Über das Buch:
New York 1859:
Sie hat keine feste Bleibe und doch kümmert sich Sophie Neumann hingebungsvoll um zwei kleine Waisenkinder. Unter keinen Umständen sollen die beiden das gleiche Schicksal erleiden wie sie, die nach dem Tod ihrer Eltern auch noch von ihren beiden Schwestern verlassen wurde – und das mitten im krisengebeutelten New York der 1850er-Jahre. Doch dann lässt Sophie sich mit den Falschen ein und wird Zeugin eines Mordes.

Um unterzutauchen, besteigt sie zusammen mit ihren beiden Schützlingen einen der vielen Waisenzüge gen Westen. Bald steht Sophie vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens: Sollte sie die Kinder nicht besser in die Obhut einer Pflegefamilie geben? Der Entschluss, den sie trifft, hat ungeahnte Konsequenzen …

Über die Autorin:
Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Kapitel 7

»Ach nein! Komme ich zu spät?« Eine kleine, rundliche Frau trat auf den Kircheneingang zu. Mit betrübter Miene schaute sie den abfahrenden Familien nach.

Sophie konnte nur den Kopf schütteln, da sie kein Wort über die Lippen brachte, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»Ich wusste, dass ich den Jungs heute Abend ihr Essen nicht hätte aufdecken sollen«, seufzte die Frau und strich mit einer rot gefleckten Hand über ihre schwitzende Stirn.

Sie hatte ein leuchtend gelbes Baumwolltuch auf dem Kopf. Einzelne graue Haare hatten sich aus dem Kopftuch gelöst und hingen ihr in die Stirn. Sie war korpulent und hatte eine üppige Brust. Das Kleid, das sie trug, war genauso leuchtend gelb wie ihr Tuch. Der Anblick der Frau erinnerte Sophie an die Sonnenblumen, die sie während der Fahrt durch das Zugfenster gesehen hatte.

»Ach, das ist alles meine Schuld. Ich hätte meine Jungs nicht so sehr bemuttern sollen.«

Sophie war nicht in der Stimmung, mit jemandem zu sprechen. Olivia und Nicholas waren gerade mit fremden Leuten weggefahren. Ihr Herz raste und drängte sie, hinter dem Wagen herzulaufen und die Kinder zurückzuholen.

»Kannst du mir sagen, ob da drinnen noch Waisenkinder sind?«, fragte die Frau, die auf Augenhöhe mit Sophie stand. Da Sophie schlank und zierlich war, musste sie meistens zu anderen hinaufschauen. Aber jetzt blickte sie, ohne den Kopf heben zu müssen, in zwei freundliche braune Augen.

Noch bevor sie etwas antworten konnte, ging die Kirchentür wieder auf und mehrere Kinder liefen an ihr vorbei und hüpften in den Kirchhof. Ein Junge von ungefähr fünf Jahren jagte mit einem schelmischen Grinsen hinter zwei kleineren Jungen her, die aussahen, als wären sie Zwillinge. Aus ihren protestierenden Rufen schloss sie, dass keiner der beiden Lust hatte, Fangen zu spielen.

Zwei weitere Kinder drückten sich an Sophie vorbei, denen eine gestresste Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm folgte. Anna folgte ihnen und ein großer Mann bildete den Abschluss der Gruppe.

Sophie erwachte aus ihrem Schmerz und ihrer Benommenheit. »Anna«, sagte sie und ergriff die Hand ihrer Freundin. Sie wollte Anna nicht auch noch verlieren.

»Ich schätze, ich werde bei den Pierces wohnen«, antwortete Anna und schaute den Kindern nach, die schreiend über den Hof liefen. Aus ihrem hübschen Gesicht sprach eine starke Ungewissheit, als frage sie sich, in was sie sich da hineinmanövriert hatten. Eigentlich hatten sie einen ganz anderen Plan gehabt.

Obwohl Pastor und Mrs Poole ihnen erklärt hatten, was auf sie zukam, waren sie nicht auf die Realität vorbereitet gewesen, die auf die Waisenkinder hier in Illinois wartete.

»Du musst nicht mitgehen«, sagte Sophie.

»Natürlich muss sie mitkommen.« Mr Pierce lächelte Anna freundlich an und trat zu ihr. Er bot ihr seinen Ellbogen an, um sie zum Wagen zu führen. »Wir machen zwar vielleicht einen chaotischen Eindruck, aber so schlimm sind wir gar nicht.«

Mrs Pierce rief den Kindern zu, dass sie hinten in den Wagen klettern sollten. Ihr müdes, angespanntes Gesicht verriet deutlich, dass sie überlastet war.

Als er die Müdigkeit in den Augen seiner Frau sah, verschwand Mr Pierces Lächeln. Er schaute Anna mit offenen, ehrlichen Augen an und schien sie anzuflehen, mit seiner Familie zu kommen. Er war zwar kein attraktiver Mann, aber er strahlte einen jungenhaften Charme aus. »Sie macht im Moment eine schwere Zeit durch. Du bist für uns ein Geschenk des Himmels. Bitte komm doch mit.«

Anna zögerte.

Die Frau mit dem gelben Kopftuch runzelte die Stirn und sah aus, als wollte sie etwas sagen.

»Ich verspreche dir auch, dass ich mich um dich kümmern werde«, sprach Mr Pierce eilig weiter, »und ich werde dafür sorgen, dass niemand deine Hilfe ausnutzt.« Sein Tonfall klang so ehrlich und aufrichtig, dass Sophie beschloss, sein Angebot anzunehmen, falls Anna es ablehnte.

Als spüre sie, dass ihr diese Chance möglicherweise entgleiten könnte, nickte Anna.

Mr Pierces Lächeln kehrte zurück und er hielt ihr wieder den Arm hin. Dieses Mal hakte sich Anna bei ihm unter.

Sophie umarmte ihre Freundin zum Abschied.

»Wie finde ich Anna, wenn ich sie besuchen will?«, rief Sophie der Familie nach.

»Wir wohnen 10 Kilometer nördlich der Stadt an der Huntington County Road«, antwortete Mr Pierce. »Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.«

Sophie nickte, aber der Schmerz in ihrer Kehle löste sich nur ganz wenig. Vielleicht würde doch noch alles gut ausgehen. Olivia und Nicholas waren zusammen und hatten eine nette neue Mutter. Und jetzt hatte auch Anna eine nette Familie gefunden, auch wenn die Pierce-Kinder sehr lebhaft waren und ihre Mutter irgendwie gestresst wirkte. Vielleicht würde Annas Anwesenheit ein wenig Frieden ins Haus bringen und hoffentlich würde sie es genießen, zum ersten Mal seit Jahren ein stabiles, freundliches Zuhause zu haben.

»Es sieht so aus, als wäre hier alles geklärt«, sagte die stämmige Frau, die immer noch bei Sophie stand und dabei zuschaute, wie Mr Pierce Anna auf den Wagensitz hob, statt sie nach hinten zu den Kindern zu schicken. Danach half er seiner Frau hinauf. Sophie rechnete damit, dass die Frau Anna auffordern würde, nach hinten zu klettern, aber sie setzte das Kleinkind auf ihren Schoß und schien sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass Anna neben ihr saß. Mr Pierce schwang sich auf den Wagen und setzte sich neben Anna.

»Ist das deine Freundin?« Die rundliche Frau drehte sich zu Sophie um.

»Ja.« Sophie winkte Anna, als der Wagen aus dem Kirchhof rollte.

»Dann bist du auch eins der Waisenkinder.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Die Stimme der Frau hatte einen interessanten Akzent. Er war nicht irisch, aber er klang ähnlich.

Sophie konnte den Blick nicht von Anna losreißen, die jetzt auf der Straße davonfuhr. Sie spürte, dass die Frau sie interessiert betrachtete. Sie war aber nicht sicher, wie sie auf diese Frage antworten sollte. Als Waise hatte sie sich nie wirklich betrachtet, auch nicht in der Zeit, als sie in Waisenhäusern gewohnt hatte. Obwohl ihre Eltern beide tot waren, war sie alt genug, um für sich selbst zu sorgen. Sie brauchte keine Hilfe oder Aufsicht wie die kleineren Kinder.

Trotzdem brauchte sie einen Platz, wo sie wohnen konnte, vorzugsweise irgendwo in der Nähe von Olivia und Nicholas, damit sie die beiden so oft wie möglich besuchen konnte.

Sophie drehte sich um und öffnete die Kirchentür. Kam sie zu spät, um noch eine Familie hier in Mayfield zu finden? Hatten sich alle, die ein Waisenkind wollten, bereits schon eines ausgesucht?

Sie trat wieder in die Kirche, musste aber feststellen, dass bis auf wenige Familien, die mit den Pooles und dem Ausschuss sprachen und ihre neuen Kinder bei sich hatten, keine Stadtbewohner mehr da waren. Überrascht stellte sie fest, dass immer noch viele Waisenkinder vorne waren. Die meisten waren zu den Kirchenbänken zurückgekehrt und hatten sich gesetzt oder hingelegt. Einige der lebhafteren Jungen rangen in der Nähe der Kanzel miteinander.

»Und mit wem fährst du nach Hause, wenn ich fragen darf?« Die Frau war Sophie in die Kirche gefolgt und ließ ihren Blick über die Kinder wandern, die noch da waren, als suche sie jemand Bestimmten.

Die Pooles hatten recht gehabt: Die ältesten und die jüngsten Kinder hatten als Erste eine neue Familie gefunden. Die älteren Jungen waren fort, wahrscheinlich weil sie kräftig anpacken konnten. Und auch die Kleinen wie Nicholas hatten hier Eltern gefunden, denn sie waren noch nicht verroht oder aufmüpfig wie einige der älteren Kinder, die schon zu lange auf sich allein gestellt waren.

»Ich habe noch kein Zuhause«, antwortete Sophie. »Wen suchen Sie denn?«

»Nun ja.« Die Frau schenkte Sophie jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit. »Ich glaube, ich suche dich.«

»Mich?«

»Ja. Ich bin gekommen, um eine junge Frau zu suchen, und ich habe dich gefunden. Du bist zwar ziemlich klein, aber du bist ein sehr hübsches Mädchen. Du stehst an der Tür, als hättest du auf mich gewartet, obwohl dich normalerweise schon längst jemand mitgenommen hätte. So ist unser Herr im Himmel: Er segnet mich mit seiner Gnade, auch wenn ich sie nicht verdiene.«

Die Worte der Frau ergaben für Sophie nicht viel Sinn. Deshalb zuckte sie nur die Achseln. »Warum brauchen Sie eine junge Frau?«

Obwohl Sophie im Moment keine anderen Möglichkeiten hatte, drängte sie eine innere Stimme, vorsichtig zu sein. In den letzten beiden Jahren hatte sie vorsichtig und wachsam sein müssen. Sie war nicht naiv und wusste, dass junge Frauen oft ausgenutzt wurden. Andererseits sah diese rundliche, mütterliche Frau nicht so aus, als würde sie Sophie an ein Bordell verkaufen wollen. Trotzdem war Sophie wie immer erst einmal misstrauisch.

»Ich will ehrlich zu dir sein«, sagte die Frau und schaute ihr direkt in die Augen. »Ich werde allmählich zu alt, um die ganze Arbeit allein zu schaffen. Ich habe einen Mann und fünf Söhne und komme mit der Arbeit – Kochen, Waschen Nähen – kaum nach. Ich brauche ein zweites Paar Hände, das mir im Haus und vor allem auch im Garten hilft.«

»Sie leben also auf einer Farm?« Das überraschte Sophie nicht. Anscheinend lebten die meisten Menschen in Illinois auf einer Farm.

»Nicht auf irgendeiner Farm, mein Kind«, sagte die Frau mit einem Augenzwinkern. »Auf einer Milchfarm.«

»Was ist eine Milchfarm?«

»Wir haben Kühe, die wir melken. Viele Milchkühe.«

Sophies Neugier war geweckt, aber gleichzeitig musste sie vorsichtig sein. Sie hatte noch nie eine echte Kuh gesehen, geschweige denn eine gemolken. Sollte sie das zugeben? Und wenn sie ehrlich war und die Frau entschied, dass sie doch kein Segen war, der an der Kirchentür auf sie gewartet hatte, und lieber ein anderes Kind mitnahm?

»Ach, ja«, sagte Sophie mit gespieltem Selbstvertrauen. »Ich kann Kühe melken.«

Die Brauen der Frau zogen sich bis zu den Locken auf ihrer Stirn hinauf. »Wirklich?«

Sophie schaute sie so direkt an wie möglich. Man hatte ihr oft genug gesagt, dass sie hübsche Augen habe und andere allein mit ihrem Wimpernaufschlag für sich gewinnen könne.

»Ich habe nicht erwartet, dass eine junge Frau beim Melken hilft. Darum kümmern sich mein Mann und meine Jungs. Aber sie haben bestimmt nichts dagegen, wenn ein hübsches Mädchen wie du ihnen hilft, wenn Not am Mann ist.«

Sophie nickte. »Wie weit ist Ihre Farm von den Ramseys entfernt?«

»Du meinst den Tischler?«

»Sie haben meinen kleinen Bruder und meine kleine Schwester mitgenommen.«

»Ach, mein Liebes.« Die Frau hob eine ihrer roten Hände und strich Sophie über die Wange. Ihre Berührung war sanft und in ihre Augen trat ein Mitgefühl, das so herzlich und zart war, dass Sophies Kehle wie zugeschnürt war. »Ich weiß nicht, wie du es schaffst, dich auf den Beinen zu halten, ohne zusammenzubrechen. Ich weiß, dass ich an deiner Stelle ein jammerndes Häufchen Elend wäre.«

Sophie lächelte, obwohl ihr die Tränen in den Augen brannten. Sie mochte diese Frau.

»Die Ramseys wohnen ein gutes Stück von unserer Farm entfernt, vielleicht acht Kilometer«, sagte die Frau und lächelte sie ebenfalls an, »aber nicht so weit, dass dich nicht einer meiner Jungs zu ihnen fahren könnte, wenn du deinen Bruder und deine Schwester sehen willst.«

Acht Kilometer. Das war ein weiter Weg, aber wenn nötig, konnte sie das zu Fuß schaffen.

»Ich bin Euphemia Duff. Was denkst du? Meinst du, du könntest es mit mir versuchen?«

Ob Sophie es mit ihr versuchte? War es nicht andersherum? War nicht Sophie diejenige, mit der man es erst versuchen musste? Wahrscheinlich wäre Euphemia nicht so erpicht darauf, sie zu sich zu nehmen, wenn sie eine Ahnung von Sophies vielen Sünden und Fehlern hätte. Und sie würde sie ganz bestimmt nicht wollen, wenn Sophie ehrlich zugab, dass sie keine Ahnung von der Arbeit auf einem Bauernhof und in einem Garten hatte. Aber es war bestimmt nicht schwer, das alles zu lernen.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir eine Chance geben würden, Mrs Duff.« Sophie bemühte sich, ihre besten Manieren an den Tag zu legen. Zusammen mit den anderen Dingen, die ihre Eltern sie gelehrt hatten, waren ihre Manieren immer noch irgendwo da. Sie waren zwar vielleicht ein wenig eingestaubt, weil sie so lange nicht mehr benutzt worden waren, aber vollständig vergessen waren sie nicht.

Euphemia ergriff Sophies Hand und drückte sie herzlich. »Du musst Euphemia zu mir sagen. Wenn du Mama sagen willst, habe ich auch nichts dagegen.«

Mama. Dieses Wort hallte in Sophie wider. Sie hatte ihre eigene Mutter Mutti genannt. Aber ihre Mutter war vor über zwei Jahren gestorben und seitdem war in ihrem Leben nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.

Vielleicht hätte sie jetzt endlich die Gelegenheit, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen.

* * *

Die Fahrt im Pferdewagen zur Milchfarm der Duffs dauerte fast eine ganze Stunde. Euphemia redete während der Fahrt praktisch ununterbrochen. Das störte Sophie nicht, denn je weiter sie sich von der Kirche entfernten, umso mehr Fragen quälten sie. Hatte sie für Olivia und Nicholas das Richtige getan? Waren die beiden jetzt glücklicher und sicherer? Wie würde ihr eigenes neues Leben auf einer Milchfarm aussehen?

Euphemia erzählte ihr, dass sie fünf Söhne im Alter von 12 bis 25 Jahren hat. Und alle lebten noch auf dem Hof. Als sie erwähnte, dass sie und ihr Mann, Barclay, seit 20 Jahren verheiratet waren, vermutete Sophie, dass Euphemias erstes Kind aus einer früheren Ehe stammte. Vielleicht war sie verwitwet gewesen, als sie Barclay geheiratet hatte. Aber Euphemia gab ihr keine Erklärung und Sophie fragte nicht nach.

Euphemia erzählte ihr, dass sie aus Schottland in die Staaten gekommen war, als sie ungefähr so alt gewesen war wie Sophie jetzt. Sie war Magd auf einer Farm gewesen und hatte alles gelernt, was man auf einer Milchfarm wissen musste.

Sophie war dankbar, dass ihr Euphemia keine Fragen stellte. Sie war noch nicht bereit dazu, über ihre Vergangenheit zu sprechen oder etwas über ihre derzeitige Situation zu sagen. Anscheinend spürte Euphemia das.

Es war bereits dunkel, als Euphemia die Pferde vor einem Stall zum Stehen brachte. So einen großen Stall hatte Sophie auf ihrer Fahrt in den Westen noch nirgendwo gesehen. Von einem Dachbalken hing eine Laterne herunter. Sophie konnte Pferdeboxen und einen Schweinekober ausmachen.

»Die Kühe sind drüben im anderen Stall.« Euphemia deutete zu einem langen, niedrigen Gebäude, das hinter dem Stall stand und mit einer eingezäunten Wiese verbunden war.

»Riecht es immer so?«

»Wie denn?«, fragte Euphemia und kletterte aus dem Wagen.

»Wie …« Sophie suchte nach einer vorsichtigen Beschreibung für den Geruch nach Tieren und Dung, der schwer in der Luft lag. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ging schon die Hintertür des Hauses auf und Licht fiel auf den Hof zwischen dem Stall und dem Haus und beleuchtete einen Rübenkeller, einen Brunnen und eine Wäscheleine, auf der noch die Wäsche im Wind flatterte.

»Mama«, rief eine Jungenstimme. »Hast du ein Mädchen bekommen?«

Die Umrisse des Jungen waren im Türrahmen zu sehen. Er war stämmig und breitschultrig und hatte dichtes Haar, das in alle Richtungen abstand.

»Fergus Duff, benimm dich!«, rief Euphemia in strengem Ton. Dann sagte sie leise zu Sophie: »Du musst ihnen das nachsehen. Sie sind es nicht gewöhnt, ein Mädchen auf dem Hof zu haben.«

Der Junge zog den Kopf ein, ließ die Tür weit offen stehen und kam ihnen entgegen. Da erschien schon ein anderer Junge im Türrahmen; er war ein wenig größer.

Bevor Sophie die Jungen genauer ansehen konnte, tauchten zwei junge Männer aus dem Schatten des Stalls auf und wurden vom Laternenlicht beschienen.

»Mama«, sagte der stämmigere der beiden und nahm die Zügel der Pferde. Aus seinem Körperbau und seinem selbstsicheren Auftreten schloss Sophie, dass er wesentlich älter war als seine Brüder. In dem schwachen Licht, das aus dem Stall fiel, konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen, aber sie sah, dass er kräftig gebaut war; nicht so rund wie Euphemia, aber doch kräftig.

»Danke, Lyle.« Euphemia stellte sich auf Zehenspitzen und drückte dem jungen Mann einen Kuss auf seine bärtige Wange. »Würdest du Sophie bitte vom Wagen helfen? Das Mädchen ist nach der langen Fahrt bestimmt hundemüde.«

Da sie ihm keine Umstände machen wollte, versuchte Sophie allein auszusteigen, aber bevor sie den Boden erreichte, legten sich breite Hände um ihre Taille und hoben sie nach unten.

»Das mache ich gerne«, sagte der Mann und stellte sie auf den Boden. Der Druck seiner Hände war kräftig, aber trotzdem sanft. Sophie stellte sich darauf ein, dass er sie nicht so schnell wieder loslassen würden, sondern es ausnutzte, sie so nahe neben sich zu haben. Das hätte jeder Mann getan, dem sie bis jetzt begegnet war. Aber er ließ sie sofort wieder los und trat einen Schritt zurück.

»Willkommen auf der Farm«, sagte er mit einem herzlichen Lächeln, das eine große Ähnlichkeit mit seiner Mutter verriet.

»Danke.«

Im Schein des Stalllichts schaute er sie ungeniert an. Aus seinen Augen sprach die Bewunderung, die sie bei Männern gewohnt war.

»Dieser Junge ist mein Lyle«, sagte Euphemia und tätschelte seinen Arm. »Und das hier ist mein Gavin. Und diese beiden sind mein Fergus und mein Alastair.«

Sophie nickte zuerst Lyle und dann Gavin zu, der noch bei der Stalltür stand, und dann den Jungen, die vom Haus herübergekommen waren und sie mit großen Augen anstarrten.

Die nächste Stunde verflog wie im Flug, während Euphemia sie durch die Ställe und durchs Haus führte. Sophie lernte alle kennen bis auf Stuart, den seine Brüder Stu nannten. Euphemia hatte einen kurzen Blick in sein Zimmer geworfen und dann gesagt, dass er bereits schlief.

Als der Rundgang beendet war, führte Euphemia Sophie zu einem Stuhl an dem riesigen Esszimmertisch und setzte ihr einen Teller vor mit gebratenem Hähnchen, selbst gemachten Nudeln, Waffeln und der süßesten Marmelade, die Sophie je gegessen hatte.

Euphemia vertrieb die Jungen mit einem Besen und lachte dabei. Sie erklärte ihnen, dass sie Sophie morgen früh weiter anglotzen könnten. Sophie hatte der Frau versichert, dass sie das nicht störe, aber Euphemia vertrieb die Jungen jedes Mal vergnügt, sobald sie ihren Kopf ins Zimmer steckten.

Als Sophie mit dem Essen fertig war, führte Euphemia sie die schmale Treppe hinauf ins erste Stockwerk, das aus zwei Schlafzimmern bestand: einem großen für Euphemia und Barclay und einem kleineren mit zwei Einzelbetten.

»Dieses Zimmer ist für dich, Mädchen«, erklärte Euphemia. Sie zündete eine Laterne auf dem Säulentisch an, der zwischen den Betten stand, auf denen bunte Quiltdecken lagen. Auf dem Boden war ein gewebter Teppich, der in verschiedenen Gelb-, Rot- und Grüntönen leuchtete. Ein Fenster war geöffnet, und kirschrote Vorhänge flatterten im Wind. Der Stallgeruch wehte herein. Scheinbar war er genauso sehr Teil des Hauses wie die bunten Farben.

»Fühl dich wie zu Hause.« Euphemia öffnete eine Kommode mit Schubladen und holte mehrere Sachen heraus, die nach Jungenunterwäsche aussahen.

Hatte dieses Zimmer ihren Söhnen gehört? Natürlich. Wer sonst hätte es benutzen sollen?

»Ich kann nicht in diesem Zimmer schlafen«, sagte Sophie und ging zur Tür zurück. »Ich schlafe auf dem Küchenboden.«

Euphemia hatte die zweite Schublade schon aufgezogen und holte noch mehr Kleidungsstücke heraus. Bei Sophies Worten hörte sie auf, in der Schublade zu kramen. Ihre Brauen zogen sich über ihren verwirrten Augen hoch. »Auf dem Küchenboden? Warum solltest du dort schlafen wollen?«

»Ich will deinen Söhnen nicht ihr Zimmer wegnehmen. Sie brauchen es eher als ich. Außerdem bin ich es gewohnt, auf dem Boden zu schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Bett geschlafen habe. Selbst in den Heimen habe ich mich auf den Boden gelegt, damit ich bei Olivia und Nicholas sein konnte.«

Euphemia richtete sich auf und schaute Sophie forschend an. In ihre Augen trat etwas, das Sophie nicht erklären konnte, aber es machte sie plötzlich sehr befangen. Hatte sie zu viel gesagt? Sie war keine hilflose Waise. Und sie brauchte ganz gewiss kein Mitleid.

Sie ging zu ihrer Tasche, die jemand in die Ecke gestellt hatte, hob sie auf und wandte sich zur Tür. Sie brauchte nicht bei den Duffs zu bleiben. Sie würde einen anderen Platz finden, wo sie nicht mit Mitleid und hochgezogenen Brauen angesehen wurde.

»Ach, Mädchen«, sagte Euphemia. »Entschuldige bitte. Ich bin manchmal genauso ein Holzklotz wie meine Jungs.«

Sophie verlangsamte ihre Schritte und blieb im Türrahmen stehen. Ein Gefühl von hilfloser Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie wollte aus dem Haus stürmen und Euphemia zeigen, dass sie stark war und in ihrem Leben allein zurechtkam und kein Mitleid brauchte.

Gleichzeitig fühlte sich Sophie gefangen. Sie hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte, und es gab niemanden, der sie haben wollte. Wenn sie jetzt in der Dunkelheit losmarschierte, würde sie nicht einmal den Weg zurück in die Stadt finden. Selbst wenn es ihr irgendwie gelang, dorthin zu kommen, was würde sie dann tun? Wie sollte sie sich in einer so kleinen Stadt verstecken können?

»Ich vergesse manchmal, dass ich früher auch eine Fremde war«, sagte Euphemia leise. »Ich war auch auf mich allein gestellt und musste mir an einem neuen Ort, an dem alles anders war, ein neues Leben aufbauen.«

Bei diesem Geständnis drehte sich Sophie zu ihr herum.

»In jenen ersten Jahren bin ich nicht gut allein zurechtgekommen«, sprach Euphemia weiter und erwiderte Sophies Blick. »Und ich habe viele Fehler gemacht, die ich immer noch bereue. Aber ich danke dem Herrn im Himmel, dass er uns nie so behandelt, wie wir es aufgrund unserer Sünden verdienen.«

Euphemia hatte Fehler gemacht? Diese freundliche Frau hatte gesündigt? Jetzt war es an Sophie, Euphemia forschend anzuschauen. Sie sah die Ehrlichkeit in ihren Augen und etwas, das wie Traurigkeit wirkte. Was hatte Euphemia denn getan, das so viel Traurigkeit auslöste? Sie schien jetzt ein so gutes Leben zu haben. Sie hatte eine erfolgreiche Milchfarm und eine große, liebevolle Familie.

Wenn diese Frau Fehler gemacht hatte, hatte sie gelernt, sich nicht von ihnen bestimmen zu lassen, sondern weiterzugehen. Sophie war nicht sicher, ob sie das konnte. Aber Euphemia würde sie wahrscheinlich verstehen. Vielleicht würde sie sie auch nicht so schnell verurteilen, wie Sophie anfangs gedacht hatte.

Sophie stellte ihre Tasche wieder auf den Boden.

Euphemia atmete tief aus und lächelte dann. »Das ist gut, Mädchen. Solange du unter meinem Dach lebst, wohnst du in diesem Zimmer. Ich will meine Jungs dazu erziehen, gute Männer zu werden, die Frauen respektieren und für sie Opfer bringen. Du lässt mich das doch für meine Jungs machen, oder?«

»Ich werde es versuchen.« Sophie schaute sich noch einmal in dem Zimmer um. In einem so großen Zimmer hatte sie noch nie gewohnt. »Aber irgendwie ist es nicht fair, dass ich das alles für mich habe und sie haben nichts.«

Euphemia lachte. »Ach, Mädchen! Du darfst nicht glauben, dass sie nichts hätten. Fergus und Alastair sind überglücklich, weil sie bei ihren Brüdern im Dachzimmer schlafen dürfen. Sie wollen schon seit Jahren zu ihnen umziehen, und jetzt können sie das endlich.«

Dachzimmer?

Als ahnte sie ihre stumme Frage, deutete Euphemia zur Zimmerdecke hinauf.

Vor Sophies geistigem Auge tauchte das Bild von einem Dachzimmer auf. Eine niedrige, schiefe Decke, kahle Wände, knarrende Bodenbretter. Und ein großes Bett, in dem sich drei kleine Mädchen unter eine dicke Daunendecke kuscheln konnten.

Ihr Zuhause in Deutschland. Die Erinnerungen verblassten. Sie konnte sich an kaum etwas aus jenen Tagen erinnern, aber an das Dachzimmer erinnerte sie sich gut. Sie hatte sich zwischen ihre Schwestern gekuschelt und mit ihnen gekichert, wenn sie sich mit ihren eiskalten Zehen berührt hatten.

»Du solltest jetzt lieber schlafen gehen«, sagte Euphemia und räumte die Schubladen weiter aus. »Morgen wartet ein anstrengender Tag auf uns. Und der Morgen kommt viel zu früh. Das kannst du mir glauben.«

Eine Stunde später lag Sophie im Bett. Die bequeme Matratze und das weiche Kissen waren völlig ungewohnt, nachdem sie so viele Jahre überall da geschlafen hatte, wo sie eben einen Platz hatte finden können. Obwohl sie wusste, dass sie für das Bett, für die sauberen Laken, die nach Flieder rochen, und für den Schutz des Zimmers dankbar sein sollte, liefen ihr stumme Tränen über die Wangen.

Das schlafende Haus war zu leise. Man hörte nur das Surren von Insekten und gelegentlich ein Geräusch von den Tieren im Stall, sonst war alles still. Das nervöse Hämmern ihres Herzschlags und das panische Rasen ihrer Gedanken hallten in der Leere laut wider.

Ihre Arme sehnten sich schmerzlich nach Olivia und Nicholas. Trotz des Chaos in ihrem Leben und der ganzen Umzüge hatte sie sich jeden Abend die Zeit genommen, ihnen eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Wenn die Geschichte zu Ende gewesen war, hatte sie die Kinder umarmt und ihnen einen Gutenachtkuss gegeben. Ohne Ausnahme. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie das jeden Abend gemacht. Bis auf heute.

Sie malte sich aus, wie die beiden in ihrem neuen, fremden Bett lagen und sich aneinanderklammerten. Sie vermissten Sophie bestimmt und weinten, weil sie sich einsam fühlten.

»Warum muss es so sein, Gott?«, flüsterte sie in ihr Kissen hinein, das ihr Schluchzen erstickte, damit niemand im Haus sie hören konnte. »Warum muss immer alles so schwer sein?«

Sie wusste nicht, warum sie jetzt zu Gott rief, nachdem sie so lange vor ihm weggelaufen war. Wahrscheinlich würde er sie sowieso nicht hören. Sie war zu weit weg. Und selbst wenn nicht, warum sollte er ihr zuhören? Sie hatte so oft gesündigt, dass sie ihm inzwischen wahrscheinlich völlig gleichgültig war.

Inmitten ihres Schmerzes hörte sie Euphemias schottischen Akzent, der sanft flüsterte: So ist unser Herr im Himmel: Er segnet mich mit seiner Gnade, auch wenn ich sie nicht verdiene. So ist unser Herr im Himmel: Er segnet mich mit seiner Gnade, auch wenn ich sie nicht verdiene. So ist unser Herr im Himmel: Er segnet mich mit seiner Gnade, auch wenn ich sie nicht verdiene.

Genauso wie der kühle Wind, der an den Vorhängen vorbei ins Zimmer wehte und Sophies aufgeheizte Haut und ihre heißen Tränen angenehm abkühlte, berührten diese Worte ihre verletzte Seele und linderten ihren Schmerz. Der Schmerz war nicht ganz weg. Aber trotzdem war da etwas, das ihr Halt gab. Heute Abend brauchte sie verzweifelt etwas, an das sie sich klammern konnte, weil sie sonst nicht die Kraft hätte weiterzumachen.

Kapitel 8

Sophie räkelte sich und gähnte. Der verlockende Geruch von Speck und Kaffee und etwas Süßem stieg ihr in die Nase. Einen Moment lang atmete sie die köstlichen Düfte ein. Im Halbschlaf glaubte sie, ihren Vater unten in der Küche zu hören.

Als in der Ferne krachend eine Tür ins Schloss fiel, fuhr Sophie aus dem Schlaf hoch und blinzelte. In der Dunkelheit konnte sie das Flattern von Vorhängen und die Umrisse einer geschlossenen Zimmertür sehen, an der ihr Kleid an einem Haken hing. Schlagartig erkannte sie, dass sie nicht in der Bäckerei ihres Vaters in Deutschland war. Sie war auf einer Farm in Illinois und wohnte bei Fremden.

Und Olivia und Nicholas waren fort.

Die Hoffnungslosigkeit, die irgendwie für ein paar Stunden verschwunden gewesen war, während sie geschlafen hatte, befiel sie erneut. Sie befreite ihre Beine aus dem Laken und sprang aus dem Bett. Sie würde gleich in der Früh ihre Kinder holen und mit ihnen nach Chicago fliehen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie das Geld für die Zugfahrt auftreiben sollte, aber das war ihr egal. Sie musste die Kinder zurückholen.

Während sie in ihr Kleid schlüpfte und sich die Haare zu einem Zopf flocht, hörte sie noch mehr Stimmen, das schwere Stapfen von Schritten, das Scheppern von Pfannen. Aber sie konnte an nichts anderes denken als daran, dass sie fliehen und Olivia und Nicholas finden musste. Wie hatte sie nur glauben können, sie könnte ohne die beiden leben? Und wie sollten die Kinder ohne sie überleben können? Sie fühlten sich bestimmt genauso elend und verloren wie sie.

Ihre Finger zitterten nervös, als sie in ihre Schuhe schlüpfte. Das neue Paar Schuhe, das sie von der Children’s Aid Society bekommen hatte, war ihr zu groß und sie bekam darin Blasen, aber trotzdem waren sie viel besser als die alten Schuhe, die sie vorher getragen hatte. Das Leder war ganz abgenutzt und so voller Löcher gewesen, dass sie die Stellen mit Zeitung geflickt hatte.

Nicholas’ Schuhe waren in einem noch schlimmeren Zustand gewesen. Sie waren ihm zu eng gewesen, sodass sie sie vorne aufgeschnitten hatte, um Platz für seine Zehen zu schaffen.

Bei der Erinnerung an den schrecklichen Zustand der Schuhe und an Nicholas’ Freude, als er seine neuen Schuhe bekommen hatte, erlahmten Sophies panische Bewegungen. Sie setzte sich auf die Kante ihres nicht gemachten Betts und starrte die geschlossene Tür an.

Nicholas war in einem neuen Zuhause, in dem er alles hatte, was er brauchte. Er bräuchte sich keine Sorgen mehr zu machen, dass seine Zehen kalt und nass würden, wenn es regnete, oder dass seine Lippen blau würden, weil der Wind so kalt pfiff. Er hatte jetzt feste Schuhe und einen dicken Mantel und wahrscheinlich viele andere warme Kleidungsstücke, mit denen er gut durch den Winter kam.

Sie strich mit der Hand über die glatten, sauberen Laken und die feste Matratze und machte sich bewusst, dass die Kinder wahrscheinlich letzte Nacht auch in richtigen Betten geschlafen hatten. Wenn sie die Kinder von ihrem neuen Zuhause wegholte, müssten sie wieder in leeren Kohlenkisten in dunklen Gassen schlafen. Irgendwo, wo sie nicht von Betrunkenen, Ratten oder Polizisten gestört wurden.

Mit einem Seufzen verwarf Sophie den Gedanken. Sie würde nicht zu den Ramseys gehen und die Kinder heimlich aus dem Haus holen. Nur weil sie die Kinder brauchte, bedeutete das noch lange nicht, dass die Kinder sie genauso brauchten. »Du bist egoistisch«, schalt sie sich. Sie hatte die Kinder bei sich behalten, weil sie die beiden gebraucht hatte. Jetzt musste sie endlich aufhören, an ihre eigenen Wünsche zu denken, und das tun, was für die Kinder das Beste war. Wenn ihr neues Zuhause auch nur halb so nett war wie das von Sophie, hatten sie dort definitiv ein besseres Leben, als sie es in den Heimen oder auf der Straße oder auch in der beengten Wohnung von Annas Schwester gehabt hatten.

Sophie zog sich fertig an. Als sie schließlich ihr Zimmer verließ und die dunkle Treppe hinunterging, drang das freundliche Wortgeplänkel mehrerer Männerstimmen an ihre Ohren. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen. Der einladende Schein des Laternenlichts aus dem Esszimmer fiel auf den Korridor.

Die Morgendämmerung war zwar noch nicht angebrochen, aber sie kam trotzdem zu spät. Sie hätte schon längst aufstehen und Euphemia bei der Arbeit helfen sollen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie diese Arbeit aussah. Euphemia hatte ihr gesagt, dass der Tag sehr früh begann und dass er arbeitsreich sein würde.

Was würde Euphemia jetzt von ihr denken? Die Frau hatte gestern Abend viel Geduld mit ihr gehabt, aber wenn Sophie sie enttäuschte, war es damit bestimmt vorbei.

Sophie eilte durch den Flur und betrat das Esszimmer. Bei ihrem Anblick kehrte schlagartig Stille ein und alle Augen richteten sich auf sie. Barclay Duff saß an der Stirnseite des Tisches. Er wollte gerade einen Schluck aus seiner Kaffeetasse nehmen, aber er erstarrte. Zwei Söhne saßen auf der einen Seite des Tisches und zwei auf der anderen. Sie hatten alle ähnlich runde Gesichter, muskulöse Schultern und einen korpulenten Körperbau. Sie musterten sie, als wäre sie eine Straßenmusikantin, die ihnen gleich etwas vorspielen würde.

Sophie blieb unsicher stehen und wusste nicht, was sie tun sollte.

Als sich das Schweigen in die Länge zog, kam Euphemia mit einem Teller Pfannkuchen aus der Küche. »Guten Morgen, Mädchen«, sagte sie und stellte den Teller auf den Tisch. »Ich wusste sofort, dass du ins Zimmer gekommen bist, weil meine lieben Jungs schlagartig verstummt sind.«

»Guten Morgen«, antwortete Sophie und war erleichtert, die Frau mit ihrem herzlichen Lächeln und ihrem fröhlichen blauen Kleid zu sehen. »Entschuldigung, dass ich zu spät komme. Wie kann ich helfen?«

»Du kannst den letzten Speck in der Pfanne wenden, bevor er anbrennt«, sagte Euphemia mit einem Kopfnicken in Richtung Küche.

Sophie eilte in die Küche. Sie konnte es nicht erwarten, vor den neugierigen Blicken Reißaus zu nehmen.

»In der Speisekammer findest du eine Schürze«, sagte Euphemia und begann, mehrere leere Teller zusammenzustellen.

Als Sophie das Esszimmer verließ, setzten das Geschirrklappern und die Stimmen wieder ein, und sie hörte Euphemia, die ihre Jungs gut gelaunt zurechtwies.

»Man könnte meinen, ihr hättet noch nie ein Mädchen gesehen, so wortkarg wie ihr seid«, sagte sie. »Seid ja nett zu ihr und vergrault sie mir nicht gleich am ersten Tag.«

Sophie blieb unschlüssig in der Küche stehen. An einer Wand stand ein offener Schrank mit Tellern, Schüsseln und Tassen. An der Wand daneben war ein Regal mit Tontöpfen, Dosen und allem Möglichen, das nach Backzutaten und Gewürzen aussah. Ein Arbeitstisch in der Mitte war mit Gemüse beladen, an dem immer noch Erde klebte. Darunter standen Kisten, randvoll mit Gemüse.

Sophie hatte noch nie so viel Gemüse auf einmal gesehen. Sie erkannte Karotten, Tomaten, Bohnen, Zwiebeln und Rüben. Aber sie hatte noch nie Gemüse mit Blättern gesehen. Hatte Euphemia das alles in ihrem Garten geerntet? Wer sollte das alles essen? Hier lag so viel, dass man davon im Speisesaal eines Kinderheims alle Teller füllen könnte.

Sie pfiff leise. Was machte Euphemia nur mit so viel Gemüse, wenn auf den Straßen so viele Kinder Hunger litten?

Sophie erinnerte sich daran, wie oft Nicholas, Olivia und sie nichts zu essen gehabt hatten. Das war auch in den Heimen vorgekommen, wo es nie genug für alle gegeben hatte und ganz gewiss kein frisches Gemüse wie hier. Selbst jetzt knurrte Sophies Magen vor Hunger. Sie hatte gelernt, dieses Gefühl zu ignorieren, aber jetzt dachte sie daran, sich etwas davon zu nehmen.

Ohne nachzudenken, steckte sie eine Tomate in ihre Rocktasche. Dann nahm sie eine Handvoll Bohnen und begann, sie in ihre andere Tasche zu stopfen. Als sie Euphemia im Esszimmer lachen hörte, brach Sophie abrupt ab. »Was machst du denn da, Sophie Neumann?«, schalt sie sich leise.

Euphemia war seit dem Moment, in dem sie sich das erste Mal begegnet waren, nur freundlich zu ihr gewesen. Und sie zahlte es der Frau zurück, indem sie ihr Lebensmittel stahl? Und aus welchem Grund? Noch nie hatte sie für sich selbst Essen gestohlen. Immer nur für Olivia und Nicholas. Nur für die beiden.

Aber die beiden brauchten jetzt keine Tomaten und keine Bohnen. Wenn Mrs Ramseys Küche auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Euphemias Küche hatte, hatte Mrs Ramsey Olivia und Nicholas wahrscheinlich mit reichlich frischem Essen versorgt.

Sophie leerte ihre Taschen wieder, aber die Schuldgefühle, die sie jetzt quälend an die vielen Male erinnerten, als sie Straßenhändler bestohlen oder Lebensmittel in Geschäften direkt aus dem Regal geklaut hatte, konnte sie nicht so leicht abschütteln. War Diebstahl so sehr ein Teil ihres Lebens geworden, dass sie das jetzt auch machte, obwohl sie die Sachen gar nicht mehr brauchte?

Neben dem Fenster stand ein großer schwarzer Ofen mit einem riesigen Rohr, das der Länge nach die Wand hinauflief und oben in der Decke verschwand. Der Ofen strahlte eine so große Wärme ab, dass die Küche selbst an diesem kühlen Morgen aufgeheizt wurde. Töpfe und Pfannen standen auf der Ofenplatte. Aus einer Pfanne stieg Rauch auf.

War der Speck schon angebrannt?

»Oh, nein!«, stöhnte Sophie und trat schnell an den Ofen. Tatsächlich waren in einer großen, gusseisernen Pfanne Speckscheiben, die verrunzelt und verkohlt in spritzendem Fett lagen. Sie packte den langen Griff und wollte die Pfanne vom Ofen nehmen. Aber als ihre Finger das Eisen berührten, verbrannte sie sich die Hand. Mit einem lauten Schmerzensschrei ließ sie die Pfanne los.

Die Pfanne fiel scheppernd zu Boden. Das heiße Fett spritzte auf Sophies Rock, auf ihre Schuhe und auf den Boden. Sie sprang zurück und stieß einen weiteren Schrei aus, diesmal jedoch vor Schreck.

Euphemia stürmte mit besorgter Miene in die Küche. »Was ist passiert, Mädchen?«

Sophie senkte den Blick auf die Pfanne und die verkohlten Speckstreifen, die auf dem Boden lagen, und war versucht zu lügen. Sie wollte irgendeine Ausrede erfinden, warum sie es nicht geschafft hatte, die eine Aufgabe zu erledigen, die ihr Euphemia aufgetragen hatte.

Stattdessen starrte sie das Chaos wortlos an und wartete darauf, dass Euphemia schimpfte, weil sie nicht auf den Speck aufgepasst hatte, oder dass sie zumindest wütend brummen würde, wie ungeschickt sie sei.

»Ach!« Euphemia eilte zu Sophie.

Als die Frau die Hand ausstreckte, zuckte Sophie zusammen. Sie wusste, dass sie es verdiente, an den Ohren gezogen zu werden oder eine Ohrfeige zu bekommen. Sie war überrascht, als Euphemia ihre Hand nahm, sie umdrehte und die roten Flecken, die sich auf ihrer Handfläche bildeten, untersuchte. »Du hast dich verbrannt, Mädchen. Wir müssen ein kühles Tuch auf deine Haut legen, bevor sich Blasen bilden.«

Euphemia zog Sophie zu einer Wasserschüssel neben der Hintertür, tauchte ein Tuch hinein und drückte es auf Sophies Hand. Bei der brennenden Berührung atmete Sophie scharf ein.

»Es dauert ein paar Minuten, bis das kühle Wasser wirkt, aber tauch das Tuch einfach immer wieder ins Wasser und leg es dann auf deine Hand.«

»Danke«, brachte Sophie mühsam über die Lippen und versuchte erneut, sich daran zu erinnern, wie man höflich ist. Sie war es schon so lange nicht mehr gewesen. »Es tut mir leid, dass ich alles auf den Boden geworfen habe und der Speck verbrannt ist.«

Euphemia tat ihre Entschuldigung mit einem Kopfschütteln ab. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Das war meine Schuld. Ich hätte es besser wissen müssen, als dich gleich am ersten Tag zu einer heißen Pfanne zu schicken.«

Die Geduld, mit der diese Frau sie behandelte, war atemberaubend. Sie konnte es kaum glauben. Aber sicher wäre sie bald erschöpft. Wenn diese Frau sie erst richtig kennengelernt hatte, hätte sie bestimmt bald genug von Sophies Fehlern und von ihrer Unfähigkeit und würde sie irgendwann so bestrafen, wie sie es verdiente. So war es immer.

Euphemia warf einen Blick zur Tür. Als sie ihre vier Söhne sah, die sich im Türrahmen drängten und Sophie anstarrten, verscheuchte sie sie mit einem Handtuch. »Verschwindet. Schnell. Und esst euer Frühstück auf. Sonst könnte es sein, dass ihr Bohnen pulen müsst.«

Als sie das Wort Bohnen hörten, verschwanden die Jungen schneller als ein Bettler, der einen Straßenhändler bestohlen hatte. Euphemia schmunzelte, nahm ein Tuch und hob damit die Pfanne vom Boden auf.

»Lektion eins, Mädchen.« Sie stellte die Pfanne wieder auf den Ofen. »Heiße Pfannen fasst man nur an, wenn man ein Handtuch in der Hand hat.«

»Lektion gelernt.« Sophie tauchte das Tuch wieder in die Schüssel und legte es dann auf ihre brennende Handfläche. »Ich muss zugeben, dass ich schon lange nicht mehr in einer Küche war. Das letzte Mal, als mein Vater gestorben ist.«

Euphemia kratzte das fest werdende Fett mit einem hölzernen Pfannenwender vom Boden.

»Er war Bäcker«, sagte Sophie in der Hoffnung, dass das zu ihren Gunsten sprechen würde, obwohl sie damals noch so klein gewesen war, dass sie ihm nicht hatte helfen können oder irgendetwas von ihm gelernt hätte. »Wenn du willst, kann ich einen Teil des Backens übernehmen.«

Als sie diese Worte ausgesprochen hatte, hätte sich Sophie am liebsten mit Euphemias Pfannenwender an den Kopf geschlagen. Was sagte sie da? Ihre Kocherfahrung in Mollies Küche beschränkte sich auf angebrannten Brei, den es fast jeden Tag gegeben hatte.

Zum Glück ging Euphemia nicht auf ihr Angebot ein. Stattdessen zeigte sie Sophie, wie man die Pfannen sauber macht und die Teller abwischt. Sie warf alle Essensreste in einen Eimer neben der Hintertür. Den Inhalt dieses Eimers bekamen später die Schweine. Als die Männer mit dem Frühstück fertig waren, war die Sonne bereits aufgegangen, und sie verließen das Haus genauso geräuschvoll, wie sie es betreten hatten.

Euphemia wies Sophie an, das Geschirr zu spülen, während sie Stuart einen Teller mit seinem Frühstück brachte. Als Sophie fertig war, versuchte sie, den Rest der Küche und des Esszimmers, so gut sie konnte, sauber zu machen. Sie wartete darauf, dass Euphemia zurückkam und ihr sagte, was sie als Nächstes tun sollte.

Sophie betrachtete das große Zimmer mit dem soliden Eichentisch, den Stühlen, dem Geschirrschrank und dem Sideboard. Obwohl die Glastüren des Geschirrschranks staubig waren, hatte sie noch nie so schöne Tontöpfe und Teller gesehen.

Die 2-Zimmer-Wohnung, in der sie zuletzt gewohnt hatte, würde mit Leichtigkeit in ein einziges Zimmer im Haus der Duffs passen. Das Esszimmer allein enthielt mehr Möbel und Geschirr, als ihre Familie je besessen hatte, soweit sie sich erinnern konnte.

Als sie aus der Richtung von Stuarts Zimmer am anderen Ende des Flurs einen Schrei hörte, ließ Sophie den Lappen auf dem Tisch liegen und ging, um nachzusehen, ob etwas passiert war.

Die Zimmertür war einen Spaltbreit offen. Als ein weiterer Schrei ertönte, der eindeutig von einem Mann kam, warf Sophie einen Blick ins Zimmer. Die Vorhänge waren noch zugezogen und das Zimmer in Dunkelheit gehüllt. Sie konnte nur die Umrisse von Euphemia erkennen, die neben dem Bett stand und einem Mann eine Tasse an die Lippen führte. Er saß aufrecht im Bett, an mehrere Kissen gestützt.

»Du musst noch ein bisschen mehr trinken«, sagte Euphemia bestimmt. »Du weißt genau, dass ich nicht nachgebe.«

»Lass mich einfach in Ruhe.«

»Mach den Mund auf.«

»Nein. Ich habe dir doch gesagt, dass ich deine Hilfe nicht will.«

»Ich gebe dich nicht auf, Stuart«, sagte Euphemia hartnäckig. »Und du solltest dich auch nicht aufgeben.«

Der Mann im Bett drehte den Kopf von Euphemia weg und starrte finster die Wand an.

Euphemia verfolgte ihn hartnäckig mit der Tasse.

Mit einem Schimpfwort, das genauso schlimm war wie die Wörter, die Sophie auf den Straßen in New York gehört hatte, schlug Stuart nach der Tasse. Sie flog Euphemia aus der Hand und knallte gegen die Wand. Die Flüssigkeit überzog die Stelle mit einem nassen, spinnennetzartigen Fleck.

Das Krachen erschreckte Sophie, und sie stieß versehentlich gegen die Tür, die daraufhin ein Stück weiter aufging. Euphemia und Stuart drehten sich zu ihr herum. Eigentlich wollte Sophie schnell zur Seite springen, um nicht gesehen zu werden, aber ihre Neugier war zu groß. Was war mit Stuart? Warum lag er im Bett? Und warum gab er sich selbst auf?

Sie schob die Tür weiter auf. Dadurch erhellte das Tageslicht das Zimmer und fiel auf Stuart. Ein dichter Bart bedeckte den größten Teil seines Gesichts. Sein Haar war viel zu lang, seine Wangen eingefallen und seine Augen glasig. Er war spindeldürr und krank. Das war unübersehbar. Und er litt.

Der saure Geruch, der Sophie aus dem Zimmer entgegenschlug, erinnerte sie an die Toiletten, Flure und Treppenhäuser in den Mietskasernen, in denen normalerweise aller möglicher Unrat lag.