpfung bewundert, Tiere und Hirten, Landbevölkerung und Vieh wurden als Kreatur bestaunt – in einer sentimentalen Weise. Arkadien im Maßstab des Genrebildes. Die ganze Schar der Entdeckungsreisenden, die Pilger zu den Naturwundern mit ihren Skizzenbüchern, die zeichnenden Reiseliteratur-Verfasser, unter ihnen die über Gotthard- und Brennerpass wallfahrenden Deutschrömer, gehören in diesen Zusammenhang – und natürlich das Heer der im Auftrag arbeitenden Kleinmeister mit ihren »Ansichten«.

Das ist das geistesgeschichtliche Klima, innerhalb welchem Turner seine Sonderlingslaufbahn einschlug. Auch er hat in seinen frühen Bildern (in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts) noch Ideallandschaften mythologischen Einschlags gemalt. Auch er war ein Reisender großen Stils, einer, der die Naturwundergegenden und späteren touristischen Zentren abklopfte, und wie – die Liste seiner Aquarelle umfasst alles, was damals Rang und Namen hatte, vom Rigi und Vierwaldstättersee über den Rheinfall bei Schaffhausen bis zum Nemisee in den Albanerbergen und Venedig; vom Gotthard- und Splügenpass bis zum Bodensee und Heidelberg; die Moselgegend wie die Gegend des Genfersees; Neapel wie Mainz …! Aber es ist bei ihm immer etwas Eigenartiges, spezifisch Turner’sches zu beobachten, das direkt aus seiner »Peinture« spricht. Gemeint ist nicht seine vorzeitige Überwindung der Tonigkeit und nicht der Umstand, dass er bald das freie Licht, ja den Lichtzauber und die reine Farbe gewinnt. Gemeint ist hier das Spuk- und Geisterhafte, etwas Übersinnliches, eine moderne Zwielichtigkeit.

Am radikalsten kommt es zum Durchbruch bei seinen spätesten Wasserstudien. Das ist mehr als Vorwegnahme des Impressionismus in seinen kühnsten Äußerungen, das ist – tachistischer Automatismus. Also im Grunde abstrakte Malerei – um 1840!

Die Malereien, von welchen die Rede ist, haben zwar (gerade noch sichtbar) etwas Wasserfläche, Horizont und Himmel zum Gegenstand, und vielleicht lässt sich noch die Andeutung eines Schiffes ausmachen, aber gemalt wird eigentlich weniger das Sichtbare (zeichnerisch Rekonstruierbares); es ist auch nicht Sinnenrausch und nicht Gefühlsausbruch, weder »Féerie« noch feinstes Destillat einer Erscheinung! Gemalt wird etwas Halluzinatorisches: die seelisch-sinnliche »Lage«, gemalt wird die Skizze einer inneren Verfassung, die sich in einer bestimmten Stimmung erkennt und kristallisiert. Formuliert werden Aufeinanderprall und Wechselwirkung einer psychologischen Situation und einer atmosphärischen Stimmung – und zwar mit einer schlafwandlerischen und seiltänzerischen Präzision.

Das ist zum Teil »hingeschrieben« wie unter dem Diktat von Rauschgift, erregungsseismographisch. Und dann wieder wirkt es wie hingeatmet. Aber es ist realistisch, nur bezieht sich das Realistische ebenso sehr oder mehr auf eine psychische Mechanik als auf eine sichtbare Wirklichkeit. Es ist evokatorische Kunst im Sinne Klees: Sie gibt nicht nur Sichtbares wieder, sie macht sichtbar. Odilon Redon hat bei einem Aspekt dieser Malerei seinen Ausgangspunkt.

Turner ist auf bestürzende Art alleinstehend in seiner Epoche.

Was für ein Mensch war dieser unzeitgemäße Engländer? Ein Londoner Barbierssohn, 1775 geboren und aufgewachsen bei einem Onkel, der Metzger war. Ein Kind kleinbürgerlichster Verhältnisse in einer aristokratischen Welt, ehrgeizig und besessen zugleich. Als Jüngling pinselt er Ansichten für eine graphische Anstalt, aber schon mit 24 Jahren ist er außerordentliches Mitglied der königlichen Akademie. Er ist also erfolgreich, er wird auch schnell wohlhabend; aber die meisten Kritiker und Kollegen nennen seine Arbeit das Produkt eines kranken Auges und einer wütenden Hand.

Menschlich wird er als geiziger, misstrauischer bis misanthropischer Charakter überliefert. Als er sich ein großes Haus leisten konnte, soll er seinen alten Vater als eine Art unbezahlten Hausdiener bei sich aufgenommen haben, und als Magd hielt er sich angeblich die verwachsene Nichte seiner Mätresse – einer jungen Witwe bürgerlicher Herkunft, die ihm zu ihren eigenen Kindern drei weitere gebar, um die er sich aber nicht im Geringsten gekümmert haben soll. Äußerlich wird er als gnomenhafter Typus mit einem großen Kopf geschildert, als unansehnlicher Mensch. Ein Sonderling muss er gewesen sein, äußerst unkommunikativ. Im Alter habe er seine vornehme Kundschaft in einem feuchten, kalten Vorraum, in dem eine Schar schwanzloser Katzen umherhuschte, unbedenklich warten lassen, bis er ihnen die spinnwebgrauen Leinwände vorzeigte. Ein »Fall«! Ein Verrückter, ein manischer Künstler. Außer seinen Bildern scheint er nichts geliebt zu haben. Bei seinem Tod im Jahre 1851 vermachte er seine Bilder der Nation nebst einer Summe von 140 000 Pfund, mit der Bestimmung, seinen Bildern einen würdigen Platz und eine ebensolche Pflege zukommen zu lassen.

Ein Exzentriker höchsten Grades – übrigens war seine Mutter geisteskrank. Er hinterließ 300 Ölgemälde und um die 20 000 Aquarelle.

(1967)

Odilon Redon

Der Franzose Odilon Redon, der generationsmäßig noch zu den Impressionisten zu zählen wäre (er lebte von 1840 bis 1916), ist in seinem Kunstwollen von den Anfängen an einer ihrer entschiedensten Gegner. Dass mit der Netzhaut wesentliche Tatbestände zu fassen wären, muss er von vornherein für aussichtslos gehalten haben.

Er beginnt mit graphischen Arbeiten, Zeichnungen und Lithographien in Schwarz-Weiß, in welchen die Erscheinungswelt völlig negiert ist. In diesen Arbeiten lebt er in einer Dunkelkammerwelt (des Traums, der nächtlichen Vision), die, eigener Symbole voll, dem Betrachter, ohne dass er die Untertitel zu Rate zieht, nie voll betretbar ist. Das »Milieu« dieser Blätter ist das hermetische Dunkel vor der Lichtwerdung, der Abwesenheit, müsste man es von vitalem Standort aus nennen, darin Wesen organischer Bereiche auf solche toter Natur magisch bezogen sind (etwa Figur auf Kugel, Figur auf Rad und Würfel) und die Grenzen zwischen Fauna und Flora, Mensch und Tier in phantastischen Kombinationen übersprungen werden (etwa in der Blume mit dem Auge). Der Betrachter fühlt sich von dieser Welt, die technisch mit unnachahmlicher Differenzierung vorgetragen ist, rasch in Bann gezogen, was das eigentliche Geschehen anbetrifft, jedoch häufig ratlos wie vor einem Bilderrätsel. Was das herrlich schwarze Sfumato an Handlung birgt, sind Illustrationen einer spirituellen Phantasie, die sicher nicht als Kollektivgut (auch nicht des Unterbewussten) anzusprechen ist. Das eine aber ist deutlich: dass hier eine aller biologischen Erkenntnis abholde Persönlichkeit das Sein von ewigen, geistigen, ja geisterhaften Wesenheiten her abhängig zu machen und abzuleiten sucht, und zwar nicht nur spekulativ. Redon ist die Präsenz solcher unvergänglicher, mysteriöser Mächte wirklicher als die sinnlich erfahrbare Welt des Vordergründigen, die seine Zeitgenossen feierten.

Dass ein so gearteter, im Tiefsten von Erkenntnisdrang besessener Künstler sein Weltbild nicht fertig aus sich heraus bezieht, sondern vielerorts in Geschichte, Mythen und unter den Zeitgenossen auf Äußerungen und Vorstellungen verwandter Art anspringt und auch Anleihen macht, ist selbstverständlich. So sind im Werk verschiedene Anknüpfungspunkte ersichtlich. In den frühesten Zeichnungen sind es Heroik und Pathos der Romantik, zu welchen er neigt, ein großes Schlachtenbild zum Beispiel weist deutlich auf Delacroix, aber auch zu einer Stimmungswelt, die an Caspar David Friedrich erinnert. In solchen kleinformatigen Zeichnungen ist die große Leere des Weltalls, schwanger von unsichtbaren Wesenheiten, die Figürchen sind darin verschwindend klein und handlungsunfähig, ganz im Banne des Größeren. Durch ihre passive Hingabe an die Übermacht von Stimmungsgewalten im Raume werden diese für den Betrachter unheimlich gegenwärtig. Schließlich hat der ganz frühe Redon in nachweisbarer Anlehnung an den älteren Freund Rodolphe Bresdin (1822–1885) in wilden Felslandschaften einen Weg phantastischer Naturbeschreibung versucht, der ihn der Kunst Boschs und Bruegels naherückt. In den wenigen Anlehnungen, die im Frühwerk aufzuzeigen sind, ist ersichtlich, worin der junge Künstler bei Vorbildern nach Bestärkung sucht: Für seine Überzeugung, dass das Sein aus übersinnlichen Mächten und Tonarten des Geistigen zu erklären sei, sucht er Verbündung. Wiewohl die späteren Zeichnungen und Lithozyklen den Titeln und Begleittexten nach enger mit Vorbildern zusammenhängen – Goya, Edgar Allan Poe, Baudelaire und Flaubert lauten die Namen solcher Wahlverwandtschaften –, sind sie kaum im Sinne von Illustrationen auf Texte beziehbar. Redon ist nicht der Gehorchende und Wortgetreue, mehr als die Funktion des Auslösens bereits vorgebildeter Gestalten haben die Anreger nicht gehabt. Für all die verschiedenen Blattzyklen, sie haben Titel wie »Dans le rêve«, »Les origines«, »Songes«, »Tentation de St-Antoine«, in welchen es um Visionen wie »Vorhimmel«, »Totenglocke«, »Atem der Sphären«, um Licht- und Dunkelgewalten, um den Engel der Gewissheiten und den Fragerblick, um Situationen des Absoluten also, aber auch um Vor-Seins-Figurationen geht, ist eines wesentlich: dass aller biologischen Kausalität hohngesprochen wird, dass uns eindringlich vorgebracht wird, die wahre Wirklichkeit sei nur in der Schau letzter Begründungen treffbar und solche Schau sei Sache einer Blickart, die mit der Netzhaut nichts zu tun habe. Ein Beispiel: Die Litho »L’œil, comme un ballon bizarre se dirige vers L’INFINI« zeigt über einer noch lichtlosen Landschaft aus Luft und Wasser, welchem im Vordergrund einsame Schilflanzen entragen, eine dunkle Kugel im Aufsteigen, die von einem aufwärts verdrehten Auge fensterartig durchbrochen ist. Diese Kugel, durch die Sehkraft des Auges mit der Schwebefähigkeit eines Ballons begabt, hebt an Seilen ein Menschenhaupt empor, das auf einer Schale liegt. Nicht der Kopf, das verselbständigte Auge ist es, welches die Kraft verleiht, aus den Tiefen der lichtlosen Anfänge aufzusteigen zur Helligkeit des Unendlichen.

Die Malerei der Anfänge, die in geringem Ausmaß neben dem schwarzen, graphischen Schaffen einhergeht, ist im Gegensatz zur Motivwelt des Letzteren der kleinen Landschaft gewidmet. Flüchtig besehen, eine Landschaftskunst im Anschluss an Corot. Doch bald einmal fällt die tiefe Entrückung auf, in welche die anspruchslosen Gegenstände durch eine überbleichende, dämpfende Farbgebung versetzt scheinen. Eine an de Chirico gemahnende Geschehnislosigkeit und Stille macht sich darin breit, durch die unbeweglichen Schatten nämlich, die ein Gässchen, einen Strand monströs zerschneiden können und unheimlich beleben. Eine mediale Zubereitung des Gegenstandes, so scheint uns, wenn wir die Bildchen im Gesamtzusammenhang betrachten, ist da im Gange, die Stille wandelt sich plötzlich in Erwartung: einer Kundgebung tieferer Realität. Bei dem Bäumchen, einem öfter wiederkehrenden Motiv, fällt auf, dass die Verwurzelung ausgelassen ist. Es taucht aus dem Nichts auf, ein Geistergewächs.

Bis 1900 dominiert die Graphik im Schaffen Redons. Danach erst setzt das große malerische Œuvre ein. Was die mehrheitlich schweren Rahmen des 19. Jahrhunderts da mit unangebrachtem Prachtaufwand zusammenhalten, ist im Vergleich dazu der reinste Farbendampf. Im Gegensatz zur Dunstwirkung in den Bildern der Impressionisten wirken Redons nunmehr lichte Zaubereien ungemein geheimnisvoll, in der Zusammenstellung der Töne befremdend und anziehend zugleich: Von Räucherdunst alchemistischer Experimente müsste man exakterweise sprechen, um ihren Charakter von der Naturillusion der Luft- und Wasserreflexmaler abzuheben. Dies entspräche in übertragenem Sinne auch der Wahrheit und ermöglicht vor allem die Wahrung eines strengen Entwicklungszusammenhanges zwischen Graphik und Malerei. Denn zwischen beiden Perioden ist kein Bruch. Wenn im gemalten Strauß, Figurenbild oder Gesicht der Spätzeit der Primat des Farbsfumatos vor der Form zum Äußersten getrieben erscheint, wenn die Ding- oder Naturform sich gleichsam aus querüber ziehenden Schwaden aus farbigen Dämpfen erst zum Antlitz ausscheidet, dann ist dies, vom Frühwerk aus gedacht, nichts anderes als die Materialisierung eines Gegenstandes aus Geistesnebeln, herübergeholt in spiritueller Erhitzung um begreifend begründende Wahrnehmung. Natur aus der Retorte hießen solche Abbilder dann in Übertreibung der angeschlagenen Terminologie. Und tatsächlich findet der Betrachter kaum ein besseres Wort als Geisterbildnis für einen Redon-Strauß oder besser noch jenen Blumentrog, der mit all dem Gewicht des Tongeschirrs auf einer roten Lache vorüberschwimmt und eine Faszinationskraft ausübt, der sich niemand entzieht.

(1958)

Henri Rousseau

In modernen Sammlungen genießen die Bilder Rousseaus einen Grad der Verwöhnung, bei dem man annehmen möchte, das Werk dieses Künstlers sei der Kritik entzogen. Die Legende vom armen naiven Zollbeamten bleibt unangefochten aufrecht. Unsere Erwartung vor der Ausstellung ist deshalb mit Neugier gemischt: Was hat es mit der Naivität als Bildnerkraft auf sich? Ist die in Rousseaus Kunst entfaltete Welt ein Garten der Erholung, eine Freistätte in modernen Museen, wie Volkskunst sie bereiten kann, die sich selbst von Diskussion und Vergleich ausnimmt? Könnte die Unangefochtenheit Rousseaus daher stammen, dass bei ihm eine andere, niedrigere, weniger umfassende Kategorie von Kunstbedürfnis gestillt wird, als es bei großer Malerei der Fall ist?

Henri Rousseau, 1844 in Laval (Département Mayenne) als Klempnerssohn geboren, wurde 1910 in der ihm hartnäckig anhaftenden Rolle des malenden kleinen Zollbeamten beerdigt und ist in der Naiven-Rolle eingesperrt geblieben. Warum? Bloß weil er Autodidakt war? Dabei hatte er den Stand des kleinen Beamten nur bis zu seinem 42. Lebensjahr ausgefüllt und schon lange vorher gemalt, auch im Louvre kopiert. Nach Quittierung des Dienstes widmete er sich neben seiner Malerei der Musik und Dichtkunst; es gibt Kompositionen und Stücke von ihm. Zum Broterwerb erteilte er Unterricht in Zeichnen, Violinspiel und Solfège. Sein frühester Biograph, Wilhelm Uhde, schildert ihn als kindhaften Mann, eine Art reinen Tor, der nichts weiß von den Spielregeln der Welt, ausschließlich das Gute sieht und tut, seiner Kunst mit vollkommener Leidenschaft nachhängt. In seinem Haus gehen sowohl Künstler und Literaten wie einfache Leute des Quartiers ein und aus. Ein allen Ernstes geäußerter Satz wie der: »Wenn ein König einen Krieg beginnen will, soll eine Mutter hingehen und es ihm verbieten«, muss sein Gemüt treffend spiegeln. Alldem steht gegenüber, dass er ohne jede Eitelkeit und unerschütterlich von seinem Künstlerrang überzeugt war. Er stellte alljährlich im Salon des Indépendants aus, wo seine Partizipation beim breiten Publikum unerhörte Heiterkeitserfolge auslöste; ab 1905 beschickte er den Salon d’Automne. Verkauft hat er in bescheidenem Rahmen sowohl an einfache Leute wie an Kenner. Zu den ganz wenigen ernst zu nehmenden Bewunderern zählte neben Uhde der junge Picasso.

Ich meine, die Hilflosigkeit des Publikums im Falle Rousseau ging auf folgenden Widerspruch zurück: Vom Illustrativen im Bilde, dem erzählten Ereignis her, wurde der Betrachter verleitet, das Kunstwollen realistisch einzuschätzen. Natürlich zog er unwillkürlich den Maßstab akademisch-naturalistischer Richtigkeit heran und musste den Stofftiercharakter eines Tiers, die hampelmännische Beschaffenheit einer Figur oder die klischeehaften Gesichtszüge eines Porträtierten als Missgeschick eines Ahnungslosen ansehen. Anderseits konnten die wunderschönen Klänge und das kunstvolle Dekor, in die das Erzählte gebettet war, nicht übersehen werden, so dass die Frage entstand, was wohl daran Zufall sei und was Verdienst. Man spendete der aufgewendeten Arbeit und manchen Teilen der Mache Lob, ließ das Ganze als Phänomen auf sich beruhen.

Die gegenwärtige Pariser Ausstellung vereinigt zwar verhältnismäßig wenig Hauptwerke, doch schafft sie in zwei Punkten sogleich Klarheit: Sie zeigt, dass Rousseaus typische Manier keineswegs Ausdruck nicht zu verhindernder Unfälle, weniger Manifestation gegebener Grenzen ist, sondern im Gegenteil im Lauf einer Entwicklung ausgebildet wird, die vom Pleinairistisch-Impressionistischen zum Naturunähnlichen, steif Akzentuierten führt und damit als Ausprägung eines Kunstwollens, als Reife-Aspekt, als Stilresultat zu sehen ist. Ferner wird abermals offensichtlich, wie sehr diese Kunst von Tradition gesättigt ist. Beide Tatsachen – die der Entwicklung allein schon wie die der Traditionsverankerung – zeugen gegen die Annahme volkskunstartigen Bildens. Umso stärker empfinden wir, wie Rousseau von jeder Wirklichkeitserfahrung unberührte Bildvisionen gestaltet, gleichsam auf direktestem Weg in die Kunst schreitet. Wir bemerken heute weniger das Nichtfunktionelle in seiner Körperauffassung als das Funktionieren seiner Bilder als Bilder.

Rousseaus Weg ist die Erschließung und Begründung einer Welt, in die ihm ekstatische Hingebung Zugang schafft. Zu ihrer Ausformung versteht er souverän einen großen Apparat werbender und auskalkulierter Mittel einzusetzen. Heutige Bewunderung gilt vor allem dem hochdifferenzierten Formenreichtum, dem streng durchgerechneten und durchvariierten vegetativen System, diesem künstlerisch gebändigten Dschungel, dem schlichtweg berückenden Raffinement nahverwandter und doch unendlich abgestufter Töne: mehr Faktoren des Maßes und der Beherrschung als des Ausdrucks. Dabei vernachlässigen wir, uns über die Welt Gedanken zu machen, der wir durch das harmonische Aufgehen der künstlerischen Rechnungen erliegen.

Rousseau selbst hat die Präsenz seiner im Schaffen herangezogenen Welt mitunter so gewaltig empfunden, dass ihm eng wurde. Er musste das Fenster aufreißen. Es ist eine vollständig imaginative Welt, die oft bei scheinbar engster Anlehnung an die naturvertraute Wirklichkeit verwirrend in andere Sphären übergeht. Um ein künstlerisches Kriterium anzuführen, nennen wir sie eine radikale Welt als Antwort auf das unübersehbare, trübe Leben. Ferner sei angemerkt, dass von ihr das Gefühl der Komplettheit, der Totalität und der Bestandkräftigkeit ausgeht.

Am besten lässt sich deutend eindringen, wenn man sich klarmacht, mit welchen Mitteln der Naturbezug getilgt und jede Wirklichkeitsanlehnung unterbunden wird. Vorausnehmende Feststellung: Von der Gesamtwirkung geht nicht der geringste sinnliche, stoffliche Reiz aus. In Rousseaus Dschungel ist kein Duft, kein Laut wahrzunehmen. Im Einzelnen: Die frontal und hieratisch wiedergegebenen Personen, oft gesteigert durch Wiederholung im Nebeneinander, mit den maskenhaft stereotypen Gesichtern, den ungelenken, mannekenhaften Körpern, der rührend-simplen Gestik sind auf plastische Wirkung hin konzipiert, sind modelliert. Im Eindruck aber werden sie vollkommen gewichtslos, schwebend. Formal gesehen, schwinden sie in die Fläche; erlebnismäßig beurteilt, sind sie ohne physische Gegenwart; leer und hohl das Körperliche, ungewiss der räumliche Ort. Das Aufgebot der erscheinungshaften Umschreibung dient nicht dem leiblichen Naherücken. Die Figur oder Gruppe ist Stellvertretung, dies in äußerster Bestimmtheit. Die Präsenz ist diejenige verlassener Puppen, von Hüllen, von Seelenbehältern.

Die Bäume, die Gräser sind herrlich ausgeführt, bald kühne Glasbläsereien, bald schwellende Seidenkörper. Doch sind die Stilisierungen nicht als Naturvereinfachungen lesbar. Sie werden Bildpflanzen, geblasen, gebogen, geschnitten. Wie die Kunstgebilde, die sich im Wasserglas öffnen, leben Rousseau-Pflanzen steife Entfaltung in unsere Imagination hinein, strenge Spannung.

In den Stadtansichten ist Linearperspektive angewandt. Trotz Verjüngung und Führungslinien, trotz Überschneidung und Gegensatz von Groß und Klein schiebt sich das Entfernteste vor das Nächste heran. Räumliche Ambivalenz, örtliche Nichtbehaftbarkeit. Zauberisch weiche Ungewissheit bei eindringlicher Akzentuierung. Das Eindrückliche setzt sich in einem Vorrat von Nichtfestlegbarem durch. Ein geisterhaftes, unwirkliches, oft mit Mond motiviertes Licht kommt dazu, das Körperränder anbleicht. Es wirkt als Selbstilluminierung der Dinge.

In den Farben sind mit Vorliebe Stufen von kühlem Grau, Grün, Blau da, etwa von Rosa sekundiert, Töne, die fast schmerzlich das Unbetretene, das Frische, Unerreichbare oder Versagte zaubern, darin Akzente von Rot und reinen Farben und das sagenhafte Schwarz, das Uhde »ein ergreifendes Mysterium der Seele« nennt und »dem Ton einer bewundernswerten Glocke, die zur Vereinigung mit Gott ruft«, vergleicht. Die Bilder sind dünn gemalt und haben einen Hauchbeschlag über sich, ein trennendes feinstes Mattglas.

Es bedarf keiner Betonung mehr, dass Rousseau bei thematischer Bevorzugung einer geradezu triebhaft üppigen Lage (besonders in den Zyklen mit exotischen Motiven, die 1904 einsetzen und mit Werken wie der »Schlangenbeschwörerin« das Œuvre überwölben) die Wirkung vollständiger Entmaterialisierung erreicht. Der ganze Gegenständlichkeitsaufwand und reißende Schönheitszug scheint zu nichts anderem da, als mit bestimmtester Auszeichnung, mit Figuration, Raum für ein weiter nicht Auszumalendes, letzte Herrlichkeit oder – Leere zu beschwören. Uns will scheinen, als hätte Rousseau mit berückenden Mitteln lauter Stellvertretungen und wunderbar ausgebildete Leerformen, wartende Behälter geschaffen. Was den Realitätsgrad oder den Existenzzustand des Dargestellten betrifft, so scheint er das Sein in einer Art Astralzustand berührt zu haben. Damit ist das Paradiesthema angeschlagen, das mit Recht als spezifisch französisches Kunstmotiv genannt worden ist. Henri Rousseau steht also auch hier in der französischen Tradition.

(1961)