Dominique Manotti

EINSCHLÄGIG
BEKANNT

Aus dem französischen
von Andrea Stephani

Ariadne Krimi 1198
Argument Verlag

Am Stadtrand von Paris liegen die Banlieues mit ihren Ghettos. Trostlose baufällige Wohnsilos weichen langsam und widerwilligGewerbegebieten und schmucken Bürokomplexen. Die Kriminalitätsrate ist hoch, Konflikte gären. Im Kommissariat von Panteuil treffen junge Polizisten ohne Erfahrung auf ein Klima rassistischer Gewaltbereitschaft. Der Innenminister fordert Nulltoleranz und Säuberungsmaßnahmen. Und unter den dienstälteren Kollegen grassieren Zynismus und Kriegsgewinnlertum. Aber wer soll da aufräumen? Noria Ghozali, Spezialermittlerin der Pariser Polizei, ist sicher, dass die angesehene Kommissariatschefin Le Muir keine weiße Weste hat. Nur wie soll sie das beweisen, wenn jeder, der mehr weiß, sein eigenes Süppchen kocht?

Dominique Manotti hat eine atemberaubende kriminalliterarische Form gefunden, um die ganze komplexe Wirklichkeit politischer und polizeilicher Verhältnisse so einzufangen, dass sie nachvollziehbar, packend, thrillertauglich wird. Genau das macht Manotti zu einer gnadenlos präzisen Chronistin der heutigen Gesellschaft mit all ihren Schattierungen von Ambition, Macht und Gewalt. Dass sie dabei nie die Menschen aus den Augen verliert, hebt ihre Kriminalromane auf das rare Spitzenniveau mitreißender, sachlich akkurater und doch einfühlender Gesellschaftskritik, die aufklärt, aber niemals schulmeistert. So wünsche ich mir politische Literatur.

Else Laudan

Für Interessierte einige Links zu Presseberichten über die realen Szenarien, die diesem Roman zugrunde liegen:

Spiegel online: Leben auf einem Pulverfass
http://www.spiegel.de/​politik/​ausland/​0,1518,445039,00.html

Stern online: Aufstand der Ausgegrenzten
http://www.stern.de/​politik/​ausland/​unruhen-in-frankreichaufstand-der-ausgegrenzten-550752.html

Deutschlandradio: Bilanz nach der Revolte
http://www.dradio.de/​dkultur/​sendungen/​weltzeit/​1140409/​

Dominique Manotti, 1942 geboren, lehrte als Historikerin an verschiedenen Pariser Universitäten Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Sie kam erst mit fünfzig Jahren zum Schreiben und veröffentlichte seither sieben zum Teil preisgekrönte Romane.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Vorwort

Impressum

Kleines Glossar zur Pariser Polizei

Zitat

Prolog Sommer 2005

Eischlägig bekannt

Epilog

Weitere Bücher

Dominique Manotti

Monika Geier

Christine Lehmann

Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de

Titel der französischen Originalausgabe:

Bien connu des services de police

© Éditions Gallimard, Paris, 2010

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2011

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/​4018000 – Fax 040/​40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann

Fotomotiv: © Sascha Burkard, Fotolia.com

Lektorat: Iris Konopik & Else Laudan

Satz: Iris Konopik

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783867549660

Zweite Auflage 2011

Kleines Glossar zur Pariser Polizei

RGPP

Direction des Renseignements Généraux de la Préfecture de Police de Paris (Zentraler Nachrichtendienst, Abteilung Paris), französische Besonderheit, eine Polizei ohne Vollstreckungsgewalt. Befasst mit Recherchen, Analysen (auch Zukunftsforschung) und Überwachung von mutmaßlichen Staatsfeinden, Medien, gesellschaftlichen Gruppen.

BAC

Brigade anti-criminalité, Brigade zur Bekämpfung leichter und mittelschwerer Straftaten (z. B. Diebstahl, Raub, Erpressung, Gewalttaten, Drogendelikte, Prostitution), zudem spezialisiert auf Einsätze in »sozialen Brennpunkten«. Mitglieder werden auch Bacmen genannt.

Antigang

Spitzname der Brigade Recherches et Interventions zur Bekämpfung von Bandenkriminalität und organisiertem Schwerverbrechen.

IGS

Inspection générale de la police nationale, Dienstaufsicht der Polizei.

Polizeidienstgrade (in absteigender Hierarchie)

Höhere Laufbahn – Commissaire: zuständig für Personalführung und Verwaltung, Hauptansprechpartner des Präfekten, der Abgeordneten und aller gesellschaftlichen Institutionen in Sachen öffentliche Sicherheit (Abitur + abgeschl. rechtswissensch. Hochschulstudium)

Gehobene Laufbahn – Commandant, Capitaine, Lieutenant (Abitur + 3 Jahre Hochschulstudium, vorzugsw. Rechtswissensch.)

Mittlere Laufbahn  Brigadier-Major, Brigadier-Chef, Brigadier, Sous-Brigadier, Gardien de la paix (Voraussetzung: Abitur)

Die genannten sind alle Staatsbeamte. Daneben gibt es noch Adjoints de sécurité (Hilfspolizisten), Angestellte im öffentlichen Dienst.

Beförderung auf die nächste Hierarchiestufe ist auch nach Dienstjahren möglich, allerdings wurde dies durch eine Reform 2004 erschwert.

Die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte
erfordert eine öffentliche Gewalt;

diese Gewalt ist also zum Vorteil aller eingesetzt
und nicht zum besonderen Nutzen derer,
denen sie anvertraut ist.

Artikel 12 der Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte (1789)

Prolog

Sommer 2005

Der Wagen fährt mit eingeschalteten Scheinwerfern im Schritttempo durch die menschenleeren engen Straßen eines Lagerhausbezirks am nördlichen Pariser Stadtrand. Zu so nächtlicher Stunde hat diese Vorortgegend etwas Unheimliches: geschlossene Gittertore, hinter denen sich der Müll stapelt, heruntergelassene Rollläden voller Graffiti, kaputtes Kopfsteinpflaster, abgesackte Gehwege, dunkle Straßenlaternen, dicht an dicht die wuchtigen schwarzen Silhouetten der Lagerhäuser. Es ist derart leblos und still, dass jedes hier auftauchende Wesen nur als Bedrohung empfunden werden könnte. In dem Wagen, der innen schwach beleuchtet ist, drei Männer, der Fahrer und seine zwei Begleiter. Sie ähneln sich. Jung, muskulös, sehr kurzes Haar, leichte Stoffblousons, Jeans und Sportschuhe. Ihre Bewegungen, ihre Worte, ihr Schweigen sind aufeinander eingespielt, belanglose Satzfetzen, Kaugummi, Gelächter, ihre Blicke wandern umher, es herrscht lockere Vertrautheit. Im Hintergrund knisterndes Rauschen, dem niemand Beachtung schenkt. Man nähert sich Paris. An einer Straßenbiegung taucht zwischen Lagerhausbezirk und Ringautobahn ein Betonklotz auf. Fünf Parkdecks an der nördlichen Zufahrtsstraße nach Paris. Die Spannung im Wagen steigt. Die Männer straffen sich, verstummen, sind wachsam, leicht angespannt. Der Wagen biegt langsam in die Einfahrt ein. Einer lacht auf, die Hand im Schritt: »Bin ich geil heute Abend.« Der Fahrer hupt dreimal kurz. Der Nachtwächter in seinem Häuschen dreht sich auf seinem Stuhl, hebt grüßend die Hand, öffnet die Schranke. Der Wagen rollt in das Parkhaus, vorbei am rechts liegenden Treppenhaus-, Fahrstuhl- und Toilettenkomplex, zur Linken drei lange neonerleuchtete Gänge, in denen auf beiden Seiten Autos parken, so gut wie kein Platz mehr frei. In den letzten Gang biegt der Wagen ein, Mädchen treten aus dem Dunkel und kommen im Scheinwerferlicht näher. Als sie den Wagen erkennen, scharen sie sich zusammen, ein stummer, trotziger Block. Der Fahrer bremst, hält an, lässt den Motor laufen. Die beiden Mitfahrer springen hinaus. Paturel, ein Hüne mit leichtem Fettansatz, wasserblaue Augen, rothaarig und sommersprossig, er ist der Boss, das sieht man, blickt sich um, zählt die Mädchen.

Foto 

Zehn. Eine fehlt. Weiter hinten sitzt eine unbekannte Gestalt auf der Kühlerhaube eines Volvo. Paturel dreht sich zu seinem Stellvertreter Marty, der hinter ihm steht, und zeigt auf den Volvo: »Guck nach, was das soll«, dann wendet er sich an die Mädchen.

»Wo ist Carla?«

Eins der Mädchen zeigt zu den Toiletten. »Mit einem Kunden.«

Paturel lacht, zieht den Gürtel hoch. »Wunderbar. Das liebe ich.«

Er stürmt zu den Toiletten, reißt die Tür auf.

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Ein Mädchen steht auf das Waschbecken gestützt, das lange schwarze Haar verdeckt ihr Gesicht, der Rock ist bis zur Taille hochgeschoben, ein dicker Mann in Jackett und heruntergelassener Hose nimmt sie keuchend von hinten.

»Du Drecksau«, brüllt Paturel und wummert mit der Faust gegen die Holztür. »Meine Schwester! Verpiss dich oder ich leg dich um!«

Der Typ verschluckt sich vor Schreck, wimmert, zerrt hastig seine Hose hoch und flüchtet durchs Treppenhaus. Carla richtet sich auf, will ihren Rock zurechtziehen, Paturel, der sich vor Lachen schüttelt, versetzt ihr einen Schlag in den Nacken, drückt sie mit einer Hand gegen das Waschbecken, öffnet mit der anderen den Reißverschluss seiner Hose und dringt anal in sie ein. Das Mädchen schreit auf. Zwei brutale Stöße, und Paturel kommt mit einem Stöhnen, einem langen, unterdrückten Stöhnen. Er lässt das Mädchen los, das auf die Knie fällt, wäscht sich kurz am Waschbecken. Verdammt, war das gut. Carla, hinter ihrem Haar versteckt, halb nackt, auf den Fliesenboden gesackt, weint lautlos. Paturel bringt seine Kleidung in Ordnung und kehrt zum Parkbereich zurück.

Als Paturel und Marty endlich abschwirren, lässt Ivan Djindjic, der Fahrer, ein Schrank von einem Mann, schwarzes Haar, geschwungene dichte schwarze Brauen, rote Lippen und blasser Teint, die Kupplung kommen, rollt im Schritttempo, die Augen unverwandt nach vorn gerichtet, kein Blick zu der Gruppe der Mädchen, die ihm in kaum verständlichem Französisch lachend zurufen: »Hey, du Hübscher, fahr doch nicht gleich wieder weg, Kleiner«, nimmt die Auffahrt, gleitet auf die Parkebene im ersten Stock. Ein junger Schwarzer, hochgewachsen und schmal, das weite weiße Hemd aufgeknöpft über der sehnigen Brust, Walkman am Gürtel seiner Jeans, Kopfhörer auf den Ohren, kommt aus dem Treppenhaus getanzt. Die Bewegung entspringt im Becken, greift über auf Oberkörper, Arme, Beine, jäh scheint Balou nicht mehr eins, die Glieder verselbständigen sich, erstarren dann, ein Moment in der Schwebe, die Bewegung setzt wieder ein und der Körper wird wieder ganz. Die Reinheit der Bewegungen fasziniert Ivan umso mehr, als keinerlei Musik sie trägt oder stört. Auf diesem riesigen Betonareal besteht die Geräuschkulisse nur aus dem leerlaufenden Motor und dem statischen Rauschen im Wageninnern, von dem er nichts mehr mitbekommt, weil er nicht darauf achtet. Wie jede Nacht in diesem Parkhaus kommt Balou ihm entgegen. Tanzend, um sich selbst und andere davon abzulenken, dass er hinkt. Balou. Rückblende: ein Bild, so deutlich wie ein immer wiederkehrender Traum, die erste Begegnung, sieben Jahre schon her. Ein vom Regen durchnässter, vor Kälte zitternder schwarzer Jugendlicher in einem zu großen Paris-Saint-Germain-Trikot klammerte sich an den Gitterzaun des Fußballplatzes vom Sporting Club de Sainteny und sah der Mannschaft der Sechzehnjährigen, zu der Ivan gehörte, beim Training zu. Fast zwei Stunden hielt er das Gitter umklammert, reglos, stumm. Sein verstörter Blick heftete sich immer häufiger auf Ivan und ließ ihn schließlich nicht mehr los, bis dieser, immer mehr Bälle verstolpernd, vor Wut aufheulte und von den Trainern in die Kabine geschickt wurde. Als er kein Stück ruhiger wieder herauskam, stand der Junge unverändert an seinen Zaun geklammert. Ivan machte einen Umweg, um bei ihm vorbeizukommen und ihm eine reinzuhauen. »Wir mögen PSG hier nicht.« Der Junge ließ abrupt los, fiel mit dem Hintern in den Matsch, das Gesicht grau vor Kälte, zähneklappernd, von Schluchzern geschüttelt, ohne eine Träne. Der ratlose Ivan schleppte ihn in die Clubkabinen, duschte ihn, zog ihm trockene alte Sachen an. Sie flüchteten sich in einen Verschlag, zwischen Bälle und bunte Plastikhütchen, und rauchten zusammen eine. Dann fing der Junge an zu erzählen, mit klarer, leiser Stimme, sachlich, wie einer, der die Hölle hinter sich hat. Er war in Bamako auf der Straße von einem Fußballscout gekauft worden, der auf den Aschenplätzen der Stadt sein Talent erkannt hatte. Seine Familie hatte ihn gern verkauft, und er war freudig fortgegangen. Er war bei einem portugiesischen Verein gelandet, wo sich alles gut angelassen hatte. Man bewunderte seine Ballbeherrschung, sagte ihm eine große Zukunft voraus. Aber dann – zu viele Trainingseinheiten für einen heranwachsenden Körper, ein besonders böses Tackling, und da war sie, die schwere Verletzung, Knöchelbruch mit Bänderabriss, eine böse Sache und nicht richtig behandelt. Er würde ein, zwei Jahre lang nicht spielen können, vielleicht nie mehr, und es bestand sogar die Gefahr, dass er für immer hinken würde. Zunächst Verzweiflung. Zurück nach Bamako, von welchem Geld denn? Als Invalide, die Blicke seiner Familie … Und dann das Wunder. Kaum fing er wieder an zu gehen, da teilte ihm der Trainer des portugiesischen Vereins mit, dass PSG, der große Pariser Club, Ablöse für ihn zahlen und einen Ausbildungsvertrag mit ihm unterzeichnen wolle. In Bamako war PSG ein großes Thema gewesen, der Club der Brasilianer, Ricardo, Ronaldinho … In Paris würde er medizinisch gut betreut werden, könnte in Ruhe genesen und eines Tages vielleicht in der ersten Mannschaft spielen. Tags darauf fuhr ihn der Trainer an die Grenze nach Frankreich und setzte ihn an einem Bahnhof ab, mit einem einfachen Fahrschein nach Paris und einem PSG-T rikot, das er beim Aussteigen überziehen sollte, damit der Vereinsfunktionär, der am Bahnhof auf ihn warten würde, ihn erkennen könnte. Doch am Bahnhof wartete niemand auf ihn. Er war bis zum Parc des Princes-Stadion gelaufen, dessen Namen er in Bamako aufgeschnappt hatte. Eines Tages auf dem Rasen des Parc des Princes spielen, ein großer Traum. Die Stadionwächter hatten über seine Geschichte gelacht. Da lief er einfach drauflos, bis nach Sainteny, auf der Suche nach Notunterkünften für Malier, die er nicht fand. Klammerte sich an den Gitterzaun des Sporting Club, denn der gehörte noch zur Welt des Fußballs, genau da, wo Ivan ihn dann auflas. Er war vierzehn Jahre alt.

Balou nähert sich mit wiegendem Schritt, er hat die Kopfhörer abgenommen, beugt sich runter zum Wagenfenster, tiefdunkle Haut, feine Gesichtszüge, sehr lebendige Mimik, gerade Nase und jede Menge Haar, total glatt, mit Topfschnitt, der ihm eine Art bis zu den Ohren reichenden Heiligenschein verleiht. Er klatscht Ivan ab, zwei Mal, geht dann um den Wagen herum und setzt sich dahin, wo eben noch Paturel gesessen hat. Ivan lässt den Motor sanft kommen, fährt langsam durch den einen Gang, dann durch den anderen, zwischen den reglos dastehenden Autos hindurch. Hier ist niemand. Um diese Zeit ist auf den oberen Decks nie jemand.

Paturel kehrt in den Parkbereich zurück. Der Wagen ist nach oben gefahren. Noch ein bisschen Zeit, bis er wieder runterkommt. Weiter hinten kümmert sich Marty um das Mädchen auf dem Volvo, das keiner kennt, und versucht angestrengt, Bekanntschaft zu schließen. Die anderen sind hier, stehen immer noch dicht zusammen, blond oder dunkelhaarig, Mädchen aus Osteuropa, Bulgarinnen, Rumäninnen, Zigeunerinnen, solidarisch, aber resigniert, sie erwarten ihn, das gehört zum Geschäft. Keine einzige Schwarze. Die will Paturel nicht im Parkhaus. Will keine Scherereien mit den afrikanischen Kupplerinnen riskieren, mit denen kann er nicht umgehen. Bei Männern weiß man, woran man ist.

Rasch geht er die Mädchen durch. Greift in einen Büstenhalter, fördert zwischen zwei Fingern einen Zwanziger zutage.

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Entschuldigendes Lächeln: »Hab klebrige Finger.« Er durchwühlt eine Tasche, kassiert eine Portion Heroin.

»Das nicht«, sagt das Mädchen, »das brauche ich …«

Er haut ihr eine runter, nicht allzu fest, nur damit sie still ist. Eine Hand am Hintern, zwei, drei Ohrfeigen.

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Alles in allem sammelt er kaum mehr als hundert Euro ein. Nicht teuer, denken die Mädchen, dafür, dass wir in Ruhe arbeiten können, geschützt vor schlechtem Wetter und Polizeirazzien, wo sie gerade die Gesetze gegen uns Huren verschärfen. Aber Paturel ist ja auch kein Zuhälter, die Mädchen sorgen nicht für seinen Lebensunterhalt. Nur für schöne Träume. Ein Mann im Rausch seiner Allmacht.

Carla ist nicht wieder aufgetaucht.

Balou hat sich den Player auf die flache Hand gelegt und strahlt. »Siehst du dieses kleine Wunderding? Superflach, superleicht, supergut. Berühmte Marke: VLG (Vom Laster Gefallen). Hab in drei Tagen tausend Stück davon vertickt. Der Wahnsinn, Bruder.«

»Willst du dich aufspielen? Vor mir?«

Balou lächelt nicht mehr. »Was hast du gestern gemacht? Beim Mannschaftstraining im Sporting Club warst du nicht. Sieht dir gar nicht ähnlich.«

»Warst du denn da?«

»Klar, Mann, ich hab dich gesucht. Hab was mit dir zu bereden, und dazu brauchen wir einen Moment Ruhe.«

»Ich hatte woanders zu tun.«

»Das ist keine Antwort. Mit dem Fußball ist es dir normalerweise ernst. Erzähl. Warst du mit einer Tussi zusammen?«

Zweite Etage. Nur noch wenige Autos. Ivan blickt schweigend in die Ferne, Balou fährt fort: »Hatte der Boss also recht. Er hat mir gesagt, du hast da ’ne Tussi kennengelernt …«

Ivan gibt ein Brummen von sich.

»Muss ja ein Hammerweib sein. Warum hast du mir nie von ihr erzählt? Stimmt’s jetzt oder nicht? Und mir, deinem Bruder, sagst du nichts davon?«

Ivan senkt den Blick, unterdrückt ein Lächeln. »Nachher bringt das Unglück.«

»Dann stimmt es also.«

Balou lehnt sich zurück, stülpt sich wieder die Kopfhörer über die Ohren, ohne Ton, will sich abschotten, Haltung bewahren. Kloß im Hals, salziger Geschmack im Mund. Er grübelt. Jetzt habe ich Gewissheit, ich fühle es, ich weiß es. Ivan will sich heimlich davonmachen, mich hängen lassen. Mein Bruder lässt mich im Stich.

»Begreif doch, Ivan. Sieben Jahre. Sieben ätzende Jahre. Okay, dir verdanke ich, dass ich noch am Leben bin. Dieses Parkhaus ist nicht das Paradies, aber für mich war es schon nicht leicht, es überhaupt bis hierher zu schaffen.« Er schweigt, lange. »Schön, ich mach regelmäßig Geschäfte mit den Mädchen, das ist eine Absicherung, aber ich hab nicht vor, mich damit zu begnügen und hier zu versauern, ist ja wohl klar. Du auch nicht, okay. Aber so langsam arbeite ich mich hier raus, hab zum ersten Mal das Gefühl, dass ich ’ne Zukunft hab, und darüber will ich in Ruhe mit dir reden. Um es zu schaffen, brauche ich dich noch ein letztes Mal, ich brauch noch einmal deine Hilfe, du darfst mich jetzt nicht hängen lassen.«

Wieder lächelt Ivan sein sehr schüchternes, sehr stilles Lächeln, hält den Blick gesenkt. »Du siehst ja, ich bin da.«

Und verstummt. Wie sagen: »Weggehen ist mehr als ein Plan, es ist schon Wirklichkeit. Am 8. September werde ich weit weg sein, anderswo. Ohne dich. Ich will mein Leben hier vergessen, will auch dich vergessen, dich und alles andere.« Wie sagen: »Ich werde dich im Stich lassen, mein Bruder, denn für mich geht es um Leben und Tod«, wenn man die Worte einfach nicht zu fassen kriegt?

Marty ruft nach Paturel, seine Stimme ist schrill. »Komm mal gucken, was ich gefunden habe.«

Er hält das Mädchen gegen den Volvo gedrückt, sie hat sich heftig gewehrt, das Make-up ist verschmiert, die blonde Perücke verrutscht, er selbst am Keuchen, hat seine liebe Not gehabt, sie zu bändigen, um sie in Ruhe zu betatschen, einfach nur Bekanntschaft zu schließen. Bei den Silikonbrüsten hat er sich nicht lange aufgehalten, nicht mein Ding, ich mag’s lieber weich, und ist dann auf ein männliches Geschlechtsorgan gestoßen, das jetzt entblößt herunterhängt.

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»Was jetzt, Pat?«

»Gebühr festlegen und Finger weg. Lass ihn los.« Paturel packt den Transvestiten am Arm und drückt mit aller Kraft zu. »Bei Missgeburten wie dir sind mein Freund und ich an Naturalienzahlungen nicht interessiert. Aber wir sind liberal. Arbeiten darfst du gern hier. Macht heute Nacht hundert Euro für dich.«

Er lässt den Transvestiten los, der, mit bläulichen Flecken am Arm, wortlos zahlt und sich wieder anzieht.

Ohne zu beschleunigen setzt der Wagen seine Runde in der dritten, dann in der vierten Etage fort, sehr wenige Autos, die fünfte ist vollkommen leer, fährt dann wieder runter, immer noch im Schritttempo. Balou hat die Musik wieder angemacht und wiegt sich mit geschlossenen Augen auf seinem Sitz. Ivan ist wirklich auf dem Absprung, denkt er bei sich, jetzt steht es fest. Wenn er nichts unternimmt, wird er ihm entwischen und nichts kann ihn mehr aufhalten. Er muss sich schnell etwas einfallen lassen, etwas finden, womit er Druck ausüben kann, ihn in die Zange nehmen und zwingen kann, ihm diesen letzten Gefallen zu tun. Es geht ums Überleben. Erste Etage, Ivan hält an, Balou zieht einen Packpapierumschlag aus der Gesäßtasche seiner Jeans, schiebt ihn ins Handschuhfach und lässt es wieder zuschnappen.

»Die Gebühr für deinen Boss. Ist der immer noch so plemplem? Echt ein schwerer Fall. Meine Empfehlung an ihn. Und pass auf dich auf, Bruder.«

Balou steigt aus und tanzt davon. Ivan sieht ihm nach, bis er im Treppenhaus verschwindet. Traurig, will aber nicht wissen, warum.

Im Erdgeschoss steigen Paturel und Marty in den Wagen. Paturel öffnet das Handschuhfach, nimmt den braunen Umschlag, prüft nach, ob sich drei Plastikbeutelchen darin befinden, und lächelt. »Auf geht’s, Ivan. Hier ist alles ruhig. Keine besonderen Vorkommnisse.«

Er beugt sich vor zum Funkgerät, das gerade knisternd verkündet: »Beginn einer Schlägerei in Panteuil, Rue des Lions Nummer 19. Es sollen drei Männer beteiligt sein, möglicherweise mit Messern bewaffnet.«

Er nimmt das Mikro: »BAC Panteuil, Wagen 7. Wir übernehmen die Rue des Lions. Sind in zwei Minuten da.« Er dreht sich zu Ivan. »Fahr. Mit etwas Glück tun wir noch was für die Statistik, bevor’s nach Hause geht.«

Gegen sechs Uhr dreißig am Morgen verlässt Sébastien Doche die RER-Station Gare de Panteuil. Ein langer Kerl von eins siebenundneunzig, Blue Jeans und kurzärmliges weißes Hemd, rundes Gesicht, rote Wangen, große blaue Augen, sehr kurzes kastanienbraunes Haar, kaum älter als zwanzig. Kontaktaufnahme mit der Stadt, die sein Revier werden wird. Eine gute Stunde Zeit, um die Umgebung zu erkunden. Der Bahnhof grenzt an ein funkelnd neues Büroturmviertel, das so früh am Morgen noch wie ausgestorben ist. Er dreht ihm den Rücken zu und biegt in die breite Avenue Édouard-Vaillant ein, die den Bahnhof mit dem Stadtzentrum verbindet. Die Straße ist gesäumt von modernen Gebäuden, die nicht zueinander passen, und hat nicht wirklich Stil. Es ist sonnig und frisch, das Laufen macht ihm Spaß. Messingschilder von Ärzten, Anwälten und anderen Professionen reihen sich aneinander, ein paar Immobilienbüros, das Viertel der Freiberufler, die in diesem Vorort festhängen, weil sie nicht das große Geld verdienen, auch wenn sie sehr wohl darauf aus sind. Am Ende der Avenue das Zentrum, das, wie Doche dem Stadtplan entnommen hat, aus einem Geflecht schmaler Straßen mit niedrigen zwei- oder dreistöckigen Altbauhäuschen besteht, er kann sich die dunklen Flure, die steilen Treppen, die winzigen verschachtelten Höfe, die engen, überbelegten Wohnungen ganz gut vorstellen. Er stößt auf ein einsames Gässchen, gesäumt von schmalen, einander Halt gebenden einstöckigen roten Backsteinhäusern, vor jeder der weiß gestrichenen Eingangstüren eine drei Stufen hohe Außentreppe aus Stein. Arbeiterhäuser aus dem letzten Jahrhundert, gut instand gehalten. Hinter jedem vermutlich ein Stückchen Land, ein Gemüsebeet. Ein charmantes Fleckchen, und Doche stellt sich einen schönen Sommerabend vor, ein gemeinsames Abendessen auf der Straße, jeder der Nachbarn bringt Tisch und Stuhl, Essen und Getränke mit. Ein Stück weiter der Stadtkern, zu erkennen am Aufeinandertreffen der beiden Hauptgeschäftsstraßen und der Métrostation. Er besteht aus einem Supermarkt, einem großen Einkaufszentrum und einem durchdacht angelegten neueren Sozialwohnungskomplex mit mehreren Bewegungsebenen, auf allen Etagen üppig begrünte Balkone und Terrassen. Rechts die unscheinbare Kirche, links das sehr viel erhabenere Rathaus, nicht weit davon öffnet der überdachte Markt gerade seine Tore, die Verkaufstische füllen sich mit Waren. Am Eingang stellt ein ägyptischer Lebensmittelhändler Säcke auf, aus denen grellbunte Gewürzpulver hervorleuchten. Doche schielt hinüber, traut sich aber nicht hinein. In der Bar gegenüber macht er Halt und trinkt einen Espresso. Dann weiter Richtung Osten auf die Sozialbausiedlungen zu, abseits der Stadt errichtet, verstoßen auf die andere Seite des Kanals an den Rand der Gemeinde. Er geht die schnurgerade Rue Jean-Jaurès hinunter, kommt am Kommissariat von Panteuil vorbei, einem großen, zweistöckigen Glas-Beton-Klotz jüngeren Datums ganz dicht am Kanal. Getöntes Sicherheitsglas, kein einziges Fenster, Schutzzaun auf Erdgeschosshöhe: eher eine Festung als eine städtische Einrichtung. Daran wird er sich wohl gewöhnen müssen. Er setzt seinen Weg fort, überquert die Brücke. Links die Cité des Musiciens, rechts die Cité des Astronautes. Hier wie da die gleiche Abfolge von Betonklötzen und langgezogenen Wohnblöcken. Parkplätze im Überfluss, ein paar kümmerliche Sandkästen, die um diese Zeit verlassen daliegen, ein paar wenige Zipfel Grün, diese Anlagen sind ungleich viel trostloser und vernachlässigter als die im Zentrum. Menschen hasten zur Métrostation, die eine knappe halbe Stunde Fußweg entfernt ist, und werfen ihm im Vorübereilen Blicke zu, die ihm sagen, dass er ein Fremder ist, also: Misstrauen. Dabei sind die Menschen hier wie die zu Hause im Norden, er fühlt sich nicht fremd. Schöne Erinnerungen. Khaled und er, ihre Spritztouren, die Wettrennen auf geklauten Motorrollern, zugedröhnt mit Shit, ohne Helm, kleine Götter, frei, überglücklich. Khaled vorneweg, immer vorneweg, ein solches Ass am Lenker jeder beliebigen Maschine, dass sie ihn Schumi nannten. Nicht nur schöne Erinnerungen. Jener Tag, an dem Schumi ins Schleudern kam, der Aufprall, der Sturz, der Kopf auf dem Gehweg, die eingedrückte Schläfe, und er selbst kniet schluchzend neben Schumi, der sofort tot war, und beschließt, sein Leben zu ändern. Diese Stadt ist wie für ihn gemacht, er wird sie lieben.

Um fünf vor acht steht Doche wieder vor der großen Tür des Kommissariats von Panteuil. Er ist für acht Uhr bestellt, um seine erste Stelle anzutreten, seinen ersten richtigen Job, Polizeibeamter. Er möchte diesem Augenblick gern ein wenig Feierlichkeit verleihen, weiß aber nicht, wie. Und so drückt er einfach die Tür auf, als er den elektrischen Summer hört, und betritt die Eingangshalle, einen großen fensterlosen Raum in der Gebäudemitte. Lauwarme Luft schlägt ihm entgegen, dumpfer Geruch von Mief und Desinfektionsmittel, hartes, weißes Neonlicht, auf dem Boden dickes bräunliches Linoleum mit schwarzen Schleifspuren, blassgrüne Wände, die langsam grau werden, in einer Ecke ein Empfangstresen aus splittrigem Holz, hinter dem sich ein Uniformierter zu schaffen macht, und mitten im Raum, ein kleines Wunder, eine sehr junge und hübsche blonde Frau, etwas verloren, herausgeputzt wie für eine Party mit ihrem adretten Haarknoten und den zwei gelockten Strähnen, die ihr über Wangen und Hals fallen.

Sie lächelt ihm zu. »Isabelle Lefèvre, Hilfspolizistin.« Sie zögert. »Meine erste Stelle.«

»Meine auch.«

»Sieht man.«

Sie lachen, geben sich die Hand.

Dann öffnet ein mürrischer Uniformierter eine Glastür mit der Aufschrift »Wache« und spricht sie an: »Sind Sie die Neuen? Folgen Sie mir.«

Im Sturmschritt treibt er sie in den ersten Stock, wo sich nur Büros befinden, deren Türen sämtlich geschlossen sind. Alles wirkt sauber und ruhig.

»Das Reich der Verwaltungsleute und Zivilpolizisten«, kommentiert ihr Führer. »Die werden Sie nicht oft zu sehen kriegen, sie gehen uns aus dem Weg.« Er zeigt ihnen die Haupttreppe des Kommissariats, die in den zweiten Stock führt. Die Stufen zwischen erstem und zweitem Stock sind mit Teppich bespannt. »Dort oben ist das Reich der hohen Chefs. Sie werden keine Veranlassung haben, da hochzugehen, außer, um sich zusammenscheißen zu lassen, wenn irgendeine Riesenkatastrophe passiert ist.«

In einem Büro werden die Formalitäten erledigt, dann geht’s zur Waffenkammer. Die vorgeschriebene Waffe ist eine Sig Sauer 9 mm, eine Automatikpistole mit 14 Schuss samt Holster. Panik überkommt Doche. Klar, getragen hat er sie schon, während seiner Ausbildungslehrgänge. Aber heute ist es »in echt«. Eine Art Bund fürs Leben, durch den er ab sofort ein anderer Mensch ist. Umso ehrfurchtgebietender, als er nach vier Schießeinheiten an der Polizeischule überzeugt ist, dass er nicht mit ihr umgehen kann. Kurzer Blick zu Isabelle, die gerade Waffe und Koppel an sich nimmt, nicht sehr beeindruckt, wie es scheint. Zum Träumen ist jetzt keine Zeit, erklärt ihr Führer, und schon hasten sie ins Untergeschoss.

Am Fuß der Treppe ein schmaler Flur, Türen links und rechts, das Archiv, ein paar Maschinen, Vorräte an Papier und Büromaterial, dann betreten sie den großen Saal.

»Der Bereitschafts- und Aufenthaltsraum«, verkündet ihr Führer.

Weißes Licht wie im Erdgeschoss, der gleiche stechendranzige Geruch, das gleiche bräunliche Linoleum und die gleiche verwaschene Farbe an den Wänden mit gräulichen Schlieren hier und da, bunt zusammengewürfelte Tische und Stühle aus Resopal, eine große Tafel, ein paar Plakate, vor allem von Kriminalfilmen, eine ganze Galerie von harten Kerlen und Feuerwaffen.

»Wer sich hier ausruhen will, darf keine Platzangst haben«, sagt Isabelle. Dann flüstert sie Doche zu: »Warum ist alles so dreckig? Von außen sah es fast neu aus …«

Der alte Polizist sieht die beiden mit einem scheelen Lächeln an. »Es ist dreckig, weil wir einen dreckigen Job machen, wir fühlen uns dadurch wie zu Hause. Sie werden schon sehen … Da hinten, hinter der Trennwand, sind die Umkleideräume. Legen Sie die Uniform an und kommen Sie dann zur Wache ins Erdgeschoss, da erfahren Sie, wo Sie eingesetzt werden.«

Damit überlässt er sie sich selbst. In den Umkleiden, Männer rechts, Frauen – viele sind’s nicht, höchstens fünf – links, Reihen von Metallspinden und zwei Duschräume. Im Umkleideraum der Männer an einem Spind ein hochformatiges Poster, eine Nackte in lasziver Pose und mit emporgereckten Brüsten streckt Doche die Zunge heraus. Er dreht ihr den Rücken zu. Neben den Umkleiden ein Automat für Heißgetränke, ein Wasserspender, ein kleiner Kühlschrank, eine Kochplatte, darüber eine Mikrowelle. Das Nötigste.

Sous-Brigadier Montero betritt die Wache und brummt:

»Grünschnäbel, Chef, Grünschnäbel. Ist doch unglaublich. Labern uns voll, wunder was für ’ne Ausbildung und Qualifikation sie haben. Letztes Jahr musste ich fünf Tage Fortbildung über mich ergehen lassen, zweihundert Kilometer von zu Hause weg, keine Ahnung, wozu das gut war, und die schicken uns schon wieder Kinder hierher. Und obendrein ’ne Hilfspolizistin, noch so eine, bei der’s für die Aufnahmeprüfung zur Polizeischule nicht gereicht hat. Da siehst du, was sie von uns halten.«

Er setzt sich neben Brigadier-Chef Genêt hinter den Tresen. Der seufzt. »Lass gut sein. Die denken, wir sind ein Kindergarten. Wenn sie begreifen, dass ein Kommissariat in der Banlieue kein Kindergarten ist, können wir vielleicht anfangen, ernsthaft zu arbeiten.«

Der dritte Mann, Gardien Reverchon, zuständig für die Gewahrsamszellen, grinst. »Die Blonde ist doch was zum Bumsen. Ich weiß gar nicht, was ihr wollt.«

Sehr angespannt betreten die beiden jungen Nachwuchspolizisten die Wache. Isabelle Lefèvre hat für diesen ersten Tag den Uniformrock gewählt, zu dem sie ziemlich elegante Lederschuhe trägt. Genêt mustert sie.

»Ihre Uniform entspricht nicht den Vorschriften. Frisieren Sie sich, stecken Sie Ihr Haar fest, keine losen Strähnen. Und ziehen Sie morgen vorschriftsmäßiges Schuhwerk an.«

Isabelle errötet heftig.

»Gardien Doche, Sie sind dem Anzeigebüro zugeteilt. Sie helfen Sous-Brigadier Robert, er ist ein erfahrener Polizist, es gibt keinen besseren Ort, um den Beruf zu erlernen. Wir zählen auf Sie, Gardien Doche. Die Tür gegenüber, in der Eingangshalle, Sie fangen sofort an, Robert erwartet Sie.«

Doche zögert. Isabelle ist ein paar Schritte zurückgetreten, dreht ihm den Rücken zu. Er möchte etwas zu ihr sagen, sie am Arm berühren. Kriegt das nicht hin und verlässt die Wache.

Dann wendet Genêt sich Isabelle zu, die ihren Haarknoten zurechtrückt. »Und Sie sind der Autostreife im Stadtzentrum zugeteilt. Dienstantritt 14 Uhr. Seien Sie ab 13 Uhr 45 im Bereitschaftsraum.«

Isabelle bemüht sich, äußerlich ruhig zu bleiben. »Was mache ich bis dahin?«

Reverchon steht auf. »Ich habe im Moment nichts zu tun, Chef. Kann ich Hilfspolizistin Lefèvre die Räumlichkeiten zeigen?«

Genêt ist einverstanden, Reverchon schleppt Isabelle in die oberen Etagen, und Montero brummt weiter vor sich hin. Dieser blöde Reverchon denkt auch nur ans Vögeln.

Um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, durchquert Doche die Eingangshalle, die nach der kurzen Zeit ein ganz anderes Bild bietet. Männer und Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten und aller Hautfarben drängen sich hier, nur ein paar wenige Stühle, um sich zu setzen. Es ist schon heiß, der strenge Geruch nach abgestandener Luft, Schweiß und Desinfektionsmittel beißt in der Nase, der als Anmeldung dienende hölzerne Tresen ist von schimpfenden Menschen umringt, die murren und Doche aggressive Blicke zuwerfen, als er sich an ihnen vorbeischiebt. Das wird hart, du bist gewarnt.

Das Anzeigebüro, für den Publikumsverkehr noch geschlossen, ist ein Hort der Ruhe. Sous-Brigadier Émile Robert, ein rundlicher, freundlicher Mann in den Vierzigern, begrüßt ihn mit einem herzlichen Händedruck. Endlich mal einer … Doche könnte ihn küssen.

»Willkommen im Haus. Du wirst sehen, es gibt einen Haufen Araber in unserer Stadt, also ist hier jeden Tag ein bisschen Intifada. Nicht immer leicht, aber man gewöhnt sich. Und das Klima unter den Kollegen ist sehr familiär.«

Robert hat ihm seinen Arbeitsplatz eingerichtet, neben sich am Schreibtisch, und nimmt sich Zeit, ihm zu erklären, was er zu tun hat.

»Heute ist deine Arbeit sehr einfach, du machst dich mit allem vertraut, du siehst mir zu. Wenn ich die Aussage aufgenommen habe, machst du drei Ausdrucke davon, stempelst sie, lässt sie vom Anzeigeerstatter unterschreiben, heftest sie in diesem Ordner ab, und ich leite sie dann nötigenfalls an die zuständigen Dienststellen weiter. Wenn unser Kunde gegangen ist, stellst du mir alle Fragen, die dir einfallen, zögere nicht, dafür bin ich da.« Er geht zu einer Espressomaschine, die auf der Fensterbank steht. »Ein Käffchen, bevor’s losgeht?«

Doche sagt ja. Robert hebt seine Tasse wie zu einem Toast. »Dem Neuling zum Wohl.«

Ein brühheißer, rabenschwarzer Kaffee ohne Zucker: Oben im Norden hat er seinen Kaffee mit viel Milch und Zucker getrunken. All seine Gewohnheiten werden über den Haufen geworfen, und das gefällt ihm. Dann schaltet Robert die Sprechanlage ein, die mit der Anmeldung verbunden ist.

»Wir sind bereit, Michel. Schick die Kunden rein.«

Nachdem er die Neue im Eiltempo durch die oberen Etagen geführt und sie im Schnellverfahren dem Verwaltungspersonal vorgestellt hat, schleppt Reverchon sie mit ins Untergeschoss. Rechts am Fuß der Treppe, noch vor dem Aufenthaltsraum, ein Kabuff mit zwei Kopierern. Reverchon stößt Isabelle hinein, schließt die Tür mit einem Tritt und greift ihr im selben Schwung unter den Rock, reißt ihr den Slip herunter, hebt sie hoch, setzt sie auf den Kopierer und drückt auf Start, bevor sie noch weiß, wie ihr geschieht. Surrend spuckt das Gerät eine Kopie von Isabelles auf die Glasplatte gedrücktem Geschlecht aus. Reverchon beugt sich vor und greift danach, Isabelle lässt sich nach hinten kippen, zieht die Beine an und tritt ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, dass sein Jochbein nachgibt. Reverchon entfährt ein Schrei, den er unterdrückt, so gut es geht, und flüchtet mit der Kopie in der Hand.