Geovani Martins

Aus dem Schatten

Stories

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner

Suhrkamp

Für Dona Neide, meine Mutter.
Für Érica, meine Lebensgefährtin.
Und für alle meine Brüder und Schwestern.

Inhalt

Kleine Runde

Spirale

Russisches Roulette

Die Sache mit dem Schmetterling

Der Wellensittich und der Affe

Erster Tag

Das Graffiti

Der Trip

Station Padre Miguel

Der Blinde

Das Geheimnis der Siedlung

Freitag

Durch die Favela

Kleine Runde

Für Matheus, Alan und Gleison

Als ich aufwachte, knallte der Lötbrenner schon voll vom Himmel. Ohne Scheiß, es war noch nicht mal neun, und meine Bude schien zu schmelzen. Im Wohnzimmer waren sogar die feuchten Stellen getrocknet. Man sah nur noch die Flecken: die Heilige, die Pistole und den Dinosaurier. Das würde auf jeden Fall so ein Tag werden, wo du rumläufst und der Himmel verschwimmt und alles wabert, als hättest du Hallus. Selbst die Luft aus dem Ventilator war heiß wie der Atem des Teufels, nur damit man mal eine Vorstellung hat.

Auf dem Tisch lagen zwei Real, die mir meine Mutter fürs Brot dagelassen hatte. Noch eins achtzig dazu ergab ein Busticket, dann müsste ich nur auf der Hinfahrt schwarzfahren, was entspannter ist. Die Scheiße war bloß, dass ich schon am Abend davor die ganze Wohnung wegen ein paar Münzen für eine Kippe auf den Kopf gestellt hatte. Am besten, ich investierte das Geld in Brot, organisierte kurz einen Kaffee und fuhr dann mit vollem Bauch an den Strand. Hauptsache nicht weiter in der Hütte braten. Schwarzfahren war natürlich immer ungünstig, der Stress war einfach zu groß.

Ich lief erst bei Vitim vorbei, wir dann zu Poca Telha, und danach weiter zu Tico und Teco. Bis dahin sah es bei allen gleich aus: kein Geld, kein Dope, aber Bock auf Strand. Zum Glück hatte Teco die Nacht davor ein paar Freunden beim Portionieren geholfen und dafür ein bisschen Gras abgestaubt. Ein paar Krümel, die vom Kilo übrig waren. Und dazu noch ein Tütchen Koks. Dummerweise wollte er damit lieber alleine zu Hause rumhängen, statt mit uns zu teilen. Der Typ spinnte. Als ob man bei der Gluthitze pennen konnte. Die anderen meinten, am Strand könnte er viel besser relaxen, bisschen die Mädels auschecken und ab und zu ins Wasser springen, kurz abkühlen, später zu Hause wäre er dann schön schlapp und würde schlafen wie ein Baby. Teco wollte uns dann zwar was zu rauchen mitgeben, selbst aber lieber doch zu Hause bleiben. Zum Glück konnte Vitim ihn überreden, eine Line zu legen, das brachte ihn wenigstens etwas auf Trab. Wahrscheinlich war es genau das, was Teco wollte – jemanden, mit dem er eine Nase ziehen konnte, um nicht allein drauf zu sein. Die Typen sind echt süchtig, ohne Scheiß, so was hab ich noch nicht gesehen. Zehn Uhr morgens, die Sonne knallt wie Sau, und die hauen sich das Zeug in die Nase.

Ich hab noch nie gekokst. Ich weiß noch, wie mein Bruder mal total fertig von der Arbeit nach Hause kam und mit mir draußen auf der Treppe einen durchziehen wollte. Vor allem wollte er reden, von Mann zu Mann, das hab ich gleich gemerkt. Er war so down, weil ein alter Freund von ihm völlig unerwartet gestorben war. Überdosis. Der Typ saß auf seinem Fahrrad, voll druff, wahrscheinlich unterwegs, um noch mehr Koks zu besorgen, und kippt plötzlich um. Kam schon tot unten an. Überdosis. Der Junge war so alt wie mein Bruder, Mann. Zweiundzwanzig! Ich hatte meinen Bruder noch nie so erlebt, die beiden waren echt dicke Freunde gewesen. Deshalb meinte er dann auch, ich soll bloß beim Kiffen bleiben. Kein Koks, Crack, keine Pillen, das ganze Zeug. Noch nicht mal Lança-Perfume schnüffeln durfte ich, davon schmolz einem auf Dauer das Gehirn weg. Mal abgesehen von den Typen, die deswegen am Herzstillstand verreckt waren. Damals schwor ich ihm und mir, niemals Koks zu nehmen. Geschweige denn Crack, ich bin ja nicht bescheuert, das Zeug macht einen doch fertig. Lança-Perfume schnüffeln vielleicht mal auf Baile-Funk-Parties, aber nicht zu viel. Heute weiß ich, dass mein Bruder recht hatte. Am besten, man blieb tatsächlich beim Kiffen. Alkohol ist auch scheiße. An meinem Geburtstag zum Beispiel war ich total blau und hab direkt Mist gebaut. Und warum? Schnaps! Das Schlimme ist, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Eben saß ich noch bei Tico und Teco, am Trinken und Kartenspielen, und als Nächstes wach ich total eingesaut zu Hause auf. Am Tag darauf haben sie mir dann von meinem Totalausfall erzählt. Ich soll die Mädchen auf der Straße belästigt haben, eine hab ich angeblich sogar verfolgt. Was für ein Scheiß. Für so was kann man schon mal richtig auf die Fresse kriegen. Jetzt mal echt.

Der Busfahrer reagierte nicht mal, als unsere Gang hinten reinsprang. Es war wie immer total voll, verschiedenste Leute, Strandstühle, alle am Schwitzen. Nicht zum Aushalten. Das einzig Sinnvolle war abzuschalten und Vitim und Teco dabei zuzugucken, wie sie sich beinah den Kiefer ausrenkten, so druff, wie die waren. Mal im Ernst, ich versteh nicht, warum die Leute sich Drogen reintun, um so drauf zu kommen, da wird man doch voll psycho. So wie an dem Tag, als ich mit Poca Telha bei seiner Tante auf dem Dach saß, um einen durchzuziehen. Plötzlich tauchte Mano de Cinco auf, im Schlepptau zwei Typen aus dem Nordosten, die neu in der Stadt waren. Alter, haben die es sich gegeben, eine Line nach der anderen, die Typen kamen dermaßen hart drauf, solche Augen, und die Kiefer voll am Mahlen. Einer von denen fing dann an, komische Geräusche zu hören, und wir uns natürlich schlappgelacht. Nur dass Mano, der Spinner, das ernst nahm und dachte, die Polizei käme über das Dach vom Nachbarhaus, um sie alle hopszunehmen. Alter, die Typen gleich tierisch Schiss gekriegt und vom Dach runter, das war so witzig! Wie die Jungs sich da unten voll paranoid an der Mauer langdrücken, aus Angst, dass die Bullen sie schnappen.

Tatsächlich kamen sie dann erst eine Woche später, am Tag, als sie Jean gekillt haben. Im Ernst, ich darf da gar nicht dran denken, das war echt ’n guter Junge. Der hat nur ans Fußballspielen gedacht, und das konnte er! Er wäre auf jeden Fall Profi geworden, das sagen die Leute heute noch. Er hatte schon bei Madureira in der Auswahl gespielt, war nur eine Frage der Zeit, bis ein Klub wie Flamengo oder Botafogo ihn verpflichtet hätte. Das wär’s gewesen, dann hätte er ausgesorgt gehabt. Der Scheißkerl fehlt mir, ernsthaft. Sogar bei seiner Beerdigung hat er noch eine coole Nummer abgezogen – nicht eine, sondern mindestens vier Freundinnen standen da weinend neben seiner Mutter am Sarg. Die Bullen sind alles Feiglinge, am Feiertag Razzia machen, wenn die Leute alle auf der Straße sind, ist doch klar, dass die ein Kind treffen. Diese Arschlöcher in Blau gehören alle abgeknallt. Echt jetzt.

Am Strand war dann erst mal gute Stimmung, die Sonne brannte und die Mädels streckten reihenweise ihren kleinen Hintern in die Luft. Ich rannte direkt ins Meer und tauchte wie ein Irrer durch die Wellen. Das Wasser war herrlich. Deswegen verstand ich auch nicht, warum auf einmal alle so eine Fresse zogen, als ich zurückkam. Wie sich rausstellte, hatten uns ein paar Bullen verfolgt und hingen jetzt in der Nähe rum. Der Plan war gewesen, direkt mal einen zu bauen, und jetzt das. Diese Strandpolizei war die Pest. Manchmal rückten die einem so was von auf die Pelle. Ich glaube ja, das sind entweder selber alles totale Kiffer, die uns das Zeug abnehmen und sich reinziehen wollen, oder die verticken es irgendwelchen Papasöhnchen oder Touris, keine Ahnung. Jedenfalls find ich es immer auffällig, wenn die Bullen auf einmal so fleißig unterwegs sind. Bedeutete zumindest nichts Gutes!

Als die Arschlöcher endlich abgezogen waren, tauchte gleich das nächste Problem auf: Keiner hatte Blättchen. Alter, das konnte nicht wahr sein! Lauter Profikiffer, und keine Blättchen am Start!? Danach ging es erst mal eine Ewigkeit darum, wer jetzt loszog, um welche zu besorgen. Niemand wollte einen von den Playboy-Kiffern fragen, diese ganzen arroganten Angeber. Allein guckten sie einen voll ängstlich an, als könnte man sie jeden Moment ausrauben. Aber wenn sie in der großen Gruppe waren, taten sie so, als würden sie einem gleich auf die Fresse hauen. Hardcore.

Am Ende versuchten Tico und Poca Telha ihr Glück, und es kam, wie es kommen musste. Ein paar Meter weiter hingen zwei Typen ab, die ganz klar wie Kiffer aussahen. Seit wir da waren, konnte man das beobachten. Wenn ein Händler vorbeikam, kauften sie ihm was ab, egal ob Mate, Kekse, Açaí oder Eis, alles wurde gekauft. Die mussten einen tierischen Fresskick haben. Ich hatte außerdem ein paar Jungs bemerkt, die die Typen beobachteten und nur darauf warteten, ihnen ihre Sachen zu klauen. Und die beiden da kamen sich wahrscheinlich vor wie in Disneyland. Ganz zu schweigen von den anderen Profis, die auf Strandarbeiter machten und jederzeit zuschlagen konnten. Das regte mich immer am meisten auf. Da saßen die Kerle total ahnungslos rum, und wenn dann Tico und Poca Telha ankamen, um ganz bescheiden nach Blättchen zu fragen, kriegten sie voll die Panik, hielten ihre Rücksäcke fest und guckten sich hektisch nach den Bullen um. Leck mich am Arsch, die verdienten es doch nicht anders, die Arschlöcher. Wenn meine Mutter nicht wäre, hätte ich es denen mal richtig gezeigt, allein aus Wut. Aber da verstand meine Alte echt keinen Spaß. Vor allem, nachdem das mit meinen Bruder passiert war. Jedenfalls meinte sie, falls ich mal im Jugendknast lande, redet sie nie wieder ein Wort mit mir. Was soll man da sagen?

Wenn ich mich nicht drum gekümmert hätte, wären wir ganz schön am Arsch gewesen. Die beiden Jungs drehten noch eine Runde, konnten aber nichts auftreiben. Nur so eine Seidenpapier-Serviette vom Typen von der Getränkebude, der gern mitrauchen wollte. Das Krasse ist, dass keiner mehr Bock auf die Dinger hat, heute müssen es ja »Smoking«-Blättchen sein. Früher drehte man Joints aus Heftseiten oder Brotpapier. Die Leute stellen sich alle so an. Ich bin also hoch zur Promenade und hab direkt den Volltreffer gelandet: ein rotes »Smoking«-Paper. Ein begabter Dreher macht aus dem Teil gleich zwei Joints. Die Jungs waren beeindruckt.

Der Witz war, ich hatte einfach einen Rasta gefragt, der Reggae-Armbänder verkaufte. Cooler Typ, hat mir sogar noch eine Zigarette gegeben. Er meinte, ich solle aufpassen, die Bullen seien zurzeit scheiße drauf. Am Strand war vor kurzem ein Bolivianer umgebracht worden, und nun bewachten sie die Gegend wie die Schießhunde, weil sie Angst hatten, es könnte noch jemand draufgehen, mit Pech sogar ein Anwohner oder ein Touri, und dann wäre die Kacke nämlich richtig am Dampfen. Fette Schlagzeilen, Berichte im Fernsehen, der ganze Mist.

Aber die hatten keine Ahnung, die Bullen. Hier würde niemand mehr sterben. Alles easy, der Mord war eine Abrechnung unter Gangstern, und der Kerl, der den Bolivianer umgebracht hatte, hatte sich für einen Weile vom Strand verzogen. Jedenfalls riet der Rastamann uns, vorsichtig zu sein, falls wir irgendwas vorhätten, worauf ich meinte, dass wir eigentlich echt nur entspannt am Strand liegen und ganz bescheiden einen durchziehen wollten. Er meinte dann noch, ich solle nie meinen Glauben an Gott verlieren. Netter Spinner, dieser Rastamann. Offenbar aus dem Norden, aus Maranhão. Da gäbe es haufenweise Gras, sagte er, jeder rauchte da, er selbst hatte mit zehn angefangen, genau wie ich.

Nach dem Joint lag ich einfach breit im Sand und sah den Möwen am Himmel hinterher. Wenn die Sonne mir direkt in die Augen schien, funkelte alles. Was für ein Trip. Als die Hitze nicht mehr auszuhalten war, tobte ich mich im Wasser aus. Das war das Beste, breit bodysurfen, ich ließ mich von den Wellen bis zum Strand tragen und drehte mich dabei im Wasser um die eigene Achse. Am Ende ging es darum, wer von uns es am längsten unter Wasser aushielt, megaanstrengend! Ich meine, wir waren alles Raucher!

Aber die geilste Nummer passierte zum Schluss, als wir aus dem Wasser kamen. Die beiden kleinen Playboys, die uns keine Blättchen geben wollten, waren gerade dabei, divamäßig rumzuposen und sich zu fotografieren. Als sie nach ihren Sachen guckten, war da nichts mehr. Zwei von den Jungs von vorhin hatten sich die Rucksäcke mit allem drin geschnappt und waren dann irgendwo zwischen den ganzen Leuten untergetaucht. Jetzt standen sie da mit ihren Handys und guckten bescheuert. Und dann kam schon der Nächste vorbei und nahm ihnen auch noch das Handy ab. Selber schuld, die Idioten. Wir lachten uns natürlich tot über die beiden. Als die Spinner sich dann verpissten, hatten sie nur noch ihr Strandtuch. Ich musste an die beiden Jungs denken, die mit ihrer Beute abgehauen waren. Das waren zwar alles geübte kleine Gangster, aber der Rasta hatte uns ja gewarnt, dass der Strand überwacht wurde. Also drückte ich ihnen die Daumen, dass sie nicht den Bullen in die Hände fielen.

Plözlich war es schon fast Abend, und wir bekamen einen Fresskick wie vierzig Bettler. Zeit abzuhauen. Und dann passierte es. Wir waren schon fast an der Bushaltestelle, als wir sahen, wie eine Gruppe von Bullen sich ein paar Jungs vorknöpfte. Die Scheiße war, dass einer der Bullen uns bemerkt hatte und wir nicht mehr umkehren konnten. Andererseits gab es bisher eigentlich keinen Grund zur Sorge, wir hatten ja nichts verbrochen, auch wenn die wahrscheinlich davon ausgingen. Also liefen wir einfach weiter.

Als wir bei den Jungs ankamen, die in einer Reihe mit dem Gesicht zur Wand standen, befahl uns eines der Arschlöcher, stehen zu bleiben. Er meinte, wer kein Geld für den Bus dabeihätte, müsse mit aufs Revier, wer zu viel Geld dabeihätte, auch, und wer keinen Personalausweis hätte, auch. Alter, mein Blut kochte, ohne Scheiß. Ich dachte, ich bin am Arsch. Bis ich meiner Alten erklärt hatte, dass eine Schweinenase keine Steckdose ist, hätte ich schon lange Prügel kassiert.

Ich zögerte keine Sekunde, ich ließ die Flipflops einfach stehen und rannte los. Der Bulle brüllte sofort, er würde schießen. Ich lief weiter und machte mir fast in die Hose. Ich traute mich nicht mal, mich umzudrehen. Mir fiel ein, wie ich früher mit meinem Bruder auf der Straße Fußball gespielt hatte. Er war ein tierisch guter Läufer, immer schneller als ich. Und vor lauter Verzweiflung rannte ich jetzt beinah genauso schnell wie er. Ich hätte heulen können vor Wut. Ich weiß, dass Luiz kein Informant war, mein Bruder hätte niemals jemanden verrraten, er hatte einfach die Arschkarte gezogen und war an Stelle von irgendeinem Feigling gestorben, von denen gab es ja genug auf der Welt. Ich könnte jedes Mal ausrasten deswegen.

Mein ganzer Körper war wie gelähmt. Diesmal war ich dran. Jetzt hatte meine Mutter beide Söhne verloren und würde ganz allein sein. Ich dachte an Seu Tranca Rua, den Schutzgeist meiner Oma, und dann an Jesus, wegen meiner Tanten. Ich weiß echt nicht, wie ich überhaupt noch laufen konnte, Alter, mein Körper fühlte sich komplett blockiert an, ich war total steif. Und überall die Leute, die mich anstarrten. Ich sah mich um, ob das Bullenschwein noch auf mich zielte, aber der kümmerte sich schon wieder um die anderen Jungs. Ich war nochmal davongekommen!

Spirale

Es ging schon früh los. Ich verstand es nicht. Als ich irgendwann anfing, nach der Schule alleine nach Hause zu gehen, fiel es mir auf. Erst bei den Jungs aus der Privatschule, die in derselben Straße lag wie meine Schule. Die Typen zitterten förmlich, wenn meine Gang vorbeikam. Es war seltsam, fast komisch, weil meine Freunde und ich bei uns in der Schule niemandem Angst einjagten. Im Gegenteil, wir mussten dauernd vor den Größeren, Stärkeren, Mutigeren und Brutaleren weglaufen. Wenn ich in meiner Schuluniform durch Gavea lief, kam ich mir vor wie einer dieser Jungs, vor denen ich in der Schule Schiss hatte. Vor allem, wenn ich an der Privatschule vorbeikam oder wenn eine alte Dame ihre Handtasche festhielt und die Straßenseite wechselte, um mir aus dem Weg zu gehen. Manchmal fühlte ich mich gut dabei. Aber wie gesagt, eigentlich verstand ich gar nicht, was los war.

Wer in einer Favela in der Südzone wohnt, kann sich ja angeblich glücklich schätzen, im Vergleich zu anderen in der Nordzone, im Westen oder in der Baixada. Ich verstehe den Gedanken, in gewisser Hinsicht stimmt das wahrscheinlich auch. Allerdings erwähnt kaum jemand, dass, anders als in den anderen Favelas, die Kluft zwischen dem »Hügel«, also den Armenvierteln, und dem »Asphalt« der Südzone, den Straßen, wo die Reichen wohnen, sehr viel tiefer ist. Wenn du durch die engen Gassen läufst, zwischen Unmengen von Rohren die Treppen runtersteigst, über offene Abwasserrinnen springst, den Ratten in die Augen guckst, den Kopf einziehst, um Stromleitungen auszuweichen, siehst, wie alte Kindheitsfreunde schwer bewaffnet durch die Gegend laufen, und dann eine Viertelstunde später vor einem Haus stehst, wo die Gitterzäune an den Wegen mit Zierpflanzen geschmückt sind und du zuschaust, wie Jugendliche privaten Tennisunterricht bekommen, kann das ganz schön hart sein. Alles ist sehr nah und gleichzeitig weit weg. Und je älter wir werden, desto höher werden die Mauern.