Über das Buch

Zum 75. Geburtstag — das neue Buch von Botho Strauß

Ein alter Romancier wird von seinem jungen Verehrer zu Bett gebracht. Er beginnt zu erzählen. Von Paaren und Vereinzelten, von Gesichtern und Gebärden, von Passionen und Enttäuschungen — und wie er so unaufhörlich erzählt, folgt er mehr und mehr »den Spuren ausgestorbener Liebesarten«. Dabei geht es zwischen den Menschen oft beklemmend zu, in manchen Episoden herrscht jenes Fremdheitsgefühl bei »unüberwindlicher Nähe«, wie es zwischen Liebenden plötzlich entsteht. Mit wenigen Strichen entwirft Botho Strauß eine Prosa der vielschichtigen Unbestimmtheit zwischen Mann und Frau. Er ist ein Meister der präzisen Beobachtung und ein melancholischer Erinnerer. Die Nacht ist die Zeit des Erzählers.

BOTHO STRAUSS

zu oft umsonst gelächelt

Carl Hanser Verlag

Manuela

zu Ehren

Alles, was es auf der Welt gibt,

alles, was wir kennen oder kennen sollten,

ist geschickt in den Stoff verwoben,

daraus Mann und Weib gemacht sind.

Ralph Waldo Emerson

Der alte hohe Mann, der Romancier mit dem dünnen rotblonden Haar hatte einen jungen Kollegen zum Abendtisch geladen und war ihm mit viel Zuvorkommenheit begegnet. Schließlich hatte er sich mehrmals bedankt, als der Gast ihn gegen Mitternacht zu Bett brachte. Doch kaum lag er zurückgelehnt auf seinem Kissen, noch in Schuhen und Anzug, traf den jungen Mann ein erster unbekleideter Blick, ein verächtlicher. Der Romancier war seiner müde. Er sagte unvermittelt, indem er ihn ebenso fixierte wie übersah: »Im Alter scheint es unmöglich, einen Irrsinnigen zu porträtieren, ihm irgendwie zu entsprechen, ihm nahezukommen. Ein Wahnsinniger langweilt sich nie. Man ist im Alter bereit zum geschlossenen Vollzug der Langeweile. Aber der Wahnsinn, Ausbund falscher Freiheit, ist nicht mehr interessant.«

Da der Alte ihm schonungsbedürftig schien, wollte sein Gast ihm nicht widersprechen und hatte es still hinzunehmen, daß er ihn ebenfalls für einen betulichen Wahnsinnigen hielt und dementsprechend den Wahnsinn an sich für etwas vollkommen Belangloses.

Neben ihm, wenn er ging, verlief aller seiner Wege entlang eine immergrüne Hecke. Schön gestutztes, künstlich gezähmtes Gesträuch, lebenslange Hecke. In unregelmäßigen Abständen traten Frauen und Männer hervor und nannten sich alte Bekannte. In Wahrheit aber waren sie ihm völlig unbekannt. Menschen, die ihm gewiß nie begegnet waren, jedoch das Gegenteil behaupteten und sich mit Erwähnung untrüglicher Details in Erinnerung brachten. Sie beschworen das Unvergeßliche einer Affäre, einer Unterhaltung oder Reise, die allesamt nach seinem Dafürhalten nie stattgefunden hatten. Und wenn sie verzweifelt um seine Erinnerung flehten, als sei sie das Tor zurück ins Leben für sie, dann gab er nur ein Achselzucken oder ein verlegenes Schmunzeln. Enttäuscht wandten sie sich ab, unglücklich schlichen sie zur Hecke zurück und verschwanden darin.

Latwerge ist Mus, alte Arznei, Leckmittel.

Werg aber ist Abfall vom Werk. Ist Hede, Ausgekämmtes, Fasern von Flachs und Hanf.

Mit Werg noch und noch stopft man die Trichter der Posaunen von Jericho, damit kein Ton mehr herauskommt, der Mauern zum Einsturz bringt. Mit Werg und Werg füllt man die Löcher, die Spalten, die Fugen und Kuhlen. Unablässig und überall verstreicht man die geringsten Vertiefungen, wo immer etwas Stopfmasse, Werg, hineinpaßt. Vielleicht kann man auch sagen: Es ist rückverwirrtes, der Entwirrung entzogenes Werggarn, mit dem man die Gewinde dichtet, die Schiffsplanken kalfatert. Das rückverwirrte Gekämmte! Man findet’s am Schopf des raufenden Wildfangs wie auch am späten Vers des Dichters.

Er ging einen dünnen Hotelflur entlang, stieß eine angelehnte Zimmertür auf, drin fuhr Albert Fenner aus dem Schlaf, Fenner aus Fulda, der gutausgebildete Sohn des Chirurgen, später in Südamerika Anwalt. Tennis-As, jetzt fuhr er entsetzt aus dem Bett. Der Flurwandler suchte ihn zu besänftigen, ich bin’s nur, ein Schulkamerad aus Fulda, der sich gerade an dich erinnert …

So ging er weiter von Zimmer zu Zimmer mit angelehnten Türen, und dort lagen sie alle in tiefster Ruhe, wie nur die Weihe, von ihm vergessen zu sein, sie gewährte. Doch sein Gang durch den Flur, schwach beleuchtet, war die Erinnerung — und er, der Erinnerer, brachte den Vergessenen den Schrecken.

Sein aufrichtigster Gegner war der harte Kämpfer T. Doch seitdem T. unheilbar krank darniederlag, wich sein getreuer Widersacher ihm aus. T. rief an, flehte um ein Gespräch, ein bißchen Streit, ein paar Schläge wie früher, sprach auf den Beantworter. Sein alter Gegner rief nicht zurück.

Dem Kranken sank das Gewicht ihrer Kämpfe, die schmerzlich, gefährlich, großartig gewesen waren, auf die dürre Brust. Sein moralischer Ringpartner war ihm auf einmal ganz nah, war ihm sein letztes Verlangen; er wollte den sehen, mit dem er so lange gerungen, der ihm die schwere Wunde geschlagen hatte. Der aber brachte es nicht über sich, den einst Ebenbürtigen zu besuchen, der von einem heimtückischen Partisan angefallen, vom Knochenfraß so gut wie besiegt worden war.

Wir hier, junger Mann, sind noch einmal ein anderes Ufer. Drüben auf besiedelter Seite stehen die protzigen Villen der Hablichen, liegen verfallen die Quartiere der Habenichtse. Sie halten sich für die getrenntesten aller Welten. Doch zwischen beiden und uns, die mit den Worten handeln, verläuft eine nochmals tiefere Trennung.

Not und Erschrecken angesichts der Zeugschwäche der Worte. Daß sie nichts mehr hervorrufen, keine Farbe, keine Stimmung, keine Verständigung; daß sie keinen Lichthof, keine Resonanz mehr haben. Daß sie nicht mehr taugen zum Vorstoß in Nie-Gesagtes, zum Umsetzen des bisher Gesetzten, daß sie nichts mehr bezeugen, daß ihre Zeugkraft versiegt ist, daß sie weder flirten noch schockieren können. Daß Worte insgesamt ein leeres, vergebliches Schattengetuschel sind.

Narzissen im Regen und ein Fenster im Treppenhaus, von dem man die Straße gesondert in zwei Versionen sah. Einmal so, wie sie gewöhnlich war, nüchtern gegenwärtig. Und einmal in einer virtuellen »historischen« Perspektive. Kolonnen von behelmten Motorradpolizisten waren in beiden, also gegenläufigen Richtungen unterwegs. Sie eskortierten eine nicht abreißende Folge von Aufmärschen, jeweils in Fahrtrichtung, so daß sie den gesamten Straßenverkehr verdrängten, zwar nur den virtuellen, aber man fand sich auch in seinem »realen« Auto im fiktiven Gedränge. In der Mitte der Fahrbahn wechselten Revolutions-Szenen, gab es eine Hinrichtung, umgeben von dichter Volksmenge, schnell geschehen, dann im raschen Wechsel Volksredner, Brände, Lagerkämpfe, Erschießungen, Führerovationen, Attentate — immer begleitet von den rollenden Kolonnen behelmter (heutiger) Polizisten. Das Fenster zum Aufruhr. Aber man konnte sich davon losmachen und ein Stockwerk höher in Fortunas Wohnung treten. Dort gab es ein Fenster zum Wirtschaftswachstum, und es ließ sich das deutsche Gedeihen verfolgen. Stets in Gegenwart jener undatierbaren Glücksfee, flüssige Schlange, die über Küchenkacheln auf eine glatte, schokoladenbraune Tür zumäanderte. Man öffnete ihr, und schon stand sie, Fortuna, hoch aufgerichtetes Reptil, mitten im Umschwung von geschäftlichen Beziehungen, Terminen und Attacken und wollte sofort, was zu tun war, selber tun.

Wenig später geht sie mit breitem Hut und im alten, auf Taille geschnittenen Rock, über den Füßen schwingender gekräuselter Saum, eine steile Pflasterstraße hinauf, neben ihr ein nackter Wasserträger. Ein Mann, der einen Waagebalken mit zwei Schalen auf den Schultern trägt: Alles, was gegeneinander abgewogen wird, das verkörpert dieser Mann und geht zuverlässig neben ihr. Was im Leben an Grauen und Herrlichkeit sich die Waage hält: das trägt für sie dieser Mann. Der Ausgleich ist er. Ohne ihn keine Balance im Wechsel von Tagen und Jahren. Beachten wir doch und spüren es leibhaftig: wie viele Zwischenträger unter den Gängern gehen! Wie viele Gestalten, die wir bisher nur als Gedanken kannten!

Mit ihr geriet jeder Liebhaber zuvörderst in ein Kreuzverhör. Es begann mit Ermittlungen zu seiner Art, sich zu kleiden; es folgten Vorschläge, wie des Neulings Garderobe, Haltung, Wortwahl zu verbessern sei. Sie übergab jedem, bevor er sich intimer nähern durfte, eine selbstverfaßte Schrift, die wider »die billig Lebenden« gerichtet war und den Titel Die Erhebung der Wimper aus dem Morast trug.

Winzige runde Scheinwerfer-Brillanten auf ihrer Armbanduhr beleuchteten ihr rosenfarbenes Gesicht von unten. Folglich verzog es sich, wie früher unterm Rampenlicht beim Bösewicht, deutlich ins Dämonische. Die Anstrahluhr war nur einer ihrer unternehmerischen Einfälle, mit denen sie versuchte, eine weltweite Mode »loszutreten«.

Taucht langsam herauf aus der Unbesonnenheit, kommt wieder zum Vorschein: Umriß der unbekannten Schlafgenossin, spätmorgens am kleinen Holztisch in der Küche, sitzt seitlich zur Kante, das T-Shirt mit der rechten Hand zwischen die übergeschlagenen Beine geklemmt, nach all der Nacht und diesen nichts als üblichen, nicht mehr als dem Üblichen dienenden Anstalten, sich zu öffnen und Offenheit zu bieten, jetzt am Morgen die Geste des Verschließens, Sich-Zusammenziehens und -haltens. Der Ellbogen auf dem Holz, die Hand erhoben mit dem Kaffeebecher und das Haar so lang und lose, krumm gelegen und versträhnt vom Schütteln des Kopfs in der Freude — die Unfrisierte.

»Ich habe mir da was zugezogen«, sagt sie, und tatsächlich blickt sie sterbenselend drein.

Sie meint aber: Ich habe mich gerade unsterblich verliebt.

Das Im-Stande-Kommen-und-Gehen, das An- und Abschwellen von Reife im jungen Gesicht einer von der Liebe Überraschten. Wach und stumpf ist wechselnd der Ausdruck.

Er ist der größte Unordnungsstifter von allen, doch seine neue Begleitung steht ihm in nichts nach. Sie übernachten in der Wohnung von Freunden, und nach wenigen Minuten ist sie in ein Chaos umbrochen. Beim Suchen nach Schlüsseln, Pillen, Handys, Salben, Kreditkarten wird die gute Stube gezaust. Und die Dinge lassen sich nicht lumpen, die Dinge spielen mit. Die Couch bricht zusammen unterm wütenden Sichreinwerfen nach ergebnisloser Suche, der Warhol-Druck rutscht von der Wand, der Rahmen zerbricht, die Gläser torkeln in der Vitrine, ein Sicherheitssystem gibt Alarm, Wasser läuft über im Bad, er reißt die Tür auf und hält die Klinke in der Hand, sie knipst die Nachttischlampe an, die Birne flackert wie wild, das Tischbein knickt ein, die Heizrippe bricht, als er sich anlehnt, aus der Wand … Das Entzweigehen nimmt seinen Lauf.

Alles spielt mit beim Chaos. Das blinde Geschehen, es ist nicht aufzuhalten.

Wo hast du meine Ekzemsalbe versteckt? Ich werde das nicht verstehen. Nie … Nie!

Wir haben einander verloren. Das ist es.

Du verbreitest Chaos, nicht ich.

Es ist doch wie verhext. Die Dinge befinden sich nicht am rechten Fleck.

Nichts, wo Menschen am Werk sind, befindet sich am rechten Fleck. In der gesamten Weltgeschichte gibt’s weltweit ein ständiges Suchen, Verlegen, Vergessen, Verwechseln und Liegenlassen.

Red dich nicht raus mit schlechter Philosophie.

(Es folgt die Pause der Entmutigten.)

Und was jetzt?

Alles Grau in Grau.

Ja. Grau in Grau in Grau in Grau in Grau …

Halt, haltloser Gedanke! riefen nun beide mit einer Stimme. Nicht weiterschweifen! Am Ende plagt uns Ernüchterung, und nichts zum Verlieben können wir je wieder aneinander entdecken.

»Jedesmal, wenn mir auf der Straße der Schnürsenkel aufgeht, laufe ich so lange unordentlich herum, bis eine von diesen Unsinnskreaturen, Männern, es bemerkt, sich bückt und die Sache in Ordnung bringt, wie es sich gehört.«

Gordana, noch in Jugoslawien geboren, lebt seit dreißig Jahren in Dänemark. Die Mutter ging früh schon zurück nach Zagreb. Sie arbeitet für Zeitungen, rezensiert Denker, neue Philosophen, täglich neue, immer schnellere Denker. Raucht hastig und überall, auch gern beim Kochen.

»Ich bin wie ein Haus, in dem seit Jahren nicht aufgeräumt wurde, sondern nur aufgetürmt und umgestellt. Und durch die toten Zeitungen in Stapeln und durch den gepreßten Müll in Stapeln sind ein paar enge nützliche Wege gebahnt.«

Ihr antikommunistischer Eifer war einmal so lebenspendend, daß sie auch jetzt, lange nach dem Tod des Kommunismus, nicht auf ihn verzichten kann. Es überkam sie aus abgelebten Zeiten, Titos Zeiten, noch dieser offenbar wohltuende Zorn auf die Verhältnisse. Gierig scheltend, böse fragend, mit keiner Antwort zufrieden, verzehrt sie sich nach Bestätigung ihrer Meinung, ihres ganzen meinenden Wesens wie nach einer Umarmung. Sie wippt bei Tisch mit der Fußspitze gegen das Hosenbein des Gasts, ohne es zu merken. Im Eifer des Gefechts gegen Personenkult und Ämterwirtschaft macht sie ihren stillen Geliebten, den Dänen, mit kurzen Seitenhieben klein, bemängelt sein geringes Kritikvermögen, indem sie ihm kurz auf den Bizeps greift und Luft auspustet wie ein leckes Ventil. Dabei ist sie alles andere als eine attraktive Frau, ist blaßhäutig und plattbrüstig, und ihre krummen Beine stecken in einer billigen buntgestreiften Hose.

»Dieser Mann ist wie Trockenmilch«, sagt sie plötzlich — und unwillkürlich fühlt sich der Gast gemeint, denn sie wendet den bösen Blick nicht von ihm. Doch würgt sie aus dem Verdeckten ihrem Mitmenschen eins rein. Der wiederum erträgt’s mit verkniffenem Grinsen, weil er mitkriegt, wie sein Freund, der Gast, sich gemeint fühlt und zusammenzuckt. »Dieser Mann ist wie Trockenmilch, man muß erst kräftig was draufschütten, damit er genießbar wird.«

Sie nimmt wohl an, daß die Schmähung des Gutmütigen dem Fremden imponiere oder zumindest ein Vergnügen bereite. Und möchte ablenken von ihrer dürren Gestalt, die sich nur durch guillotinehaftes Urteilfällen aufrecht hält.

»Du bist zu klein.« Der Gast denkt: Warum antworte ich nicht für ihn und erwidere für ihn: »Und du bist zu häßlich«? Das würde den Freund gegen ihn aufbringen, und er würde endlich Gelegenheit haben, sich als Fürsprecher seiner üblen Braut hervorzutun. Also läßt er sie lieber untereinander und spielt den Dritten, den sie brauchen. Sie lieben sich nicht, und doch gibt es da eine fatale Anziehung, ihre unterschiedlichen Charakterschwächen halten sie beieinander.

So bleiben sie gleich unzertrennlich und unvereinbar.

Eines Tages freilich wird er sagen: »Sie gehört nicht zu mir.« Und sie wird sagen: »Er gehört nicht mir.« Ja, sie werden einander verleugnen, wenn einmal der andere, der wirkliche Andere erscheint. Wenn jemand Unverhofftes sie durcheinanderbringt.

»Ich sah ihn immerzu vor sich hin stiefeln, ratlos.«

»Sie hat geraucht, sobald sie die Wohnung betrat; das war die Pest. Vielleicht hätte ich sie anders gesehen — hätte ich sie nicht dauernd riechen müssen.«

Der alte Romancier legte beide Hände aufs Gesicht und ließ die dunklen Augen offen.

Was bleibt mir von der Welt als nur die Episode? Von Mann und Frau, von Gott und Mensch? Die Episode. Es folgt nun eine auf die andere, narratio continua. Ein Wort gibt das andere … Der Personen Schreien, Weinen, Befehlebrüllen, ihr Beten und Schmeicheln, ohne jeden Zusammenhang, nur Stöße, Reize, Sprünge, Wirbel: immerzu auf den Spuren ausgestorbener Liebesarten.

Im äußersten Auswärtigen, das zwei Menschen voneinander erreichen können, teilten sie ein Hotelzimmer in einer fremden Stadt an der Schwarzmeerküste. Der Mann, der sich in Rage redete, stand in den hohen Falten des geschlossenen Vorhangs, dahinter das Fenster mit Meerblick. Er packte rechts und links den Stoff und knüllte ihn in den Fäusten, zog und zerrte in seiner Wut den Fleece, die Fäuste abwärtsstoßend. Die Frau saß im Morgenmantel auf der Bettkante und feilte ihre Fingernägel, den Kopf gesenkt, keine Widerworte. Beim schlimmsten Anwurf, den er brüllte und den der Vorhang dämpfte, faltete sie die nackten Beine im Schoß.

Der Fremdenführer klopfte und trat ins Zimmer, nahm seine Schirmmütze unter den Arm. Die Frau drehte sich aus ihrem festen Bettkantensitz halb zu ihm: »Es ist zehn vor zehn. In einer Stunde fahren wir erst. Ruhen Sie sich solange aus.«

Sie wies ihm den Ankleidestuhl. Er setzte die Mütze wieder auf den Kopf. Der erregte Mann trat erschöpft ans gemeinsame Bett, warf sich im Rücken seiner Frau auf die Matratze und krümmte sich wie ein vorgeburtliches Wesen. Dabei behielt er den Fremdenführer im Blick.

Er murmelte: »Du hast ihm doch nicht erzählt, daß wir —?«

Es war stets die Sollbruchstelle in ihrem Dialog, wenn ein Dritter ins Spiel kam, bei dem er fürchtete, sie könne ihm etwas sehr Vertrauliches mitgeteilt haben. Er brach ab und schwieg.

Sie war nun überzeugt, daß ihr Mann nichts wußte, nichts ahnte. Das konnte für seine Dickfelligkeit sprechen, konnte aber auch seinem Selbstschutz dienen. Dagegen sprachen allerdings seine heftigen Erregungen, in denen tief unten die Angst fiepste.

Sie indessen wurde von ihrem Nicht-Gestehen zermürbt. Ihn nicht zu verletzen, verletzte sie.

Sie fürchtete jetzt sein Weichwerden, verbunden etwa mit dem Wunsch, sich ein wenig bei ihr anlehnen zu dürfen. Um dann tiefer und schwerer anzulehnen, als ihre Seite Halt bot.

Eben noch die zerfleischende Rede gegen sich selbst, gegen einen wie die Chimäre falsch zusammengefügten Mann, Zornkopf mit Demutsherz, dessen Stunde auf der Bühne der Ehe längst rum war, struts and frets his hour upon the stage, spreizt und knirscht sein Stündchen ab … And then is heard no more? Sicher nicht. Dagegen die große selbstlose Kraft seiner Frau, die wieder einmal den Schub seines Selbstekels rechtzeitig abgeblockt hatte. Von diesem Dienst nicht wenig erschöpft, hatte sie sich abgeschirmt gegen seine zweite Rede, die nun, unverschämt genug, ausschließlich gegen sie gerichtet war.

Wie gesagt, die Chimäre hielt ein Auge auf den Fremdenführer, dem beim Einnicken die Schirmmütze vom Kopf rutschte und weiter zu fallen drohte, von den Knien auf die Füße. Plötzlich sprang der Verstummte auf und beeilte sich, die Mütze zu fangen, bevor sie zu Boden fiel. Er nahm sie mit, legte sich wieder im Rücken seiner Frau aufs Bett, schob die Mütze über den Kopf und krümmte sich vorgeburtlich. Die festsitzende Frau war über ihrem Nagelfeilen ins Dösen geraten, der Kopf machte einen Knicks, das Kinn sank aufs Brustbein.

Man hatte sich zu viel Kurzangebundenes gesagt, man war ermüdet. Ein leichter Schlummer zu dritt brachte das viele Festgestellte und das viele Verschwiegene in ein sanftes Durcheinander. Ein freundliches Strudeln, das eine verdachtvertreibende und konfliktlösende Wirkung hatte. Eine knappe Stunde blieb ihnen bis zum Beginn der Tour.

Alles begann damit, daß sie sich eines Tages fragte: Ist er dir eigentlich zuvor- oder ist er dir entgegengekommen? Hat er dir Zuvorkommenheit oder Entgegenkommen gezeigt?

Zuvorkommenheit: er ist dir zuvorgekommen beim Öffnen des Wagenschlags. Er hat dir geholfen beim Einsteigen, bevor du ihn darum bitten mußtest. Entgegenkommen: nur einen kleinen Schritt kam er auf dich zu, indem er ein wenig von seinen plumpen geheimen Wünschen abließ. Oder, falls ich ihn provozierte, etwas mehr davon hinzugab, je nachdem. Und das täglich. Vor der Fahrt in die Firma. Ich in immer neuer entwaffnender Aufmachung.

So daß er jedesmal, wenn ich mich niederließ oder erhob, »Ihre Hinterbacken« nicht nur für sich flüsterte, sondern wohl auch zu hoffen wagte, irgendwann in deren Reichweite zu gelangen. Und so blieb es wechselhaft, Entgegenkommen oder Zuvorkommenheit, hin oder her, Tag für Tag.

Eines Tages aber spürte sie, daß er nicht mehr daran dachte. Anders als die ersten hundert Male, da er ihr zum Sitzen verhalf und, einige Zeit später, aus dem Sitzen heraus. Unter seiner Zuvorkommenheit oder während seines Entgegenkommens bohrten ihm ihre anhänglichen Augen, ihr stummes Danke, ihre ahnenlassende Erscheinung, ob Hosenanzug oder Yogahose, diesen Stachel »Ihre Hinterbacken« ins Hirn.

Dann aber, vielleicht erst nach dem tausendsten Mal, da er ihr entgegenkommend zum Sitzen, aus dem Sitzen heraus verholfen hatte, bekam sie, wie durch den Läuterungs-Blitz, der eine schlechte Gewohnheit durchkreuzt, plötzlich zu wissen, daß dieser Stachel, der ja bloß aus einem schlüpfrigen Wortbild bestand, gebrochen war. Sie sah das geschrumpfte Begehren in seinem Blick. Und meine Hinterbacken? Fragten ihre Augen fast ängstlich, verwirrt, entgeistert, beinahe fassungslos, wie im Rückblick auf etwas Intimes, das auf fremden Polstern liegenblieb.

Ja, hätte er wohl antworten mögen, irgendwann ist die Stunde der Versuchung abgelaufen, dann ist alles vorüber. Ich bin nun jemand, der nicht mehr daran denkt.

Sie schickte ihre beiden Mitarbeiter zurück in die Firma, stellte sich, die üblichen Anstalten machend, neben den Bentley und wartete darauf, daß der Chauffeur, ihr zuvorkommend, den Wagenschlag öffnete. Was auch geschah, wie eh und je.

Die einzige Freundin der Überlegenen ist sie, will’s aber nicht wahrhaben, daß sie, die ewig Unterlegene, längst ein Lebensbestandteil der ewig Überlegenen wurde. Sie weiß es nur unbewußt, indem sie sich von Mal zu Mal migränehafter aufführt, wenn ihr dies und das nicht paßt, nur um ein bißchen was von sich herzumachen, wenn sie mitten im Gespräch aufsteht und, um sich nicht vollkommen unterdrückt zu fühlen, etwas Eigensinniges tut und den Kopf unters fließende Wasser hält und unterm Wasserhahn noch sagt: »Weshalb bekomme ich immer nur bei dir diese furchtbaren Anfälle? Und du? Du sitzt fett in deinem Sessel und lehnst dich zurück.«

Da nun begießt sie die Überlegene zusätzlich mit einem Redeschwall: »Ich lehne? Sieht lehnen so aus? Ich sitze auf der äußersten Kante meines Sessels. Jederzeit bereit, aus allen Wolken zu fallen, wenn ich dir zuhöre. Du bist eine Frau von dreiundfünfzig. Worauf willst du hinaus? Die Jungen, die kommen und die vom Labern nichts wissen wollen, nimm nur Laura, die werden sich niemals so aneinander vergreifen wie du dich an mir. Und meinetwegen auch ich mich an dir. Wo die Menschen sich nicht wirklich brauchen, vergreifen sie sich aneinander!«

Während sie sich, von der Spüle zurück, mit Geschirrtüchern die Haare rubbelt, sagt die ewig Unterlegene: »Laura? Ausgerechnet. Wo Laura auftaucht, ist Gefahr im Verzug. Ihre Unheilschwingen breitet sie zuerst wie Fittiche über dir aus, du glaubst, sie will dich schützen und behüten. Sie wittert, wie kein normales Wesen es vermag, wenn bei einem Menschen Schwäche, Ohnmacht, Zusammenbruch und Ausweglosigkeit sich von ferne anbahnen. Sie wittert es zu einem Zeitpunkt, da es der Betroffene, der bald schon Betroffene, nicht einmal ahnt. Wenn sie ihre Hilfe anbietet, und das tut sie, solange noch alles in bester Ordnung zu sein scheint, steht der Einbruch von etwas Rettungslosem kurz bevor. Hörst du nicht das schlappende Schweben, als hingen nasse Segel im Wind? Das ist ihre Ankunft, Asmodis’ Tochter senkt ihren Flug …«

»Du verkehrst eine hilfsbereite Frau in einen Dämon. Das Böse steckt ausschließlich in deinem verkehrten Blick auf eine gute Freundin!«

»Wir sind ständig von kleineren oder größeren schwarzen Gesandten in nächster Nähe umgeben. Was glaubst du, woher kommt denn die Meute dieser Unglücksbringer, die unser Leben zernagen?«

»Nicht von guten Freundinnen!«

»Wie denn: gute? Die Guten, die hellen, reinen und hilfreichen Geister, die wirken unauffällig. Die drängen sich — das gehört zu ihrem Gutsein — niemals auf. Niemals sitzen sie mit dir am Kamin, unter dem Vorwand, dir einen Preisknüller von Immobilie zu verschaffen, die dich todsicher in voller Fahrt in den Ruin sausen läßt.«

»Wie verhielt es sich wirklich? Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Du warst ja nicht in der Lage, dich kritisch mit ihren Offerten auseinanderzusetzen. Aber Laura war ja auch gar nicht dein eigentlicher Geschäftspartner. Sie wird dir jetzt aus der Klemme helfen, bestimmt …«

»Meine Rede. The helping devil, immer dieselbe, Laura. Hörst du? Gerade ist sie gelandet …«

Du warst doch dabei, damals, lang ist’s her, sag selbst, es hätte alles auch ganz anders kommen können. Die vielen Freunde, wo sind sie? Unmengen von Freunden, über die wir verfügten, und manche Männer waren gute Männer, über die wir verfügten, und sonst nichts. Es wird mir doch niemand zumuten, daß ich für meine goldenen Jahre keinen einzigen … Wer möchte mit reicher reifer Dame den Winter am Meer verbringen? Soll ich eine Annonce aufgeben? Ich bin ja nicht wirklich reich …

Kein Mensch weiß, wie lange dieser Zustand, Leben eigentlich dauert. Du kannst mir nicht antworten: Denk an dein Alter! Es gibt so eine Art Alter, wie du mir’s vorwerfen könntest, heute gar nicht mehr. War einmal. So ein Alter, wie du’s manchmal im Munde führst, ist heute was ganz anderes. Und das hat gar nichts mit mir zu tun, ich persönlich habe einfach das Pech gehabt, daß kein einziger, keiner aus der Unmenge, der ganzen großen Schar, von der ich doch immerhin sagen würde, es war meine glücklichste Zeit, mit denen, da war alles dabei, was das Herz begehrt, und ich hab mir nie eingebildet, daß das ewig so weitergeht, aber nicht einer, kein einziger, damit war nicht zu rechnen.

Jedes ihrer Konzerte, jede Opernpremiere besuchte ihr Verflossener und erster Maestro im Dirigentenfrack, saß in seinem Pult-Gewand inmitten schlechtgekleideter Zuschauer, und wenn ihn jemand fragte: »Sind Sie etwa der Ersatzdirigent des Abends?«, bekam er eine ihn überrumpelnde Antwort: »Quatschen Sie mich nicht von der Seite an, sonst polier ich Ihnen die Fresse.«

In der Pause lief er im Innenhof des Opernhauses unruhig auf und ab, gab erinnerte und bevorstehende Einsätze, schüttelte den Kopf, stemmte die Fäuste in die Hüften — alles in der Vorstellung, von einem bestimmten Garderobenfenster aus gesehen zu werden.

Unbeschreiblicher Jubel, Ochsengebrüll, wenn sie am Schluß vor den Vorhang trat.

Später am Bar-Tresen im Kantinen-Restaurant begrüßte er den jungen Kollegen, den Dirigenten des Abends, mit dem sie seit einigen Jahren zusammen war, der strahlende Sopran und der neue Stabmagier. Ihr Verflossener hatte ihr einst mit der Lucia in Salzburg zu erstem Ruhm verholfen, jedenfalls nahm er für sich in Anspruch, sie »geformt« zu haben. Sie waren ein Paar geworden. Das war jetzt lange her. Seit geraumer Zeit war der Entdecker allerdings ohne festes Engagement, sprang da und dort ein, oft in zweiten Häusern, wenn auch international. Lyon, Melbourne, Athen. Wenn sie auftrat und er die Vorstellung besuchen konnte, trug er immer das alte Gewand, in dem er gesteckt hatte, als er ihren Aufstieg begleitet hatte.