FRIEDRICH RITTELMEYER

MEINE
LEBENSBEGEGNUNG
MIT RUDOLF STEINER

URACHHAUS

INHALT

VORWORT DER AUFLAGEN SEIT 1947

MEINE LEBENSBEGEGNUNG MIT RUDOLF STEINER

ANHANG

PERSÖNLICHKEIT UND WERK RUDOLF STEINERS

DIE TODESNACHRICHT

RUDOLF STEINER ALS EREIGNIS IN DER GESCHICHTE DES CHRISTENTUMS

FUSSNOTEN

IMPRESSUM

90 JAHRE VERLAG URACHHAUS

VORWORT DER AUFLAGEN SEIT 1947

Drei Jahre nach dem Tode Dr. Rudolf Steiners trat dieses Buch zum ersten Mal vor die Welt hin (1928). Es war ein mutiges Bekenntnis Dr. Friedrich Rittelmeyers zu dem Manne, den er als den bedeutendsten Sohn der Zeit und als größten Bahnbrecher der geistigen Zukunft erkannt hatte.

Heute (1947), neun Jahre nach dem Tode seines Verfassers, ist es bereits ein historisches Dokument erster Ordnung. Die Begegnung, von der es spricht, hat Geschichte gemacht: zukunftswichtigste menschheitliche Entwicklungen sind durch sie zutage getreten und ausgelöst worden. Ein entscheidender Schritt vorwärts, den das Christentum in unseren Tagen getan hat, vollendete sich in ihr.

Die Vertreter des historisch gewordenen Christentums in Kirche und Theologie konnten zunächst nicht erkennen, dass die Sache, der sie dienen, abseits und unabhängig von ihnen eine grundlegende Erneuerung und Zukunftsausrüstung erfahren habe. Auch die riesenmäßigen Schicksals- und Weltuntergangskatastrophen, die sich seit jener stillen Begegnung zugetragen haben, reichten noch nicht aus, ihnen den radikalen Einschnitt und Neubeginn zum Bewusstsein zu bringen, an welchem das Christentum angekommen ist. Spätere Zeiten werden deutlich das Epochemachende sehen und anerkennen, das sich ereignete, als sich im Umkreis Rudolf Steiners in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg still und von der Welt unbemerkt eine Dreiheit von Persönlichkeiten bildete, die Schüler wurden, obwohl jeder für sich bereits Meister war, und die eben dadurch zu voranschreitenden Erstlingen des neuen christlichen Zeitalters geworden sind: Michael Bauer, Christian Morgenstern und Friedrich Rittelmeyer. Michael Bauer, der Stillste von ihnen, war die verbindende Mitte zwischen dem großen Dichter und dem großen Prediger, die sich persönlich nicht kennengelernt haben. Er konnte den letzten Lebensabschnitt Christian Morgensterns durch seine innige Freundschaft und Geistgemeinsamkeit verklären, nachdem er vorher schon Friedrich Rittelmeyer den Weg zu Rudolf Steiner hatte weisen dürfen. Neben den späten Gedichten und Sprüchen Christian Morgensterns sind Friedrich Rittelmeyers vielfältige Betrachtungen über das Johannes-Evangelium in wunderbarer Reife der erste schöpferische Widerhall, den die von Rudolf Steiner in Fülle erschlossene neue Christus-Erkenntnis gefunden hat. Unter den dreien, die uns heute bereits in dem Seelenlicht eines modernen Aposteltums erscheinen, war Friedrich Rittelmeyer derjenige, durch den die Entwicklung der christlichen Kirche in das große neue christliche Schicksal eingemündet ist. Diese Tatsache wird dadurch nicht abgeschwächt, dass die Kirchenleute ihn wegen seines Eintretens für Rudolf Steiner ächteten, nachdem sie ihn eben noch für führende Aufgaben in der Kirche hatten gewinnen wollen.

Friedrich Rittelmeyer hat immer wieder den Vorwurf über sich ergehen lassen müssen, er sei sich selber untreu geworden und habe die vielversprechenden Entwicklungen, die in seinen früheren Predigten und Büchern zutage getreten seien, aufgeopfert, als er ein Schüler Rudolf Steiners wurde. Wie es jedoch in Wirklichkeit war, wird heute schon von weiten Kreisen anerkannt: Eben darin liegt die historische Größe Friedrich Rittelmeyers, die ihn von so vielen »großen« Zeitgenossen unterscheidet, dass er sich nicht selbst im Wege stand, sondern, auf der Höhe einer von der Welt anerkannten Wirksamkeit angelangt, für den anderen als Größeren eintrat. Und welche Abgründe seelischer Andersartigkeit trennten ihn doch von diesem! Auf seinen Denkerwegen ein Meister geworden in der geistoffenen Verfeinerung des religiösen Gefühls und in der gemüthaften Verinnerlichung der christlichen Bildung, beugte er sich als Schüler vor dem, der in strengster überpersönlicher Erkenntnishaftigkeit vor allem das Denken der Menschheit auf eine neue Stufe emporzuheben hatte. Durch die Begegnung mit dem großen Lehrer ist Friedrich Rittelmeyer nicht nur ganz er selbst geblieben, sondern erst eigentlich zu sich selbst und zu seiner menschheitlichen Aufgabe voll durchgestoßen. Das geht lebendig aus seinen Schilderungen hervor, ist aber nun auch, da wir sein Lebenswerk im Ganzen überschauen, in klassischer Art an dem Weg abzulesen, der ihn von seinem Büchlein »Jesus« (1912) zu dem Buche »Christus« (1936) hinführte. Über sein ganzes Leben und Wirken könnte man die Worte setzen »Von Jesus zu Christus«, die übrigens auch der Titel einer Vortragsreihe sind, die Rudolf Steiner in der Zeit des ersten Zusammentreffens hielt (Oktober 1911).

In Friedrich Rittelmeyer fand die edelste, in ehrlichem Erkenntnisringen an das Geistgebiet herangetragene Jesus-Verehrung des protestantischen Zeitalters den Durchbruch zu einer umfassenden Christus-Erkenntnis und Christus-Frömmigkeit. Zugleich bedeutete das die wirkliche und volle Neuentdeckung des Johannes-Evangeliums. Hier flossen für Friedrich Rittelmeyer theologisches Denken und tiefinnerliches meditatives Streben zur schönsten Einheit zusammen; es reiften ihm und durch ihn der Menschheit die ersten Früchte am Baume der johanneischen Frömmigkeit, die dem Christentum der Zukunft das Gepräge geben wird.

Friedrich Rittelmeyers Lebensgefühl war stets, auch als er nicht mehr im Dienste der evangelischen Kirche, sondern an der Spitze der Christengemeinschaft stand, durch die brennende Sehnsucht bestimmt, aus dem Lager, dem er selbst entstammte, möglichst weite Kreise in das neue Land, das sich ihm aufgetan hatte, mitzunehmen. Er fühlte sich als Exponent der Schicksalsgruppe aller derjenigen, die innerhalb des kirchlichen Christentums gewillt waren, mit der fortschreitenden Zeit zu gehen. Und es war ihm der tiefste Schmerz, dass zunächst nur wenige aus dieser Schicksalsgenossenschaft wirklich mitgingen. Trennten sich doch hier schließlich auch die Wege des unzertrennlichen Nürnberger Kämpferpaares, als das er und sein Freund Christian Geyer gegolten hatten. − Zu den Dokumenten der Bemühung, zwischen den alten und den neuen Schicksalsgefährten Brücken zu bauen, gehört in erster Linie diese Schilderung der Lebensbegegnung. Vorangegangen war zu Rudolf Steiners 60. Geburtstag (1921) das Sammelwerk »Vom Lebenswerk Rudolf Steiners«, das einer schwersten Krankheitszeit abgerungen werden musste. Schließlich hat er, indem er zugleich seine persönliche Lebenslinie zur Vollendung führte, mit dem besonderen Blick auf die christlich-strebenden Kreise, die nicht sogleich die Wege der Anthroposophie und der Christengemeinschaft mitzugehen vermochten, sein Meditationsbuch geschaffen: »Meditation. Zwölf Briefe über Selbsterziehung« (1929).

Möge nun die Schilderung der Lebensbegegnung, die als eines der ersten Werke Friedrich Rittelmeyers nach den Zeiten der Unterdrückung wieder erscheint, aufs Neue zur Verwirklichung der Ziele beitragen, denen er sein Leben geweiht hat.

Lic. Emil Bock

Dieses Buch sucht Menschen, die sich für die Frage interessieren: Wie war Rudolf Steiner als Persönlichkeit? − und die darüber lieber von einem Augenzeugen etwas hören wollen als von Fernstehenden und Gegnern. Ihnen wird erzählt, wie ein Mensch mit protestantisch-theologischer Vorbildung aus der Geistesgeschichte unserer Zeit heraus zu Rudolf Steiner kam und was er an ihm erlebte. Die Schilderung hat ihre Grenzen: Intim-Persönliches gehört nicht in die Öffentlichkeit, obwohl da gerade oft das Überzeugendste erlebt wird; und Okkult-Geistiges kann nicht immer für weite Kreise ausgesprochen werden, obwohl hier wiederum die stärksten Erlebnisse liegen können. Innerhalb dieser Grenzen aber will ich sagen, was sich nur irgend sagen lässt, und werde mich nicht abhalten lassen durch den Missbrauch, der mit solchen Erzählungen von Gegnern getrieben wird. Ja, ein besonders hässlicher Angriff auf die Persönlichkeit Rudolf Steiners in einem führenden Blatt hat sogar den letzten Anstoß zu diesem Buch gegeben.

Über meine Begegnungen mit Rudolf Steiner habe ich nicht Buch geführt. Es schien mir unmenschlich, zu jedem Gespräch schon mit dem Bewusstsein zu gehen, du wirst es hernach aufzeichnen. Die Freiheit und Lebendigkeit des unmittelbaren Verkehrs, auch eine letzte Intimität schienen mir dadurch gefährdet. So sind die Worte Steiners nicht ganz genau wörtlich so gesprochen worden, wie ich sie wiedergebe, auch wenn ich sie, damit sie unterschieden werden können, in Anführungszeichen setze. Ich gebe sie wieder, wie sie in meinem Gedächtnis leben, und übernehme die Gewähr für ihren Inhalt und Sinn, aber nicht für ihren Buchstabenlaut.

Die Gespräche mit Rudolf Steiner, die ich führen durfte, habe ich von Anfang bis zu Ende so geführt, dass ich mich nicht so sehr als Einzelpersönlichkeit fühlte. Ich sagte mir: An einen solchen Menschen können nur wenige andere herankommen; diese wenigen sind aber der ganzen Menschheit verpflichtet, sowohl für das, was sie fragen und forschen, als auch für das, was ihnen geantwortet und geschenkt wird. Rudolf Steiner hat wohl diese meine Stellung erkannt und anerkannt und mir vieles gesagt. Er wusste, dass ich es nicht für mich behalte, sondern zur rechten Stunde an die Menschheit weitergebe.

Diese Stunde mag jetzt gekommen sein. Wer sich heute umschaut, der ist immer wieder erschüttert darüber, wie die Menschheit überall an Stellen steht, an denen ihr nur noch die Anthroposophie helfen kann. Fast kein Tag vergeht, an dem man dafür nicht neue Beispiele erlebt. Aber die Menschheit weiß nichts von dieser Hilfe oder will nichts von ihr wissen. Dass es so geworden ist, daran ist zum großen Teil schuld der Giftnebel der Verleumdung, der über den Urheber der Anthroposophie ausgebreitet worden ist, um ihn nicht nur unsichtbar, sondern verächtlich zu machen. Die zunehmende Not auf allen Gebieten, trotz glänzender äußerer Entdeckungen, und das Versagen der anderen Hilfen wird die Menschheit schon heranführen an die Anthroposophie. Dass dies etwas eher geschieht, zum Vorteil der Menschheit, dazu möchte dieses Buch mitwirken. Nicht um einen Beweis für die Anthroposophie kann es sich hier handeln − der muss auf andere Weise geführt werden −, sondern nur um ein Wort für ihren Begründer. Dies aber mag umso notwendiger erscheinen, als die Anzeichen sich mehren, dass man nach alter Räuberart verfährt: den Menschen, den man getötet hat, hernach zu plündern. Man hat das Seinige dazu getan, Rudolf Steiner geistig tot zu machen. Nun nimmt man ihm noch seine geistigen Güter ab und trägt sie als eigenen Besitz zur Schau.

Soll dieses Buch sein, was es zu sein wünscht: die Erzählung, wie ein Mensch aus dem Christentum der Gegenwart zu Rudolf Steiner kam und durch ihn zur Anthroposophie und Christengemeinschaft, so dürfen auch kleine Züge und nicht inhaltsschwere Gespräche eingefügt werden, wenn sie zum Ganzen gehören. Andererseits gibt es recht verschiedene Wege zu Rudolf Steiner. Dass Menschen aus ganz anderen Lebensgebieten: Mediziner, Pädagogen, Künstler, Politiker, nun auch ihrerseits schildern, wie sie zu Rudolf Steiner kamen, das ist eine Hoffnung, die sich mit diesem Buch verbindet. Denn erst durch solche Ergänzungen kann ein wirkliches und vollständiges Bild Rudolf Steiners entstehen.

Der Mensch hat in seinem Leben Augenblicke, wo es ihm ist, als vernehme er einen feinen Glockenton. Eine neue Stunde in seinem Schicksal hebt an. Höhere Geister scheinen ihre Blicke auf ihn zu richten. Denn viel kommt darauf an, für ihn und für andere, wie er sich jetzt verhält.

Ein solcher Augenblick war da, als ich Ende 1910 aus einer norddeutschen Großstadt die Aufforderung erhielt, einen öffentlichen Vortrag über die religiösen Strömungen der Gegenwart zu halten. Dem Ringen um religiöse Erneuerung hatte mein innerstes Interesse gegolten. Nun, da es darum ging, einen Überblick zu geben, fiel mir ein, dass ich an einer Zeiterscheinung aus Mangel an Sympathie immer vorübergegangen war. Das war die »Theosophie«. Übernahm ich den Vortrag, so übernahm ich die Verpflichtung, auch sie mir gründlich anzusehen. Nur wenig hatte ich bis dahin aus dieser Welt erfahren. Was sich dagegen regte, war ein ausgesprochener Widerwille. Ein Wust von unbegründeten Behauptungen, ein vorwitziges und voreiliges Hineinstarren in geheimnisvolle Geisthintergründe der Welt, langweilig und lähmend, eine echte Verfallserscheinung von durcheinandergemischtem Orientalismus und Christentum, nicht bestehend vor ernsteren geistigen Ansprüchen, unerträglich dem wahren religiösen Empfinden, frech, kalt und sensationslüstern: – so schien es mir.

Aber – man sollte sich doch einmal ansehen, was diesen Menschen eigentlich wertvoll ist. Sie bringen Achtung gebietende Opfer. Sie zeigen eine unverkennbare Lebensbefriedigung. Wer dem religiösen Leben der Zeitgenossen seine Aufmerksamkeit schuldig zu sein glaubt, sollte einmal einen tieferen Blick in diese Welt tun.

So schrieb ich an die Vertreter der verschiedenen theosophischen Richtungen in Nürnberg, wo ich damals protestantischer Pfarrer war, ob ich sie einmal besuchen dürfe, sie über ihre Sache ausfragen und von ihnen Literatur erbitten. Bald saß mein späterer Freund Michael Bauer1 in meinem Studierzimmer. Der Eindruck, den dieser Mensch auf mich machte, war unerwartet und außerordentlich. Einem idealen Lebensringer hoher Geistesart sah ich mich plötzlich gegenüber. Aus einfachem oberfränkischem Bauerntum hervorgegangen, der Lebensstellung nach »nichts als Volksschullehrer«, hatte Michael Bauer die Geisteswelten der Gegenwart als Suchender überall durchstreift. In jüngeren Jahren Freigeist in der Gefolgschaft Ernst Haeckels, hatte er sich der Naturwissenschaft zugewandt und vor allem Physik und Chemie studiert. Ein mächtiges Bedürfnis nach höherer Selbsterziehung hatte ihn zu den Schriften des schwäbischen Okkultisten Kerning geführt, dessen »Übungen« er sich mit Energie hingegeben hatte. Auch in der deutschen Philosophie war er, immer nach dem Letzten fragend, viel umhergewandert. Besonders Hegel, den er gründlich kannte, war sein Philosoph geworden. Fremde Sprachen, nicht nur Englisch und Französisch, auch Lateinisch und Griechisch, selbst Sanskrit suchte er sich anzueignen, um bis an die Quellen vordringen zu können. Damals stand er vor der Vollendung des vierzigsten Lebensjahres. Eine hohe, schlanke Erscheinung mit einem länglichen, dunkelbärtigen, überraschend durchgeistigten Gesicht, konnte er für einen indischen Meister gelten, der mitten in den europäischen Großstädten umherwandelte. Ich habe von Menschen gehört, denen es ein Lebensereignis war, wenn sie nur, an seinem Garten vorübergehend, den unbekannten hohen Mann zwischen seinen Blumen sich bewegen sahen. Der stärkste Eindruck aber ging von seinen Augen aus. Da war nichts Indisches mehr. Da leuchtete das Christuslicht in die Welt hinein. Ich habe niemals, nur Rudolf Steiner ausgenommen, ein solches goldenes Licht in den Tiefen eines Menschenauges scheinen sehen. Weisheitsvoll gütige Menschlichkeit strahlte von ihm aus und erfüllte seinen ganzen Umkreis. Er war immer bereit, jeden Menschen anzuerkennen, und wäre es der Jüngste, und nie bereit, sich von irgendeinem Menschen überwältigen zu lassen, und wäre es der Größte. Selbst Rudolf Steiner gegenüber lebte er in schöner Freiheit. Ungebrochene Kindeskraft der Verehrung wohnte auch in dem reifen Mann, den schwere Schicksale und rücksichtslose Überanstrengung an den Rand des Grabes gebracht hatten. Mit dieser reinen Verehrungsfähigkeit, wie ich sie ungeschwächter nie in einem erwachsenen Menschen sah, verband sich doch ein sicheres Stehen im Eigenen, ein unverlorenes Selbst-Sein. Gerade die Harmonie von Ehrfurcht und Freiheit in einem Menschenwesen war wie ein Bad edelsten Menschentums, das man in jedem Gespräch mit ihm empfing. Eine besonders freundliche Fügung hat mir gerade diesen Mann über den Weg geführt, als ich nach der Theosophie zu fragen begann. Wäre er nicht gewesen, so wäre es mir vielleicht gegangen wie hundert anderen meiner Generation. Ich hätte Rudolf Steiner in einem Vortrag gehört, um ihn »einmal kennenzulernen«. Ich hätte eines oder das andere seiner Werke kritisch gelesen, um mir »ein Urteil zu bilden«. Aber ich wäre wohl an dem Größten, was zu meiner Zeit da war, vorübergegangen, ohne Ahnung, was es mir werden kann.

Allerdings hatte sich auch anderes zur Vorbereitung dieser Schicksalsstunde begeben. Kurz vorher hatte ich einen Vortrag gehalten auf der süddeutschen Versammlung der »Freunde der Christlichen Welt«. Diesem Kreis, der die Methoden und Resultate der modernen wissenschaftlichen Forschung grundsätzlich anerkannte und für das religiöse Leben der Zukunft Freiheit und Wahrhaftigkeit zu erkämpfen suchte, fühlte ich mich in der damaligen theologischen Welt geistig noch am nächsten verwandt. Aber wie ich mich selbst in diesem Kreis empfand, möge das Vortragsthema sagen, das ich mir wählte: »Was fehlt der modernen Theologie?« Dies war der einzige Vortrag, den ich jemals auf einer größeren Theologenversammlung hielt. Man hat auch niemals mehr einen anderen von mir verlangt. Nach dem Vortrag trat in der Aussprache Ernst Troeltsch auf, der spätere Philosophieprofessor an der Berliner Universität. Was er über den Vortrag sagte, klang nicht unfreundlich. Aber er sprach die Worte: Wir haben wieder einmal einen Menschen reden hören, der aus seiner Haut heraus will; und das kann der Mensch eben nicht. Dies brachte mich in Harnisch. Und im Schlusswort erwiderte ich ihm: Sie sind gerade einer von denen, die uns junge Theologen mit ihrem ewigen Relativismus lähmen; und wenn Sie sagen: Der Mensch kann nicht aus seiner Haut heraus, so antworte ich: Der Mensch soll gerade aus seiner Haut heraus; und ich will heraus und werde auch herauskommen. Troeltsch lächelte nachsichtig. Mit ihm andere. Aber es war mir später, als hätten gute Genien meinen Wunsch gehört und von da an meine Wege dorthin gelenkt, wo der Mensch wirklich aus seiner Haut herauskommt.

Noch eine Einzelheit mag erwähnt werden, weil sie nicht ohne Bedeutung war. Jahre hindurch hatte ich gesagt: Wenn ich an das Schicksal einen Wunsch frei habe, so ist es dieser, dass ich an dem Größten, was in meiner Zeit geistig geschieht, nicht vorübergehe; ich möchte am wenigsten das Geschick Friedrichs des Großen haben, der gleichzeitig mit Goethe lebte und ihn nicht erkannte. Wie entstehen solche Wünsche im Menschen? Sind sie Vorgefühle dessen, was kommen soll? Sind sie dunkle Erinnerungen an einen Auftrag, den uns unser Engel zuflüsterte, als wir in die Erdenwelt entlassen wurden? Aber gerade diese Gesinnung ist mir von »wohlmeinenden Freunden« ins Üble gedeutet worden. »Warum weisen Sie immer auf andere hin? Sie sind doch selber einer!« Eben dieser Wunsch, »selber einer« zu sein, ist für viele bedeutendere Geister unter unseren Zeitgenossen das entscheidende Hindernis gewesen, Rudolf Steiner zu erkennen. Es fehlte − ich spreche es mit Nachdruck aus − der letzte Wahrheitswille. Es fehlte auch das sichere Selbstgefühl, das sich nicht verliert, wenn es sich an die rechte Weltenstelle rückt. Es fehlte auch das Verantwortungsbewusstsein, das ohne das Fieber der Eifersucht einem Allertüchtigsten die freie Hilfe aller Tüchtigen schuldig weiß.

Damals also saß Michael Bauer mir gegenüber. Ich versuchte das Gespräch einzuleiten mit der im Ton lächelnder Überlegenheit vorgebrachten Frage: »Sie glauben also an Wiederverkörperung?« Aber ich sah sofort, dass ich diesen Ton ein für alle Mal abzulegen hatte. Ein Schatten ging über das offene geistigleuchtende Gesicht. Nicht unfreundlich, aber im Ton sicherer Abwehr kam die Antwort: »Ich kann nicht anders.« Nun erzählte er mir, in diesen und in den folgenden Gesprächsstunden, wie sein innerstes Suchen immer nach Christus gefragt habe. Dass er Christus als Gottessohn verehrend in sich tragen könne, bei allem unbefangenen Drinstehen in dem Wissen und Forschen der Zeit, das verdanke er der »Theosophie«. Selbst wenn alles andere, das sie ihm gebracht habe, ihm wieder genommen werden könnte, dies Höchste sei ihm unverlierbar durch sie geworden. Der beste Beweis für die Wahrheit seiner Worte war der Mensch selbst. Hier war ein Christ-Sein noch anderer Art als selbst bei Friedrich von Bodelschwingh oder Christoph Blumhardt, denen ich auch gegenübergesessen habe. Dort lebte Christus in der Tiefe des Herzens und im reinen Wahrheitsgefühl für eine höhere Welt. Hier wohnte Christus im Licht des klaren Geistes und im Allerheiligsten eines freien Ich. Das war etwas Höheres. Blumhardt besonders war eine verehrungswürdige Edelblüte protestantischer Gläubigkeit. Michael Bauer war ein unerwarteter Bote eines Zukunfts-Christentums. Das Christ-Sein als Gipfel der vollen Weltwachheit und der durchdringenden Geistesklarheit und der höchsten Ich-Freiheit: das ahnte ich damals.

Später hatte ich in einer Berliner Versammlung einmal erlebt, dass mir der Satz entgegengeschleudert wurde: »Wir haben doch Christus! Was brauchen wir den Dr. Steiner?« Darauf erwiderte ich: Es sollte mich wundern, wenn unter uns nicht Menschen wären, die von sich sagen müssten: Ohne Rudolf Steiner hätten wir Christus nicht gefunden. Und vier oder fünf Menschen in der Versammlung sprachen sich mit Wärme in diesem Sinn aus.

Michael Bauer erzählte mir auch von seinen Bemühungen, durch Geisteskraft Menschen von Krankheiten zu befreien. Er hatte nach einigen Erfolgen auf diesem Gebiet solches Wirken aufgegeben, weil die Menschen von ihm zu abhängig wurden. Das neue Übel schien ihm größer als das alte. In einer Atmosphäre von großer Reinheit und Bescheidenheit wurden diese Erfahrungen geschildert, die menschlichen Schwächen wurden mit dem Lächeln echter Güte beschienen. Auch ließ mich Michael Bauer teilnehmen an seinen eigenen Erlebnissen mit Verstorbenen. Die gesunde Luft und ruhige Geisteswachheit, in der diese Erlebnisse dastanden, ließ mich dieses Reich neu sehen und machte es mir unmöglich, an ihm zum bequemen Leugner zu werden. Vor allem aber war es von Bedeutung, dass ich Rudolf Steiner zuerst gleichsam durch Michael Bauer hindurch sah. Er erzählte mir, wie er auf einer nächtlichen Bahnfahrt ihm gegenüber über seine Erfahrungen an den Kerningschen Übungen sich ausgesprochen habe, wie er sofort den überlegenen Kenner in ihm gefunden, wie er durch Steiners sichere Ratschläge rasch von allen üblen Nebenwirkungen befreit und auf die Bahn einer gesunden Geistesentwicklung gebracht worden sei. So sprachen wir von Welten, die heute noch den meisten Menschen fremd sind. Dass sie hineindrängen ins Leben der Menschheit, hat die Zwischenzeit freilich schon viel deutlicher gezeigt. Ich hatte gar nicht das Bedürfnis, zu allem, was mir da gesagt wurde, gleich »Stellung zu nehmen« oder mir von meinen bisherigen Kenntnissen aus »eine Ansicht zu bilden«, sondern ließ mir erst einmal recht viel erzählen.

Da hatte ich nun auf einmal einen Stoß »theosophischer« Literatur im Haus. Auch die Bücher der amerikanischen Richtung Catherine Tingleys, die ich vom deutschen Vertreter dieser Theosophie, der zufällig auch in Nürnberg wohnte und wirkte, erhalten hatte. Aber diese Bücher legte ich nach kurzem Einblick seelenruhig auf die Seite. Ich hätte mich von Hegel und Fichte verachtet gefühlt, wenn ich diese kindliche Geistigkeit ernst genommen hätte. Hier hatte man die Welterkenntnis in altertümlichen Schachteln schön aufgeteilt und lebte in anmutigen Gefühlen. Auch Annie Besant und ihre Geistesverwandten machten mir keine Unruhe. Da bestand auch der Geist in einer Mischung von alten Überlieferungen und subjektiven Gefühlen. Es stieg eine Wolke aus diesen Schriften auf, aus der allerlei Ungesundes, Gewolltes, Glücksgieriges mir entgegenschlug.

Der Einzige, der mich interessierte, war Rudolf Steiner. Aber freilich – war er nicht wie von einem anderen Stern heruntergeschneit? Wie kann man solche unerhörten Dinge behaupten, eines nach dem anderen, immer wieder Neues? Wie kann man solche unerhörten Dinge mit der Miene eines nüchternen Registrators vortragen? Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass Rudolf Steiner sich durch philosophische Werke geschichtlicher und grundsätzlicher Art bewiesen hatte, ehe er als Geistesforscher vor die Menschen trat, hatte noch keine Ahnung, dass ihm das Reich der naturwissenschaftlichen Forschungen wohlvertraut war. Ich fühlte nur: Dieser Mann war ernst zu nehmen. Der Geisteston seiner Aussagen war so, dass das Schämen vor Hegel und Fichte aufhörte.

Man hatte mir von Anfang an den Zugang zu den intimen Vorträgen – den sogenannten Zyklen – freigegeben. So nahm ich vor allem in die Hand, was den Theologen in mir herausforderte. Manches Blatt Papier beschrieb ich, um mir die Stellen anzumerken, an denen Rudolf Steiners Bibelerklärung ganz unmöglich schien. In meiner Ratlosigkeit gegenüber einer solchen »Geistesforschung« suchte ich nach einem Punkt, wo ich unwiderleglich hätte sagen können: »Hier ist ein offenkundiger Fehler! Damit ist auch alles andere verdächtigt!« Hat irgendein Theologe einen solchen nachweisbaren Fehler gefunden? Ich fand keinen. Wohl blieben mir manche Auslegungen unzugänglich, ja recht unwahrscheinlich. Die Fremdheit, mit der mich vieles berührte, auch unsympathisch berührte, konnte kaum größer sein. Ließ ich es aber bei diesem Eindruck nicht bewenden, sondern dachte unbefangen weiter, so tauchten neue Möglichkeiten auf. Allerdings musste ich dem Redner den Zuhörerkreis, vor dem er damals sprach, und die Mangelhaftigkeit der Nachschrift zugutehalten. Aber das war ja billig. So endeten solche Versuche damit, dass ich meist mir sagen musste: Vielleicht hat er doch recht! Und neben den wenigen dunklen Stellen, auf die man dann leicht hinstarrte, standen überraschende neue Erleuchtungen in solcher Fülle, dass man vorsichtig und bescheiden wurde − und immer wissbegieriger. Vor allem war mir als Theologen interessant die unerhörte Selbstständigkeit, in der hier die Bibel betrachtet wurde aus einem ganz anderen Geist heraus. Man hatte nur die Wahl: Entweder hat dieser Mann gar keine Ahnung von dem, wie wir die Bibel als Theologen ansehen, oder er bringt ein völlig Neues! Oft bin ich später dann doch mit einer Liste in der Tasche zu Rudolf Steiner gegangen, auf der die anfechtbaren Bibelauslegungen verzeichnet standen. Aber wenn ich mit ihm sprach, schien mir anderes viel wichtiger. Meine Bibelstellen blieben als unwesentlich in der Tasche gegenüber dem, was ich dann fragen und erfahren konnte. Nur hin und wieder überzeugte ich mich durch eine kurze Frage, dass doch diese Bibelauslegungen sehr gewichtige Hintergründe hatten. Der Geist Rudolf Steiners hatte zu mir gesagt: Sieh doch, was hier alles zu dir sprechen will! Lebe dich einmal mit gutem Willen in diese Welt ein! Wenn du erst vom Ganzen mehr verstehst, wird sich manches klären, was dir jetzt Beschwerde macht! Und wenn nicht: Ist es wirklich so wichtig? Kann eine neue Geistigkeit anders kommen, als dass sie an Altgewohntem hart anstößt? Wird man ihr gerecht, wenn man an solche Stellen sich heftet und von ihnen aus mit dem Ganzen »fertig« zu werden sucht? Muss man nicht erst einmal das Ganze aus seinem eigenen Leben und Wesen heraus erfassen?

Auf meinem Schreibtisch lag damals »Die Geheimwissenschaft«. Ich sehe sie noch liegen. Sie verdross mich. Ich konnte nicht durchkommen. Hatte ich eine Weile darin gelesen, so ergriff mich Übelkeit. Wie unverdaute Speisen lagen alle diese »Erkenntnisse« mir im Magen. Vorsichtig musste ich essen, immer nur ein paar Seiten, wenn mir nicht alles leid werden sollte. So habe ich wohl ein Jahr gebraucht, bis ich wusste, was drinstand. Ich hatte damals noch nicht die rechte Weise gefunden, wie ich solche Schriften aufzunehmen hatte. Heute weiß ich, dass die Menschen eine ganz neue Art zu lesen aufbringen müssen, wenn ihnen solche Werke sagen sollen, was sie sind. Hier liegt meines Erachtens für fast alle Menschen der älteren Generation ein entscheidendes Hindernis, an Rudolf Steiner auch nur heranzukommen. Man muss frei lesen können, mit viel größerer Unbefangenheit, als sie anderen Schriften gegenüber nötig ist, um weder etwas voreilig anzunehmen noch etwas voreilig abzulehnen; man muss mit größter Seelenruhe etwas dahingestellt sein lassen und abwarten, ohne Aufregung darüber, dass Altgewohntes zu wanken beginnt. Man muss aktiv lesen können, indem man unablässig das Gelesene am Leben prüft und das Leben am Gelesenen, sodass man sich gegen die Überflut der neuen Behauptungen seinen festen Standort im Leben sichert. Man muss auch meditativ lesen können, indem man immer wieder längere Pausen einschiebt, das Gelesene gleichsam in sich selbst nachbildet und ihm, in aller Ruhe und vorurteilsloser Freiheit, seinen eigenen Geist und sein eigenes Leben ablauscht. Tut man dies nicht, so überlässt man es kommenden Generationen, den Geist und das Leben dieser Bücher zu entdecken. Sie bleiben einem dann abstruse Literatur. Wie oft hat es mich damals gepackt: Was geht mich diese heillose Saturnentwicklung an? Ist das nicht alles geradezu ein teuflisches Unterfangen, den Menschen von seinen unmittelbaren drängenden Lebensaufgaben abzuziehen? Und ihn in den Abgrund von Fragen zu stürzen, aus dem er niemals wieder herausfindet? Alle Widersprüche und Widerstände, denen ich später bei meinen Herren Mittheologen begegnete, habe ich in jenem ersten Jahr selbst durchgemacht. Und mein einziges Verdienst war nur – dass ich bei ihnen nicht stehen blieb. Irgendetwas in mir sagte: Du bist nicht ehrlich gewesen gegen das Unbekannte, wenn du dich jetzt abwendest! Du musst vor allem anderen fragen: Was ist wahr? Du darfst nicht rasch entscheiden wollen, welche Wahrheit du dir wünschest und für die Welt für nützlich hältst! Du musst es verstehen, deine unmittelbaren Lebensaufgaben nicht liegen zu lassen und doch eine neue Welt langsam zu verarbeiten! Du musst Geduld haben, wie sich dies alles geistig und seelisch in dir entwickelt! Dass ein Eintauchen in eine längst vergangene Weltentwicklung dem Menschen die Geistesfreiheit stärken kann und die Charakterüberlegenheit auch für Alltagsfragen, dass er sich dadurch erst richtig in seiner Menschwerdung fühlt und sein Menschentum bewusst ergreifen lernt, habe ich freilich erst allmählich begriffen. Damals konnte ich mir mitunter nur so helfen, dass ich mir vorsagte: Nun ja, in dreihundert Jahren werden die Menschen ja doch die Welt ganz anders ansehen als wir heute; und wenn diese Theosophie dir zu nichts anderem hilft, als dass sie dich, in ihrer merkwürdigen Andersartigkeit, auf Gegenwartsvorurteile aufmerksam macht, die du sonst unbesehen mitgelebt hättest, dann hat sie dir immerhin einen Dienst getan, den dir so gründlich nicht so leicht ein anderer tun wird. Gut, ich will einmal dieses ganz andere Weltbild aufrichtig auf mich wirken lassen! Das war der Entschluss, zu dem allein ich kommen konnte.

Eines war mir bald klar: Den von mir erbetenen Vortrag über die religiösen Strömungen der Gegenwart, für den ich mich nun auch mit Theosophie beschäftigt hatte, kann ich nicht halten! Oder nur so, dass ich offen sage: Hier ist etwas, das wir noch nicht verstehen! Denn wenn dies hier Wahrheit enthält, dann wird der ganze Anblick der Gegenwartsgeistigkeit anders. Da war ich nun am wichtigsten Wendepunkt. Während ich in den Schriften Rudolf Steiners las, sprach oft eine leise Stimme in mir. Erst nach und nach wurde ich auf sie aufmerksam. Sie sagte: »Wenn dieser Mann hier recht hat, dann bist du mit all deinem Wissen ein ganz kleiner Knirps! Dann kannst du gerade noch einmal von vorn anfangen! Und dahin wirst du doch nie kommen, dies alles nachprüfen zu können mit den versprochenen höheren Organen! So wirst du, wenn du dies überhaupt in dich hereinlässt, für immer zu einem Schüler herabsinken! Du musst deine ganze Geistesart von Grund auf neu aufbauen, in dem Augenblick, wo du geglaubt hast, als Lehrer vor den Menschen zu stehen, wo sie dich als Lehrer suchten und brauchten! Und viel wirst du in dem Neuen auf keinen Fall mehr erreichen!« Wer diese Stimme aus eigener Erfahrung kennt, der hört sie dann auch bei anderen − die sie selber nicht hören. Da schreibt einer zum Beispiel ein gelehrtes Buch, worin er nachweist, dass die Menschheit all diese neue Weisheit gar nicht braucht, dass sie dasselbe ja schon immer in ihrer Religion habe, »wenn sie sie nur ernst nehmen wolle«, oder er weist nach, dass sich zu all dem Neuen geschichtliche Analogien finden lassen, die er längst kenne, oder er weist nach, dass man »seit Kant« von dem »Ding an sich« ja nichts mehr wissen könne, oder er weist nach, dass alle diese neuen Erkenntnisse durchaus nicht so wichtig seien und an dem Wichtigsten, an »Gott« nur vorüberführten, und dergleichen mehr. Wer feiner hinhört, vernimmt oft die Stimme, die vom kleinen Knirps spricht. Er vernimmt sie aus dem Unwillen, mit dem man eine wirkliche Prüfung des Neuen nach seinen eigenen Gesetzen abweist, aber auch aus der Scheinüberlegenheit, in der man sich dem Neuen gegenüber gefällt, um die eigene Schwäche zu verbergen. Ganz besonders, wenn ich die Theologen sagen hörte, sie vermissen in der Anthroposophie »die rechte Erkenntnis der Sünde«, den »Ruf zur Buße« – da hätte ich immer fragen mögen: Steht es nicht vielleicht so, dass ihr nicht »Buße tun« wollt? Auch die Buße hat viele Gestalten: Einem »intellektuellen« Zeitalter, einem geistesstolzen Geschlecht könnte gerade die Buße zugemutet werden, dass man die Ehrlichkeit und den Mut hat, vor neuen Erkenntnissen klein zu werden. Hier ist die Prüfung unserer Geistesart! Vielleicht das Gericht unserer Zeit! Wo sind die Menschen, die sagen: Dies alles ist uns noch zu neu, wir müssen es erst gründlich verarbeiten!? Einige wenige habe ich doch gefunden, auch unter den Universitätsgelehrten, die unter vier Augen etwa sagten: »Darauf kann ich mich nicht mehr einlassen! Wenigstens nicht gründlich genug. Und anders will ich nicht. Dazu aber fehlt mir die Zeit und die Kraft! Das muss eine jüngere Generation tun! Doch ich werde auch nicht ungeprüft dagegen reden.« Das war ehrlich, wenn auch nicht die Antwort, die man von einem radikalen Wahrheitsforscher erwartet.

Jedem, der Rudolf Steiner wirklich sehen will, kann man nur ernstlich raten, auf die Stimme vom kleinen Knirps zu achten und ihr nicht zu erlauben, dass sie sich hinter Gelehrsamkeit oder Frömmigkeit versteckt. Wäre sie nicht da, so hätte zum Beispiel das Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« eine ganz andere Aufnahme erfahren müssen. Hier hat Rudolf Steiner klar gesagt, wie er zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Aber dieses Buch wird im Grund totgeschwiegen. Keiner ist aufgetreten und hat gesagt: Ich kenne diese Erlebnisse auch, aber sie sind Täuschung. Keiner ist aufgetreten und hat gesagt: Ich habe diese Organe mir erworben, aber ich bin mit ihnen zu anderen Resultaten gekommen. Man geht wohlweislich an dem entscheidenden Punkt vorbei. Oder man hilft sich mit Hohn. Ja, dieses Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«! Ich habe es mir seinerzeit gleich geben lassen, weil ich als »gebildeter Mensch« doch vor allem die Forschungsmethoden kennenlernen wollte, mit denen diese Ergebnisse gewonnen worden sind. Doch, o weh! Im Anfang gefiel mir alles ausgezeichnet. Moralische Ratschläge, die einem das Herz gewannen. Aber dann kamen die »Lotosblumen«. Zweiblättrig, sechzehnblättrig, zehnblättrig drehten sich im Buch die höheren Organe. Bei mir aber wollte sich nichts drehen, beim besten Willen nicht. Nur ein großes Mühlrad drehte sich im Kopf herum. Und eine große Hoffnungslosigkeit legte sich auf die Seele.

Kaum wäre ich weitergekommen, wenn mich nicht das Leben noch von einer anderen Seite an das Neue herangeführt hätte. Und dies war wohl die innerste Schicksalsvorbereitung. Als ich am Anfang der Zwanzigerjahre stand, hatte ich mir eine Art Lebensplan entworfen. Vorgesehen war, dass ich etwa zwanzig Jahre lang über Gegner und Verkünder Jesu denken und schreiben, daneben aber vor allem über Jesus-Worte nachsinnen und reden wollte, um dann im Alter von vierzig Jahren ein zusammenfassendes Buch über Jesus zu schreiben. Was nachher kommen sollte, war freigelassen. Meine Hoffnung war, dass es sich aus dem Jesus-Buch ergeben würde. Ohne dass ich mich an diesen Jugendplan innerlich gebunden hatte, fand es sich, dass ich tatsächlich im Alter von achtunddreißig Jahren über der Arbeit war, Vorträge über Jesus vorzubereiten, die dann zum Buch gestaltet werden sollten. Aber eben mit dieser Arbeit erging es mir merkwürdig. Mehr im Unbewussten, Uneingestandenen spielte es sich ab und trat erst später in die Klarheit.

Als ich im Anschluss an die theologische Arbeit der Gegenwart die Persönlichkeit Jesu aus seinen Worten und Taten zu erfassen suchte, stieß ich immer auf ein Geheimnis, das nicht zu fassen war. »Dieser Jesus ist nicht Jesus«, sprach es in mir. »Man kommt nicht zurecht, selbst bei noch so kritisch-vorsichtiger Geisteshaltung gegenüber dem, was aus den sicheren Worten dieses Menschheitsführers spricht, wenn man nichts hat als die Denkart und Erlebnisweise des heutigen Menschen. Ein Rätsel ist da, das uns immer wieder mit unergründlichen Augen anblickt. Mit dem Dogma ist uns nicht geholfen. Mit der Kritik auch nicht. Was ist eigentlich mit diesem Jesus? Kann man nicht als Mensch der Gegenwart zu der Wirklichkeit vordringen, der wir da gegenüberstehen? Worin muss man anders denken, anders werden lernen, um sie besser zu verstehen?« An dem Geheimnis Christus offenbarte mir die ganze wissenschaftliche Theologie der Zeit ihre Ohnmacht. Aus solcher Stimmung heraus, freilich noch recht skeptisch, sagte ich damals zu Michael Bauer, der inzwischen mein Freund geworden war: »Lassen Sie doch im Winter, nach meinen Jesus-Vorträgen, Ihren theosophischen Oberpriester einmal kommen und bitten ihn, er möge sagen, was er über Jesus zu sagen hat. Ich verspreche Ihnen, dass ich unbefangen zuhören werde, als ob ich ganz von vorn zu lernen hätte.« Rudolf Steiner kam wirklich im Dezember 1911, unmittelbar nach meinen Jesus-Vorträgen, und hielt einen Vortrag »Von Jesus zu Christus«. − Einige Zeit später, als meine Jesus-Vorträge im Druck erschienen waren, schickte ich sie Rudolf Steiner und fragte ihn, was er davon halte. Das Jesus-Bild sei richtig, sagte er, und habe ihn gefreut. Aber es sei ein Bild des Jesus, noch nicht eigentlich des Christus. Da sei noch viel mehr zu sagen. Und es wäre schön, wenn ich einmal ein Bild des Christus zeichnete, wie ich eines des Jesus gezeichnet hätte. Wiederum viele Jahre später, nachdem Rudolf Steiner in einem Vortrag in Berlin über das Jesus-Bild der modernen Theologie mit starker Kritik gesprochen hatte, sagte ich zu ihm: Wenn Sie so über Weinels Jesus-Bild urteilen, fällt dann nicht mein Jesus-Bild unter dieselbe Kritik? O nein, war die Antwort, es ist ein großer Unterschied; der Nachfolger von Weinel ist Arthur Drews; in Ihrem Jesusbuch sind die Ansätze, die hinüberführen zur Anthroposophie.

Zeitgeschichtlich erscheint mir das alles erwähnenswert. Heute ist es schon sichtbarer geworden, dass damals die »moderne Theologie« tatsächlich an einem Scheideweg stand. Entweder sie wurde öde, unsichere Historie und verlor rasch vollends das eigentliche Christentum – oder sie fand neue Forschungsmethoden, die den Wirklichkeiten einer höheren Welt besser gerecht wurden – oder sie sank in Katholizismus zurück, was ja heute in kräftigen Anfängen der Fall ist. Es war ein großer geistesgeschichtlicher Hintergrund, auf dem sich meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner vollzog.

Am 28. August 1911 – Goethes Geburtstag – sah ich Rudolf Steiner zum ersten Mal. Ich hatte mir eine kleine Reise so eingerichtet, dass ich sonntags an der theosophischen Sommertagung in München teilnehmen konnte. Ein halbes Jahr hatte ich nun in meiner freien Zeit fast ausschließlich Schriften Steiners gelesen. Aber noch lag es mir ganz fern, der Anthroposophischen Gesellschaft mich zu verbinden. Man gab mir trotzdem die Freiheit, ohne Verpflichtung an allem Anteil zu nehmen.

Als ich in den Saal trat, überraschte mich die Stimmung. Die Menschen empfand ich großenteils als recht fremd. Ein gewisser Typus von passiver, genusssüchtiger Geistigkeit machte mir sehr zu schaffen. Besonders wenn ich Männer mit langen Haaren sah, war es mir zum Davonlaufen. Später wurde dies alles ja bedeutend besser, als die »theosophischen« Eierschalen abgelegt waren und als Rudolf Steiner immer mehr wissenschaftlich denkende Menschen an sich heranzog. Er litt wohl unter vielem in jenen früheren Jahren, aber er redete grundsätzlich in Äußerlichkeiten nicht hinein, aus Achtung vor der persönlichen Freiheit, und suchte von innen her allmählich zu erziehen.

Was mir sympathisch auffiel, war eine gewisse festliche Andacht. Unschwer konnte man fühlen, dass hier ein Fest des Menschen