Kevin Brooks

Johnny Delgado – Der Mörder meines Vaters

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Kevin Brooks

Kevin Brooks , geboren 1959, wuchs in einem kleinen Ort namens Pinhoe in der Nähe von Exeter/Südengland auf. Er studierte in Birmingham und London. Sein Geld verdiente er lange Zeit mit Gelegenheitsjobs. Seit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans ›Martyn Pig‹ ist er freier Schriftsteller. Für seine Arbeiten wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

 

Uwe-Michael Gutzschhahn, geboren 1952, studierte deutsche und englische Literatur in Bochum und lebt als Übersetzer und Autor, Herausgeber und freier Lektor in München. Er hat alle auf Deutsch erschienenen Bücher von Kevin Brooks übersetzt.

Über das Buch

Durch Zufall erfährt Johnny Delgado von einem Gangmitglied den Namen des Mannes, der seinen Vater, einen Polizisten, umgebracht haben soll. Johnny will die Wahrheit herausfinden – doch bleibt ihm dafür noch Zeit, bevor die Gangs in seinem Viertel sich einmischen?

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2006 Kevin Brooks

Titel der englischen Originalausgabe: »Johnny Delgado: Like Father, Like Son«,

2006 erschienen bei Barrington Stoke Ltd, Edinburgh

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky/dtv

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42575-9 (epub)

ISBN der gedruckten 978-3-423-71796-0

 

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www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423425759







Für Anna Gibbons,

ohne die es keinen Johnny geben würde

Es ist Weihnachtszeit …

Weihnachten war in der William-B.-Foster-Siedlung noch nie eine große Sache. Ein paar Jahre lang hatte die Stadtverwaltung auf dem Square einen Baum hingestellt, aber jedes Mal war er mutwillig zerstört worden, weshalb es jetzt keinen mehr gibt. Es hängt auch niemand Weihnachtsschmuck an die Tür, weil die Sachen doch nur geklaut werden. Und es kommen auch keine Sternsinger mehr, seit vor ein paar Jahren eine Gruppe zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde.

Nein, Weihnachten war in der William-B.-Foster-Siedlung noch nie eine große Sache.

Aber so schlimm wie dieses Jahr ist es bisher noch nie gewesen.

Das dachte ich an dem Abend, als ich vom Dach des North Tower auf die Siedlung herabsah. So schlimm wie dieses Jahr ist es bisher noch nie gewesen, überlegte ich. Und vielleicht ist das Ganze ja meine Schuld.

Es war ein eisiger Sonntagabend im Dezember, eine Woche vor Weihnachten, und ich wartete auf einen Freund, Marcus Hood. Marcus wohnt auf demselben Flur wie ich, im 16. Stock des North Tower. Ich hatte ihn angerufen und gefragt, ob wir uns um neun treffen könnten. Und jetzt stand ich also da und wartete.

Ich schaute auf meine Armbanduhr – 9.15 Uhr.

Marcus kam zu spät.

Ich schaute auf die Siedlung. Sie lag weit unten, 22 Stockwerke tief. Der Abend war dunkel, aber ich sah doch alles, was unten passierte. Ich sah die Gangtypen in ihren Kapuzenshirts auf dem Square rumhängen – junge, ältere, Weiße, Schwarze. Ich sah, wie sich die Gangs im Auge behielten – die Westies die E-Boys und die E-Boys die Westies. Ich sah, wie Leute aus den Fenstern der anderen beiden Hochhäuser nach unten schauten – besorgt, aufgeregt, verwirrt. Ich sah die Polizeiwagen am Ende der Straße. Sie warteten darauf, dass der Ärger losging. Ich beobachtete das alles im Flackerschein eines brennenden Autos auf der anderen Seite des Square.

Es sah nicht gut aus.

»Scheiße, ist das kalt.«

Eine Stimme in meinem Rücken. Auch wenn ich sie erwartetet hatte, schrak ich doch zusammen. Aber als ich mich umdrehte und sah, wie Marcus über das Dach auf mich zukam, musste ich lächeln. Er trug einen langen schwarzen Ledermantel, Fellhandschuhe, eine schwarze Fellmütze mit Ohrenklappen und dicke schwarze Yeti-Stiefel.

»Willst du auf die Jagd?«, fragte ich ihn.

»Ich hab dünnes Blut«, antwortete er. »Ich spür ganz einfach die Kälte, okay?«

»Dünnes Blut?«

»Ja.«

Ich lächelte. »Na ja, immerhin besser als dickes Blut, nehme ich an.«

Marcus sagte nichts. Er blieb neben mir stehen, rieb sich die Hände und schaute über die Dachkante hinab. Inzwischen stand ein Feuerwehrwagen neben den Polizeiautos. Die Feuerwehrleute beobachteten das brennende Fahrzeug, unternahmen aber nichts. Sie waren ja nicht bescheuert. Die wussten genau, was passieren würde, sobald sie sich dem Wagen näherten. Die Jugendlichen würden Steine und Flaschen werfen, das würde passieren.

Deshalb warteten die Feuerwehrleute einfach ab. Genau wie alle andern. Sie warteten, was passieren würde.

»Was glaubst du, wann es losgeht?«, fragte ich Marcus.

»Bald«, sagte er. »In ein paar Tagen wahrscheinlich.«

»Nicht heute Nacht?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, heute Nacht passiert nichts.« Er schaute nach unten auf die Siedlung. »Im Moment hauen sie alle nur mal ein bisschen auf den Putz. Zeigen den andern Gangs, was Sache ist. Aber wenn es richtig losgeht, ist davon nichts mehr zu sehen. Dann explodiert das Ganze wie aus dem Nichts.«

Er zündete sich eine Zigarette an und wir standen schweigend da. Wir beobachteten die Gangs unter uns. Von hier oben wirkten die Typen klein und harmlos, wie ruhelose Ameisen. Aber sie waren nicht harmlos. Das hatte ich vor ein paar Monaten selbst rausgefunden. Sie waren überhaupt nicht harmlos.

»Was ist los, Johnny?«, fragte Marcus.

Ich sah ihn an. »Nichts, ich hab nur nachgedacht …«

»Worüber?«

»Keine Ahnung. Über diesen ganzen Gangkram, nehme ich an.«

»Was ist damit?«

»Na ja … ich denk einfach immer, wenn ich mich damals nicht in die Sache mit Lee Kirk und Tyrell Jones hätte reinziehen lassen, würde das alles jetzt nicht passieren.«

»Doch, würde es«, antwortete Marcus. »Es wäre auf jeden Fall passiert. Kirk hätte dich nicht reinlegen müssen, um Tyrell loszuwerden, das hätte er auch so geschafft. Du warst einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, das ist alles.«

»Ja, aber …«

»Hör zu«, sagte Marcus, »es ist nicht deine Schuld, klar? So läuft die Gangscheiße einfach – es wär immer passiert, egal, was du getan hättest. Und zumindest hast du es geschafft, Kirk aus dem Verkehr zu ziehen.«

»Ja, wahrscheinlich …«

Marcus legte mir seine Hand auf den Arm. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte er.

»Was?«

»Du denkst zu viel nach.« Er grinste mich an, dann boxte er mir gegen den Arm und zog sich die Mütze über die Ohren. »Komm jetzt«, sagte er, »lass uns reingehen. Ich frier mir hier draußen die Eier ab.«

Während wir zu dem Blechschuppen auf der anderen Seite des Dachs gingen, dachte ich drüber nach, was Marcus gerade gesagt hatte. Ich wusste, dass er recht hatte – es war nicht meine Schuld. Lee Kirk saß hinter Gittern, weil er Tyrell Jones umgebracht hatte. Die zwei hatten die Westies-Gang organisiert. Das heißt, die Westies hatten auf einmal beide Anführer verloren und seither breiteten sich die E-Boys in ihrem Gebiet aus. Es war die übliche Gangscheiße, nichts weiter. Es wäre auf jeden Fall passiert, egal, was ich getan oder nicht getan hätte.

Aber ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen.

Wenn ich dies nicht getan hätte …

Wenn ich jenes nicht getan hätte …

Wenn ich nicht so dämlich gewesen wär …

Ja, dachte ich, aber wenn du überhaupt nichts getan hättest, wenn du dich einfach aus der Sache rausgehalten hättest, dann hättest du auch nie was über deinen Dad erfahren.

Das stimmte. Ich hätte tatsächlich nichts über meinen Dad erfahren. Und darum ging es schließlich.

Ich musste herausfinden, wer meinen Dad ermordet hatte.