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Impressum

Erste Auflage der Printausgabe März 2009

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von fotolio.

ISBN 978-3-89656-501-3

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Mehringdamm 33, 10961 Berlin

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Prolog

Irmgard Kärnter stellte ihre morgendliche Tasse Earl Grey sorgsam auf den Küchentisch und lauschte angestrengt. Irgendwo in ihrer Nähe schrie jemand … nein, es war mehr ein lang gezogener Klageruf, hell und dünn, als ob ein Kind weinen würde.

Die hagere, grauhaarige Frau runzelte verärgert die Stirn. Es gab hier keine Kinder. Sie hatte immer Wert auf ein ordentliches Haus gelegt, das sie in den siebziger Jahren von ihrem Vater geerbt hatte. „Dat du mir oppass, wen de hier ens reinläss, Liebelein! Mir han en ehrbahres Huus“, hatte ihr der Vater kurz vor seinem Tod noch mit auf den Weg gegeben. Da hatte er schon von der Sache mit seiner Leber gewusst. Eine Woche später war er am Tresen seiner Stammkneipe auf dem Lindentalgürtel tot vom Barhocker gefallen, das letzte Kölschglas noch fest umklammert. Das Versprechen, das ihr Vater ihr abgenötigt hatte, bedeutete natürlich in erster Linie keine Ausländer – schlimm genug, dass sie sich in Kalk und Mülheim breitmachten, rund um die Keupstraße wurde ja nur noch Türkisch gesprochen. Neulich hatte sie die Platzke von oben beim Lidl getroffen und die hatte ihr erzählt, dass sie doch tatsächlich von einem jungen Mann in gebrochenem Deutsch gefragt worden war, warum sie kein Kopftuch trug, als sie ihren Bruder auf dem Mülheimer Friedhof besucht hatte. So weit war es schon gekommen!

Irmgard Kärnters Versprechen hieß allerdings auch, dass keine Familien mit Kindern in die sechs Wohnungen einzogen, die sie hier in der Gleueler Straße schräg gegenüber der Universitätsklinik zu vermieten hatte. Kinder bedeuteten Geschrei im Treppenhaus, liegen gebliebenes Spielzeug im Vorgarten, zertrampelte Blumenbeete. Kinder machten Lärm und Unordnung. Kinderlose, ältere Ehepaare dagegen, allein stehende Damen und Herren oder – wie in den letzten Jahren – selbst Studenten, die sich zu einer Wohngemeinschaft zusammenfanden, das waren Mieter, die sie akzeptierte. Letztere allerdings nur, weil sie das Gewissen der pensionierten Bibliothekarin beruhigten, denn im Grunde betrachtete sie Studenten ebenfalls mit Misstrauen. Arbeit hatte in ihren Augen noch niemandem geschadet und gerade das war etwas, was man Studenten wohl kaum nachsagen konnte.

Eine dicke Fliege, die ihr schon seit einigen Minuten um den Kopf flog und sich nicht verscheuchen ließ, landete träge auf dem Tisch. Mit einer Schnelligkeit, die man einer Achtzigjährigen kaum zugetraut hätte, schlug Irmgard Kärnter zu und zermalmte das Insekt mit der bloßen Hand. Anschließend wischte sie die Finger an ihrer blau karierten Kittelschürze ab und fuhr mit einem feuchten Lappen über die Tischplatte.

Ein weiterer Schrei von oben ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Diesmal klang er kehliger und verzweifelter als zuvor, als hätte jemand seinen ganzen Weltschmerz hineingelegt. Irmgard Kärnter betrachtete ihre von Altersflecken übersäten Hände und das breite Pflaster, das ihren rechten Handrücken seit dem kleinen Unfall am Vortag bedeckte. Wahrscheinlich würde sie keine Ruhe finden, bis sie gegen die störenden Geräusche etwas unternommen hatte. Auf der Straße fuhr der 146er Bus Richtung Neumarkt vorbei, ein roter Fleck, der einige Fahrgäste an der nahe gelegenen Haltestelle Geibelstraße ein- und auslud. Sie sah auf das Zifferblatt der Standuhr in der Küchenecke. Kurz vor neun. Eine Stunde war vergangen, seitdem sie die Schreie zum ersten Mal gehört hatte. Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Sie hatte lange genug gewartet. Entschlossen griff sie zum Telefon und wählte den Notruf der Polizei.

Der Einsatzwagen fuhr schon wenige Minuten später vor; zwei junge Beamte, ein Mann und eine Frau, stiegen aus dem Auto. Irmgard Kärnter, die die Ankunft der Polizisten durch das Wohnzimmerfenster beobachtet hatte, erhob sich mit einem Ächzen, faltete den kaum gelesenen Express zusammen und griff nach dem Zweitschlüssel, der neben der Wohnungstür an einem Haken hing. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick auf den großen, braunen Umschlag, den sie am Vorabend auf ihrer Fußmatte gefunden hatte und der nun auf der Kommode in der Diele lag. Hastig schob sie ihn unter einen Stoß Papiere. Dann trat sie in den Hausflur.

„Die Schreie kommen von oben“, begrüßte sie die Beamten kurz angebunden und erklomm ohne Umschweife die Treppe in die darüberliegende Etage.

„Haben Sie denn schon versucht, mit dem Mieter zu sprechen?“, fragte die Polizistin. Sie trug eine blonde Ponyfrisur und hatte ein langes, eckiges Gesicht, das übermüdet aussah. „Geklingelt? Angerufen?“

Irmgard Kärnter musterte die junge Frau missbilligend über die Schulter hinweg, bevor sie ihren Weg fortsetzte. „Wer so schreit, bei dem ist etwas nicht in Ordnung. Und für so was wie Ruhestörung ist die Polizei doch zuständig, oder? Außerdem gibt es hier im Haus keine Kinder!“

„Kinder?“, mischte sich jetzt der Kollege der Polizistin ein, ein junger Mann mit Segelohren und einer unnatürlichen Sonnenbräune im Gesicht. „Wieso Kinder?“

„Die Geräusche hören sich nach einem schreienden Kind an und es gibt hier keine Kinder!“, wiederholte die Vermieterin ungeduldig.

„Ich kann nichts hören!“, erklärte der Beamte, als sie das erste Stockwerk erreicht hatten. Und tatsächlich, plötzlich war es ganz still im Haus, Irmgard Kärnter konnte ihrem eigenen Atem lauschen. Von der Straße drang Verkehrslärm nach oben: ein Notarztwagen, der die Uniklinik mit Martinshorn ansteuerte, ein knatternder Auspuff, eine Fahrradklingel; aus den vor ihr liegenden Wohnungen jedoch kam kein Laut. Irmgard Kärnter verharrte einige Augenblicke regungslos vor den Wohnungstüren und horchte angestrengt ins Nichts. Gerade wollte sie sich kopfschüttelnd umdrehen, als sie den lang gezogenen Schrei erneut hörte, nur diesmal viel lauter und deutlicher als vorher. Nicht aus der Wohnung links, sondern eindeutig aus der Wohnung von Herrn Borowsky genau über ihr. Und jetzt, wo sie an der Quelle des merkwürdigen Geräuschs war, konnte die Vermieterin es auch sofort einordnen. Die beiden Polizisten ebenfalls.

„Das ist eine Katze“, seufzte die Beamtin mit hochgezogenen Augenbrauen und sah ihren Kollegen vielsagend an. „Nur eine Katze.“

„Herr Borowsky hat einen Kater“, sagte Irmgard Kärnter fast entschuldigend. Die schwarzweiße, ziemlich fette Straßenmischung lief ihr manchmal im Treppenhaus über den Weg, weil das Tier die Angewohnheit hatte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit auszubüxen.

Aber das Geschrei war insistierend, durchdringend, und nach wie vor meinte sie, so etwas wie Trauer oder Schmerz heraushören zu können. Oder war es absurd, Tieren solche Emotionen zu unterstellen? Irmgard Kärnter hatte keinerlei Erfahrung mit tierischen Hausgenossen. Ihr wäre schon ein Wellensittich lästig gewesen.

„Na schön“, sagte der Polizist. „Wenn wir schon mal hier sind …“

Für einen Moment verharrten Irmgard Kärnters Augen auf der Wohnungstür der Nachbarwohnung, als ob sie befürchtete, durch den Spion beobachtet zu werden. Nachdem die Polizisten ihr zugenickt hatten, drückte die Vermieterin zögernd auf die Türklingel. Die Katze hörte sofort auf zu schreien. Stattdessen scharrten ihre Krallen hektisch an der anderen Seite der Wohnungstür, als wünschte sie sehnlichst, dass endlich die Tür geöffnet würde.

„Merkwürdig“, sagte die Polizistin und zum ersten Mal konnte Frau Kärnter so etwas wie Anspannung auf ihrem Gesicht erkennen.

„Herr Borowsky?“ Der Polizeibeamte presste sein Ohr an die Tür, aber außer dem Scharren der Krallen und dem wieder einsetzenden Maunzen erhielt er keine Antwort. In der Wohnung blieb alles still.

Irmgard Kärnter steckte den Generalschlüssel ins Schloss und registrierte noch nicht einmal ihre feuchten Hände, als sie öffnete. Die Tür war nur zugezogen. Solche Nachlässigkeiten spielten Einbrechern direkt in die Hände. Sie selber drehte den Schlüssel immer zweimal herum, bevor sie abends ins Bett ging.

Langsam schob sie die Tür auf und schrak gleich darauf heftig zusammen, als der Kater sie mit großen, gelben Augen im Halbdunkel der Diele anblitzte. Der Kater knurrte, sträubte das Fell und schoss dann wie ein Pfeil an ihr vorbei ins Treppenhaus. Reflexartig zuckte sie zurück und zog ihre verletzte Hand außer Reichweite. Mit klopfendem Herzen sah sie ihm nach. Sie hatte das Vieh noch nie leiden können.

Zögernd machten die Vermieterin und die Polizisten ein paar Schritte in die Wohnung. Unordentlich war es hier. Schmutzige Wäsche mit Kot- und Urinspuren lag verstreut auf der Erde, in der Küche stand dreckiges Geschirr in der Spüle, leere Pizzakartons und eine Tüte mit Essensresten vom Chinesen lagen in der Ecke, auf dem Tisch ein zerlesener Kölner Stadt-Anzeiger mit dem Datum vom Vortag. Die Arbeitsflächen waren schon lange nicht mehr abgewischt worden. Die Mülltonne quoll über und verbreitete einen fauligen Geruch – als hätte seit Tagen niemand mehr einen Handschlag getan.

„Er hat den Müll nicht getrennt!“, empörte sich Irmgard Kärnter. „Dabei haben wir die neuen Tonnen schon seit Monaten. Blau für Altpapier, gelb für Verpackung und die Restmülltonnen. Ich habe sogar einen Brief an alle Mieter geschickt damals.“

„Was für eine Sauerei!“, murmelte der Beamte. „Ekelhaft.“

„Hallo … Herr Borowsky?“ Irmgard Kärnter nahm ihren Mut zusammen und wagte sich noch ein wenig weiter in die Wohnung hinein, vorsichtig und mit stockenden Schritten. Niemand antwortete ihr.

Während die Polizistin sich in der Küche umsah, tasteten sich die Vermieterin und der Beamte bis zum Wohnzimmer vor und blieben dann im Türrahmen stehen, den riesigen Schreibtisch im Blick, der sich unter dem Fenster befand. Chaotisch sah es in diesem Zimmer aus, als wäre ein Sturm durch den Raum gezogen und hätte Teile des Mobiliars entwurzelt. Aufgerissene und ausgekippte Schubladen, zerstreute Unterlagen, Notizzettel, aufgeschlagene Aktenmappen auf dem Boden, überall lagen Bücher herum, sogar der Papierkorb war umgeworfen und entleert worden.

„Gibt es hier noch einen Raum?“, fragte der Polizist. Auch seiner Stimme war mittlerweile anzumerken, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

Mit der Hand vor dem Mund trat Irmgard Kärnter einen Schritt zurück, als es plötzlich hinter ihr einen lauten Knall gab und die Wohnungstür zuschlug. Ihr Herz pochte wild und unregelmäßig. Für einen Moment dachte die alte Frau, dass ihre letzte Stunde gekommen war. Reglos blieb sie stehen und wagte nicht zu atmen. Dann fiel ihr ein, dass sie die Tür aufgelassen hatte. Nur ein Windstoß. Die Zugluft musste sie ins Schloss gedrückt haben. Mit zitternden Händen schloss sie die Wohnzimmertür hinter sich.

„Das Schlafzimmer. Da hinten.“ Ihre Gefühle schienen sich auf ihrem Gesicht widerzuspiegeln, denn der Beamte erkundigte sich besorgt nach ihrem Befinden. Die Vermieterin wischte seine Worte energisch beiseite.

Aber als der Polizist die Tür zum Schlafzimmer aufstieß, verlor sie doch endgültig die Fassung. Ihre Augen weiteten sich und dann begann Irmgard Kärnter zu schreien – und dieser Schrei hörte sich sehr viel lauter und schriller an als die Geräusche, die Axel Borowskys Kater von sich gegeben hatte, um auf die Leiche seines Herrchens aufmerksam zu machen.

Eins

Das Telefon riss Oberkommissar Torsten Brinkhoff um zehn Uhr vormittags aus dem Tiefschlaf. Stöhnend vergrub der 32-Jährige seinen Kopf mit den verstrubbelten, blonden Haaren unter dem Kissen und versuchte, das Klingeln zu überhören.

Dass der Anrufer auch nach dem achten oder neunten Läuten nicht aufgab, verschlechterte seine Laune noch weiter, denn das konnte nur bedeuten, dass es sein Chef war.

Er gähnte und tastete mit verklebten Augen nach dem Hörer. „Was ist?“, meldete er sich abweisend.

„Noch zwei Klingeltöne und ich hätte dich mit einer Streife und Blaulicht abholen lassen!“, knurrte sein Vorgesetzter, 1. Kriminalhauptkommissar Lutz Beerbaum, am anderen Ende der Leitung. „Hab ich dich geweckt?“

„A-Allerdings“, murmelte Brinkhoff und leckte sich über die trockenen Lippen. „Heute ist mein freier Tag, f-falls du dich erinnerst.“ Jedes Mal, wenn er überrascht wurde oder unversehens in eine Stresssituation geriet, schimmerte ein Anflug seines frühkindlichen Stotterns wieder durch. Im Grunde war es mehr ein Hängenbleiben als ein Stottern – als würden seine Lippen über ein Hindernis stolpern und bräuchten einen Moment, um es zu überwinden. Zwar war es mithilfe einiger Sprachtherapien im Laufe der Zeit besser geworden, aber ganz in den Griff bekommen hatte er es nie – genauso wenig wie die Wut über die Witze, die deswegen hinter seinem Rücken gemacht wurden. Wenn Beerbaum den jungen Beamten nicht ein wenig unter seine schützenden Fittiche genommen hätte, wären die ersten Wochen im Polizeipräsidium ein einziges Spießrutenlaufen gewesen, nachdem er von Düsseldorf nach Köln versetzt worden war.

Sein Chef hatte Brinkhoff auch die Wohnung am Gotenring besorgt, kein Problem für jemanden, dessen Familie seit Generationen in Köln ansässig und durch Onkel, Neffen, Kusinen und Schwippschwager in jedem Stadtteil bestens vernetzt war. In diesem Fall war es die beste Freundin der Schwester von Beerbaums Frau Roswitha gewesen, die jeden Tag bei Plus auf der Deutzer Freiheit an der Kasse saß und von einer Kundin von der freigewordenen Wohnung gehört hatte. Gegenüber Brinkhoff hatte Beerbaum allerdings vergessen zu erwähnen, dass genau unter dem Schlafzimmerfenster die Linien 3 und 4 der KVB entlangfuhren und ihr Rattern Brinkhoff noch im Bett vibrieren ließ. Der Autoverkehr, der den Gotenring Richtung Innenstadt via Severinsbrücke passierte, tat ein Übriges, um dem Kommissar in der ersten Zeit schlaflose Nächte zu bereiten. Hupen schien in Köln eine Art Volkssport zu sein.

Plötzlich verspürte Brinkhoff einen ungeheuren Durst und angelte mit der freien Hand nach der Flasche Mineralwasser, die neben seinem Bett stand.

„Freier Tag? Vergiss es“, erwiderte Beerbaum währenddessen mitleidslos. „Wir haben Kundschaft. Eine Leiche in Lindental. Gleueler Straße.“

„Na und?“ Brinkhoff versuchte, gleichzeitig den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr zu klemmen und einen Schluck zu trinken, mit dem Ergebnis, dass ihm das Telefon herunterfiel und das Wasser sich über sein T-Shirt ergoss. Fluchend setzte er sich auf. „Können das nicht Moretti und Schmidt übernehmen? Die schieben doch im Moment sowieso nur Akten hin und her! Ich wollte heute … he, Moment mal, was haben wir mit Mord zu schaffen? Dafür ist doch …“

„Der Fall wird auch nicht von uns bearbeitet“, wurde er von seinem Vorgesetzten kurzerhand unterbrochen. „Ich habe dich an das KK 11 ausgeliehen, die haben schon eine Mordkommission gebildet.“

„Oh.“ Brinkhoff versuchte die Informationen, mit denen er bombardiert wurde, zu verarbeiten. Dass sein Schädel schmerzte, war dabei nicht besonders hilfreich. Natürlich freute er sich, denn deswegen war er zur Kripo gegangen. Davon hatte er schon geträumt, als er noch in den Lehrsälen der Polizeihochschule gesessen hatte. Aber es war höchst ungewöhnlich, dass jemand wie er, der erst vor Kurzem bei der DirK, der Direktion Kriminalitätsbekämpfung, angefangen hatte, sofort in eine Mordkommission berufen wurde. Üblicherweise hätte er mehr als einige Wochen Einarbeitungszeit hinter sich bringen müssen, bevor er überhaupt an die Mitarbeit in einer MK denken durfte. Irgendwo musste da ein Haken sein. So viel Glück konnte man gar nicht haben.

Mordkommissionen bestanden in der Regel aus fünf oder sechs festen, „schlafenden“ Mitgliedern, die routinemäßig ihren Dienst bei der Sitte, dem Erkennungsdienst, der Bandenkriminalität, den Gewaltdelikten oder anderen Kriminalinspektionen der DirK und den ihnen unterstehenden Kommissariaten versahen. Sobald sich bei einem Leichenfund Verdachtsmomente für ein Tötungsdelikt ergaben, wurde eine Mordkommission eingesetzt und die entsprechenden Leute zusammengezogen. Und das waren meist altgediente oder zumindest erfahrene Beamte, die die Sache schon seit Jahren machten, sich kannten und gut aufeinander eingespielt waren.

„Wieso ich?“, fragte Brinkhoff dann auch.

„Die haben krankheitsbedingte Ausfälle. Grippe oder so.“

„Ah! Und wer ist der Leiter der Mordkommission?“

Beerbaum zögerte einen Moment. „Plasberg”, sagte er schließlich.

„Was?“ Brinkhoff war nun endgültig hellwach. „B-b-bist du irre? Plasberg hasst den Boden, auf dem ich gehe!“

Kriminalhauptkommissarin Maria Plasberg galt als enfant terrible des gesamten Dezernats. Als Mitglied des Kriminalkommissariats 11, zuständig für Tötungsdelikte bei der Kripo Köln, und Leiterin der MK 3, scherte sie sich einen Dreck um die vorgegebenen Polizeistrukturen. Sie neigte dazu, sich ständig in die laufenden Ermittlungen der mit ihr arbeitenden Kommissare einzumischen und rundweg ganze Morduntersuchungen an sich zu ziehen. „Dienstweg“ war ein Wort, das in ihrem Vokabular nicht existierte. Dass sie dabei ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigte, sprich, die Arbeit der Mordkommission zu koordinieren und nach oben und außen zu vertreten, machte ihr wenig aus. Gesprächstermine mit dem Direktionsleiter der DirK, dem Behördenleiter oder außenstehenden Institutionen, wie zum Beispiel den Medien, auf deren gute Zusammenarbeit die Kriminalpolizei angewiesen war, endeten selten erfreulich. Daher wurde die geschiedene, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern als ausgesprochen „schwierig“ bezeichnet. Torsten Brinkhoff konnte sich niemanden vorstellen, mit dem er weniger gern zu tun hatte.

„Sie hat aber ausdrücklich dich angefordert“, erklärte Beerbaum.

Allein diese Tatsache war so ungewöhnlich, dass Brinkhoff ungläubig schnaubte. „Warum? Hat sie eine sadistische Ader an sich entdeckt und will mich fertig machen?“

Lutz Beerbaum am anderen Ende der Leitung zuckte unbarmherzig die Schultern. Zwar war er sich bewusst, in was für eine schwierige Situation er seinen Mitarbeiter brachte, aber diese Meinung behielt er wohlweislich für sich. Er konnte und wollte im Dienst auf die persönlichen Animositäten zwischen einzelnen Polizeibeamten keine Rücksicht nehmen. Sein Schützling war in diesem Fall die beste Wahl und das schien auch Kollegin Plasberg zu denken, sonst hätte sie nicht zähneknirschend, aber hochoffiziell um die Mitarbeit von Torsten Brinkhoff gebeten. Und er hätte ihrem Wunsch nicht stattgegeben.

„Sieht aus, als wäre der Tote homosexuell gewesen“, wurde er endlich deutlicher.

Brinkhoff lachte humorlos auf. „Ach, jetzt komm mir doch nicht mit diesem Klischee. Als ob ein schwuler Polizeibeamter den Mord an einem Schwulen eher aufklären könnte als ein Hetero-Beamter. Das ist doch Scheiße!“

„Plasberg scheint jedenfalls dieser Ansicht zu sein.“ Beerbaum fingerte eine Zigarette aus der Packung auf seinem Schreibtisch, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. Irgendwie hatte er trotzdem ein schlechtes Gewissen Brinkhoff gegenüber, auch wenn er sich am Telefon nichts anmerken ließ. Dann drückte er die Zigarette hastig wieder aus und wedelte mit der Hand, um den Qualm zu vertreiben. Erst gestern hatte er seiner Frau hoch und heilig versprochen, das Rauchen zu reduzieren, nachdem sie ihn zum wiederholten Male energisch auf sein Übergewicht und seinen Bluthochdruck hingewiesen und ihn vor die Wahl gestellt hatte, entweder auf sein geliebtes Kölsch oder die Zigaretten zu verzichten. Außerdem war Rauchen im Präsidium sowieso verboten.

„Aber ich …“, hörte er Brinkhoffs quengelnde Stimme.

„Schluss jetzt“, beendete Lutz Beerbaum die Diskussion. „Ich habe Plasberg gesagt, dass du in spätestens einer Stunde bei ihr bist. Gleueler Straße 67, das ist hinter der Uni. Du hast also sogar noch Zeit, unter die Dusche zu springen.“

„Ich weiß, wo die Gleueler Straße ist.“

„Umso besser. Und ich will kein Gemecker von dir hören, es sei denn, sie beschimpft dich nachweislich und vor Zeugen als blöde Tunte oder so.“

„So dämlich wird sie nicht sein“, erwiderte Brinkhoff verärgert. „Sie wird wahrscheinlich ein wenig subtiler vorgehen. Wie alle meine Kollegen.“ Damit warf er den Hörer auf die Gabel und ließ sich zurück auf sein Bett fallen.

Einige Augenblicke verharrte er in dieser Stellung und spielte mit dem Gedanken, sich krank zu melden. Es war Wochen her, seit er das letzte Mal ausgeschlafen hatte. Wenn ihm vor zehn Jahren auf der Polizeihochschule jemand gesagt hätte, dass es später einmal zu seinen Pflichten gehören würde, dem Dienst jederzeit sein Privatleben zu opfern, dann wäre er wahrscheinlich doch Verwaltungsbeamter geworden, wie es seine Mutter gewollt hatte, mit geregelten Arbeitszeiten von neun bis siebzehn Uhr und garantiert freien Wochenenden. Sein Leben wäre sehr viel ruhiger verlaufen und er hätte sich nicht jeden Tag mit Schleppern, Kinderschändern, Zuhältern und was ihm sonst noch so über den Weg lief, abgeben müssen. Erst vor kurzer Zeit war er in das KK 12 aufgerückt, aber schon jetzt hatte er das Gefühl, dass sich der sprühende Idealismus, mit dem er den Dienst angetreten hatte, eintrübte und hin und wieder einem gewissen Ekel vor den Menschen wich, mit denen er es zu tun bekam. Doch schließlich kämpfte er sich missmutig aus dem Bett und schlich ins Bad.

Wie immer stieß er sich in der Duschkabine die Ellbogen – mit einer Größe von 1,90 Meter und der Statur eines Basketballspielers war Brinkhoff einfach nicht gebaut für enge, schmale Räume –, aber nachdem das heiße Wasser seine Durchblutung angeregt hatte, fühlte er sich etwas besser. Er bereute zutiefst, dass er am Abend noch um die Häuser gezogen war und erst gegen vier Uhr ins Bett gefunden hatte. Jemand, der ihn interessiert hätte, war ihm dabei sowieso nicht begegnet. Nicht einmal Markus Clement hatte er getroffen. Aber er wäre ohnehin zu betrunken gewesen – nicht, dass jemals etwas zwischen ihnen laufen würde. Das hatte sich Brinkhoff schon lange abgeschminkt, anscheinend fiel er nicht in Markus’ Beuteraster. Warum gab es eigentlich keine wissenschaftliche Untersuchung über den Zusammenhang von Überarbeitung und sexuellen Defiziten bei Polizeibeamten? Jedenfalls hämmerte sein Schädel. Er musste entschieden zu viel getrunken haben. Angefangen hatte er im „Edelweiß“, einer Eckkneipe auf der Hohe Pforte, wo sie zu seinem Entsetzen den ganzen Abend deutsche Schlager gespielt hatten, anschließend war er schräg gegenüber ins „Zipps“ gegangen, aber dort war nichts los gewesen, und dann war er Richtung Mühlenbach zum „Cox“ gewankt. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er aus dem „Hühnerfranz“ am Alter Markt herausgestolpert war und bei „Fisch-Biggi“ am Heumarkt einen Backfisch gegessen hatte. Vielleicht hätte er das lassen sollen, aber es war die einzige Imbissbude, die um die Uhrzeit noch geöffnet hatte. Sogar der Dönerladen nebenan, bei dem es seiner Meinung nach den besten Hähnchendöner der Stadt gab, hatte geschlossen.

Er unterdrückte ein Gähnen und rubbelte seine widerspenstigen Haare trocken, rieb etwas Gel hinein, damit es so aussah, als wären die abstehenden Haarsträhnen gewollt, putzte sich die Zähne und entschied während eines flüchtigen Blicks in den Spiegel, dass er seinen Dreitageflaum am Kinn erst am nächsten Tag stutzen musste. Sein Bartwuchs war sowieso nicht der Rede wert. Vorsichtshalber warf er noch zwei Aspirin ein. Im Hausflur drang türkische Popmusik aus der Wohnung unter ihm und das Stimmengewirr der dort lebenden vielköpfigen Familie. Dann gab es einen heiseren Schrei und die Musik verstummte plötzlich. Anscheinend hatte Herr Öcal, das Familienoberhaupt, ein Machtwort gesprochen. Kurz darauf saß Brinkhoff in seinem Wagen und machte sich von Deutz aus auf den Weg zum Tatort.

Zum ersten Mal in diesem Monat schien sich das Wetter der Jahreszeit anpassen zu wollen. Während die Wochen zuvor ein stabiles Hochdruckgebiet dem gesamten Rheinland einen angenehmen Spätsommer beschert und Torsten Brinkhoff dazu verleitet hatte, seine knapp bemessene Freizeit so oft wie möglich draußen beim Rollerblading über die Rheinpromenade bis hinunter zur Mülheimer Brücke zu verbringen, türmten sich an diesem Morgen Wolken am Himmel, die das Nahen des Herbstes prophezeiten. Dazu pfiff ein stürmischer Wind, der Fußgänger und Radfahrer veranlasste, ihre Jacken zuzuknöpfen und die Kragen hochzuschlagen. Nur dem Dom schien das Wetter nichts auszumachen. Trotzig aufgereckt ragte die gotische Kathedrale über die engen Gassen der Altstadt, eingerahmt von der futuristischen blauen Kuppel des Musical Domes und der modernen Backstein- und Zinkfassade des Museums Ludwig. Dem Kommissar huschte unwillkürlich ein Lächeln über die Lippen, wie immer, wenn er mit dem Auto über die Deutzer Brücke auf die andere Rheinseite Richtung Innenstadt fuhr und das Altstadtpanorama vor sich sah. Allein für diesen Blick lohnte es sich, in Köln zu wohnen.

Brinkhoff erinnerte sich, dass sein erster Eindruck von Köln ein ganz anderer gewesen war. Nachdem er hierher versetzt worden war, hatte er sich mit Bahn und Bus und zu Fuß aufgemacht, um seine neue Heimat zu erkunden – und war entsetzt gewesen, welche Nachkriegsbausünden noch heute das Stadtbild prägten: Die Nord-Süd-Fahrt, die die Innenstadt wie ein lang gezogener Schnitt mit einem Messer zerteilte. Der Barbarossaplatz, vor dem Krieg einer der schönsten Plätze der Stadt, heute kaum als solcher wiederzuerkennen und nur noch als Knotenpunkt der KVB interessant. Das scheußliche Fernmeldeamt an der Cäcilienstraße, und und und … Es hatte eine Weile gedauert, bis er sich mit den Makeln der Stadt arrangiert hatte. Mittlerweile jedoch reagierte er wie alle Kölner: Er sah über die Fehler mit einem Achselzucken hinweg, schob sie dem allgegenwärtigen kölschen Klüngel in die Schuhe und konzentrierte sich lieber auf das Leben und Wohnen in seinem „Veedel“ – mit gelegentlichen Ausflügen in das schwule Nachtleben Kölns.

Die Straßen der Innenstadt waren natürlich verstopft; geradezu unerträglich war die Situation geworden, seitdem der U-Bahnbau der Nord-Süd-Trasse begonnen hatte und jeden Tag neue Umleitungen aus dem Boden schossen. Dazu kam noch das besondere kölsche Geschick, gleich mehrere Großbaustellen gleichzeitig zu bewirtschaften – in diesem Fall eine großflächige Fahrbahnreparatur des Rhein-Ufer-Tunnels, was den Verkehr endgültig zusammenbrechen ließ. Auf der Pipinstraße geriet der Kommissar prompt in einen Stau, weil ein Lkw mit einer Fuhre Sand die schmale Auffahrt zur Baustelle nicht heraufkam und die Fahrbahn blockierte. Zwei Arbeiter neben dem Fahrzeug diskutierten unaufgeregt und in breitestem Kölsch, was nun zu tun sei, und kamen zu dem Ergebnis, erst mal auf ihren Vorarbeiter zu warten. Aber Torsten Brinkhoff war heute zu sehr mit sich selber beschäftigt, um sich darüber aufzuregen. Der Gedanke an Maria Plasberg und ihre stets nach unten gezogenen Mundwinkel drohte ihm erneut den Tag zu vermiesen.

Er würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen!, dachte er verbissen, während er sich durch den vormittäglichen Stadtverkehr friemelte. Er würde schön cool und höflich bleiben und der dummen Kuh ein bisschen in den Arsch kriechen. Das konnte doch nicht so schwer sein!

Der Tatort befand sich in einem der Ortsteile, die sich direkt jenseits der Ringe an den alten Stadtkern schmiegten. Wie das ursprüngliche Köln rund um den Dom hatte auch Lindental unter dem Bombenhagel des Krieges schwer gelitten und war zu sechzig Prozent zerstört worden; nun wurde es von den Gebäudekomplexen der Universität und den Unikliniken dominiert, die größtenteils aus den sechziger und siebziger Jahren stammten. Das Haus Gleueler Straße 67 lag schräg gegenüber der Zentralbibliothek der Medizin, ganz in der Nähe der Uniklinik und deren Bettenhochhaus, das sich wie ein gigantischer Stahl- und Betonkoloss aus dem Meer der umliegenden, bescheidenen Mehrfamilienhäuser und Wohnsiedlungen abhob. Es war ein dreistöckiger Gründerzeitbau, der eine Sanierung dringend nötig gehabt hätte. Früher einmal war das Haus sicherlich ein Schmuckstück gewesen, doch der Stuck war längst abgeschlagen worden. Die ehemals strahlend gelbe Fassade hatte die Farbe undefinierbaren Schleims angenommen, der Putz um die Fenster und die Erker bröckelte, verschmierte Graffiti bedeckten die Mauern des Erdgeschosses. Vor dem Haus befand sich ein schmaler Streifen mit immergrünen, pflegeleichten Sträuchern. Das Einzige, was daran erinnerte, dass das Haus einmal bessere Zeiten gesehen hatte, war der über der Eingangstür eingemeißelte Spruch „Gott zum Gruße“. In einem Fenster im Parterre konnte Brinkhoff für einen Moment das Gesicht einer grauhaarigen, alten Frau erkennen, die ihn misstrauisch musterte, bevor sie die Gardine zuzog.

Vor dem Haus standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei und ein Wagen des ärztlichen Notdienstes. Zwei Kollegen von der Streife, die er flüchtig kannte, sicherten das Gebäude. Die Stimmung unter den Schaulustigen, die sich auf dem Bürgersteig versammelt hatten, war neugierig bis entspannt, als ob hier eine neue Folge der Lindenstraße gedreht würde. Brinkhoff schüttelte den Kopf. Noch hatte er sich nicht daran gewöhnen können, dass den Kölner an sich nichts so leicht aus der Ruhe brachte.

Einer der Beamten tippte sich an die Mütze und nickte dem Kommissar zu, während er ins Haus ging. „Erster Stock rechts!“, rief er ihm nach. „Und sie hat schlechte Laune!“ Brinkhoff rang sich ein gequältes Lächeln ab.

Als er die Wohnung betrat, waren zwei Mitarbeiter des Erkennungsdienstes schon damit beschäftigt, die Räume nach Fingerabdrücken zu untersuchen, mögliche DNA-Spuren zu sichern und Fotos vom Fundort der Leiche zu machen. Kriminalhauptkommissarin Maria Plasberg war im Schlafzimmer und unterhielt sich mit dem Arzt. Obwohl ihm die schmale Mitvierzigerin den Rücken zukehrte, erkannte Brinkhoff sie sofort an ihren kurz geschnittenen, feuerroten Haaren, der kerzengeraden Körperhaltung und ihrer schneidenden Stimme, die jede Form von Annäherung und Intimität im Keim zu ersticken suchte. Das Einzige, was für sie sprach – und weshalb sie sich in der männerdominierten Welt der Polizei so weit hatte vorarbeiten können –, war die Tatsache, dass die von ihr geleiteten Ermittlungen die höchste Aufklärungsquote aller Mordkommissionen im Rheinland besaßen. Und eine solche Leistung heftete sich der Polizeipräsident von Köln nur zu gerne ans Revers.

Eine grüne Bluse und schwarze Jeans bildeten den Kontrast zum echten Rot von Plasbergs Haaren, flache Schuhe ließen sie noch kleiner erscheinen, als sie sowieso schon war. An ihrer rechten Schulter baumelte etwas, das wie eine riesige tote Ratte aussah. Wohl eine ihrer ausgefallenen Handtaschenkreationen, für die Plasberg neben ihrer schlechten Laune bekannt war. Angeblich besaß sie mehr als fünfzig verschiedene Modelle, eine grotesker als die andere.

Als sie Brinkhoffs Schritte im Raum hörte, unterbrach Maria Plasberg ihr Gespräch mit dem Arzt. „Sie sind zu spät, Kollege! In meiner MK wird Wert auf Pünktlichkeit gelegt“, zischte sie, ohne sich umzudrehen.

Brinkhoff versuchte die beißende Ironie zu überhören, die Plasberg bei dem Wort „Kollege“ benutzt hatte, und sah reflexartig auf seine Armbanduhr. Eine Stunde und zwei Minuten waren seit Beerbaums Anruf verstrichen. Plasberg musste die Zeit gestoppt haben.

„Tut mir l-leid“, brachte Brinkhoff mühsam hervor. „S-Soll nicht wieder vorkommen.“

Jetzt endlich drehte sich die Kommissarin um und musterte Brinkhoff mit einem säuerlichen Lächeln. Im Gegensatz zu anderen Leuten schien sie sich von seiner schieren körperlichen Statur nicht beeindrucken zu lassen. Der Kommissar hatte eher das Gefühl, dass Plasberg ihre unproportionalen Größenverhältnisse als persönlichen Affront betrachtete. Sie quittierte seine Entschuldigung mit hochgezogenen Augenbrauen und lenkte für den Augenblick ein.

„Hier, ziehen Sie sich die Dinger über“, sagte sie mürrisch und warf ihm ein paar Einweghandschuhe zu. „Wollen Sie nicht wissen, worum es geht?“

„Doch, natürlich.“

Plasberg trat zur Seite und gab den Blick auf den hinteren Teil des Schlafzimmers frei.

Mit dem Rücken zur Wand hockte in der linken Zimmerecke eine in sich zusammengesunkene, völlig ausgemergelte männliche Gestalt. Der Mann war nur bekleidet mit einer grauen Jogginghose, die ihm früher vielleicht einmal gepasst hatte, aber jetzt an seinen Beinen und an den Hüften schlotterte. Unter- und Oberarme waren so dünn, dass Brinkhoff und vielleicht sogar die zierliche Hauptkommissarin sie mit einer Hand hätten umfassen können. Das Gesicht war so abgemagert, dass die Kontur des Schädels hervortrat, das Kinn seit mehreren Tagen unrasiert, die Nase spitz, die Wangen eingefallen und die offenen Augen, die an die Decke starrten, lagen tief in ihren Höhlen. Früher einmal mochte das Opfer ein gut aussehender Mann gewesen sein, aber jetzt fühlte sich Torsten Brinkhoff unwillkürlich an Bilder aus Konzentrationslagern erinnert. Die Haare des Mannes waren strähnig und fettig, anscheinend hatte er es mit der Körperpflege in den letzten Tagen nicht so genau genommen. Der Oberkörper war nackt, die Haut faltig wie bei einem vergammelten Pfirsich, und Brinkhoff konnte jeden einzelnen Rippenbogen sehen. Brust, Bauch, Hose und Hände des Mannes waren blutverschmiert. Mit bloßem Auge konnte der Kommissar zwei Einstiche im Körper des Opfers erkennen, einer in der Nähe des Herzens, einer im Bauchbereich. Auffällig war, dass der Tote auf dem rechten Handrücken eine Braunüle trug, einen künstlichen Venenzugang, wie man ihn für Infusionen im Krankenhaus benutzte. Auch aus der Bauchdecke ragte ein Fremdkörper, etwas, das wie ein dünner Schlauch aussah, und neben dem Toten lag ein umgekippter Infusionsständer.

Der ganze hintere Teil des Schlafzimmers war mit Blutspuren übersät, genauso wie die hellgrünen, streifig gemusterten Bezüge auf dem in der anderen Ecke des Raumes stehenden Bett. An den beige getünchten Wänden, auf dem Teppichboden, auf dem Nachttischchen neben dem Bett und sogar an den weißen Regalen – überall klebte Blut.

„Puh!“, rutschte es Brinkhoff heraus. Er musste sich zusammenreißen, damit ihm nicht schlecht wurde. Allzu viele Leichen hatte er noch nicht gesehen und eine derart zugerichtete schon gar nicht.

„Darf ich vorstellen?“, sagte Maria Plasberg sarkastisch. „Axel Borowsky oder besser das, was von ihm noch übrig ist. Alter: vierzig Jahre, geboren in Erfurt. Viel mehr kann ich Ihnen auch noch nicht sagen. Bisher haben wir nur den Personalausweis gefunden.“

„Todesursache?“

Plasberg sah ihn spöttisch an. „Na ja, sieht jedenfalls nicht so aus, als ob er ertränkt worden wäre“, erwiderte sie lapidar.

„Zwei Einstichwunden, vielleicht ein großes Küchenmesser“, mischte sich der Arzt in die Unterhaltung ein und begrüßte Brinkhoff mit einem ironischen Nicken. Anscheinend hatte auch er schon Bekanntschaft mit Plasbergs Umgangsformen gemacht. Der Mann besaß eine Figur, die Brinkhoff unwillkürlich an den Köbes aus einem Brauhaus erinnerte: ein aufgeblähter Unterleib, auf dem ein ebenso wuchtiger Brustkorb und ein kleiner, spitz zulaufender Kopf saßen. Getragen wurde dieser unförmige Körper von zwei streichholzartigen Beinen, die aussahen, als würden sie jeden Moment unter der auf ihnen ruhenden Last zusammenknicken. Außerdem hatte der Arzt die ansteckende Angewohnheit, alle paar Sekunden nervös mit den Wimpern zu zucken. „Der eine Stich hat die rechte Herzkammer getroffen, aber der Stich in den Bauch hätte auch gereicht. Das Opfer wäre dann nur langsam verblutet. Welcher Stich ihm letztendlich den Garaus gemacht hat, kann ich nicht sagen. Da sollten Sie die Obduktion in der Rechtsmedizin abwarten. Nach dem Blutverlust zu urteilen, war der Stich in den Bauch wohl der erste, der Stich in den Brustbereich kam danach.“ Der Arzt zuckte mit den Achseln und grinste jovial.

„Das Messer haben wir bisher noch nicht gefunden“, ergänzte die Kommissarin. „Aber es scheint dem Opfer selbst gehört zu haben. Im Messerblock in der Küche fehlt eins. Haben die Kollegen von der Streife schon festgestellt.“

„Das heißt, der Täter hat diesem Borowsky womöglich noch zugesehen beim Todeskampf?“, fragte Brinkhoff angewidert.

„Das Opfer ist anscheinend nach der ersten Attacke aus dem Bett gekrochen, am Nachttisch und dem Bücherregal vorbeigerobbt, auf allen vieren an der Wand entlang bis in die Ecke da“, antwortete Plasberg unwirsch, zupfte aber nachdenklich ein paar Haare an ihrer fellbesetzten Handtasche glatt. „Vielleicht eine Art Fluchtreflex. Nicht, dass es ihm viel genutzt hat. In der Ecke hat er dann den nächsten Stich kassiert.“ Ihre ausgestreckte Hand verfolgte die Blutspur an den Möbeln, der Tapete und auf dem Teppich bis zu der Zimmerecke, in der Axel Borowsky kauerte wie eine Gummipuppe, aus der die Luft entwichen war. „Abgesehen von den Messerstichen weist das Opfer weitere Spuren von Gewalteinwirkung auf – sehen Sie mal da am Hinterkopf die Prellung.“

Der Notarzt schüttelte unentschlossen den Kopf. „Könnte die Folge eines heftigen Schlages oder aber auch eines Sturzes sein. Auf jeden Fall wird er eine schwere Gehirnerschütterung gehabt haben.“

„Also keine eindeutige Fremdeinwirkung?“

„Die Messerstiche sicherlich. Die Prellung am Hinterkopf … kann ich nicht sagen. Das darf der Kollege von der Rechtsmedizin bei der Autopsie entscheiden. Aber was auch immer es war, ich könnte mir vorstellen, dass der Mann nach dem Schlag oder dem Sturz einige Zeit ohnmächtig gewesen ist. Der Aufprall war sehr heftig, dafür spricht die Größe der Beule.“

Plasberg studierte aufmerksam einen kleinen, dunklen Fleck an der Wand in der Nähe des Bettes, der sich ungefähr in Kopfhöhe befand, und wies die Mitarbeiter der Spurensicherung an, dort ebenfalls nach DNA-Spuren zu suchen.

„Schön“, sagte Brinkhoff und schluckte. „Okay. Aber was habe ich damit zu tun?“ Er sah die Hauptkommissarin fragend an. „Beerbaum hat gesagt, Sie hätten ausdrücklich nach meiner Unterstützung gefragt. Bisher kann ich nichts erkennen, was darauf schließen lässt, dass das Opfer schwul war …“

„Zeigen Sie’s ihm, Doktor“, erwiderte Plasberg.

Der Arzt deutete auf eine offen stehende Schublade des Nachttischchens. Brinkhoff konnte Medikamentenschachteln, Spritzen und Kanülen erkennen, daneben Desinfektionsmaterial und Einmal-Gummihandschuhe. „Die Medikamente sind ausschließlich HIV-Medikamente – Zerit, Sustiva und Epivir – und Medikamente, die im Zusammenhang mit Nebenwirkungen der HIV-Medikamente stehen. Da ist was gegen Durchfall, gegen Übelkeit und Erbrechen, Pilzinfektionen und MST 20, ein Schmerzmittel auf Morphinbasis – das im Übrigen gar nicht so frei hier herumliegen dürfte“, erläuterte er. „Außerdem hat der Mann Glukose, also Flüssigkeit, über die Braunüle erhalten und er ist über eine PEG-Sonde ernährt worden, zumindest zeitweise. Eine nette Sammlung, alles in allem.“

„Was für eine Sonde?“

Der Notarzt rollte entnervt die Augen. „PEG: Perkutane endoskopische Gastrostomie. Eine zusätzliche, flüssige Nahrungszufuhr mithilfe einer Pumpe und dieses Schlauches in der Bauchdecke. Wird dann angewandt, wenn eine ausreichende Ernährung über den normalen Weg nicht mehr gesichert ist, beispielsweise bei einer Erkrankung der Speiseröhre oder Störungen des Schluckreflexes. Ich bin zwar kein Spezialist, aber wenn Sie mich fragen: Aids im Endstadium. So ausgezehrt wie der Mann aussieht, hätte er wahrscheinlich höchstens noch ein paar Monate oder vielleicht sogar nur Wochen gehabt.“

„Das heißt noch lange nicht, dass er schwul war“, wandte Brinkhoff ein. „Haben Sie schon mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er ein Junkie war oder einfach nur ein Heteromann, der sich was-weiß-ich-wie infiziert hat? HIV-positive Nutten gibt’s schließlich wie Sand am Meer.“ Der anschwellende Zustrom illegaler Prostituierter insbesondere aus Osteuropa machte dem KK 12, der Sitte, seit langem zu schaffen. Die Mädchen wurden von ihren Zuhältern verheizt und häufig gezwungen, ihre Dienste auch ohne Gummi anzubieten.

Maria Plasberg ging wortlos in die andere Zimmerecke und griff unter das Bettgestell. „Ein heterosexueller Junkie, der schwule Pornos liest?“, sagte sie triumphierend und hielt Brinkhoff süffisant lächelnd ein paar Magazine unter die Nase, auf deren Cover nackte Männer in eindeutigen Posen zu sehen waren und deren Titel ihm teilweise durchaus bekannt waren.

„Na gut“, seufzte er, „gehen wir also davon aus, dass dieser Borowsky auf Kerle stand und Aids hatte. Das beantwortet meine Frage noch nicht: Warum ich? Ich bin noch nicht mal bei den Tötungsdelikten, sondern bei den Sexualdelikten. Was prädestiniert mich, Ihnen in diesem Fall zu helfen, außer der Tatsache, dass der Tote und ich homosexuell sind?“

„Nichts“, erwiderte Plasberg kühl. „Wenn Sie glauben, ich hätte Sie aufgrund Ihrer Auffassungsgabe oder logischen Fähigkeiten angefordert, haben Sie sich geschnitten. Von diesen Qualitäten müssen Sie mich erst noch überzeugen. Ich habe eine schwule Leiche, Sie sind der einzige schwule Beamte bei der Kripo, der mir bekannt ist. Das ist alles. Außerdem“, fügte sie gleichmütig hinzu, „liegt Vogt leider mit einer Grippe im Bett, wie die Mehrzahl der Kollegen meines Teams.“ Karsten Vogt, ein Beamter in Brinkhoffs Alter, war dem Kriminalkommissariat 11 ständig zugeteilt und Brinkhoff kannte ihn als eher fantasielosen, schmierigen Charakter, der unter einer postpubertären Akne litt und die unangenehme Eigenschaft besaß, jeden Augenkontakt zu vermeiden, wenn man mit ihm sprach. Dass Plasberg dessen Mitarbeit mehr schätzte als seine eigene, wurmte Brinkhoff, obwohl es ihm eigentlich hätte egal sein können. Er verkniff sich einen Kommentar und erinnerte sich an seinen Vorsatz, Plasberg ein wenig in den Arsch zu kriechen, um die Zeit, die er mit ihr zusammenarbeiten musste, halbwegs unbeschadet zu überstehen.