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Selbstkritik
macht stark

Wie wir vertrauenswürdiger, leistungsfähiger und überzeugender werden

von Matthias Nöllke

Über den Autor

Matthias Nöllke ist ein Autor mit einer ungewöhnlichen Spannbreite. So schreibt er Bücher über Management und Kommunikation: Über Schlagfertigkeit, Vertrauen, Machtspiele, Psychologie für Führungskräfte und Managementbionik (»Was Unternehmen und Führungskräfte von der Natur lernen können«). Zweiter Schwerpunkt: Bücher für Vermieter und Mieter. Dritter Schwerpunkt: Was sonst noch übrig bleibt. Zum Beispiel, wie man gut durchs Leben kommt, ohne sich angestrengt auf Glück und Erfolg programmieren zu müssen (»Der gut gelaunte Pessimist«).

Über einige seiner Themen hält er Vorträge. Und er macht Hörfunksendungen für den Bayerischen Rundfunk:»Menschenaffen. Wie die Tiere sprechen lernten«,»Einstürzende Sandhaufen. Die einfachen Gesetze der Katastrophen«,»Träume von der Unsterblichkeit«,»Über Intelligenz. Warum wir alle so klug sein wollen«und viele mehr.

Seine Promotion finanzierte er sich damit, dass er die deutschen Dialogbücher für die»Simpsons«schrieb (die ersten drei Staffeln).

Inhalt

Über das Vergnügen, selbstkritisch zu sein

Der Zaubertrank, der uns dumm macht

Warum Sie nicht auf den»inneren Kritiker«hören sollten

Selbstkritik heißt sich selbst beurteilen

Selbstzweifel sind willkommen

Nützliche Illusionen

Sind Sie überkritisch?

Das Bemühen um innere Wahrhaftigkeit

Im Selbstoptimierungswahn

Aufgeben ist immer eine Option

Gehen Sie die Sache spielerisch an

Zielfahndung: Was will ich?

Wo kommen die Ziele her?

Ziellos und entspannt

Wir geben unserem Handeln eine Richtung

Wünsche und Wunschträume

Wie aus Wünschen Ziele werden

Harte Ziele, weiche Ziele

Soll ich meine Ziele möglichst hochstecken?

Die Zeitmarke

Ziele ordnen

Die Hindernisse in den Blick nehmen

Sich einem Ziel ganz verschreiben

Die Wonnen der Abschweifung

Bewegliche Ziele

Überprüfen Sie Ihre Ziele

Ins Handeln kommen: Wie fange ich an?

Probieren Sie es erst mal aus

An Höhe gewinnen

Machen Sie einen Plan

Die Wenn-dann-Regeln

Das adaptive Unbewusste nutzen

Trauen Sie sich einfach

Erste Analyse: Wie war ich?

Die Schwierigkeit, sich selbst zu beurteilen

Wir halten uns an die Reaktion der anderen

Einen Schritt zurücktreten

Glück und Unzufriedenheit

Den strengen Blick schärfen

Auf den eigenen Fehlern herumreiten

Die eigene Leistung anerkennen

Die richtigen Ansprüche an uns selbst stellen

Der Preis des Perfektionisten

Sich selbst niemals herunterputzen

Seitenwechsel: Wie sehen es die anderen?

Dem Gegenüber Bedeutung geben

Freunde fragen

Sich bei den Beteiligten umhören

Einseitigkeit, Verdrehungen, Schuldzuweisungen

Was sagen die, die Sie nicht mögen?

Experten und neutrale Beobachter

Am Ende zählt Ihr eigenes Urteil

Selbstermutigung: Die Sonnenseite der Selbstkritik

Verordnen Sie sich eine persönliche Schonzeit

Selbstanklagen zerpflücken

Die»Alle andern«-Hypothese

An positive Erfahrungen anknüpfen

Weibliche und männliche Selbstkritik

Erfolge genießen und bewahren

Unter Feuer: Sich mit Selbstkritik behaupten

Die zweite Variante der Selbstkritik

Fehler zugeben stärkt Ihre Position

Lassen Sie sich nicht zum Schuldabladeplatz machen

Unter Feuer? – Nachfragen!

Dem Gegenüber seine Meinung lassen

Niemals vorauseilend Selbstkritik üben

Zeigen Sie sich offen für Kritik

Positionswechsel

Überbieten Sie Ihre Kritiker

Sie dürfen sich niemals selbst demontieren

In den Fängen der Mikropolitik

Unsere Leichen leben noch

Mit Selbstkritik Vertrauen aufbauen

Unter Kompetenzverdacht

Selbstkritik lässt Sie kompetenter erscheinen

Wohlwollende Selbstkritik

Das Bemühen um Integrität

Unsere naturgegebene Doppelmoral

Vertrauen wegen Schwächen

Vertrauen zurückgewinnen

Wie böse sind wir eigentlich?

Böse Taten, böse Menschen

Sich nicht an Regeln halten

Ein Bündel voller Ausreden

Das Urteil der anderen

Ohne bewusste Absicht

Mit den besten Absichten

Sich gegenüber der Konkurrenz behaupten

Die Guten sind die Bösen

Bodenhaftung behalten

Vorsicht, Erfolg!

Auch Halbgötter machen banale Fehler

Machtgefühle dämpfen

Das Ende der Rechthaberei

Literatur

Über das Vergnügen, selbstkritisch zu sein

Sind Sie selbstkritisch? Ein wenig streng mit sich? Oder gehören Sie eher zu den Menschen, die sich alles durchgehen lassen, weil sie überzeugt sind: Wenn etwas schiefgeht, dann kann das schon mal nicht an mir gelegen haben? Gewinner kennen keine Selbstzweifel, meinen Sie. Negative Gedanken bringen Sie zum Scheitern. Dann werden Sie in diesem Buch erfahren, dass diese Einstellung Ihnen keineswegs den Weg zum Erfolg pflastert, sondern dass Sie sich damit zuverlässig ins Aus schießen.

Egal, was Sie erreichen wollen: Ob Sie beruflich vorankommen möchten, ein eigenes Geschäft gründen, ein Musikinstrument erlernen oder in einem Vortrag Ihre Zuhörer mitreißen wollen. Ohne Selbstkritik geht es nicht. Oder es geht sehr viel mühsamer. Michael Rossié, einer der profiliertesten Sprechertrainer in Deutschland, der Vorstände, Redner und Prominente aller Klassen coacht, hat die Erfahrung gemacht: Wer selbstkritisch ist, kommt schneller voran. Wer sich vor allem Lob abholen möchte, bei dem hält sich der Lerneffekt in Grenzen.»Du musst fähig sein, dich selber in Frage zu stellen«, sagt Rossié.»Und du musst fähig sein, nüchtern zu überlegen: Wo kann ich noch etwas verbessern? Wie kann ich noch etwas verbessern?«

Selbstkritik macht stark. Auch wenn sie nicht gerade schmeichelhaft ausfällt und uns erst einmal zu schaffen macht. Ja, oft genug hilft sie uns gerade dann. Sie nimmt uns die bequemen Illusionen. Sie akzeptiert keine Ausreden. Sie fordert, dass wir ehrlich mit uns umgehen. Fehler nicht kleinreden, Schwächen nicht ignorieren, aber eben auch nicht dramatisieren. Und Selbstkritik bedeutet natürlich auch: Das anzuerkennen, was gut gelaufen ist, wo wir Fortschritte gemacht haben, was uns selbst nun klargeworden ist.

Darüber hinaus macht uns Selbstkritik vertrauenswürdiger. Ganz einfach, weil wir uns realistischer einschätzen, weil wir uns und auch anderen nichts vormachen. Wer sich selbst mit einer gewissen Skepsis betrachtet, neigt nicht dazu, überzogene Erwartungen zu wecken. Erwartungen, die fast immer enttäuscht werden. Früher oder später. Das kostet Vertrauen.

Und schließlich sorgt Selbstkritik auch dafür, dass wir überzeugender auftreten. Nicht in dem Sinne, dass wir die andern besser manipulieren. Sondern dass wir unseren eigenen Standpunkt hinterfragen und ihn nicht den andern aufzwingen. Stattdessen sind wir offen für die Ansichten der andern, ihre Einwände und Kritik. Vielleicht sehen sie manches ja genauer als wir. Hören wir ihnen zu und setzen uns mit ihnen auseinander. Das kommt unseren Argumenten zugute.

Gerade diejenigen, die skeptisch sind, und diejenigen, die sich besonders gut auskennen, überzeugen Sie viel eher, wenn erkennbar wird: Sie machen es sich nicht einfach. Sie gehen besonders kritisch mit sich um. Sie haben über die Einwände nachgedacht und nehmen sie ernst. Und bei denjenigen, die Ihren Standpunkt nicht teilen, die womöglich die Gegenposition einnehmen, erwerben Sie sich zumindest Respekt. Die Chancen stehen gut, dass Sie miteinander im Gespräch bleiben. Selbstkritik kann Brücken bauen, Rechthaberei kann das nicht.

Der Zaubertrank, der uns dumm macht

Es spricht sehr viel dafür, selbstkritisch zu sein. Und doch steht Selbstkritik nicht überall hoch im Kurs. Um es zurückhaltend zu formulieren. Es ist bedauerlich, aber Selbstkritik hat ein Imageproblem. Manche halten sie für ein Zeichen von Schwäche. Sie meinen, Selbstkritik lähme uns. Sie drücke die Stimmung. Sie hindere uns daran, glücklich und erfolgreich zu werden. Viele sind überzeugt: Wer sich selbst in Frage stellt, Zweifel und Widerspruch zulässt, nach eigenen Fehlern sucht, statt über sie hinwegzusehen, der macht sich klein, der traut sich nichts zu, der bringt nichts zustande.

Stattdessen bräuchten wir Unbekümmertheit, Selbstbewusstsein mit ein paar Einsprengseln von Größenwahn. Dann sind wir bereit, Risiken einzugehen und Höchstleistungen zu vollbringen. Rosarote Brille ist Pflicht, vor allem wenn der Blick nach innen geht. Ohne das sichere Gefühl von Überlegenheit komme keiner als erster über die Ziellinie. Die persönlichen Mantras dieser selbsterklärten Gewinner lauten daher:»Du kannst alles erreichen, wenn du nur an dich glaubst.«»Mal wieder alles richtig gemacht.«Und:»Nur nicht aufgeben.«

Selbstkritik würde hinter jeden dieser drei Glaubenssätze ein dickes Fragezeichen setzen. Und damit steht sie weit oben auf der Feindesliste derjenigen, die sich dem Erfolgsdenken verschrieben haben. Alles Negative soll aus unseren Vorstellungen verbannt werden. Wir sollen uns mit positiven Aussagen mental pushen, um unsere Kräfte zu mobilisieren. Und dieser Teil des Programms klappt häufig überraschend gut. Wir versetzen uns in Hochstimmung, trauen uns alles Mögliche zu und manchmal gelingt uns auch das eine oder andere. Auch kleine Erfolge zählen. Sie sind der Beweis, dass es funktioniert! Was nicht so gut gelaufen ist, darüber sehen wir hinweg. Wir fühlen uns großartig, rundum bestätigt. Das klingt gut, sorgt aber für ein gewaltiges Problem. Die Selbstüberschätzung.

Selbstüberschätzung ist ein»Zaubertrank, der uns dumm macht«, um eine Formulierung des Psychologen Daniel Ariely aufzugreifen, die er mal in einem ganz anderen Zusammenhang gebraucht hat. Doch es gilt auch hier: Die vermeintlichen Zauberkräfte, die uns da zuteilwerden, sie existieren nur in unserer Vorstellung. Je nackter der Kaiser, desto prächtiger gekleidet glaubt er zu sein. Selbstüberschätzung sorgt dafür, dass man seine eigenen Erfolge wieder aufs Spiel setzt. Und sie bringt auch andere in Gefahr. Menschen, die sich auf die vermeintlichen Alleskönner mit dem Zaubertrank verlassen. Aber auch Unbeteiligte, die das Pech haben, so einem Erfolgsmenschen im Weg zu stehen. Kaum etwas zerstört Vertrauen so zuverlässig wie Selbstüberschätzung.

Die einen werden durch den Zaubertrank der Selbstüberschätzung dumm, die andern sind bereits dumm und fest entschlossen, es zu bleiben. Dabei hilft ihnen das Erfolgsdenken, das Selbstkritik unter Strafe stellt. Wer die eigenen Schwächen und Irrtümer nicht zur Kenntnis nimmt, der hat keine Chance dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln.

Dabei käme es gerade jetzt, in einer Situation, in der sich unsere Welt rasant verändert, darauf ganz besonders an. Sich eben nicht in Allmachtsphantasien zu flüchten, sondern die eigenen Grenzen zu erkennen und mit andern zu kooperieren. Heutzutage gibt es gewiss keinen Mangel an Leuten, die sich selbst für großartig halten und die eigenen Möglichkeiten maßlos überschätzen.

Was uns nottut, das sind Menschen, die bereit sind, sich immer wieder in Frage zu stellen. Die nicht nur die eigenen Schwächen kennen, sondern auch die Stärken gelegentlich auf den Prüfstand stellen. Um es deutlich zu sagen: Solche Menschen wären vor allem in verantwortlichen Positionen zu wünschen. Und nicht etwa rücksichtslose Egomanen, die sich an ihrer vermeintlichen Großartigkeit berauschen.

Warum Sie nicht auf den»inneren Kritiker«hören sollten

Es gibt noch einen zweiten Grund, warum Selbstkritik nicht die verdiente Anerkennung bekommt. Es gibt irreführende Vorstellungen darüber, was Selbstkritik überhaupt ist. Meinen Sie nicht auch, dass sie uns manchmal im Weg steht? Ist sie nicht ein Stimmungskiller und Runterzieher? Leiden viele nicht unter ihrem»inneren Kritiker«? Diese innere Stimme, die uns einredet:»Du bist nicht gut genug. Du bist zu schwach. Du hast keine Ahnung. Du wirst dich blamieren. Du weißt nicht wirklich Bescheid. Das schaffst du nie. Dich mag hier sowieso niemand. Das hast du nicht verdient. Lass es lieber bleiben …«

Das sind die Vorstellungen, die viele mit Selbstkritik verbinden. Der»innere Kritiker«, der uns wirklich nicht gut tut. Doch mit echter Selbstkritik hat diese ungute Mischung aus Mäkelei, Mutlosigkeit und schlechter Laune nicht viel zu tun. Sie ist geradezu das Gegenteil davon. Selbstkritik besteht nicht darin, sich einzureden, dass man nichts zustande bringt. Vielmehr will uns Selbstkritik dabei helfen, unsere Ziele zu erreichen, den richtigen Weg einzuschlagen, ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Wie ein guter Freund, der uns ja auch nicht nach dem Mund redet. Sondern der uns ein paar unbequeme Wahrheiten zumutet, uns aber auch aufbaut und Mut zuspricht. Selbstkritik will uns nicht schlechtmachen, sie meint es immer gut mit uns. Auch und gerade wenn sie uns vor Augen führt, was wir noch besser machen können: Sie stärkt unsere Selbstachtung, anstatt sie zu beschädigen.

Der»innere Kritiker«hingegen, von dem so oft die Rede ist, trägt seinen Namen zu Unrecht. Er sollte»innerer Nörgler«heißen. Von ihm sollten wir uns ebenso wenig beeinflussen lassen wie von einem Mitmenschen, der sich immer nur beschwert. Und doch meldet sich dieser»innere Nörgler«auch nicht ohne Grund zu Wort. Dahinter steckt sehr oft Ängstlichkeit. Wir würden gerne, aber wir trauen uns nicht. Dafür sorgt unser»innerer Nörgler«. Bloß kein Risiko eingehen, auch wenn wir uns damit selbst daran hindern zu zeigen, was in uns steckt. Echte Selbstkritik will gerade das befördern. Es ist ja das Futter für die Selbstkritik: Dass wir uns ausprobieren, einfach mal machen und uns ansehen, was dabei herauskommt.

Aber es gibt noch einen zweiten Grund dafür, dass sich der»innere Nörgler«einschaltet: Er vertritt eine strenge Autoritätsperson, die uns früher gemaßregelt hat: Das können unsere Eltern sein, eine Lehrerin oder ein Trainer. Sie haben uns spüren lassen: Egal, was du tust, du bist nicht gut genug, meine Ansprüche zu erfüllen. Dieses vernichtende Urteil lebt fort im»inneren Nörgler«. Der macht uns bei allem, was wir uns vornehmen, ein schlechtes Gefühl. Selbstkritik besteht darin, zu diesen entmutigenden Einflüsterungen eine vernehmliche Gegenstimme zu entwickeln. Wie das geht, wird uns im Kapitel über die Selbstermutigung noch näher beschäftigen.

Selbstkritik heißt sich selbst beurteilen

Nun hat das Wort Kritik häufig einen negativen Beigeschmack. Wer uns kritisiert, der beanstandet unser Verhalten. Der widerspricht, bringt Einwände vor und richtet seine Aufmerksamkeit darauf, was mangelhaft ist. So gesehen ist Kritik der Gegenbegriff zum Lob.»Es gab Kritik, aber auch viel Lob«, heißt es manchmal. Doch unterscheidet sich Kritik vom Tadel oder von einer schlechten Bewertung dadurch, dass Gründe genannt werden müssen. Wer Ihr Verhalten einfach nur peinlich findet oder Ihre Leistung miserabel, der übt keine Kritik, sondern nörgelt nur.

Kritik üben heißt sein Urteil zu begründen. Denn es ist nicht das Urteil, es sind die Gründe, auf die es hier besonders ankommt. Mit denen sollten wir uns auseinandersetzen und prüfen, wie stichhaltig sie sind. Womöglich ist an der Kritik etwas dran. Sie veranlasst uns, etwas zu verändern. Dann hat die Kritik ihren Zweck erfüllt.

Doch ist es auch möglich, dass Sie die Kritik zu ganz anderen Schlussfolgerungen führt. Kritik fordert uns heraus und bringt uns dazu, Gegenargumente zu finden und unseren Standpunkt zu verdeutlichen. Das tun wir nicht nur, um denjenigen zu überzeugen, der Kritik geübt hat, sondern auch uns selbst. Wir sind gezwungen, unsere Position zu durchdenken und gewinnen auf diese Weise Klarheit. Vielleicht kommen wir zu der Einschätzung, dass wir uns noch stärker in die Richtung entwickeln sollten, die unser Gegenüber beanstandet. Seine Kritik schwächt nicht unsere Position, sondern festigt sie noch.

Dieser Fall ist gar nicht so selten. Unser Kritiker konfrontiert uns mit unseren Schwachpunkten oder mit dem, was er dafür hält. Wir sind gefordert, uns damit auseinanderzusetzen. Erst jetzt kommen uns manche Gegenargumente in den Sinn. An die hatten wir noch gar nicht gedacht. Sogar wenn wir unseren Kritiker nicht überzeugen, seine Einwände haben uns auf neue Gedanken gebracht. Das ist wie ein Tisch, der zwei zusätzliche Beine bekommen hat: Er steht nun noch sicherer.

Das führt uns unmittelbar zur zweiten, für unser Thema noch wichtigeren Bedeutung von Kritik. Das Wort Kritik geht zurück auf die griechische Antike.»Krinein«bedeutet so viel wie»unterscheiden, trennen«. Etwas wird in seine Bestandteile zerlegt, analysiert, um es besser zu begreifen – und zu beurteilen. Kritik ist immer verbunden mit einem Urteil, das nebenbei bemerkt auch positiv ausfallen kann. Literaturkritik, Theaterkritik, Kunstkritik sind oft ja auch ausgesprochen positiv. Aber für diese Einschätzung müssen die Kritiker ebenfalls Gründe nennen.

In dieser zweiten Variante heißt Kritik, dass wir etwas beurteilen – anhand von bestimmten Maßstäben, den»Kriterien«, wie man auch sagt. Eine brauchbare Kritik legt ihre Maßstäbe offen. Dann können wir erkennen, wie die Kritiker zu ihrem Urteil gekommen sind.

Selbstkritik vereint nun beide Bedeutungen: Tatsächlich ist sie besonders aufmerksam für die eigenen Schwachpunkte. Sie formuliert Einwände und nimmt bewusst eine Gegenposition ein. Doch dabei bleibt sie nicht stehen. Letztlich zielt Selbstkritik auf Verbesserung und Stärkung. Immer. Sie analysiert und gelangt zu einem wohlbegründeten Urteil – über uns selbst. In Hinblick auf unsere eigenen Ziele und Maßstäbe. Die können wir frei festsetzen und im Zuge der Selbstkritik auch verändern. Ja, gelungene Selbstkritik erkennen wir nicht zuletzt daran, dass sich Ziele und Maßstäbe wandeln, dass wir sie von Zeit zu Zeit neu justieren.

Wir sammeln neue Erfahrungen, wir verändern uns, unsere Fähigkeiten, unsere Vorlieben, es wandeln sich die Umstände, unter denen wir zurechtkommen müssen. Und so prüfen wir: Sind unsere Ziele und Maßstäbe noch angemessen?

Das ist das Beglückende an der Selbstkritik: Sie und nur Sie entscheiden am Ende, was tatsächlich relevant ist, worauf es Ihnen ankommt und nach welchen Kriterien Sie sich messen. Sie hinterfragen sich und kommen zu Ihren eigenen Antworten. Manchmal ist das etwas mühsam, mitunter sogar quälend. Doch am Ende wirkt Selbstkritik befreiend und gibt Ihnen innere Stärke. Erst Selbstkritik macht Sie wirklich souverän.

Selbstzweifel sind willkommen

Und noch etwas sollte man klarstellen: In der Selbstkritik geht es keineswegs darum, zu einem negativen Urteil zu kommen. Sondern zu einem zutreffenden, was eine sehr viel anspruchsvollere Aufgabe ist. Sich selbst runterzumachen, das ist keine Selbstkritik, sondern eher das Gegenteil davon. Selbstkritik erfordert Selbstbewusstsein, Wohlwollen und Sympathie. Wer sich selbst nichts zutraut, wer sich selbst nicht mag, der tut sich schwer mit echter Selbstkritik.

Die Grundierung sollte also möglichst hell sein. Je höher Sie sich selbst schätzen, desto strenger dürfen Sie sein. Am Anfang steht also die Wertschätzung der eigenen Person. Erst dann nehmen wir uns die Schwachpunkte vor, suchen Widerspruch und Gegenstimmen. Auch Selbstzweifel wischen wir nicht beiseite. Sie sind vielmehr willkommen. Ihnen auf den Grund zu gehen, kann uns helfen. Wir halten inne, wir machen es uns nicht leicht. Wir prüfen lieber noch einmal nach. Vielleicht holen wir uns Unterstützung, fragen andere um Rat. Wir handeln verantwortungsvoll.

Für das breitbeinige Erfolgsdenken sind Selbstzweifel ebenso tabu wie Widerspruch und Gegenrede. Denn sie trüben das strahlende Bild, das man allzu gerne von sich entwirft. Und auf das man umso stärker angewiesen ist, je weniger man eigentlich leisten kann. In diesem Zusammenhang wird immer wieder gern die Klage des Philosophen Bertrand Russell zitiert, die gelegentlich (und zu Unrecht) Helmut Schmidt zugeschrieben wird:»Der tiefere Grund für unser ganzes Elend ist: Dass die Dummen so sicher sind und die Klugen so voller Zweifel.«

Manche verstehen das als Aufforderung an die Klugen, ihre Zweifel über Bord zu werfen. Nur so könnten sie sich gegenüber den Dummen behaupten. Das Problem dabei ist nur, dass die Zweifel nicht etwa eine Art Kollateralschaden der Klugheit darstellen, den wir vermeiden können, wenn wir ein bisschen darauf achtgeben. Sondern Klugheit braucht den Zweifel. Nicht unbedingt als Dauerzustand. Aber wer klug sein will, der muss bereit sein, immer wieder zu zweifeln und vermeintliche Sicherheiten nachzuprüfen. Es zeichnet Klugheit aus, dass man sich von Zeit zu Zeit die Frage stellt: Ist das wirklich so? Stimmt das, was ich annehme? Oder hat die Gegenseite vielleicht doch recht? Zumindest ein bisschen? Oder auch komplett?

Nun sind Zweifel nicht die Erfüllung der Klugheit, nicht ihr Ziel, doch immerhin ihr Startpunkt. Das heißt: Wenn wir Selbstzweifel konsequent beiseite wischen, sind wir auf unserem Weg zur Klugheit noch nicht einmal gestartet.

Selbstzweifel sind nicht unsere Feinde, die wir besiegen müssen. Vielmehr können sie unsere Verbündeten sein, wenn wir richtig mit ihnen umgehen. Sie müssen uns keineswegs lähmen. Sehr oft sind sie die treuen Begleiter von Menschen, die außerordentlich produktiv sind. So bekennt die Autorin und Bloggerin Sophie Passmann, die momentan sehr erfolgreich ist:»Mein ganzes Leben ist ein einziger Selbstzweifel. Ich brauche kein Mitleid, ich halte Selbstzweifel für eines der besten Gefühle überhaupt. Ich glaube sogar, die Welt braucht ganz dringend mehr Menschen mit Selbstzweifeln, dann würde sie zu einem besseren, vielleicht sogar zu einem erträglichen Ort.«

Es kommt noch etwas hinzu: Selbstzweifel kann verbinden. Wir sind alle nicht perfekt, sondern immer wieder schwach und unsicher. Dieses Gefühl teilen wir mit den meisten. Menschen ohne Selbstzweifel sind uns eher unangenehm und unsympathisch. Und das zu Recht, denn wer sich nicht selbst in Frage stellt, richtet oft großen Schaden an. Buchstäblich ohne Bedenken.

Nützliche Illusionen

Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Von Haus aus neigen wir keineswegs zur Selbstkritik. Vielmehr haben die meisten von uns den Hang, sich viel positiver zu sehen, als ihre Mitmenschen sie beurteilen. Das sagen die einem nur äußerst selten ins Gesicht. Denn Menschen sind soziale Wesen und wollen ihre guten Beziehungen zu den anderen nicht durch unnütze Ehrlichkeit gefährden. Das hat nichts mit Verlogenheit zu tun, sondern mit Einfühlungsvermögen und sozialer Kompetenz. Die hilft uns, gut miteinander auszukommen. Bei wem diese Fähigkeit unterentwickelt ist, stößt schnell auf Schwierigkeiten.

Doch geht es jetzt erst einmal um unsere Selbsteinschätzung. Es ist eine eiserne Regel der Sozialpsychologie: Erfolge schreiben die Menschen bevorzugt ihren eigenen Fähigkeiten zu. Für Niederlagen machen sie hingegen eher die äußeren Umstände verantwortlich. Dafür haben die Psychologen gleich zwei Erklärungen: Einmal tut es unserem Selbstbewusstsein gut. In der Sprache der Psychologen: Es ist»selbstwertdienlich«. Wir werten uns auf, wenn wir annehmen: Alles, was gut läuft, ist unser Verdienst. Wo es hakt, da müssen andere ihre Finger im Spiel haben. Es liegt nicht an uns.

Die zweite Erklärung hat damit zu tun, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Stellen Sie sich vor, Sie nehmen sich etwas vor, sagen wir: Sie wollen Tomaten ziehen. Sie beschäftigen sich mit dem Thema und bringen in Erfahrung, wie viel Wasser die Pflanzen brauchen, welche Erde sich am besten eignet, was ein guter Standort ist und vieles mehr. Ihr Tomatenstrauch wächst und gedeiht. Sie ernten viele wohlschmeckende Tomaten. Da liegt der Schluss nahe: Das haben Sie richtig gemacht. Sie prägen sich ein, wie Sie vorgegangen sind. Und wenn Sie das nächste Mal in die Verlegenheit kommen, wieder so einen Strauch zu pflanzen, dann machen Sie es genauso.

Jetzt nehmen wir aber mal an, die Sache läuft nicht so glatt, der Strauch verkümmert oder trägt keine Früchte. Dann fragen Sie sich: Woran hat das gelegen? Sie richten Ihre Aufmerksamkeit auf äußere Einflüsse. Und die machen Sie dafür verantwortlich, dass Ihre Pflanze eingegangen ist.

Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden. Vor allem wenn Sie fündig werden und die äußere Ursache für den Misserfolg entdecken. Dann können Sie es beim nächsten Mal besser machen oder zumindest etwas anderes ausprobieren. Problematisch wird es, wenn sich diese Tendenz verfestigt und Sie überzeugt sind: Alles, was gut läuft, das haben Sie zu verantworten. Dabei übersehen Sie äußere Einflüsse, Hilfe von anderen und glückliche Zufälle. Was nicht so gut klappt, dafür gibt es immer einen anderen Schuldigen. Diese Annahme ist zwar sehr bequem, aber eben auch sehr dumm. Wer grundsätzlich Recht hat, braucht sich nicht in Frage zu stellen, sich nicht zu verändern und nichts dazuzulernen.

Noch unerfreulicher ist jedoch, dass wir bei unseren Mitmenschen genau andersherum verfahren: Für deren Erfolge sollen äußere Umstände ausschlaggebend sein, während alles, was nicht so gut läuft, ihr eigenes Verschulden ist. Und auch hier greifen die beiden Erklärungen: Es ist»selbstwertdienlich«, sich einzureden: Die anderen haben zwar Erfolg, aber dabei haben sie einfach nur Glück gehabt. Für ihre Misserfolge sollen sie hingegen die Verantwortung übernehmen. Tun sie das nicht, halten wir alle Erklärungen, die sie vorbringen, für Ausreden.

Aber auch die zweite Erklärung (die mit der Aufmerksamkeit) passt ganz gut: Solange alles glatt läuft, geschieht es für uns gewissermaßen wie von selbst. Geht die Sache schief, richten wir unseren Blick auf diejenigen, die ihre Finger im Spiel hatten. Die machen wir verantwortlich, weil das so naheliegend ist und so bequem. Wir haben jemanden, der für den Fehlschlag gerade stehen muss. Der soll sich darum kümmern, dass die Dinge wieder in Ordnung kommen. Sonst halten wir ihn für unfähig, faul oder böswillig. Wir haben gar keine Zeit und keine Lust, uns mit der Angelegenheit näher zu beschäftigen. Es ist nicht unser Bier.

Auch das ist häufig eine Täuschung. Manches konnte niemand voraussehen. Manches hätte auch ganz anders laufen können. Und schließlich übersehen wir manche Einflüsse, weil wir zu wenig von der Sache verstehen – was uns aber nicht davon abhält, streng darüber zu urteilen. Einfach weil es für uns die nahe liegendste Erklärung ist.

Es sind Illusionen. Annahmen, die zwar nicht ganz stimmen, unser Leben aber einfacher machen. Und was unser Leben einfacher macht, ist eben auch nützlich. Also hat sich die Sache unserem Denken eingebrannt.

Zu den nützlichen Illusionen gehört eine weitere, die vor allem Männer betrifft. Sie überschätzen ihre Fähigkeiten – systematisch. Und zwar umso stärker, je weniger Ahnung sie tatsächlich haben. Dieses Phänomen nennt man den Dunning-Kruger-Effekt (benannt nach den beiden Psychologen David Dunning und Justin Kruger). Das Tröstlichste dabei ist noch: Je kompetenter wir werden, desto besser können wir uns einschätzen. Daher beurteilen sich diejenigen am strengsten, die schon fortgeschritten, aber noch keine allwissenden Experten sind (wenn es solche überhaupt gibt).

Eine Studie nach der anderen zeigt: Die meisten Menschen sind überzeugt, dass ihre eigenen Fähigkeiten mehr oder weniger weit»über dem Durchschnitt«liegen. Egal, ob man sie nach ihrer körperlichen Fitness, ihren sozialen Fähigkeiten oder ihren Fahrkünsten fragt. So gaben die Teilnehmer einer wissenschaftlichen Untersuchung mehrheitlich an, ihre Qualitäten, ein Auto zu steuern, seien überragend. Dabei waren alle Teilnehmer dieser Studie erst kürzlich in einen Unfall verwickelt gewesen. Und zwei Drittel von ihnen hatten den nach Angaben der Polizei sogar verursacht.

»Ich halte mich für einen durchschnittlichen Menschen –
abgesehen von der Tatsache, dass ich mich
für einen durchschnittlichen Menschen halte.«

Michel de Montaigne

Diese Tendenzen sollten wir kennen, wenn wir über das Thema Selbstkritik sprechen. Und auch die Erklärungen, von denen bereits die Rede war. Ja, diese Fehlurteile sind»selbstwertdienlich«und damit ebenso angenehme wie nützliche Illusionen. Wir halten uns für besser, kompetenter und wirksamer, als wir sind. Denn das sorgt dafür, dass wir uns mehr zutrauen und auch leichter unsere Mitmenschen gewinnen können. Fragen Sie sich selbst: Bei wem würden Sie eher ins Auto steigen? Bei demjenigen, der zutreffend von sich sagt, seine Fähigkeiten am Steuer seien»leicht unterdurchschnittlich«? Oder bei dem, der behauptet, ein»exzellenter Fahrer«zu sein? Sogar wenn wir meinen, dass Fahrer Nummer zwei etwas übertreibt, würden wir wohl bei ihm einsteigen, oder?

Allerdings lässt sich diese Geschichte noch weitererzählen. Denn stellen Sie sich vor, Sie steigen in beiden Fällen ein. Beim vermeintlich»exzellenten Fahrer«bemerken Sie, wie er einen Fehler nach dem andern macht. Kleine Fehler nur, aber beunruhigend wirken die eben doch. Denn Sie würden diesem Fahrer nicht mehr trauen, der sich so schlecht selbst einschätzen kann. Beim zweiten Fahrer sind Sie hingegen nicht sehr überrascht. Womöglich stellen Sie fest: So schlecht fährt der ja gar nicht, sondern eigentlich so wie alle andern, die auch allerhand übersehen. Für den normalen Stadtverkehr reicht das allemal, wenn jemand ein»leicht unterdurchschnittlich«begabter Fahrer ist. Zumal man das mit erhöhter Aufmerksamkeit ausgleichen kann. Und die setzen wir vor allem dann ein, wenn wir gegenüber unseren Fahrkünsten etwas skeptisch sind. Unfälle fabrizieren eher die, die sich überschätzen. Die vermeintlich»exzellenten«Fahrer.

Sind Sie überkritisch?

Wir überschätzen unsere Fähigkeiten? Nehmen jeden Erfolg für uns in Anspruch und suchen die Schuld woanders, wenn uns etwas misslingt? Bei mir ist das aber nicht so, denken Sie vielleicht. Wenn etwas nicht gut läuft, suchen Sie die Schuld immer bei sich selbst. Sie fragen sich automatisch: Was habe ich falsch gemacht? Bei Erfolgen klopfen Sie sich nicht selbst auf die Schulter, sondern gehen gleich zur Tagesordnung über: Das war doch selbstverständlich, das war doch meine Aufgabe, reden wir nicht mehr darüber. Vielleicht fragen Sie sich sogar: Hätte das nicht noch besser laufen können? Gibt es irgendjemanden, der unzufrieden mit mir war?

Mit dieser Haltung sind Sie keineswegs besser dran als diejenigen, die meinen, dass sie immer alles richtig machen. Sie stehen sich selbst im Weg, trauen sich zu wenig zu und unterschätzen Ihre Fähigkeiten. Vielleicht bekommen Sie dafür ja sogar noch Lob von denen, die an Ihnen vorbeiziehen. Ja, Sie sind so herrlich bescheiden. Das ist aber nett von Ihnen, dass Sie Platz machen für diejenigen, die schlechter qualifiziert sind als Sie, weniger wissen und nicht zuhören. Dank können Sie dafür jedoch nicht erwarten, sondern eher Mitleid, manchmal sogar Verachtung.

Das spüren Sie wahrscheinlich. Und es ärgert Sie. Dass Sie mit Ihren hohen Ansprüchen das Nachsehen haben. Und die Großsprecher und Dünnbrettbohrer mit ihrer Dummdreistigkeit wieder einmal triumphieren. So empfinden Sie das. Aber was sollen Sie denn machen? Ihnen wäre das peinlich, es würde Ihnen anmaßend vorkommen, andere zurechtzuweisen und das große Wort zu führen, solange Sie nicht erwiesenermaßen die kompetenteste Person im Raum sind.

Dann liegt der Verdacht nahe: Sie sind überkritisch. Sie legen an sich allzu strenge Maßstäbe an. Sie machen sich verantwortlich für alles, was nicht gut läuft. Sie gestehen sich keine Fehler zu und keine Nachlässigkeit. Das heißt aber nicht, dass Sie die Höchstpunktzahl in der Rangliste der Selbstkritiker erreicht haben. Vielmehr sind Sie über das Ziel hinausgeschossen. Und das ist eben auch daneben.

Verschlimmert wird die Sache dadurch, dass sich überkritische Menschen von denen ausstechen lassen, die sich selbst überhaupt nicht infrage stellen. Im Nachhinein, ja, da stellen Sie fest: Diejenigen, die da so breitbeinig aufgetreten sind, hatten viel weniger Ahnung als Sie. Vielleicht waren sie sogar inkompetent. Aber gegen dieses Selbstbewusstsein, diese Arroganz oder auch gegen diesen Enthusiasmus sind Sie nicht angekommen. Sollten Sie aber. Selbstkritik kann Ihnen dabei helfen. Echte Selbstkritik und nicht diese überkritische Haltung den eigenen Fähigkeiten gegenüber. Das Ermutigende dabei ist immerhin: Wenn Sie überkritisch sind, haben Sie es mit der Selbstkritik leichter als die vermeintlichen Erfolgsmenschen. Darüber hinaus gilt der Grundsatz: Diejenigen, die sich selbst nicht in Frage stellen, müssen von uns umso gründlicher in Frage gestellt werden.

Das Bemühen um innere Wahrhaftigkeit

Menschen haben eine starke Tendenz zur Selbsttäuschung. Meist sehen wir uns zu positiv, überschätzen die eigenen Fähigkeiten und unseren Anteil am Erfolg. Wir wollen uns gut fühlen und biegen uns die Ereignisse entsprechend zurecht. Wir bestätigen allzu gern unsere Sicht der Dinge. Wir haben recht, wir haben uns richtig verhalten, wir haben Schlimmeres verhindert. Hin und wieder sehen wir uns jedoch zu negativ, die einen häufiger, die anderen so gut wie nie. Der Punkt ist: Auch das schlechte Urteil hat seine Vorteile, so seltsam es klingen mag.

Zunächst einmal schafft es Eindeutigkeit: Irgendetwas ist schlecht gelaufen? Noch bevor Sie über die Ursachen nachdenken, kennen Sie schon den Schuldigen. Sie sind es selbst. Auch das ist eine Form der Selbstbestätigung, die wir so lieben und die uns immer wieder in die Irre führt. Nein, es liegt nicht immer nur an Ihnen.

Der zweite Vorteil hat mit dem»inneren Nörgler«zu tun, von dem bereits die Rede war. Der vertritt, wie wir gesagt haben, unsere strengen Eltern oder irgendeine hart urteilende Respektsperson, die uns viel bedeutet hat. Wenn wir uns selbst tadeln, schlechtmachen und bei uns die Schuld suchen, dann verhalten wir uns so, wie sie es machen würden. Tadelnd, nörgelnd, Schuld zuweisend. Keine Ausreden gelten lassen. Stell dich deiner Verantwortung. Gib dich nicht zufrieden. Streng dich an. Es geht immer noch ein bisschen besser. Diese Urteile haben wir verinnerlicht. Und wenn wir die wiederholen und wiederholen und wiederholen, dann haben wir das beruhigende Gefühl: Wir haben uns richtig verhalten.

Es kommt noch etwas Entscheidendes hinzu: Hinter diesen negativen Urteilen steckt eine vermeintlich positive Botschaft: Eigentlich könntest du mehr. Es liegt an dir. Wenn du dich stärker anstrengen würdest, wäre noch mehr drin. Du bist schlecht, weil du so viel besser sein könntest. Viel besser, aber nie gut genug. Das ist die bittere Pointe in diesem System: Wir laufen einer Belohnung hinterher, die wir nie bekommen. Denn wir sollen nicht aufhören zu rennen.

Wohlverstanden, in den allermeisten Fällen suchen die Menschen die Schuld gerade nicht bei sich, sondern überall anders. Doch hier geht es darum zu bestimmen, was Selbstkritik genau ist. Und da muss man doppelt unterstreichen: Wenn Sie sich negativ beurteilen oder die Schuld auf sich nehmen, dann ist das noch keine Selbstkritik. Was hinzukommen muss, das ist das Bemühen um Wahrhaftigkeit. Das heißt, bevor Sie sich irgendeinen Stempel verpassen oder verpassen lassen, prüfen Sie nach: Ist das wirklich so? Könnte es nicht auch anders sein?

Es ist das Wechselspiel zwischen Distanzierung und Annäherung, das unser Bemühen um Wahrhaftigkeit auszeichnet. Wir treten einen Schritt zurück, nehmen uns aus einer anderen Perspektive in den Blick oder lassen uns auf die Sichtweise von anderen ein. Das ist die Distanzierung. Doch bei der bleiben wir nicht stehen. Wir müssen die Sache für uns klären, wir müssen sie für uns einordnen, zu einem eigenen Urteil gelangen – und es nicht einfach übernehmen. Darin besteht die (Wieder)Annäherung an unsere eigene Sicht. Wir sehen uns jetzt neu – oder auch nicht. Vielleicht halten wir unsere erste Einschätzung weiterhin für zutreffend. Auch das kann das Ergebnis von Selbstkritik sein. Wir sind es ja, die urteilen müssen. Nach unserer Überzeugung und nach unseren Maßstäben. Dabei machen wir uns keine Illusionen. Auch wenn wir uns um innere Wahrhaftigkeit bemühen, unterliegen wir immer wieder der Selbsttäuschung. Auch wenn wir meinen, aufrichtig selbstkritisch zu sein, haben wir unsere blinden Flecken und allzu schnellen Erklärungen.

»Das größte Hindernis auf dem Weg
zur Wahrheit ist der Glaube,
man kenne sie schon.«

Tobias Hürter, Max Rauner, Katrin Zeug.

Wir liegen mit unserer Einschätzung also immer wieder mal daneben. Es kann gar nicht anders sein. In manchen Dingen kennen wir uns gut aus, auf anderen Gebieten haben wir schlicht keine Ahnung. Gut zu wissen. Das raubt uns keineswegs unser Selbstbewusstsein. Im Gegenteil, wir betrachten uns und unsere Mitmenschen mit weit größerer Gelassenheit und Nachsicht.

Im Selbstoptimierungswahn